Im Jahr 2015 ist die Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche das erste Mal auf 1 ‌°C über den vorindustriellen Durchschnitt gestiegen, wodurch wir der Schwelle eines Anstiegs um 2 ‌°C nähergekommen sind, die den Rubikon darstellt, von dem es heißt, dass wir ihn nicht überschreiten dürfen, wenn wir das verhindern wollen, was das Rahmenabkommen der Vereinten Nationen über Klimaveränderungen (UNFCCC) 1992 als »gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems« bezeichnet hat.1 Was die globale Erwärmung anbelangt, sei das Jahr 2016 ein »Ausreißer nach oben« gewesen, hat ein Meteorologe es formuliert.2 Die Historikerin Julia Adeney Thomas gab 2014 zu bedenken, dass es sich bei der Vorstellung, »gefährdet« zu sein, um keine rein wissenschaftliche Vorstellung handeln könne, weil der Planet bereits viele andere Klimawandelschübe – und fünf großen Artensterben – erlebt habe.3 Und tatsächlich ist gefährlich in diesem Zusammenhang ein Wort, das Wissenschaftler:innen, Politiker:innen und politische Entscheidungsträger:innen als besorgte Bürger:innen dieser Welt benutzen, wobei unter Gefahr eine Bedrohung der menschlichen Institutionen zu verstehen ist. In Thomas' eigenen Worten:

 

Historiker:innen, die dem Anthropozän gerecht werden wollen, können sich in Bezug auf eine Definition des ›gefährdeten Menschen‹ nicht auf ihre Kolleg:innen aus den Naturwissenschaften verlassen. […] Es ist nicht möglich, ›Gefährdung‹ als schlichte wissenschaftliche Tatsache zu behandeln. Vielmehr ist Gefährdung eine Frage sowohl des Maßstabs als auch 228der Wertung. Sie mögen zwar eine andere Gestalt annehmen, wenn sie sich auf die Naturwissenschaften einlassen, aber nur die Geistes- und Sozialwissenschaften sind in der Lage, vollumfänglich zu artikulieren, was für ein Verlust uns drohen könnte.4

 

Tatsächlich wurde ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der vierte Sachstandsbericht des IPCC erschien, in einem der ersten sich an die Allgemeinheit wendenden Bücher über das Problem des anthropogenen Klimawandels, Tim Flannerys Wir Wettermacher, darauf hingewiesen, dass die Entität, für die der Klimawandel eine wirkliche Bedrohung darstellt, die menschliche Zivilisation sei, wie wir sie verstehen und rühmen.5 Zivilisation ist nun aber keineswegs ein wertneutrales und deshalb ein umstrittenes Wort, um dessen Entmystifizierung sich Geisteswissenschaftler:innen in den letzten Jahrzehnten sehr bemüht haben.6 Ich erwähne das hier nur, um vorzuführen, was für ein zentrales Anliegen die Definition eines der schwerwiegendsten Probleme, vor dem die Menschen im 21. Jahrhundert stehen, für die Geistes- und Humanwissenschaften gewesen ist. Dieser Punkt wird unterstrichen, wenn Moralphilosoph:innen wie Peter Singer den Klimawandel als »größte ethische Herausforderung« beschreiben, der sich die Menschheit je gegenüber gesehen hat.7 Es stimmt, dass wir den »von Menschen herbeigeführten, planetarischen Klimawandel« nicht ohne die Hilfe der naturwissenschaftlichen Großforschung definieren können; und es stimmt auch, dass so das Problem der »zwei Kulturen« der Natur- und der Geisteswissenschaften bestehen bleibt.8 Aber die Gerechtigkeitsfragen, die aus der Klimaforschung resultieren, verlangen von uns eine Fähigkeit, die nur die Geisteswissenschaften befördern können: die Fähigkeit, etwas vom Standpunkt eines anderen zu betrachten. Mit anderen Worten die Fähigkeit, »sich in die Notlage eines anderen Menschen zu versetzen«.9

Diese moralische Anforderung an die heutigen Menschen bekommt einen zusätzlichen Schwierigkeitsgrad durch die Über229legung, dass eine ungebremste globale Erwärmung langfristig gesehen durchaus das ohnehin zunehmende, durch Menschen herbeigeführte Aussterben nichtmenschlicher Arten beschleunigen könnte, was traurige Folgen für die Menschen selbst hätte. Es sind Stimmen laut geworden, darunter auch die von Papst Franziskus, die eine Ausweitung menschlicher Gerechtigkeit nicht bloß auf Tiere empfehlen, die eine bestimmte Empfindungsschwelle überschritten haben (wie Tierrechtler:innen früher angeführt haben), sondern auf die gesamte Welt sich auf natürliche Weise reproduzierenden Lebens – auf das, was Aristoteles als zoe bezeichnet hat. Dieser Vorschlag, der faktisch den Bereich des biologischen Lebens der Zuständigkeit menschlicher Sittlichkeit unterstellt, markiert meiner Meinung nach einen entscheidenden Wendepunkt für die heutigen Geisteswissenschaften, weil er sich radikal von einer – unter anderem von Immanuel Kant begründeten – Tradition abwendet, die eine strikte Trennungslinie zwischen unserem »moralischen« und unserem »tierischen« (d. ‌h. biologischen) Leben gezogen hat, weil sie davon ausging, dass die natürliche Ordnung der Dinge immer für Letzteres Sorge tragen würde. Immerhin hat diese Trennungslinie mehr als 100 Jahre lang die vielkritisierte Lücke zwischen den Geisteswissenschaften und der physikalischen oder biologischen Forschung untermauert. Ökologische Denkströmungen haben diese Kluft in Frage gestellt und gelegentlich versucht, sie zu schließen, doch die Lücke bleibt und es ist nicht leicht, sie zu überwinden.

Unsere heutige Frage, wie die Menschen die Ressource ihres moralischen Vermögens zur Steuerung ihres Lebens als einer biosozialen Spezies unter anderen Arten nutzen können, bringt etwas in den Geltungsbereich menschlicher Sittlichkeit hinein, das immer außerhalb ihrer Reichweite gelegen hat: die Geschichte des natürlichen Lebens auf diesem Planeten. Was über ein erweitertes Verständnis des Rechts bestimmter Tiere geschrieben worden ist, war keine angemessene Reaktion auf dieses Problem, weil 230erstens die Zahl der in diesem Zusammenhang berücksichtigten Tiere durch eine »Empfindungsschwelle« begrenzt wurde und zweitens weil der überwiegende Teil des Lebens auf diesem Planeten – wie wir heute wissen – mikrobiell ist.10 Die – mindestens seit der Aufklärung unterstellte und heute noch in vielen sozialwissenschaftlichen Fächern, einschließlich Zweigen der Mainstream-Ökonomie und des politischen Denkens vorherrschende – Annahme, dass die Biosphäre des Planeten schon für unser »tierischen Leben« sorgen werde, während wir angestrengt und ohne Berücksichtigung unseres kollektiven Lebens als biologischer Spezies nach einem kollektiven moralischen Leben suchen, ist mittlerweile stark unter Druck geraten. Dies hat schwerwiegende Folgen für die Geisteswissenschaften, die traditionell als das Gebiet fungieren, auf dem moralische Fragen getrennt vom biologischen Leben erörtert werden. Ich führe dies zunächst durch einen Blick in einige einschlägige Schriften von Kant im Kontext der Diskussion über den Klimawandel und einer möglichen menschlichen Patenschaft für das Leben auf diesem Planeten aus und werde mich dann abschließend mit dem Werk von Bruno Latour befassen, um zu zeigen, welche seiner Überlegungen zukunftsweisend sind.

Anfangen möchte ich mit den beiden vorherrschenden Herangehensweisen an das Problem des Klimawandels.11 Bei der einen Herangehensweise wird das Phänomen einfach als eindimensionale Herausforderung betrachtet: Wie können die Menschen eine Verringerung ihrer Emissionen von Treibhausgas (THG) in den kommenden Jahrzehnten erreichen? Der Klimawandel erscheint dieser Herangehensweise als Frage nach der besten Energiequelle für das menschliche Streben nach universell akzeptierten Zielen 231ökonomischer Entwicklung, um Milliarden von Menschen aus der Armut zu befreien. Die dafür vorgeschlagene Lösung besteht in der Hauptsache darin, dass die Menschheit so schnell auf erneuerbare Energien umsteigt, wie Technologien und Marktsignale es zulassen. Die damit einhergehenden Gerechtigkeitsprobleme betreffen das Verhältnis von armen und reichen Nationen und von gegenwärtigen und künftigen Generationen: Wie sähe eine faire Verteilung des »Rechts auf THG-Emission« – da THGs als knappe Ressourcen gelten – unter den Nationen während dieses Umstiegsprozesses auf erneuerbare Energien aus? Die Frage, wie viele Opfer die Lebenden zur Drosselung der Emissionen bringen sollen, um sicherzustellen, dass noch nicht geborene Menschen eine bessere Lebensqualität erben als die gegenwärtige Generation, ist deutlich schwerer zu lösen, weil ihre politische Durchschlagskraft dadurch verringert wird, dass die Ungeborenen nicht zugegen sind, um ihrem Fall Nachdruck zu verleihen. »[D]as Nichtexistente hat keine Lobby«, hat Hans Jonas einmal gesagt, »und die Ungeborenen sind machtlos.«12

Innerhalb dieser groben Beschreibung der ersten Herangehensweise bleibt viel Raum für Meinungsverschiedenheiten, die von kapitalistischen bis zu nichtkapitalistischen Utopien einer nachhaltigen Zukunft reichen. Die meisten meinen, das Problem bestehe in der Hauptsache darin, auf Brennstoffen beruhende Energiequellen durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Manch anderer – auf der Linken – wäre damit einverstanden, dass eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien angezeigt ist, würde aber weiterhin die These vertreten, dass die Klimakrise selbst, weil sie vom nicht nachlassenden »Akkumulationsbedürfnis« des Kapitalismus herbeigeführt wurde, nur ein weiterer Anlass sei, Marx' Kritik am Kapital wiederzubeleben und zu bekräftigen. Und dann sind da noch jene, die tatsächlich darüber nachdenken, die Ökonomie zurückzufahren und zu schrumpfen, um dadurch den ökologischen Fußabdruck der Menschheit zu verringern und gleich232zeitig eine Welt zu entwerfen, die sich durch Gleichheit und soziale Gerechtigkeit für alle auszeichnet. Wiederum andere beabsichtigen – nach einem Szenario, das sich »Konvergenz-Szenario« nennt –, auf globaler Ebene einen Zustand ökonomischer Ausgewogenheit zu erreichen, damit alle Menschen mehr oder weniger denselben Lebensstandard besitzen. Die Rolle der Geisteswissenschaften ist dabei im Wesentlichen auf Fragen der Klimagerechtigkeit beschränkt, zu deren Erörterung sowohl politische Ökonomen als auch Philosoph:innen (Rawls'scher und utilitaristischer Prägung) beitragen.13 Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten hat die Verkürzung der Klimakrise auf das Problem erneuerbarer Energien den Vorteil, dass wir auf ihrer Grundlage sowohl strategische als auch politische Rahmenbedingungen entwickeln können.

Man kann den Klimawandel jedoch auch nicht bloß als solchen, sondern als Teil einer Familie miteinander verzahnter Probleme betrachten. Exponentielles Bevölkerungswachstum, Nahrungsunsicherheit, Wasserknappheit, Ausweitung der Rohstoffmärkte und zunehmende ökonomische Ungleichheit – alle diese Faktoren, die zu Konflikten zwischen Mensch und Tier, zum Lebensraumverlust anderer Arten, zu THG-Emissionen und so weiter beitragen, sind von ihrem Umfang planetarisch und sprechen für eine tatsächliche Überschreitung aller ökologischen Grenzen von Seiten der Menschheit, durch die die Verteilung des natürlichen Lebens auf diesem Planeten in Mitleidenschaft gezogen wird. So gesehen, scheint die globale Erwärmung eher eine allen Menschen – von anderen Arten ganz zu schweigen – gemeinsame Notlage als ein bloßes Problem des Umsteigens auf erneuerbare Energien zu sein. Hinzu kommt noch die knifflige Frage der menschlichen »Handlungsmacht«, die von vielen Wissenschaftler:innen hervorgehoben worden ist, also die neue geophysische Handlungsmacht der Menschheit in einer Größenordnung, die ihr bereits eine Änderung des Klimas auf diesem Planeten für 233die nächsten 100 ‌000 Jahre ermöglicht hat, wodurch sich die nächste Eiszeit um etwa 50 ‌000 bis 500 ‌000 Jahre verschiebt.14 Aus dieser Perspektive, deren Blick sowohl in die tiefe Vergangenheit als auch in die ferne Zukunft reicht, ergibt sich eine ganz besondere Herausforderung für unsere Vorstellung von der Moderne. Wenn das Problem des planetarischen Klimawandels darauf zurückzuführen ist, dass unser Energiebedarf immer größer wird, könnte man nämlich die überschüssigen THGs in der Atmosphäre leicht als den daraus resultierenden »Abfall« betrachten, der sich bisher noch nicht in einem dem menschlichen Gedeihen entsprechenden Zeitrahmen ordnungsgemäß recyceln lässt (denn für die menschlichen Bedürfnisse ist der Planet viel zu langsam!). Da dieser menschliche »Abfall« – durch die Versauerung der Ozeane oder durch das Steigen der Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche – andere Lebensformen in Mitleidenschaft zieht, verlangt die Krise von uns, etwas zu tun, für das uns die Geisteswissenschaften schulen, uns nämlich »in die Notlage […] [von] anderen […] zu versetzen«, wobei in diesem Fall zu den einschlägigen »anderen« nicht bloß Menschen, sondern auch Nichtmenschen gehören.

Natürlich wurde diese Verschiebung unserer moralischen Orientierung nicht allein vom physischen Phänomen der Erwärmung verursacht. Wenn jemand vorstellbar wäre, der den evolutionären Maßstab in den Blick nimmt, nach dem die Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten abläuft, würde er uns eine Geschichte über den Homo sapiens erzählen, der sich innerhalb dieser Historie binnen sehr, sehr kurzer Zeit an die Spitze der Nahrungskette gesetzt hat. »Wenn wir uns«, schreibt John Brooke in seiner meisterlichen Studie über menschliche Geschichte und Klimawandel, »die fünf Millionen Jahre der menschlichen Evolution als einen 24-Stunden-Zeitraum vorstellen, betragen die 300 ‌000 Jahre der modernen Menschheit insgesamt etwa eineinhalb Stunden, die 135 ‌000 Jahre, seit der moderne Mensch Afrika verlassen hat, um234fassen ungefähr eine halbe Stunde und die 12 ‌000 Jahre seit Ende des Pleistozäns […] etwas mehr als vier Minuten. […] Erst vor etwa 6000 Jahren, das heißt mehr als die Hälfte der Zeit, die seit Ende des Pleistozäns vergangen ist, nahm ein nennenswerter Teil der Menschheit eindeutig Kurs auf den Ackerbau.« Zudem, merkt er an, »scheint der Aufstieg sesshafter Agrargesellschaften gemessen an der Länge der Geschichte des Erdsystems nur eine kurze, explosionsartige Aufbruchsphase gewesen zu sein, die von der Entstehung des modernen Menschen mitsamt seiner globalen Kolonisierungen und Verdichtungen bis zur hoch technologisierten, überbevölkerten und klimatisch unausgewogenen Lage unserer Gegenwart reicht«.15

In der Großgeschichte, die Brooke erzählt, würde die noch verwickeltere Geschichte der Unterschiede von Arm und Reich eine feinere Auflösung benötigen. Wie ich anderenorts gesagt habe, verlangt die Überschreitung der ökologischen Grenzen durch die Menschheit gleichzeitig von uns, dass wir uns an die Einzelheiten der Ungerechtigkeit zwischen den Menschen heranzoomen – sonst würden wir nicht sehen, dass viele Menschen leiden – und dass wir uns aus dieser Geschichte herauszoomen – anderenfalls würden wir nicht sehen, dass andere Arten leiden oder dass sozusagen der Planet leidet.16 Beim Heran- und Herauszoomen geht es darum, zwischen verschiedenen Maßstäben, Perspektiven und unterschiedlichen Abstraktionsebenen hin und her zu pendeln. Eine Abstraktionsebene hebt die andere nicht auf oder macht sie gegenstandslos. Und eine solche Trennung der Ebenen leugnet auch nicht den Umstand, dass wir in unserem Alltagsleben zuweilen Freude an der geologischen Handlungsmacht der Menschheit haben, ohne es zu wissen oder sie so zu bezeichnen (siehe meine Einleitung). Aber in diesem ganzen Buch kommt es mir darauf an, dass die Geschichte der Menschheit sich nicht mehr aus der Perspektive von (höchstens) 500 Jahren Kapitalismus erzählen lässt.

235Trotz aller Ausdifferenzierungen bleiben die Menschen eine Spezies. Nehmen wir einmal an, all die radikalen Argumente, dass die Reichen immer über Rettungsboote verfügen werden und sich deshalb aus allen misslichen Lagen freikaufen können, einschließlich eines Massensterbens, würden zutreffen. Und man stelle sich eine Welt vor, in der irgendein sehr weiträumiges Artensterben stattgefunden hat und nur die Menschen überlebt haben, die zufällig privilegiert waren und den reicheren Klassen angehörten. Würde ihr Überleben nicht auch ein Überleben der Spezies bedeuten (selbst wenn die Überlebenden sich irgendwann in herrschende und untergeordnete Gruppen ausdifferenzieren würden, wie es bei Menschen üblich zu sein scheint)?

Ohne Verweis auf das Leben anderer Arten ergibt die Überschreitung der ökologischen Grenzen durch die Menschheit keinen Sinn. Zudem sind die Menschen in dieser Geschichte ebenfalls eine Spezies, wenn auch eine dominante. Dies macht die Geschichte von der kapitalistischen Unterdrückung nicht hinfällig. Und es läuft auch nicht auf die Behauptung hinaus, dass irgendeine Einzeldisziplin einen besonders guten Zugriff auf die Erfahrung hat, was es heißt, ein Mensch zu sein. Die Biologie oder eine andere Naturwissenschaft, die der existentiellen Dimension des Menschseins keine Beachtung schenkt, wird die menschliche Erfahrung, sich zu verlieben oder Liebe für Gott zu empfinden, niemals auf dieselbe Weise erfassen, wie Dichtung oder Religion es vermögen. Ein großes Gehirn verleiht uns die Fähigkeit, etwas von wirklich riesenhafter Größenordnung zu erkennen. Doch es macht auch unsere zutiefst subjektive Selbsterfahrung möglich und verleiht uns das Vermögen, unser individuelles Leben als sinnvoll bzw. bedeutsam zu erleben. Wir sind nicht in der Lage, alle Wissensformen zusammenzuführen, aber ohne Zweifel können wir uns selbst und die Geschichte des Menschen aus vielen Perspektiven gleichzeitig betrachten.

In Bezug auf das Phänomen des Aufstiegs der Menschen in 236eine Herrschaftsposition – das sich möglicherweise der Entwicklung eines großen Gehirns verdankt, mit dessen Hilfe der Mensch über Zehntausende von Jahren hinweg Bindungen und Zugehörigkeiten zu imaginierten Gemeinschaften weit über den Face-to-Face-Maßstab von Sippen oder Verwandtenhorden hinaus schuf – gehen mittlerweile viele davon aus, dass dieser Aufstieg über einen sehr langen historischen Zeitraum stattfand, der bis in die Zeit zurückreichte, die Daniel Smail als unsere »Tiefenhistorie« bezeichnet.17 In seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit erklärt der israelische Historiker Yuval Noah Harari den Sachverhalt gut. Eine der Hauptverwendungsweisen der frühen »Steinwerkzeuge«, schreibt Harari, bestand darin, »Knochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelangen. Einige Wissenschaftler meinen, dies sei unsere ökologische Nische gewesen.« Warum? Weil, erklärt Harari, »sich die Gattung Homo [bis vor kurzem] irgendwo in der Mitte der Nahrungskette [befand].«18 Der Mensch konnte tote Tiere erst dann essen, wenn Löwen, Hyänen und Füchse ihre Portion bereits gehabt und die Knochen von allem Fleisch gesäubert hatten, das an ihnen hing. »Erst in den vergangenen 100 ‌000 Jahren«, sagt Harari, »mit dem Aufstieg des Homo sapiens, schaffte die Gattung Mensch den Sprung an die Spitze der Nahrungskette.«19 Evolutionär gesehen, war das keine Änderung, wie Harari erklärt:

 

Andere Raubtiere wie Löwen oder Haie hatten sich [ganz allmählich] über Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasst. Das versetzte das Ökosystem in die Lage, ein sich wechselseitig kontrollierendes System wie bei der Gewaltenteilung zu entwickeln. […] Je tödlicher die Löwen wurden, desto schneller rannten die Gazellen, desto kooperativer zeigten sich die Hyänen und desto schlechter gelaunt wurden die Nashörner. Die Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag zum anderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit, sich darauf einzustellen.20

 

Harari erwähnt noch eine weitere bedeutende Tatsache. Infolge ihres überhasteten Aufstiegs an die Spitze der Fleischfresser, 237schreibt Harari, »misslang [den Menschen] die Anpassung.« Und er fügt hinzu: »Die meisten großen Raubtiere auf dem Planeten sind Ehrfurcht gebietende Geschöpfe. Jahrmillionen der Herrschaft haben ihnen Selbstvertrauen gegeben. Dagegen wirkt der Homo sapiens eher wie ein Diktator in einer Bananenrepublik.«21

Der ökologische Fußabdruck des Menschen, kann man sagen, vergrößerte sich mit der Erfindung des Ackerbaus (vor mehr als 10 ‌000 Jahren, aber verstärkt in den folgenden Jahrtausenden) weiter und dann noch einmal, nachdem die Ozeane (vor etwa 6000 Jahren) ihren heutigen Pegel erreicht hatten und wir unsere antiken Städte, Imperien und urbanen Ordnungen errichteten, während wir in alle Winkel des Planeten ausschwärmten. Wiederum größer wurde er in den letzten 500 Jahren durch die europäische Expansion und Kolonisierung entlegener Länder, die von anderen Völkern bewohnt wurden, und dem darauf folgenden Aufstieg der industriellen Zivilisation. Dramatisch weitete er sich dann aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus, als die Zahl der Menschen und der Konsum dank des großflächigen Einsatzes fossiler Brennstoffe nicht nur im Transportwesen, sondern auch in Landwirtschaft und Medizin exponentiell wuchs, was es schließlich sogar den Armen auf der Welt erlaubte, länger – wenn auch nicht gesund – zu leben.22

Von Seiten der Wissenschaft ist dafür der Begriff »Overshoot« vorgeschlagen worden, also »Fälle« von Grenzüberschreitung, wie William R. Catton Jr. 1980 in einem Buch gleichen Titels vorgebracht hat, »in denen Organismuspopulationen ihre eigene Umwelt so veränderten, dass sie ihr eigenes Leben untergruben«.23 In der Literatur über Tierbefreiung bzw. -rechte, die die moralische Gemeinschaft der Menschen so erweitert, dass sie auch (einige) Tiere umfasst, werden Probleme sowohl der Grausamkeit gegenüber Tieren als auch der Grenzüberschreitung der menschlichen Konsumbedürfnisse gewürdigt.24 Forscher:innen, die das von Menschen im Zusammenhang mit dem anthropoge238nen Klimawandel herbeigeführte Artensterben untersuchen, haben schon vor langer Zeit erkannt, dass die Menschen, häufig zu ihrem eigenen Nachteil, in den verschiedenen Ökosystemen, die sie bewohnen, »übers Ziel hinausschießen« (overreach).25 Hinzu kommt, dass auch in den weithin bekannten, von einigen Geowissenschaftler:innen und anderen Gelehrten vorgebrachten Argumenten über »die große Beschleunigung« und »planetarische Grenzen« nichts anderes festgestellt wird als die Überschreitung der ökologischen Grenzen von Seiten der Menschheit. Wie einer der Urheber der These von der »großen Beschleunigung« es ausgedrückt hat, »soll der Ausdruck ›Große Beschleunigung‹ das ganzheitliche und übergreifende Wesen miteinander verketteter Veränderungen nach 1950 einfangen, die gleichzeitig über den sozioökonomischen und über den biophysikalischen Bereich des Erdsystems hinweggefegt sind und weit mehr umfassen als den Klimawandel.«26 Ihre Daten dokumentieren den exponentiellen Anstieg der menschlichen Population, des realen Bruttoinlandsprodukts, der Stadtbevölkerung, des Primärenergieverbrauchs, des Düngereinsatzes, der Papierherstellung, des Wasserverbrauchs, des Verkehrs und so weiter – all dies geschah nach den 1950er Jahren. Parallel dazu nehmen die »Erdsystemtrends« exponentiell zu, die mit dem Ausstoß von Kohlenstoffdioxid, Methan, Stickstoffoxid zu tun haben; mit der Versauerung der Ozeane, mit dem Verlust der Ozonschicht, mit Meeresfischkulturen, Garnelenzucht, den Regenwäldern, mit dem Verfall der terrestrischen Biosphäre und so weiter.27 Auf ähnliche Weise war auch der von Johan Rockström und seinen Kolleg:innen am Stockholm Resilience Center im Jahr 2009 vorgebrachte Gedanke von neun »planetarischen Grenzen«, deren Überschreitung die Menschen vermeiden sollten, ein Messversuch, wie weit die Menschen ökologisch übers Ziel hinausgeschossen sind.28 Einige Erdsystemforscher:innen haben jüngst zu Protokoll gegeben, dass »die gegenwärtige anthropogene Freisetzungsrate von Kohlenstoff [ungefähr 10 Petagramm 239C jährlich; 1 Petagramm = 1015 Gramm] während des [gesamten] Känozoikums (in den letzten 66 Millionen Jahren) beispiellos ist« und dass »das gegenwärtige/künftige Tempo von Klimawandel und Ozeanversauerung für die Adaptation vieler Arten zu rasch vor sich geht«, sodass es wahrscheinlich in der Zukunft zu »einem umfassenden Aussterben in der marinen und in der terrestrischen Umwelt« kommen wird. Faktisch befinden wir uns in »einem Zeitalter der Unverhältnismäßigkeit, was für zwingende, die Zukunft betreffende Klimaprognosen eine grundsätzliche Herausforderung darstellt«.29

Nicht nur haben Meerestiere und viele andere terrestrische Arten über nicht genügend evolutionäre Zeit verfügt, um sich unserer wachsenden Fähigkeit anzupassen, sie zu jagen oder ihrer Existenz ein Ende zu setzen, unsere THG-Emissionen bedrohen mittlerweile auch die Biodiversität der Weltmeere und bringen so eben das Nahrungsnetz in Gefahr, aus dem unsere Lebensmittel stammen. Jan Zalasiewicz und seine Kollegen von dem Unterausschuss der Internationalen Stratigraphischen Kommission, der für die Dokumentation des Anthropozäns zuständig ist, machen darauf aufmerksam, dass sich das Anthropozän langfristig möglicherweise eher durch den Fußabdruck nachweisen lassen wird, den der Mensch in Gestalt von Fossilien und anderen Anhaltspunkten – wie etwa der Terraformierung des Meeresbodens – im Gestein dieses Planeten hinterlässt, als durch das überschüssige Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre. Wenn das vom Menschen vorangetriebene Aussterben anderer Arten – zum Beispiel in einem der nächsten Jahrhunderte – zu einem großen Massensterben führen wird, könnte sich sogar die Benennung des Anthropozäns als einer Epochenschwelle auf der Stufenleiter der geologischen Zeitalter als eine nicht weit genug gehende Kategorie erweisen.30 Im Rahmen eines Aufsatzes über den Klimawandel hat der Musikhistoriker und -theoretiker Gary Tomlinson das Problem kürzlich aus dem Blickwinkel des Erdsystems gut zusammengefasst:

240Über Millionen von Jahren der biokulturellen Evolution […] sind bestimmte Systeme außerhalb der Rückkopplungszyklen der hominiden Nischenkonstruktion verblieben. Im Wesentlichen wurden astronomische Dynamiken, tektonische Verschiebungen, Vulkanismus, Klimazyklen und ähnliche Kräfte von menschlicher Kultur und menschlichem Verhalten nicht angetastet (bzw. wenn sie angetastet wurden, geschah das in verschwindend geringerem Grade). Systemtheoretisch gesprochen, waren alle diese Kräfte nämlich Elemente zur Vorwärtskopplung: externe Steuerungselemente, welche die Rückkopplungszyklen von außen ›einstellten‹, indem sie auf deren Binnenelemente einwirkten, von der Rückkopplung selbst aber nicht tangiert wurden. […] Im Anthropozän […] ist eine systemische Neuanordnung zu verzeichnen, durch die Systeme, die immer von außerhalb der menschlichen Nischenkonstruktion als Vorwärtskopplungselemente fungiert haben, in Rückkopplungselemente in deren Innerem umgewandelt worden sind.31

 

So gesehen, meint Zalasiewicz im Schlussabsatz eines neueren Aufsatzes, »besteht der Wert des – ob nun formal anerkannten oder informellen – Anthropozäns eindeutig darin, dass es uns vor dem größtmöglichen Gesamthintergrund mit einer Perspektive in Bezug auf den Maßstab und das Wesen des Unternehmens Mensch und in Bezug darauf ausstattet, wie dieses sich mit anderen Prozessen des Erdsystems überschneidet (mittlerweile ›mit ihnen verflochten‹ ist, würde es vielleicht besser ausdrücken).«32 Deshalb ist der anthropogene Klimawandel kein Problem, das sich isoliert vom Gesamtkomplex der ökologischen Probleme untersuchen lässt, mit denen die Menschen mittlerweile auf verschiedenen Ebenen – vom Lokalen bis zum Planetarischen – konfrontiert sind, wodurch neue Konflikte entstehen und alte sich zwischen und innerhalb von Nationen verschärfen. Die eine Wunderwaffe, die alle Probleme auf einmal löst, gibt es nicht; nichts, was funktioniert wie das Mantra des Umsteigens auf erneuerbare Energien, um einen Anstieg der durchschnittlichen Oberflächentemperatur auf diesem Planeten um 2 ‌°C zu verhindern. Allem Anschein nach stehen wir tatsächlich vor einem vertrackten Problem und sind in der Bredouille. Wir mögen in der Lage sein, es zu diagnostizieren, aber wir können es nicht endgültig »lösen«.33

Wenn, wie ich behauptet habe, die Herausforderung, vor die die Größenordnung der von unserer Animalität (d. ‌h. vom Menschen als Konsumenten, als animal laborans, wie Hannah Arendt es formuliert) geschaffenen Probleme unsere Moralität stellt, die unterstellte Trennung unseres »moralischen« Lebens von unseren »tierischen« Leben durchbricht und von uns verlangt, dass wir »moralische« Lösungen für Probleme finden, die die »Naturgeschichte« der menschlichen Spezies geschaffen hat, dann stehen die Humanwissenschaften und ganz besonders die Geisteswissenschaften fraglos heute vor einer neuen Aufgabe. Denn auf eben diese Trennung des tierischen und des moralischen Lebens der menschlichen Spezies stützte sich zu weiten Teilen des 20. Jahrhunderts die Trennung der Humanwissenschaften von der physikalischen und biologischen Forschung.34 Das Thema verdient eine eingehendere Untersuchung. Aber ältere Leser:innen werden sich daran erinnern, wie laut – und oftmals bissig – die Stimmen waren, die sich für eine solche Trennung aussprachen, als Edward O. Wilson 1975 sein Buch Sociobiology veröffentlichte, in dem er einige steile Thesen über den Zusammenhang von Biologie und Kultur aufstellte und es bei dieser Gelegenheit fertigbrachte, Marxist:innen und Sozialwissenschaftler:innen vieler anderer Glaubensrichtungen gegen sich aufzubringen.35

Die anhaltende Bedeutung der unterstellten Trennung der Moralität des Menschen von seiner Animalität oder Kreatürlichkeit in den Moderne-Narrativen nach der Aufklärung lässt sich möglicherweise am besten unter Bezugnahme auf eine Fabel untersuchen, die Immanuel Kant in einem 1786 erschienenen kleinen Aufsatz mit dem Titel »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« ausbuchstabiert hat. Im Zentrum dieses Aufsatzes, in dem Kant eine faszinierende Deutung der biblischen Schöpfungsgeschichte und der Frage der Herrschaft des Menschen 242über die Erde vorlegt, stand der Gegensatz der Animalität der menschlichen Spezies und ihrer Moralität.36 Ziel von Kants Unterfangen war es, das »unter sich und mit der Vernunft in Einstimmung zu bringen«, was seiner Einschätzung nach die »so oft gemißdeuteten, dem Scheine nach einander widerstreitenden Behauptungen des berühmten J. ‌J. Rousseau« waren:

 

In seiner Schrift über den Einfluß der Wissenschaften und der über die Ungleichheit der Menschen zeigt er [Rousseau] ganz richtig den unvermeidlichen Widerstreit der Kultur mit der Natur des menschlichen Geschlechts als einer physischen Gattung, in welcher jedes Individuum seine Bestimmung ganz erreichen sollte; in seinem Emil aber, seinem gesellschaftlichen Kontrakte und anderen Schriften sucht er wieder das schwere Problem aufzulösen: wie die Kultur fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, sodaß diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite.37

 

Dieser Widerstreit – der sich im Menschen daran entzündet, dass die menschliche Spezies gleichzeitig ein »physisches/natürliches/tierisches« (diese Wörter werden in seinem Aufsatz synonym verwendet) Leben und ein moralisches Leben besitzt – nahm in Kants Augen entscheidenden Einfluss auf die menschliche Geschichte. Denn alle »Anreize« zum »Laster« entsprängen »Naturanlagen«, die dem Menschen im »bloßen Naturzustand« verliehen worden seien; sie würden notwendig mit der »fortgehende[n] Natur« in Konflikt geraten. »[D]as letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung« könne erst erreicht werden, wenn »vollkommene Kunst«, so Kant wörtlich, »wieder Natur« werde.38

Kants Reaktion auf die Denkaufgabe, vor die Rousseaus Werk ihn stellt, ist in der umfangreichen Literatur über den Königsberger Philosophen vielfach erörtert worden, wobei bestimmte kritische Elemente seiner Reaktion in einigen Fällen auf alte unter anderem von Thomas von Aquin postulierte Prinzipien zurückgeführt wurden.39 Ich habe hier allerdings nicht die Absicht, die 243historischen Wurzeln von Kants Denken auszugraben, vielmehr möchte ich Kants Argumentation rekonstruieren, um im Einzelnen zu erklären, welches Verständnis des Verhältnisses der tierischen und der moralischen Aspekte des Menschen er genau anstrebte. Zu Beginn seines Aufsatzes erklärte Kant, warum er so frei sein könne, die Schöpfungsgeschichte als »mutmaßliche Geschichte« zu deuten, wobei er klarstellte, dass Mutmaßungen nicht dasselbe wie »Erdichtung[en]« seien.40 Mutmaßungen könnten »von der Erfahrung hergenommen werden«, die fragliche Erfahrung sei aber etwas, das in der »Natur« gründe und in Kants Augen von seiner Wesensstruktur gleich bliebe. Wenn also die Menschengeschichte eine Geschichte der Freiheit sei, könnten über ihren »ersten Anfang« (vernunftgeleitete) Mutmaßungen angestellt werden, wenn wir uns dabei auf unsere Erfahrung der (per definitionem gleichbleibenden) Natur stützen würden und nur sofern der fragliche Anfang von niemand anderem als der Natur selbst gemacht werde. Kant hat das folgendermaßen ausgedrückt: »Eine Geschichte der ersten Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen ist daher etwas ganz anderes, als die Geschichte der Freiheit in ihrem Fortgange, die nur auf Nachrichten gegründet werden kann« und deshalb zum Tätigkeitsgebiet des Historikers wird.41

Natürlich ging Kant von einigen Vorannahmen in Bezug auf den ursprünglichen Zustand des Menschen aus, damit wir nicht »in Mutmaßungen schwärmen«. Er hielt eine bestimmte Gestalt des Menschen für selbstverständlich – »so muß der Anfang von dem gemacht werden, was keiner Ableitung aus vorhergehenden Naturursachen durch menschliche Vernunft fähig ist« – und fing deshalb »nicht von der gänzlichen Rohigkeit seiner Natur an«, sondern mit dem Menschen »in seiner ausgebildeten Größe, weil er der mütterlichen Beihilfe entbehren muß«. Außerdem ging er davon aus, dass der »Mensch« eigentlich »in einem Paare« seinen Anfang nehme, »damit er seine Art fortpflanze«, und zwar in 244»nur einem einzigen Paare, damit nicht sofort der Krieg entspringe, wenn die Menschen einander nahe und doch einander fremd wären«. Diese Voraussetzung stellte in Kants Augen sicher, dass »die Natur nicht beschuldigt werde, sie habe […] es an der schicklichsten Veranstaltung zur Geselligkeit […] fehlen lassen«, die Kant als »größten Zweck […] der menschlichen Bestimmung« betrachtete (denn der Wunsch nach Geselligkeit werde durch »die Einheit der Familie, woraus alle Menschen abstammen sollten«, verstärkt). Davon abgesehen, ging er von weiteren Vorannahmen aus, um der Logik seiner Mutmaßungen ohne Umwege folgen zu können: »Der erste Mensch konnte also stehen und gehen; er konnte sprechen (1. B. Mose Kap. II, v. 20), ja reden, d. ‌i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen (v. 23), mithin denken.« Diese Schwelle aus Vorannahmen in Bezug auf die menschlichen »Geschicklichkeiten«, überlegte er, würde es ihm erlauben, »bloß die Entwickelung des Sittlichen in seinem [des Menschen] Tun und Lassen […] in Betrachtung zu ziehen«. Nachdem er das ursprüngliche Menschenpaar auf diese Weise rekonstruiert hat, versetzt Kant es direkt in etwas, das wir heute als geologisches Zeitalter des Holozäns betrachten würden, das in Sachen »menschlicher Zivilisation« bereits beträchtliche Fortschritte erzielt hat: »Ich setze dieses Paar in einen wider den Anfall der Raubtiere gesicherten und mit allen Mitteln der Nahrung von der Natur reichlich versehenen Platz, also gleichsam in einen Garten, unter einem jederzeit milden Himmelsstriche.«42 Kant wusste das nicht, aber der »Mensch«, den er voraussetzt, konnte erst existieren, nachdem die letzte Eiszeit vorbei war!

Kants »Mensch« trat seine Reise in völliger Versunkenheit im tierischen Leben der Spezies an, wo nur der Instinkt – »diese Stimme Gottes, der alle Tiere gehorchen« – »den Neuling anfänglich leite[t]«. Doch zu dem Zeitpunkt, als Kant seinen Blick auf den Menschen richtet, hatte bereits ein sich gewissermaßen jenseits des tierischen Lebens befindendes und gleichwohl von ei245nem Plan der Natur dort vorgesehenes Vermögen, nämlich die Vernunft, angefangen, sich im Menschen »zu regen« und – gemeinsam mit einem sie begleitenden menschlichen Vermögen, der Einbildungskraft – »Begierden […] ohne einen darauf gerichteten Naturtrieb« zu »erkünsteln«, was dazu führte, dass der Mensch »sich seiner Vernunft als eines Vermögens bewußt [wurde], das sich über die Schranken, worin alle Tiere gehalten werden, erweitern kann«.43 Dem folgte eine Entdeckung von entscheidender Bedeutung: »Er [der Mensch] entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein.«44 Die Vertiefung dieser »inniglichen« Neigung verlieh dem Menschen das Vermögen, sich bloß tierischen Begierden zu verweigern – woraus sich die Liebesfähigkeit entwickelte. »Weigerung«, schrieb Kant, »war das Kunststück, um von bloß empfundenen zu idealischen Reizen, von der bloß tierischen Begierde allmählich zur Liebe, und mit dieser vom Gefühl des bloß Angenehmen zum Geschmack für Schönheit […] überzuführen.« Zusammen mit der Entwicklung eines Sinns für »Anstand« gab dies »den ersten Wink zur Ausbildung des Menschen als eines sittlichen Geschöpfs«. – »Ein kleiner Anfang«, der aber in Kants Augen »Epoche macht«.45 Außerdem lenkte die Vernunft die Menschen hin zur »überlegte[n] Erwartung des Künftigen« und dann auf eine Ebene, die »den Menschen über die Gesellschaft mit Tieren gänzlich« erhob, weil sie ihn in die Lage versetzte, sich selbst – »wiewohl nur dunkel« – als eigentlichen »Zweck der Natur« zu begreifen. Jetzt vermochte der Mensch zu erkennen, dass »die Natur« den Schafen ihren Pelz nicht für sie selbst, sondern für ihn »gegeben« habe. Damit hatte seine Herrschaft über die Erde begonnen, von der in der Schöpfungsgeschichte die Rede ist. Doch führte dies auch zur Idee der Gleichheit aller Menschen – »Menschen [haben einen anderen Menschen] als gleichen Teilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen« – und, wichtiger noch, 246zu dem Gedanken, dass »der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten (III, 22)« sei, insbesondere im Hinblick auf seinen Anspruch, »selbst Zweck zu sein«.46 Diese Formulierung weist natürlich eine enge Verwandtschaft mit Kants berühmtem Diktum auf, dass jeder Mensch als Zweck an sich selbst und nicht instrumentell als Mittel zum Zweck behandelt werden sollte.47

Kant war sich sehr wohl bewusst, dass »diese[…] Darstellung der ersten Menschengeschichte« offenbarte, »daß der Ausgang des Menschen aus dem […] Paradiese nicht anders als der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leistung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen sei«.48 Sittlich gesehen, erzählt diese Geschichte zwangsläufig von einem »Fall«, wie Kant erklärt. Ehe die Vernunft sich in der menschlichen Brust zu regen begann, »war noch kein Gebot oder Verbot, und also noch keine Übertretung«. Doch konnte die Vernunft sich »mit der Tierheit und deren ganzen Stärke« verbünden, sodass »bei kultivierter Vernunft Laster entspringen« (es zum Beispiel zu Kriegen kommt). »[A]uf der sittlichen Seite«, schreibt Kant, war »[d]er erste Schritt also aus diesem Stande [dem Stand der Unschuld] […] ein Fall; auf der physischen waren eine Menge nie gekannter Übel des Lebens [Naturkatastrophen, Not] die Folge dieses Falls, mithin Strafe.«49 Ein Großteil der uns bekannten menschlichen Geschichte war eine Folge dieses Falls: Es kam zu Not, Ungleichheit – »diese reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten« –, Kriegen, und Menschen ließen sich »in das glänzende Elend der Städte ziehen«.50 Doch machte dies die Rolle der Vernunft in der Geschichte der menschlichen Freiheit auch komplizierter. Die Menschen konnten die Vernunft auf eine ihre Bestimmung als Spezies beschleunigende Weise benutzen, die der Schöpfungsgeschichte zufolge in der Herrschaft des »Menschen« 247bestand: »über die Erde zu herrschen, nicht viehisch zu genießen und sklavisch zu dienen«.51 Doch die Vernunft führt nicht direkt dazu, dass die Menschen ihre Bestimmung erkennen (auch wenn Kant in anderen Aufsätzen erklären wird, warum die Menschen letzten Endes trotzdem ihre Bestimmung erfüllen). Deshalb schreibt Kant: »Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk52

***

Der Schlüssel zum Erfolg des Menschen liege darin, »mit der Vorsehung zufrieden zu sein«, schreibt Kant am Schluss dieses Aufsatzes.53 Doch genau dies ist den Menschen nie leichtgefallen. Die Vorsehung zeigte sich an Dingen, die die Menschen als Widrigkeiten auffassten: Kriege (die am Ende »den Oberhäuptern der Staaten […] Achtung für die Menschheit« abnötigten), die Kürze des Lebens (die sicherstellt, dass der Fortschritt nicht Einzelpersonen, sondern der Spezies zukommt) und das Ausbleiben eines goldenen Zeitalters reinen Müßiggangs ganz ohne Mühseligkeiten.54 Kant hat das folgendermaßen formuliert: »Zufriedenheit mit der Vorhersehung und dem Gange menschlicher Dinge im ganzen, der nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom Schlechtern zum Bessern allmählich entwickelt; zu welchem Fortschritte denn ein jeder an seinem Teile, soviel in seinen Kräften steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist.«55

Der späte Kant wird diese grundlegenden Punkte in der dritten Kritik (im Abschnitt über das teleologische Urteil) und in mehreren Aufsätzen, darunter »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) und »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (1793), vorwegnehmen, wiederholen und wei248terentwickeln. Folgendes schreibt Kant zum Beispiel in der dritten Kritik über das Thema der Trennung von menschlicher Sittlichkeit und der Naturgeschichte des Menschen:

 

Andererseits ist soweit gefehlt, daß die Natur ihn [den Menschen] zu ihrem besonderen Liebling aufgenommen […] habe: daß sie ihn vielmehr in ihren verderblichen Wirkungen in Pest, Hunger, Wassergefahr, Frost, Anfall von anderen großen und kleinen Tieren u. dgl. ebensowenig verschont, wie jedes andere Tier; noch mehr aber, daß das Widersinnische der Naturanlagen in ihm ihn noch in selbstersonnene Plagen, und noch andere von seiner eigenen Gattung durch den Druck der Herrschaft, die Barbarei der Kriege usw. in solche Not versetzt […]. Er ist also immer nur Glied in der Kette der Naturzwecke; […] Als das einzige Wesen auf Erden, welches Verstand, mithin ein Vermögen hat, sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen, ist er zwar betitelter Herr der Natur und, wenn man diese als ein teleologisches System ansieht, seiner Bestimmung nach der letzte Zweck der Natur; aber immer nur bedingt, nämlich daß er es verstehe und den Willen habe, dieser und ihm selbst eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig von der Natur sich selbst genug, mithin Endzweck sein könne, der aber in der Natur gar nicht gesucht werden muß.56

 

Wichtig an dieser Stelle ist die Trennung, die Kant zwischen Animalität und Sittlichkeit des Menschen vornahm, um seine Theorie menschlicher Freiheit voranzutreiben. Er ging davon aus, dass das tierische Leben des Menschen gegeben sei, gleich bleibe und vom Planeten (von der Biosphäre, würden wir heute sagen) gewährleistet werden würde. Die Geschichte und das Denken des Menschen seien in der Hauptsache mit der beständigen Anstrengung der Menschen befasst, ihrer moralischen Bestimmung »vollkommener« und gerechter Geselligkeit gerecht zu werden: »[D]ie Natur [hat] in uns zwei Anlagen zu zwei verschiedenen Zwecken, nämlich der Menschheit als Tiergattung und ebenderselben als sittlicher Gattung, gegründet.«57

Der Druck, den das »tierische Leben«, also die Animalität der menschlichen Spezies – unser (trotz schwerwiegender Ungerechtigkeiten in den menschlichen Gesellschaften) materielles Gedeihen und demografisches Wachstum – inzwischen auf die Verteilung des sich auf natürliche Weise reproduzierenden Lebens auf der »Erde« ausübt und die menschliche Existenz als solche gefährdet, wird mit jedem Tag deutlicher. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Denker:innen und Philosoph:innen den Klimawandel als größte ethische Herausforderung unserer Zeit bezeichnet und maßgebliche moralisch-theologische Fragen aufgeworfen haben, die in säkularer Form auf den biblischen Plan der »Herrschaft des Menschen über die Erde« zurückkommen: Was soll der Mensch dagegen tun, dass unser tierisches/natürliches Leben die natürliche Lebensgrundlage der nichtmenschlichen Wesen unter sich begräbt? In diesem moralisch aufgeladenen Zusammenhang stellt sich auch die Frage des Kapitalismus neu. Sollen wir mit dem Kapitalismus aber ohne fossile Brennstoffe weitermachen? Sollen wir nach Alternativen zum Kapitalismus suchen? Sollen die Menschen sich zu kleinen Gemeinschaften zurückbilden? Sollen die Reichen ihren Konsum einschränken?

Diese moralischen Fragen zeugen von der langen Lebensdauer einer von Kants Behauptungen: dass nämlich menschliche Sittlichkeit unterstellt, der Mensch könne »sich selbst eine Lebensweise aus[…]wählen und« sei »nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden«.58 Doch wenn meine obige Argumentationsweise zutrifft, könnte man auch behaupten, dass die von mir geschilderte Kantische Fabel von der Menschengeschichte inzwischen auf beispiellose Weise unter Druck geraten ist. Einerseits bedienen viele Denker:innen sich weiterhin (implizit Kantischer) Vorstellungen darüber, dass unser moralisches Leben ein Gebiet der Freiheit darstellt, doch können wir uns die Vorannahme nicht 250länger erlauben, von der Kant mit vielen anderen ausging, dass sich nämlich der Planet selbst um die Bedürfnisse unseres tierischen Lebens kümmern werde. Heute möchten wir, dass unser moralisches Leben auch unser natürliches Leben, wenn nicht sogar die natürlichen Leben aller nichtmenschlichen Wesen in die Hand nimmt. Die biblische Frage menschlicher Herrschaft hat heute die Gestalt säkularer Fragen nach menschlicher Patenschaft und Verantwortung für den Planeten angenommen.59

Aus Platzgründen möchte ich es an dieser Stelle bei zwei prominenten Beispielen für solch ein Denken bewenden lassen: bei Papst Franziskus' jüngster, nicht zu übersehender Enzyklika an die katholischen Bischöfe und einem neueren Aufsatz von Amartya Sen. Die Enzyklika des Papstes ist möglicherweise der einzige bisher vorliegende westliche/europäische Versuch, die derzeitige Klimakrise der Menschheit als eine tiefreichende geistige Krise der modernen Zivilisation zu deuten – dass sie nicht über den Rahmen der katholischen Theologie hinausgeht, schmälert ihren Wert nicht. (Einen indischen Gelehrten wie mich erinnert sie an einen berühmten Aufsatz mit dem Titel »Die Krise der Zivilisation«, den Rabindranath Tagore in seinem Todesjahr, 1941, schrieb.) Der Papst übt darin ziemlich radikale Kritik an den Exzessen des kapitalistischen Konsums, und zwar besonders an dem, was in seinen Augen ein »fehlgeleiteter«, »despotischer«, »exzessiver« und »moderner« Anthropozentrismus der »Wegwerfkultur« ist, die der Kapitalismus hervorgerufen und gefördert hat.60 In diesem Zusammenhang greift er die Frage menschlicher »Herrschaft« wieder auf: »Eine unangemessene Darstellung der christlichen Anthropologie konnte dazu führen, eine falsche Auffassung der Beziehung des Menschen zur Welt zu unterstützen. Häufig wurde ein prometheischer Traum der Herrschaft über die Welt vermittelt, der den Eindruck erweckte, dass die Sorge für die Natur eine Sache der Schwachen sei. Die rechte Weise, das Konzept des Menschen als ›Herr‹ des Universums zu deuten, 251besteht hingegen darin, ihn als verantwortlichen Verwalter zu verstehen.«61 »Wir sind nicht Gott«, schreibt Papst Franziskus an anderer Stelle in dem Buch, an der er indirekt, aber entschieden der Auffassung entgegentritt, Menschen seien heute die Gottes-Spezies: »Diese Verantwortung gegenüber einer Erde, die Gott gehört, beinhaltet, dass der Mensch, der vernunftbegabt ist, die Gesetze der Natur und die empfindlichen Gleichgewichte unter den Geschöpfen auf dieser Welt respektiert.«62

Amartya Sen verfolgt eine ähnliche Argumentationslinie, die aber in einem nichtchristlichen Rahmen an einige buddhistische Lehrsätze anknüpft. In seinem Text über die Klimakrise und die menschliche Verantwortung für andere Arten tritt Sen dafür ein, dass die Debatte über den Klimawandel einen normativen Rahmen benötigt, der seines Erachtens – und ich stimme dem zu – den wachsenden menschlichen Energiebedarf würdigen sollte, der entsteht, wenn die Massen in Afrika, Asien und Lateinamerika in den Genuss der Früchte der menschlichen Zivilisation kommen und die für wirklich demokratische Entscheidungen erforderlichen Fähigkeiten erwerben. Doch Sen erkennt auch den Umstand an, dass das menschliche Gedeihen andere Arten teuer zu stehen kommen kann, und setzt sich deshalb für eine Art von menschlicher Verantwortung gegenüber nichtmenschlichen Wesen ein. Sen argumentiert folgendermaßen:

 

In Anbetracht unserer Verantwortung für Arten, die vom Untergang bedroht sind, dürfen wir dem Erhalt dieser Arten nicht bloß Bedeutung beimessen, weil ihr Vorhandensein auf der Welt unseren eigenen Lebensstandard in manchen Fällen verbessern könnte. […] An dieser Stelle wird die Argumentation direkt und unmittelbar relevant, die Gautama Buddha im Sutta Nipata vorgelegt hat. Er argumentierte, dass die Mutter nicht bloß deshalb für ihr Kind verantwortlich ist, weil sie es geboren hat, sondern auch weil sie viele Dinge für das Kind tun kann, die das Kind nicht zu tun vermag. […] In Bezug auf die Umwelt kann man argumentieren, dass die Tatsache, dass wir so viel mächtiger sind als andere Arten, […] [ein Grund dafür sein kann], dass wir treuhänderische Verantwortung für andere Geschöpfe übernehmen, deren Leben wir stark zu beeinflussen vermögen.63

252Die Tatsache, dass eine der »[zumindest teilweise] vom Untergang bedroht[en]« Arten die menschliche Spezies selbst ist, entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie. Die Menschen müssen auch Verantwortung für sich selbst übernehmen, was leichter gesagt als getan ist, wie die Geschichte der Menschheit zeigt. Doch bedenke man die Probleme, die sich ergeben, wenn Menschen auf solch eine anthropozentrische Weise gegenüber den »Geschöpfe[n] […], deren Leben wir stark zu beeinflussen vermögen«, die Stelle der Eltern einnehmen. Wir kennen nicht einmal alle Arten, die durch unser Handeln stark beeinflusst werden; oftmals finden wir erst nachträglich heraus, um welche es sich gehandelt hat. Der kanadische Ökologe Peter Sale führt zum Beispiel »all jene Arten« an, »die sich möglicherweise als Güter [für Menschen] anbieten würden, aber erst noch entdeckt und genutzt werden müssen, und jene, die Dienste leisten, die uns schlicht und einfach nicht bewusst sind.«64

In noch größerem Maße gilt dies für die Lebensform, die für sich genommen »den überwiegenden Teil der Biomasse auf der Erde« ausmacht: das mikrobielle Leben (Bakterien und Viren). Martin J. Blaser merkt in seinem Buch Antibiotika-Overkill an: »[Z]ählt man […] alle zusammen, dann sind es mehr als alle Mäuse, Wale, Menschen, Vögel, Insekten, Würmer und Bäume zusammengenommen – die Zahl der Mikroben übertrifft tatsächlich die aller sichtbaren Lebewesen, die wir auf der Erde kennen, selbst an Gewicht.«65 Werden wir je zur Wertschätzung der Existenz von uns feindlich gegenüberstehenden Viren und Bakterien in der Lage sein, wenn sie keinen – negativen oder positiven – Einfluss auf unser Leben nehmen? Auch diese Frage gewinnt dadurch an Komplexität, dass die Perspektiven, die Ökologie und Pathologie uns auf sie vermitteln, sich häufig ändern und oftmals gegensätzlich sind. Bakterien und Viren haben für die menschliche Evolution eine entscheidende und oftmals positive Rolle gespielt, wie zum Beispiel das seit jeher im 253Magen vorkommende Bakterium Helicobacter pyroli. Seit die Antibiotika ihren Siegeszug angetreten haben, wodurch die biotische Umwelt unserer Mägen sich veränderte, gilt H. pyroli jedoch als Krankheitserreger.66 Auch wenn wir kognitiv über die entscheidende Rolle Bescheid wissen, die sie für die Naturgeschichte des Lebens, einschließlich der des menschlichen Lebens selbst gespielt haben – und weiterhin spielen werden –, können wir für diese Lebensformen keine verantwortungsvollen Paten sein.67

Das hieße nun aber, dass Menschen der Verantwortung, mit der Sen sie betraut, nie ganz gerecht werden können, da sie nie vollumfänglich wissen werden, wer genau ihre Schützlinge sind und für wen sie in einem treuhänderischen Sinne Verantwortung zu übernehmen vermögen. Darin liegt tatsächlich ein Beleg für den Druck, an dem die Kantische Fabel von der Menschengeschichte sich derzeit abarbeitet. Kant hatte nicht verlangt, dass menschliche Moralität die Naturgeschichte des Lebens in ihre eigene Sichtweise einbeziehe, denn natürlich beruhte sein Denkhorizont auf einem vordarwinistischen Verständnis der Geschichte des sich auf natürliche Weise reproduzierenden Lebens und reichte in eine Zeit zurück, bevor die Menschen anfingen, die Rolle der Mikroben für die Geschichte des Lebens zu entdecken und zu verstehen. Heute sind wir jedoch an einem Punkt angelangt, an dem wir die Frage erörtern, wie man den Bereich menschlicher Moralität und Gerechtigkeit so ausweiten kann, dass er das Gebiet des sich auf natürliche Weise reproduzierenden Lebens einschließt.

Natürlich lässt es sich nicht leugnen, dass Gerechtigkeitsfragen zwischen Menschen für die geisteswissenschaftliche Tradition nach dem Krieg zentral gewesen sind. Die globale Intensivierung kapitalistischer Formen der Gesellschaftsorganisation haben die politischen Instinkte der Humanwissenschaftler:innen geschärft. Zudem haben wir uns in Anbetracht der Geschichte 254der menschlichen Werte in der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und unabhängig von der Gesamtzahl der Menschen und deren Implikationen für die Biosphäre im Prinzip der Gewährleistung jedes einzelnen Menschenlebens und der Sicherstellung ihres moralischen und ökonomischen Gedeihens verschrieben.68 Jeder praktische Vorschlag, die Zahl der Menschen tatsächlich zu reduzieren, kommt ohnehin einem sich gegen Arme richtenden Unterfangen gleich und ist deshalb moralisch verwerflich. Gleichzeitig scheint ein eindimensionaler Fokus auf menschliche Wohlfahrt und Gerechtigkeit zwischen den Menschen zunehmend unangemessen zu sein. Auf dieses Dilemma müssen die Geisteswissenschaftler:innen, die über Fragen der Moderne nachdenken, eine Antwort finden. Die Frage lautet: Können die Geistes- und Humanwissenschaften, da sie die Perspektiven für die Erörterung der Fragen unserer Zeit bereitstellen, ihren altehrwürdigen und tiefsitzenden Anthropomorphismus überwinden und lernen, die menschliche Welt auch von einem nichtmenschlichen Standpunkt aus zu betrachten?

Bruno Latour entwickelte sein kunstvolles Denken bereits lange bevor viele von uns sich des Problems bewusst wurden, auf das er reagierte: das Problem, vor das die unhaltbare Entgegensetzung von Natur und Wissenschaft auf der einen und von Kultur und Gesellschaft auf der anderen Seite das moderne Denken gestellt hat. Er hat sein Denken in einer Reihe von Texten entfaltet, darunter auch seine jüngsten Erkundigungen über Existenzweisen.69 Da ich aber in diesem Kapitel das Leben der Mikroben erörtert habe, möchte ich mich seinem Klassiker The Pasteurization of France (frz.: Les Microbes) zuwenden, in dem von Mikroben die Rede ist, um zu zeigen, wie sein Denken den Weg zu 255einer Herangehensweise freimacht, die menschliche Lebens- und Wissensformen in Frage stellt und dazu beiträgt, dass wir erkennen, an welcher Stelle der Mensch eben gerade im letzten Endes weiterhin nur allzu menschlichen Rauschen der Sprache erste Hinweise auf das Nicht-Anthropozentrische erhält.70 Davon abgesehen, ist es unbestreitbar eine schöne Koinzidenz für dieses Kapitel, dass der antikoloniale Humor von Latours Buch teilweise auf den guten alten Philosophen aus Königsberg zielt, dessen titanischer Präsenz in allen Diskussionen über die Moderne man sich trotz aller Spitzen, die wir gegen ihn richten mögen, unmöglich entziehen kann.

Schon ziemlich zu Beginn seiner Studie über Pasteur lenkt Latour unsere Aufmerksamkeit auf die Präsenz von Mikroben als einer Handlungsmacht nicht nur unter eingeschränkten Laborbedingungen, sondern im menschlichen Alltagsleben. »Ein Händler schickt einem Kunden ein vollkommen einwandfreies Bier«, schreibt Latour, doch »es kommt verdorben an.« Warum? Weil »zwischen Bier und Brauer manchmal etwas aktiv wurde und manchmal nicht. Etwas Drittes, ein tertium quid: ›Hefe‹, meinte der Enthüller der Mikroben.«71 Der Präsenz von Mikroben entnimmt Latour, dass »allein das Soziale keine Gesellschaft ausmacht«. Wir müssen noch »das Handeln der Mikroben« einbeziehen.72 Zum Beispiel »organisiert man eine Eskimo-Schau in einem Museum. Sie gehen nach draußen, um der Öffentlichkeit zu begegnen, aber sie begegnen auch der Cholera und sterben. Das ist sehr unerfreulich, denn man wollte sie bloß zeigen und nicht töten.« Auf ähnliche Weise »ist Kuhmilch nicht ohne ein anderes ungezähmtes Tier zu haben, den Tuberkelbazillus, der sich in jemandes Wunsch einschleicht, sein Kind zu füttern. Ihrer beider Ziele unterscheiden sich so sehr voneinander, dass das Kind stirbt«.73 Erst nachdem die Milch dem Pasteurisierungsprozess – und dem Reinigungsprojekt, das die Kommodifizierung mit sich bringt (Kap. 4) – unterzogen wurde und die Mikrobe 256»ausgemerzt« worden ist, kann sie also für das rein »Soziale«, das heißt »ökonomische und soziale Verhältnisse im strengen Sinne« stehen, die sich nur unter höchst eingeschränkten und technisch hergestellten Bedingungen ergeben.74 Latour beschließt den ersten Teil seines Buches mit folgender Feststellung: »Sobald wir aufhören, die Wissenschaften auf einige wenige Autoritäten zu reduzieren, die stellvertretend für sie stehen, treten nicht nur die Menschenmengen wieder in Erscheinung, […] sondern auch das ›Nichtmenschliche‹.«75 So wird »die Emanzipation, also die Befreiung nichtmenschlicher Wesen« aus der von ihm so genannten »doppelten Herrschaft von Gesellschaft und Wissenschaft« zu seinem Projekt.76

Aus den Mikroben spricht die Tiefenzeit in der Geschichte des Lebens. »Rund drei Milliarden Jahre lang«, schreibt Blaser, »waren Bakterien die einzigen Lebewesen auf der Erde. Sie eroberten jeden Winkel des Landes, der Luft und des Wassers, sie leiteten die chemischen Reaktionen ein, die unsere Biosphäre und damit die Grundvoraussetzung für die Evolution des mehrzelligen Lebens schufen.«77 Bei der Befreiung solcher nichtmenschlichen Wesen aus der »doppelten Herrschaft von Gesellschaft und Wissenschaft« kann es sich nicht um eine politische Aufgabe in irgendeinem institutionalisierten Sinne des Politischen handeln. Aus ihr geht auch kein aktivistisches Sofortprogramm hervor. In erster Linie und angesichts des derzeitigen Entwicklungsstands der menschlichen Steuerungsinstitutionen geht es um die Entwicklung einer nicht-anthropozentrischen Perspektive auf die menschliche Welt.

Im zweiten Teil des Buches, »Irreduktionen«, betrachtet Latour dieses Projekt einer »Emanzipation« bzw. Befreiung nichtmenschlicher Wesen als etwas, das einem geistigen Dekolonisierungsakt ähnelt. »Dinge an sich?«, lautet mit dem für ihn typischen Witz seine rhetorische Frage an Kant, und er erwidert: »Vielen Dank, es geht ihnen gut. Und wie geht es Ihnen? Sie beschweren sich 257über Dinge, denen die Ehre Ihres Blicks nicht zuteil geworden ist?« In seiner Kritik am Anthropozentrismus von Kants Denken verwendet Latour den Begriff der Kolonisierung als Metapher, um dem Nichtmenschlichen Handlungsspielraum zu verschaffen. »Dingen an sich fehlt nichts, genauso wie die Weißen vor ihrer Ankunft Afrika nicht gefehlt haben«, schreibt er. »Es ist allerdings möglich, jemanden, der ohne einen sehr gut zurechtgekommen ist, dazu zu zwingen, es zu bedauern, dass man nicht da ist. Sobald Dinge auf ein Nichts reduziert worden sind, betteln sie darum, dass jemand sie wahrnimmt, und sie bitten darum, dass jemand sie kolonisiert.« Im Weiteren reiht er Kant dann unter die Kolonialhelden ein: »Ihr seid die Zorros, Tarzans, Kants, die Beschützer der verwitweten und verwaisten Dinge.«78 »Was würde passieren«, fragt er weiter, »wenn wir stattdessen annehmen würden, dass den sich selbst überlassenen Dingen gar nichts fehlt?«

An dieser Stelle wird denn auch der Gedanke der Tiefenzeit zu einem Bestandteil seiner Kritik. »Wie steht es zum Beispiel um diesen Baum, den andere Wellingtonia nennen? […] Falls ihm irgendetwas fehlen sollte, sind Sie es höchstwahrscheinlich nicht. Wer wie Sie Wälder abholzt, ist nicht der Gott der Bäume. […] Er ist älter als Sie. […] Bald werden Sie keinen Treibstoff für Ihre Säge mehr haben. Das könnte den Baum und seine Kohlenstoff produzierenden Verbündeten in die Lage versetzen, Ihnen den Saft zu entziehen.« Und dann macht er die Grenzen geltend, die eine reine Berechnung nach menschlichen Zeitmaßstäben (die wir anstellen, wenn wir politisch denken) aufweist: »Bisher hat [der Baum] weder verloren noch gewonnen, denn jeder definiert das Spielfeld und den Zeitraum, an dem sein Sieg oder seine Niederlage sich bemisst.«79

Daraufhin folgt pfeilschnell die Frage, die genauso auf das Kernstück des alten biblischen Denkens wie auf dessen Heideggerianische Mutation zielt, die den Menschen als in besonderem 258Maße dazu bestimmt erklärt hatten, über den Planeten zu herrschen:

 

Wer hat gesagt, der Mensch sei der Hirte des Sein? Viele Kräfte wären gerne Hirte und würden andere in Scharen zu ihren Pferchen führen, wo sie geschoren und desinfiziert werden. Wir sind zu viele und wir sind auch zu unentschlossen, um uns zu einem einzigen Bewusstsein zusammenzufinden, das stark genug ist, alle anderen Akteure zum Schweigen zu bringen. Anstatt die Dinge zum Schweigen zu bringen, über die Sie sprechen, warum lassen Sie sie nicht für sich selber sprechen und sagen, was sie auf dem Herzen haben? Genießen Sie das doppelte Elend von Prometheus so sehr?80

 

Ich halte dies für die wichtigste zivilisatorische Frage unserer Zeit, die auch der Papst in den Grenzen seiner Religion aufgeworfen hat.

Latours epochale Frage erinnert uns daran, dass tiefe Vergangenheit und ferne Zukunft dem menschenzentrierten politischen Denken oder Handeln nicht zugänglich sind. Das soll nicht heißen, dass unsere üblichen Wortgefechte über (Un-)Gerechtigkeit, Ungleichheiten und Unterdrückungsverhältnisse zwischen den Menschen nicht weitergehen werden. Das werden sie. Doch jetzt, wo sich das moralische und das biologische Leben der Spezies Homo sapiens nicht mehr voneinander trennen lassen, müssen wir lernen, auf Denkformen zurückzugreifen, die über menschliche Politik hinausgehen – sie aber nicht verwerfen. Die miteinander zusammenhängenden Geschichten der Evolution dieses Planeten, seines Klimas und seines Lebens können aus einer anthropozentrischen Perspektive nicht erzählt werden. Diese andersartigen Geschichten wurzeln notwendig in der Tiefenzeit. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass die Menschen erst sehr spät zur Geschichte dieses Planeten dazugestoßen sind, dass der Planet keineswegs dazu verpflichtet war, sich für unsere Ankunft bereitzumachen, und wir auch keinen Höhepunkt der Historie von diesem Planeten darstellen. An diesem Punkt hilft Latours 259Versuch – neben denen einiger anderer –, aussichtsreiche ästhetische, philosophische und ethische Denkhorizonte zu eröffnen, uns bei der Entwicklung von Standpunkten, von denen aus die derzeitige Umweltkrisenkonstellation sich in den breiter gefassten Kontext der weiter zurückreichenden, »tieferen« Geschichte des sich auf natürliche Weise reproduzierenden Lebens auf diesem Planeten stellen lässt. Damit kommen wir auf unsere Auseinandersetzung mit der Planetarität zurück, die ich im Schlussteil dieses Buches wieder aufgreifen möchte.