Anthropozän ist wahrscheinlich der einzige geologische Periodisierungsbegriff, der von Geisteswissenschaftler:innen ohne formale Schulung in Stratigraphie – das heißt dem Zweig der Geologie, der sich mit dem Aufbau der Erdschichten und ihrem Verhältnis zur geologischen Zeit befasst – ausgiebig diskutiert worden ist. »Wir haben es mit mehreren Anthropozänen zu tun, die in verschiedenen, jeweils anderen Logiken folgenden Fächern verschiedenen Zwecken dienen«, schreibt der Geowissenschaftler Jan Zalasiewicz.1 In den Humanwissenschaften kursieren die verschiedenen Anthropozäne, die Zalasiewicz erwähnt, in Form von parteiischen und leidenschaftlichen Ausführungen darüber, was das Anthropozän bewirkt hat, auf wann man seinen Beginn datieren soll, wer für das Anbrechen dieses Zeitalters verantwortlich ist, ja sogar darüber, welches die richtige Bezeichnung für es sein könnte. Über die Namenspolitik hat es viel Streit gegeben. Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, eine treffendere Bezeichnung für dieses Zeitalter sei »Kapitalozän« oder »Ökonozän«, sodass für die Herbeiführung so unsicherer Zeiten nicht eine unbestimmte und undifferenzierte Menschheit verantwortlich gemacht werden würde, sondern die Schuld direkt vor der Tür eines Systems abgeladen wird: des Kapitalismus bzw. des globalen Wirtschaftssystems.
Die Debatte über das Anthropozän bringt also ständige Begriffsverhandlungen in Bezug auf Erdgeschichte und Weltge264schichte mit sich. Weithin anerkannt wird mittlerweile, dass wir eine einzigartige Phase der Menschheitsgeschichte durchlaufen, da wir zum ersten Mal überhaupt Ereignisse, die nach gewaltigen geologischen Maßstäben ablaufen – wie Veränderungen des gesamten Klimasystems auf dem Planeten –, bewusst mit etwas in Verbindung bringen, das wir im Alltagsleben als Individuen, Kollektive, Institutionen und Nationen zu tun vermögen (wie etwa fossile Brennstoffe verbrauchen). Es besteht ebenfalls – wenn auch einstweilige – Einigkeit unter den Gelehrten, die über den Begriff Anthropozän debattieren, dass wir uns unabhängig von dessen Datierungszeitpunkt (der Erfindung des Ackerbaus, der europäischen Expansion und Kolonisierung, der industriellen Revolution oder der ersten Atombombentests) bereits im Anthropozän befinden.
Das Anthropozän zwingt uns, dass wir in zwei zutiefst unterschiedlichen Zeitmaßstäben denken, die jeweils mit der Erdgeschichte und mit der Weltgeschichte verbunden sind: die zehn Millionen von Jahren, die ein geologisches Zeitalter gewöhnlich umfasst (das Holozän scheint ein besonders kurzes Zeitalter gewesen zu sein, wenn die These vom Anthropozän stimmt), gegenüber den höchstens 500 Jahren, von denen sich behaupten lässt, dass sie die Geschichte des Kapitalismus ausmachen. In den meisten Diskussionen über das Anthropozän geraten die geologischen Zeitfragen allerdings aus dem Blick und steht die Zeit der menschlichen Weltgeschichte im Vordergrund. In intellektueller Hinsicht fordert eine solch einseitige Umwandlung der erdhistorischen Zeit in welthistorische Zeit ihren Preis, denn wenn wir den erdhistorischen Prozessen nicht Rechnung tragen, die den Maßstab unseres menschlichen Zeitgefühls als solches übertreffen, können wir das Ausmaß der Notlage nicht wirklich erkennen, mit der die Menschen heute konfrontiert sind. Zalasiewicz' faszinierende Feststellung, dass die Verknüpfung des Problems der stratigraphischen Grenze, die das Anthropozän von dem ihm vorherge265henden Zeitalter, dem Holozän, trennt, mit welthistorischen Ereignissen, die ausschließlich die Menschheit betreffen, »einer Eigentümlichkeit der geologischen Zeit zuwiderläuft, die im Kern darin besteht, dass es sich bei dieser schlicht und einfach um Zeit handelt – wenn auch in sehr großen Mengen«, dient mir als Einstiegspunkt in die Anthropozän-Debatte.2 In diesem Kapitel werde ich eine Unterscheidung weiter ausarbeiten, die Zalasiewicz in diesem Zusammenhang zwischen menschenzentriertem und planetenzentriertem Denken eingeführt hat.
Doch bevor wir die Logik von Zalasiewicz' Argumentation weiterverfolgen, die den geologischen Aspekt der Zeit des Anthropozäns sichtbar macht, müssen wir zu Beginn eine Erklärung dafür finden, warum die Zeit der Geologie unserer Aufmerksamkeit gegenwärtig immer wieder entgleitet.
Obwohl er sich auf einen neuen Zeitraum in der geologischen Geschichte des Planeten und folglich auf die geologische Zeit bezieht, wurde der Begriff Anthropozän von Anfang an als Maß nicht der geologischen Zeit – er ist keine Zeiteinheit –, sondern des Ausmaßes des menschlichen Einwirkens auf den Planeten verwendet. Laut John Bellamy Foster fiel das Erscheinen des bahnbrechenden Buches Biosfera des sowjetischen Geochemikers Wladimir I. Wernadski im Jahr 1926 »zeitlich mit der erstmaligen Einführung des Begriffs Anthropozän (gemeinsam mit dem Begriff Anthropogen) durch seinen Kollegen, den sowjetischen Geologen Alexej Pawlow zusammen«.3 Von Anbeginn an bezog der Begriff sich auf die außergewöhnliche Größenordnung der menschlichen Einflussnahme auf den Planeten. Diesbezüglich zitiert Foster Wernadski: »Ausgehend von dem Gedanken, dass der 266Mensch geologisch eine Rolle spielt […], pflegte der Geologe A. P. Pawlow [1854-1929] davon zu sprechen, dass wir in einem anthropogenen Zeitalter leben. […] Er hob zu Recht hervor, dass der Mensch […] dabei ist, zu einer mächtigen, immer stärkeren geologischen Kraft zu werden.«4
Die jüngste Wiederbelebung des Begriffs geht auf eine Konferenz von Erdsystemforscher:innen in Mexiko zurück, auf der der berühmte Chemiker Paul Crutzen wütend gesagt haben soll: »Hören Sie auf, das Wort Holozän zu verwenden! Wir befinden uns nicht mehr im Holozän, sondern im … im … im … Anthropozän!«5 Als Crutzen und der auf die Großen Seen spezialisierte Biologe Eugene J. Stoermer später – im Jahr 2000 – eine allseitige Übernahme des Anthropozän-Gedankens vorschlugen, stand das Problem der Zeit in ihren Überlegungen nicht an erster Stelle. Sie betrachteten das Wort als passendes Kürzel, um auf die Größe des menschlichen Fußabdrucks auf dem Planeten hinzuweisen: »In Anbetracht […] der [großen] und immer weiter zunehmenden, […] sich auf allen Ebenen, auch der globalen, bemerkbar machenden Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf die Erde und die Atmosphäre«, empfahlen sie den Begriff Anthropozän für »das gegenwärtige geologische Zeitalter«, um »die zentrale Rolle der Menschheit für Geologie und Ökologie« zum Ausdruck zu bringen.6
Der Begriff Anthropozän trug dazu bei, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit zu lenken, dass die Herrschaft der Menschen über den Planeten Formen angenommen hatte, die ihr kollektives Einwirken mit den Auswirkungen der sehr großformatigen planetarischen Kräfte vergleichbar machte. Der Paläoklimatologe David Archer sah den Begriff Anthropozän eindeutig als grobes Maß für das menschliche Einwirken auf Erdprozesse an: »In der Vergangenheit wurden die geologischen Zeiträume in der Regel durch bedeutende Klimaveränderungen oder durch biologisches Artensterben voneinander abgegrenzt. Die mut267maßliche Neueinstufung der Erde vom Holozän zum Anthropozän ist deshalb eine Aussage darüber, dass die Menschheit im Rahmen der Evolution der Erde zu einer gewaltigen Kraft geworden ist.«7 Er gab sogar eine genaue Einschätzung ab, zu welcher Art von planetarischer, geophysischer Kraft die Menschheit geworden war:
Die tiefreichendsten und nachhaltigsten Klimaveränderungen scheinen in Zeiträumen von Jahrtausenden von Jahren oder länger zu erfolgen. In einer gewaltigen Reaktion auf Schwankungen der Erdumlaufbahn wachsen und tauen die großen Eisplatten gewöhnlich im Verlauf von Jahrtausenden. Der natürliche Kohlenstoffkreislauf fungierte als positive, die Reaktion auf die Umlaufbahn verstärkende Rückkopplung. […] Menschliche Klimazwänge besitzen das Potenzial, die von der Umlaufbahn ausgehenden Klimazwänge zu übertrumpfen, sodass sie die Kontrolle über die Eiszeiten übernehmen. Die Menschheit ist dabei, zu einer klimatischen Kraft zu werden, die sich mit den orbitalen Abweichungen vergleichen lässt, die hinter den Glazialzyklen stehen.8
Zur Erklärung des Begriffs Anthropozän, gut zehn Jahre nachdem er erstmals vorgeschlagen wurde, haben Will Steffen, Jacques Grinevald, Paul Crutzen und John McNeill im Jahr 2011 wiederholt, dass der »Begriff des Anthropozäns […] eingeführt wurde, um eine quantitative Verlagerung des Verhältnisses der Menschen zur globalen Umwelt abzubilden. […] In ihrem Einwirken auf die Funktionsweise des Erdsystems kann […] die Menschheit […] es mit einigen der großen Naturkräfte aufnehmen« und ist »selbst zu einer globalen geologischen Kraft« geworden.9 Die Rede von einem neuen geologischen Zeitalter war eine Möglichkeit, die schiere Größenordnung des menschlichen Einwirkens auf den Planeten hervorzuheben.
Diskussionen über das menschliche Einwirken auf den Planeten ließen sich unabhängig davon, ob sie wissenschaftlich waren oder nicht, nie vollständig von moralischen Bedenken trennen. Sollen die Menschen überhaupt einen so großen Einfluss haben? Können sie sich einen solchen Einfluss überhaupt leisten, ohne 268ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen? Diese und ähnliche Fragen lagen den Belangen der oben erwähnten Forscher nie ganz fern. Aus diesem Grund schlüpften sie in die Rolle von Bürgern und veröffentlichten ihre Untersuchungsergebnisse. Solche moralischen Bedenken sind wahrscheinlich immer mit den Versuchen einhergegangen, das menschliche Einwirken auf die »Erde« zu quantifizieren. Sie bilden zum Beispiel den Rahmen von John R. McNeills wegweisendem Buch Something New Under the Sun. An Environmental History of the Twentieth-Century World, das im Jahr 2000 erschien und wahrscheinlich der bis heute bemerkenswerteste Versuch eines Historikers ist, das menschliche Einwirken auf die Ressourcen, auf die Atmosphäre und auf die Biosphäre des Planeten akribisch zu dokumentieren. Den Rahmen des Buches bildet ein moralisches Urteil, das McNeill gleich zu Beginn fällt: »Bekanntlich hat Albert Einstein sich geweigert zu glauben, dass ›Gott würfelt‹. Doch im 20. Jahrhundert hat die Menschheit angefangen, mit dem Planeten Würfeln zu spielen, ohne die Spielregeln zu kennen.«10 Selbst die Autoren eines bahnbrechenden wissenschaftlichen Aufsatzes von 1957 über den Anstieg von CO₂ in der Atmosphäre während der letzten Jahrzehnte (der mittlerweile als von historischer Bedeutung für die Entstehung der wissenschaftlichen Erforschung des anthropogenen Klimawandels gilt), Roger Revelle und Hans E. Suess, kamen nicht umhin, Wörter zu benutzen, die eindeutig über reine Wissenschaftlichkeit hinausgehen. »Die Menschen«, schrieben sie, »führen gerade ein groß angelegtes geophysisches Experiment durch, wie es in der Vergangenheit nicht möglich gewesen wäre und wie es auch in der Zukunft nicht wiederholbar sein wird. Binnen weniger Jahrhunderte geben wir den über Hundertemillionen von Jahren im Sedimentgestein gespeicherten, konzentrierten organischen Kohlenstoff zurück in die Atmosphäre und Ozeane.«11 Als die Klimaforschung in den 1970er und 1980er Jahren Fortschritte machte, führte die zunehmende Alarmstimmung 1989 zur Grün269dung des IPCC. Was nach Revelles und Suess' Worten im Jahr 1957 noch ein großes »Experiment« von Seiten der Menschheit gewesen war, verwandelte sich in ein Warnsignal an die Regierungen über die Risiken eines der Menschheit bevorstehenden »gefährlichen« Klimawandels, als der IPCC in den 1990er und 2000er Jahren seine verschiedenen Sachstandsberichte vorlegte.
Schon ganz am Anfang seiner Laufbahn hatte das Anthropozän also zwei Gesichter – manchmal sogar im selben Text: eine wissenschaftliche Seite, die mit Messungen und Debatten unter ausgebildeten Wissenschaftler:innen einherging, und eine populärere Seite als moralisch-politisches Problem. So lange das Anthropozän hauptsächlich als Maß für das menschliche Einwirken galt – wenn auch eingestandenermaßen als ein Einwirken, das eine neue Phase in der Geschichte des Planeten einläutete –, richtete die Aufmerksamkeit sich auf die Kraft und auf das, was sie besaß (Menschheit, kapitalistische Klassen, reiche Nationen, Kapitalismus); geologische Zeitfragen gerieten dabei schlicht ins Hintertreffen. Diese Debatte wurde zwangsläufig von moralischen Fragen nach Schuld und Verantwortung beherrscht. Wahrscheinlich ist das nicht überraschend, wenn man an Sheila Jasanoffs Beobachtung denkt, dass »Vorstellungen über die natürliche Welt Stabilität und Überzeugungskraft […] nicht dadurch gewinnen, dass man sie gewaltsam aus ihrem Kontext herauslöst, sondern durch ununterbrochene, sich wechselseitig bestärkende Interaktionen zwischen unserem Gefühl für das Sein und für das Sollen: dafür, wie die Dinge sind und wie sie sein sollten.«12
Die moralische Seite der Anthropozän-Debatte – Fragen der historischen Verantwortung für die bisherige Erwärmung – ver270langt, dass wir Vorstellungen, die eng mit Erdgeschichte, Geologie und geologischer Zeit zusammenhängen, in die Sprache der Welt- bzw. Menschheitsgeschichte übersetzen.13 Dies zieht nun aber zwei erhebliche Verlagerungen nach sich: erstens die Verlagerung bzw. Übersetzung der Kategorie der »Kraft« – die sich auf die physische Wirkung bezieht, die ein materieller Körper auf einen anderen ausübt (um beim Newton'schen Verständnis von Kraft zu bleiben), also die Menschheit als geologische Kraft – in die menschlich-existentielle Kategorie der Macht und deren soziologisch-institutionelle Entsprechungen sowie zweitens die damit einhergehende Umsiedlung des Problems des Anthropozäns vom Bereich der geologischen Zeit in die Menschheits- oder Weltgeschichte.14
Dass die Kategorie physischer Kraft eine Verlagerung in die historisch-existentielle Kategorie der Macht erfährt, wird in den Texten von zwei Gruppen von Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen sichtbar: bei denen, die Schuldzuweisungen für das Vergehen, die globale Umweltkrise verursacht zu haben, vornehmen möchten, und bei denen, die in der Erderwärmungskrise nach einem ethischen Horizont für die Zukunft der gesamten Menschheit suchen. Manchmal können beide Tendenzen im selben Text vertreten sein. Nehmen wir zum Beispiel zwei Schriftstücke, die in den frühen 1990er Jahren veröffentlicht wurden: der allererste Bericht des IPCC, der 1990 erschien, und die Abhandlung Globale Erwärmung in einer ungleichen Welt, die zwei indische Umweltaktivist:innen, der verstorbene Anil Agarwal und Sunita Narain, denen wir oben schon begegnet sind (z. B. in Kap. 4), 1991 verfasst haben. »Es gibt Bedenken«, heißt es in der Zusammenfassung des ersten Berichts des IPCC für politische Entscheidungsträger:innen, »dass menschliche Aktivitäten das globale Klima aufgrund der Erhöhung des Treibhauseffekts ungewollt verändern könnten, […] was einen Temperaturanstieg auf der Erdoberfläche verursachen würde. […] Wenn dies eintritt, könnten sich 271daran anschließende Veränderungen beträchtliche Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.«15 Agarwal und Narain widersprachen einer solch pauschalen Verwendung des Wortes »Mensch«, obwohl die unmittelbare Zielscheibe ihrer Streitschrift nicht der erste Bericht des IPCC, sondern ein Bericht des World Resources Institute (WIR) über die »globale Umwelt« war, der im selben Jahr erschien wie der Bericht des IPCC (1990).16 Wie meine Leser:innen sich erinnern werden, hatten Agarwal und Narain diesen Bericht als »hervorragendes Beispiel von Öko-Kapitalismus« bezeichnet.17
Wie wir oben festgestellt haben, hatten Agarwal und Narain den Eindruck gewonnen, als riefe die Rede vom Klimawandel ein grausames und unfaires »Geschichtlichkeitsregime« ins Leben – um François Hartogs Ausdruck zu verwenden –, das die welthistorische Zeit für Entwicklung für beendet zu erklären drohte, in der sich eine von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg inspirierte Zukunftsaussicht auf Modernisierung eröffnet hatte.18 Was heute nach einer asiatischen Zukunft für die Klimakrise aussehen könnte, war für sie noch nicht erkennbar. Sie teilten die »Furcht« »[v]iele[r] Entwicklungsländer«, dass die Klimaverhandlungen darauf abzielten, durch Beschränkungen der »Energiegewinnung, vor allem durch Kohle«, »ihre Entwicklungsbestrebungen erheblich zu behindern«.19 Aus diesem Grund könnte man das Eintreten für »Klimagerechtigkeit« als welthistorisches Argument betrachten (was den Punkt der Entwicklungsländer in Bezug auf Klimagerechtigkeit nicht leugnen soll). Im Verweis auf den »Kolonialismus« schon im Titel von Agarwals und Narains Abhandlung und in dem ausdrücklichen Dritte-Welt-Vokabular, das sie in ihrem Text verwendeten, verbarg sich ein bestimmtes, uns vertrautes Narrativ über den europäischen Imperialismus. Dadurch wurde das Problem direkt als welthistorisches Problem formuliert.
Nachdem die Diskussion über den Anthropozän-Gedanken erst 272einmal Fahrt aufgenommen hatte, gehörten die schwedischen Forscher Andreas Malm und Alf Hornborg zu den ersten, die eine Salve gegen den Vorschlag abfeuerten, die globale Erwärmung sei »anthropogener« Natur. Ähnlich wie bei Agarwal und Narain bezog ihr Einwand sich auf die Verwendung des Wortes anthropos. »Den Klimawandel als ›anthropogen‹ zu verstehen«, schrieben sie, »heißt eigentlich, ihn als soziogen einzuschätzen.«20
Die auf die Dampfmaschine folgenden Energietechnologien – Elektrizität, Verbrennungsmotor, Erdölanlagen: Autos, Tanker, Luftfahrt – sind ausschließlich aufgrund von Investitionsentscheidungen eingeführt worden – in einigen Fällen mit maßgeblichen Zuschüssen bestimmter Regierungen –, aber selten aufgrund demokratischer Deliberation. Das Privileg, Neuerungen in Umlauf zu bringen, scheint dauerhaft bei der Klasse verblieben zu sein, die über die Warenproduktion bestimmt.
Unter Anführung der Tatsache, dass »ab 2008 die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder bzw. der ›Norden‹ 18,8 Prozent der Weltbevölkerung stellten, aber für 72,7 [Prozent] des CO₂-Ausstoßes seit 1850 verantwortlich waren«, fragten sie: »Ist diese Tatsache mit der Betrachtung der Menschheit als neuem geologischen Handlungsträger vereinbar?« Im Ausgang von der Prämisse, dass »uneinheitliche Verteilung eine Bedingung für die Existenz der modernen Brennstofftechnologie als solcher ist«, sprachen sie sich für die »Notwendigkeit« aus, »die Untiefen der Sozialgeschichte zu erkunden«, für »deren Untersuchung Geolog:innen, Meteorolog:innen und ihre Kolleg:innen nicht unbedingt gut gerüstet sind«.21 Das Gebot der Stunde sei, »den grundsätzlichen Anliegen der Sozialwissenschaften, zu denen maßgeblich auch die theoretische Erschließung von Kultur und Macht gehört«, die Treue zu halten und sie nicht »aufzugeben«.22 Wie sonst, fragten sie am Ende ihres Aufsatzes, »sei ein Abbau der fossilen [Brennstoff-]Wirtschaft auch nur vorstellbar?« »In Bezug auf den Klimawandel führt Speziesdenken zu Verwirrung und politischer Lähmung.«23
Viele andere folgten ihrem Beispiel. Darunter war namentlich 273der Soziologe Jason Moore, der für das neue geologische Zeitalter eine Namensgebung empfahl, die auf die es seiner Meinung nach unmittelbar bewirkenden Faktoren hindeutete: Kapitalozän.24 Moore räumte ein, dies sei »ein hässliches Wort in einem hässlichen System«, aber einen »ästhetisch befriedigenden Namen hat das Zeitalter des Kapitalismus nicht verdient«.25 Ich möchte die Benennung, für die Moore sich entschieden hat, hier weder gutheißen noch kritisieren; vielmehr will ich darauf hinaus, dass durch die Verwendung einer solchen Bezeichnung der Begriff der »Kraft« – von Menschen als geophysischer Kraft – abermals auf die menschlich-existentielle Kategorie der Macht heruntergebrochen wird, die der Weltgeschichte intrinsisch ist. Folgendes sagt Moore über das Thema, das er mit einem kleinen Wortgeplänkel angeht: »[Das vorherrschende Anthropozän-Narrativ] erzählt, dass die Ursprünge der modernen Welt in England zu finden seien […]. Die Antriebskraft hinter dem Epochenwechsel? Kohle und Dampf. Die Antriebskraft hinter Kohle und Dampfkraft? Nicht die Klasse. Nicht das Kapital. Nicht der Imperialismus. Noch nicht einmal die Kultur. Sie ahnen es schon: Es ist der Anthropos, die Menschheit als undifferenziertes Ganzes.« Und dann kommt seine Kritik: »Mit dem Anthropozän haben wir eine bequeme Erzählung zur Hand […], weil sie die für natürlich erklärten Ungleichheiten, Entfremdungen und Gewaltformen, die in den strategischen Macht- und Produktionsverhältnissen der Moderne eingeschrieben sind, nicht in Frage stellt. […] Diese Tilgung und die Erhebung des Anthropos zum kollektiven Akteur hat […] eine Meta-Theorie von Menschheit als kollektivem Akteur, unter Verkennung der Kräfte – Kapital und Imperium – [veranlasst], die die moderne Weltgeschichte zusammengehalten haben.«26 Selbstverständlich verwendet Moore das Wort Kraft in Bezug auf das Kapital hier nicht in seiner Newton'schen Bedeutung.
Ian Angus, der eine nachdenkliche, marxistisch-historische 274Analyse des Anthropozäns vorgelegt hat – und der im Übrigen den Ausdruck Kapitalozän nicht mag und einräumt, dass die die Bezeichnung »Anthropozän« empfehlenden Erdsystemforscher:innen Fragen der Klimagerechtigkeit und der Differenzierung zwischen Menschen nicht zwangsläufig leugnen –, nimmt die gleiche Verlagerung vor, indem er das Anthropozän in zwei separate Phänomene aufspaltet: in ein »biophysikalisches« Anthropozän und in ein »sozioökonomisches«.27 Das biophysikalische Anthropozän – »ein qualitativer Wandel der entscheidendsten physischen Wesensmerkmale der Erde, der tiefgreifende Auswirkungen auf alle Lebewesen hat« – sei wichtig, »aber wenn wir das Anthropozän richtig verstehen wollen, müssen wir es als sozioökologisches Phänomen betrachten«, als »Kulminationspunkt von zwei Jahrhunderten kapitalistischer Entwicklung«, also als eine Zeit des »ökonomischen und sozialen Wandels, in dessen Verlauf das Holozän endete und das Anthropozän begann«.28
Die Verlagerung bzw. Übersetzung von »Kraft« in »Macht« wird auch von denjenigen in Angriff genommen, die an das menschliche Gespür für die eigenen Zeitmaßstäbe appellieren, um die Menschen dazu zu bewegen, aktiv zur Abmilderung der Folgen ihres planetarischen Fußabdrucks beizutragen. Sogar Erdsystemforscher:innen, die für die Idee geologischer Zeit eintreten, haben es aus strategischen Gründen für wichtig erachtet, in dem Punkt nachzugeben, dass »geologische Zeitmaßstäbe in größeren Gesellschaften häufig als Gründe dafür herangezogen werden, auf ein Handeln nach gesellschaftlichen, generationenübergreifenden und individuellen Zeitmaßstäben zu verzichten (›das Klima hat sich schon immer gewandelt‹, ›Korallenriffe sind schon mehrmals abgestorben, haben sich aber immer wieder erholt‹ und so weiter)«.29
Das Gefühl, dass der Wissenschaftler als Überbringer der Nachricht vom anthropogenen Klimawandel sich ständig zwischen unterschiedlichen Zeitmaßstäben hin und her bewegen muss, treibt 275zum Beispiel auch Archers Buch The Long Thaw um. Als Geologe sind Archers Augen geschult genug, um erkennen zu können, dass die Menschen das Klima auf diesem Planten bereits mindestens für die nächsten 100 000 Jahre verändert haben. Und doch fragt er im allerersten Kapitel seines Buches: »Warum sollte uns als einfache Sterbliche die Änderung des Klimas in 100 000 Jahren bekümmern? […] Die ökonomischen Regeln, denen ein großer Teil unseres Verhaltens gehorcht, versuchen unsere Aufmerksamkeit sogar auf noch kürzere Zeitspannen zu begrenzen.« Archer verwendet also zeitliche Maßstäbe, die für das Ehr- und Schamgefühl der Leserschaft anschlussfähig sind. »Wie würde es sich anfühlen«, fragt er seine Leser:innen, »wenn zum Beispiel die alten Griechen einige Jahrhunderte lang die Gelegenheit zu einem lukrativen Geschäft im vollen Bewusstsein potenzieller Kosten – wie etwa von mehr Stürmen auf der Welt oder dem Verlust von zehn Prozent der landwirtschaftlichen Produktion durch steigende Meeresspiegel – genutzt hätten, die bis heute anhalten könnten? So möchte ich nicht in Erinnerung bleiben.«30 Dies mag keine wirkungsvolle Rhetorik sein, um Menschen zum Handeln anzuspornen, aber die Übersetzung von physischer »Kraft« in die sehr menschlichen Begriffe von »Macht« und »Verantwortung« ist erkennbar in allen Texten am Werk, die gegenwärtig auf der Suche nach einer planetarischen menschlichen Ethik sind.
Sowohl in geologischer als auch in historischer Zeit kommen menschliche Kategorien zum Ausdruck, auf der affektiven Ebene sind sie aber unterschiedlich eingefärbt. Natürlich können wir nur im Rahmen des die Weltgeschichte erfüllenden Zeitgefühls von Hoffnung oder Verzweiflung sprechen. Deshalb empfehlen sogar einige Erdsystemforscher:innen, den Anthropozän-Gedanken bis zu einem gewissen Grad metaphorisch zu verwenden. Man beachte dabei ihr schnelles Umschwenken von »Kraft« auf »Macht«: »Als Metapher könnte das Anthropozän ein neues normatives und ethisches Denken fördern. Wenn die Menschheit inzwischen 276die Macht besitzt, eine ›geologische Kraft‹ zu sein, folgt daraus, dass eine solche Macht vorsichtig und sparsam eingesetzt werden sollte. […] Zumindest dies könnte dazu führen, dass das Anthropozän eher Hoffnung als Verzweiflung symbolisiert.«31 Dies setzt natürlich voraus, dass die Menschheit »eins« ist und dass diese »Einheit« so handeln kann wie eine Einzelperson, die ihr Vermögen (die »Macht, eine geophysische Kraft zu sein«) besonnen und verantwortungsvoll einsetzt. Das jüngste Buch des Astrobiologen David Grinspoon mit dem vielsagenden Titel Earth in Human Hands liefert uns ein weiteres Beispiel für das, was ich mittlerweile als Codeswitching zwischen der physikalischen Kategorie der Kraft und den sozial-existentiellen Kategorien von »Bewusstheit« und »Macht« betrachte. »Niemand kann glaubhaft bestreiten«, schreibt er, »dass wir uns in einer Zeit der ungezügelten Einflussnahme des Menschen auf die Erde befinden. Dieser groben Definition zufolge existiert das Anthropozän offenbar, warum also darauf bestehen, dass es schlecht sein muss? Was würden Sie vorschlagen? Dass wir jeden davon überzeugen, sich aufgrund seiner verkommenen Spezies schlecht zu fühlen?« Nach Grinspoons Ansicht besteht die ethische Aufgabe der Menschheit darin, eine bewusste geologische Kraft zu sein: »Wir haben die Wahl, welche Art von Einfluss wir Menschen auf die Erde nehmen werden. Wir können über diese Tatsache lamentieren, aber die Option, keine geologischen Handlungsträger des Wandels zu sein, haben wir nicht mehr. […] Wie wir es richtig machen – das sollte unser Anliegen sein.«32 Die Menschen, schreibt der Geowissenschaftler Daniel Schrag, seien an einem »Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gibt«. »Im Anthropozän«, fügt er hinzu, »könnte das Überleben der Natur, wie wir sie kennen, von der Steuerung der Natur [durch die Menschen] abhängen – eine prekäre Lage für die Zukunft der Gesellschaft, der biologischen Vielfalt und der geobiologischen Kreisläufe, auf die sich das Erdsystem stützt.«33 Clive Hamilton, der in den geisteswissenschaftlichen Diskussio277nen über den Klimawandel eine Vorreiterrolle gespielt hat, spricht sich in seinem Buch Defiant Earth für einen »neuen Anthropozentrismus« aus und vergleicht die Menschheit mit einer »bewussten Kraft«. In einem »geologischen Zeitalter, in dem die Menschen es mittlerweile mit den großen Naturkräften aufnehmen können«, hänge die »Zukunft des gesamten Planeten und vieler Lebensformen inzwischen von den Entscheidungen einer bewussten Kraft ab, auch wenn Anzeichen für deren konzertiertes Handeln bloß keimhaft vorhanden sind (und sich als Totgeburt erweisen könnten). Angesichts dieser ungeschminkten Tatsache […] wirkt die Leugnung der Einzigartigkeit und Macht des Menschen wie eine Perversion.«34
Wenn ich unter den Welthistoriker:innen einen Schutzheiligen für die Vision solch einer welthistorischen Zukunft für die Menschheit nennen müsste, in der Menschen gemeinsam die Verantwortung für ihr physisches Einwirken auf den Planeten übernehmen, wäre es William H. McNeill. Auf einer 1994 an der Wesleyan University abgehaltenen Weltgeschichte-Konferenz hat er sogar den Welthistoriker:innen eine welthistorische Rolle zugedacht: »Durch eine weitsichtige und exakte Auslegung der Weltgeschichte können Historiker:innen einen bescheidenen, aber nützlichen Beitrag zur Ermöglichung einer erträglichen Zukunft für die Menschheit als ganze und für alle ihre verschiedenen Teile leisten, […] insofern ein klares und lebendiges Gespür für die gesamte menschliche Vergangenheit hilfreich sein kann, künftige Konflikte dadurch abzuschwächen, dass es deutlich macht, was wir alle teilen.«35 Dies mache eine geistige Partnerschaft zwischen Wissenschaftler:innen und Welthistoriker:innen erforderlich, wie McNeill einige Jahre später in einem Aufsatz von 2002 darlegte: »Es ist an der Zeit, dass die Historiker:innen […] anfangen, eine Verbindung zwischen dem Denken und Schreiben ihrer eigenen Profession und der entsprechend bearbeiteten naturwissenschaftlichen Version des Wesens der Dinge herstellen.«36 278Die Gattungsgeschichte sei eine Gesamtgeschichte der Menschheit: »Genau wie […] unsere Vorgänger versinken wir in Prozessen, über die wir keine Kontrolle haben und die wir nur schemenhaft verstehen – und trotzdem hat ein solcher Prozess uns geschaffen […:] den störendsten […] und […] außerordentlich mächtigen Faktor, der auf ganz verschiedenen Ebenen […] die Gleichgewichte durcheinanderbringt, die unsere Existenzgrundlage bilden. […] Eine weitsichtige Geschichtsschreibung, wie wir an den Punkt gelangt sind, an dem wir uns befinden, könnte sogar die Überlebenschancen der Menschheit erhöhen.«37 Ein Jahr später, im Jahr 2003, schrieb er: »Unsere Spezies [ist] als Ganze zu einer beispiellosen Bedrohung für andere Lebensformen [geworden]. Langfristig mag sich durchaus ein Unheil zusammenbrauen; doch dies einmal dahingestellt, […] könnte das großartigste Zeitalter der Menschheit noch vor uns liegen. Oder wir könnten, was genauso wahrscheinlich ist, raschen Schrittes und Hals über Kopf auf einen von mehreren möglichen verheerenden Endpunkten unserer insgesamt außergewöhnlichen irdischen Laufbahn zusteuern.«38
Diese Hinwendung zu den menschlichen Fähigkeiten als Lösung für unsere globale Umweltkrise kennzeichnet auch das Ende von John L. Brookes meisterlichem Überblick über die Geschichte der Menschheit auf diesem Planeten durch verschiedene Klimasysteme hindurch. »Im Endeffekt«, schreibt Brooke,
muss man unsere gegenwärtige Situation gleichzeitig als Krise im Hinblick auf das Verhältnis der Menschheit zum Erdsystem und als einen Moment innerhalb des langfristigen Wandels ökonomischer Systeme betrachten, der auf einer Stufe mit allen großen Umbrüchen in der menschlichen Vergangenheit steht. […] Was wir benötigen, woran alle Pragmatiker arbeiten, die Pessimisten verzweifeln und was die Leugner von sich weisen […], ist eine globale Lösung. Gemeinsam besitzen wir die Fähigkeit, uns der Krise des Erdsystems, in die wir geraten sind, zu stellen. Ein sachkundiger politischer Wille muss diese Fähigkeit aktivieren.39
279Die Lösung für Probleme von erdhistorischer Größenordnung wird hier abermals in den menschlichen Zeitmaßstäben von Politik und Weltgeschichte gesucht. Auf die dabei vorgenommene Verlagerung muss ich noch ausführlicher eingehen.
Letzten Endes entspricht die Zeit der Weltgeschichte dem, was Reinhart Koselleck als Zeit der menschlichen Geschichte bestimmt hat. Kosellecks berühmtem Vorschlag zufolge sind in der menschlich-historischen Zeit zwei grundlegende Kategorien eng miteinander verwoben, die in Kosellecks Augen »eine anthropologische Vorgegebenheit« von Geschichte überhaupt darstellen: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«.40 Koselleck hat auf überzeugende Weise zum Ausdruck gebracht, was im Laufe der Zeit viele Denker:innen über das historische Zeitgefühl des Menschen gedacht haben. Man erinnere sich zum Beispiel an Augustinus: »Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen ist die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung.«41
Da sie beide menschliche Hervorbringungen darstellen, sind weder die menschlich-historische Zeit noch die Zeit der Geologie frei von Affekten. Doch gehen mit ihnen, wie gesagt, ganz verschiedene Arten von Affekten einher. Natürlich hat es Auseinandersetzungen darüber gegeben, ob man die reine Chronologie der Weltgeschichte als eine Art leeren Sack Zeit betrachten sollte, der den Ereignissen, mit denen wir ihn füllen, gleichgültig gegenübersteht, oder nicht. Aus moralischen Gründen haben einige Gelehrte ein solches Denken empfohlen:
Leere Zeit muss in einem Sinne verstanden werden, der mit mehr verbunden ist als mit einer mathematischen Methode, die gegebene Daten in eine abstrakte Ordnung bringt. Zeit muss als ein potenzielles Band des Lebens 280verstanden werden, Geschichte als ein Garten, der auf einem gemeinsamen Begriff des Lebens, des wirklichen Lebens beruht. Allein auf diese Weise steht eine gemeinsame Grundlage für historische Narrative, für den Zusammenhalt der Geschichte als universeller Wirklichkeit bereit. Wir mögen alle möglichen Arten von historischen Begriffen und historischer Zeitlichkeit hervorbringen, aber der Notwendigkeit, am Begriff leerer Zeit als dem offenen Feld festzuhalten, auf dem miteinander zusammenhängende Geschichten entstehen können, entgehen wir nicht.42
Es lohnt sich, auch an Kosellecks vorweggenommene Widerlegung dieses Punkts zu erinnern. Er zeigt sich einverstanden, dass man für die Konstruktion historischer Zeit, die immer »an soziale und politische Handlungseinheiten gebunden [ist], an konkrete handelnde und leidende Menschen, an ihre Institutionen und Organisationen«, durchaus »Zeitmaße und Zeiteinheiten« benötigen mag, »die der mathematisch-physikalischen Natur entnommen sind: die Daten oder die Dauer eines Lebens oder einer Institution, die Knoten- oder Wendepunkte politischer oder militärischer Ereignisreihen […] [und so weiter].« Doch solch ein mathematisch-physikalisches Zeitverständnis kann nicht als Grundlage der menschlichen Geschichte fungieren: »[…] schon eine Interpretation der Zusammenhänge, die sich aus den genannten Faktoren ergeben, führt über die natürlichen, physikalischen oder astronomisch aufbereiteten Zeitbestimmungen hinaus. Politische Entscheidungszwänge […] [und andere Erwägungen] in gegenseitiger Wechselwirkung oder Abhängigkeit zwing[en uns] zu [sozialen und politischen] Zeitbestimmungen, die zwar von der Natur her bedingt sind, aber doch als spezifisch geschichtlich definiert werden müssen.«43
Erfahrung, erklärt Koselleck, ist »gegenwärtige Vergangenheit« und könne ebensowohl eine »rationale Verarbeitung« der Vergangenheit »wie unbewußte Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsent sein müssen«, umfassen. Erwartung ist »vergegenwärtigte Zukunft«, sie zielt auf »das Noch-Nicht, auf das nicht Erfahrene, auf das nur Erschließbare«.44 Die beiden 281können sich durchdringen – »Überraschen kann nur, was nicht erwartet wurde: dann liegt eine neue Erfahrung vor« – und Koselleck verwendet viele Seiten auf die Erklärung, wie sich in der Neuzeit* »die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert« und begierige »Erwartungen« sich außerdem »immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfern[en] können«.45 Und er fasst zusammen: »Der umständlichen Rede kurzer Sinn: Es ist die Spannung zwischen Erfahrung und Erwartung, die in jeweils verschiedener Weise neue Lösungen provoziert und insoweit geschichtliche Zeit aus sich hervortreibt.«46 Das bedeutet, dass historische Zeit sich nicht von bestimmten menschlichen Affekten trennen lässt: In die Entstehung historischer Zeit geht »hoffnungsträchtige oder angstvolle, die vorsorgende oder planende Gespanntheit in die Zukunft« ein.47 Darin besteht auch die »Weltgeschichtlichkeit« des Klimawandels: Er bietet dem Spiel verschiedener menschlicher Emotionen eine Bühne, darunter auch Hoffnung und Verzweiflung. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 ließe sich denn auch als solch ein intensives und leidenschaftliches welthistorisches Stück betrachten.48
Im Gegensatz dazu könnte man sagen, dass die Zeit der Geologie gewöhnlich mit einem ganz anderen menschlichen Affekt verbunden ist. Natürlich sind mehrere geologische Zeiträume, Persönlichkeiten und Ereignisse als kulturell verarbeitete Phänomene Teil der menschlichen Zeit geworden – zum Beispiel die Jurazeit der Dinosaurier oder der Ausbruch des indonesischen Tambora-Vulkans im Jahr 1815.49 Doch die meisten geologischen Ereignisse werden nicht auf eine solche Weise affektiv verarbeitet. Wir verfügen über keine merklichen Emotionen in Bezug auf die Große Sauerstoffkatastrophe vor 2,5 Milliarden Jahren – obwohl menschliches Leben ohne sie undenkbar wäre – oder im Hinblick auf das Ordovizische Massenaussterben, das vor mehr als 440 Millionen Jahren stattfand.
Wie fügt sich nun aber die Frage »einfacher« geologischer Zeit – der die Geschichte des Erdsystems mit ihren sich über Millionen von Jahren erstreckenden Kohlenstoffkreisläufen eigentlich zuzurechnen ist – in diesen Verstehenshorizont ein, in dessen Rahmen sowohl der Gedanke, dass die Menschen als geophysische Kraft auftreten, als auch das neue geologische Zeitalter des Anthropozäns im Affekthaushalt von vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger menschlicher Macht und Verantwortung unablässig neu verortet werden?
In der jüngsten Geschichte des Anthropozäns hat sich das gewohnte Verhältnis zwischen der Arbeit der Geolog:innen und den großen Themen der menschlichen, ja sogar anderer Arten von Geschichte umgekehrt.50 »Geologen neigen nicht dazu, viel über Geschichte nachzudenken«, schreibt Zalasiewicz, denn die Geschichte, die sie am Ende erzählen wollen, betreffe nicht nur die Geologie dieses Planeten, sondern auch die »der Milliarden festen« Planeten und Monde, die »andere Sterne in der Galaxie« umkreisen, ganz zu schweigen von den »planetaren Körpern, die es in den etwa 100 Milliarden anderen Galaxien innerhalb des bekannten Universums geben dürfte«, in die wir noch gar keinen Einblick haben. Wie gelingt es einem Geologen also, »ein merkwürdiges und neuartiges Ereignis« – »wie zum Beispiel die außergewöhnlichen Prozesse, die wir Menschen in Gang gesetzt haben« – in einer groß angelegten Geschichte unterzubringen? An welchem Punkt fängt ein praktizierender Geologe an, über das vorgeschlagene neue geologische Zeitalter des Anthropozäns nachzudenken?
Für einen Geologen, schreibt Zalasiewicz, ist der übliche Ausgangspunkt selten die groß angelegte Geschichte selbst, sondern »Bruchstücke« – »kleine Splitter des größeren Ganzen, welche die Aufmerksamkeit eines zufällig vorbeikommenden Geologen er283regt haben, wobei ›Geologe‹ im weitesten Sinne zu verstehen ist.« Eine Gesamtsynthese »ergibt sich typischerweise« erst, wenn genügend Details »gesammelt« worden sind, die erkennbare Muster in etwas erzeugen, »das anfänglich bestürzend chaotisch aussah«.51 Als Beispiel nennt er das Karbon-Zeitalter, das ungefähr vor 359 Millionen begann und vor 299 Millionen Jahren endete und in dem kohlereiche Gesteinsschichten entstanden. Generationen von Geolog:innen haben dieses Gestein in all seinen Einzelheiten nach »höchst gegenwärtigen« Gesichtspunkten erfasst. Die größer angelegte Geschichte, dass »in diesem Karbongestein etwas ganz anderes gespeichert ist – eine Welt urzeitlicher Sumpfwälder mit Amphibien und riesigen Libellen, ohne Blumen, Vögel oder Säugetiere« –, war selten das Hauptanliegen der geologischen Arbeit. Die groß angelegte Geschichte jener entfernten Vergangenheit, die sich mittlerweile als »ein etwa 60 Millionen Jahre währendes Zeitsegment abtrennen lässt« – als Geschichte des Karbon-Zeitalters –, »kann heute« anhand dieser Gesteine »in der Vorstellung rekonstruiert«, aber »niemals wieder berührt, gesehen oder erlebt werden«.52
Solange wir jedoch den Namen und den Begriff des Anthropozäns für eine Maßeinheit – und eine Kritik – des menschlichen Einwirkens auf die Geobiologie dieses Planeten halten, können wir der moralischen Sogwirkung der Weltgeschichte nicht entkommen, weil Fragen nach Imperien, Kolonien, Institutionen, Klassen, Nationen, bestimmten Interessengruppen – kurz gesagt, nach dem weltweiten System, das die europäischen Imperien und der Kapitalismus geschaffen haben – dann für uns niemals ganz ohne Belang sind. Das ist eindeutig der Grund, warum das Anthropozän möglicherweise der einzige für ein geologisches Zeitalter vorgeschlagene Name ist, der kritische Reaktionen – wenn nicht Empörung – bei so vielen Humanwissenschaftler:innen hervorgerufen hat. So sieht zum Beispiel die Archäologin und Anthropologin Kathleen D. Morrison die vordringliche Aufgabe darin, 284»das Anthropozän zu provinzialisieren«, um den »versteckten Eurozentrismus« des Begriffs offenzulegen. Ihrer Einschätzung nach steht er für »den Versuch, (ziemliche homogene) europäische historische Erfahrungen, Rahmenbedingungen und Zeittafeln auf den Rest der Welt auszuweiten«. In ihren Augen besteht das Problem nach wie vor darin, dass »die meisten Vorschläge für ein Zeitalter namens Anthropozän eine ziemlich eingeschränkte historische Perspektive einnehmen, wenn sie davon ausgehen, dass das maßgebliche Einwirken auf die Umwelt erst mit der industriellen Revolution (in Europa und besonders in Großbritannien) begonnen hat«. »Das Anthropozän zu provinzialisieren«, heiße deshalb, »dass uns die europäische Agrar- bzw. Industriegeschichte nicht länger als Ausgangspunkt dient.«53 Stattdessen hat Morrison auf andere mögliche Anfänge aufmerksam gemacht: »von Menschen gelegte Großbrände« zum Beispiel, die sehr lange für die »Regeneration der Vegetationssysteme« gesorgt haben, oder Ackerbau als »ein weiteres wichtiges Mittel, mit dessen Hilfe unsere Spezies nicht nur der Vegetation, sondern auch den Böden, Hängen, Gewässern, Umweltfaktoren sowie der Verteilung der Wildpflanzen und -tiere eine neue Gestalt verliehen hat, und das es der menschlichen Population erlaubt hat, sich neu zusammenzusetzen«.54 Man könnte diese Liste noch um das Aussterben der Megafauna, die Reisproduktion und andere Großereignisse ergänzen, einschließlich der Kontrolle und der Verwaltungsgewalt über das Feuer, die darauf hindeuten, wie stark das menschliche Einwirken auf den Planeten ist.
Im Ausgang von der Prämisse, »dass die formelle Einführung eines Zeitalters namens Anthropozän einen grundsätzlichen Wandel des Verhältnisses zwischen Menschen und Erdsystem markieren würde«, haben die beiden britischen Geographen Simon L. Lewis und Mark A. Maslin in einem im Jahr 2015 veröffentlichten, wichtigen Text zwei mögliche Anfangsdaten für das Anthropozän vorgeschlagen: 1610 und 1964. Sie stimmten zu, 285dass die Definition einer geologischen Zeiteinheit »formale Kriterien erfüllen muss«. Trotzdem blieb die Datierung des Beginns des Anthropozäns in ihren Augen auch eine notwendig moralisch-politische Aufgabe: »Wenn man den Beginn auf einen frühen Zeitpunkt datiert, könnte dies in politischer Hinsicht zu einer ›Normalisierung‹ des globalen Wandels der Umwelt führen. Die Einigung [auf] ein späteres Anfangsdatum im Zusammenhang mit der industriellen Revolution kann indes zum Beispiel genutzt werden, um bestimmten Ländern oder Regionen historische Verantwortung für Kohlenstoffdioxidemissionen während des Industriezeitalters zuzuweisen.« Darüber hinaus, fügten sie hinzu, »macht die formale Definition des Anthropozäns die Wissenschaftler:innen in gewissem Grade zu Schiedsrichtern über das Verhältnis von Mensch und Umwelt, was wiederum Folgen über die Geologie hinaus hat. Von daher besteht mehr Interesse am Anthropozän als an anderen Epochendefinitionen.«55
Letzten Endes haben Lewis und Maslin 1610 als Anfangspunkt für das Anthropozän gegenüber 1964 den Vorzug gegeben. Für diese Präferenz führten sie evidenzbasierte wissenschaftliche Beweisgründe an: einen Rückgang des CO₂ in der Atmosphäre (7-10 ppm zwischen 1570 und 1620), der zeitlich mit dem massiven Bevölkerungsrückgang in den Amerikas infolge des Eintreffens der Europäer zusammenfiel (von 64 Millionen im Jahr 1492 auf 6 Millionen, »weil die Bevölkerung Krankheiten […], Kriegen, Versklavung und Hungersnöten ausgesetzt war«).56 Doch zur Rechtfertigung ihrer Wahl boten sie auch welthistorische Argumente auf.
Die Wahl zwischen 1610 und 1964 [als nach der Detonation von Atombomben ein »deutlicher Höchstwert an Radioaktivität« verzeichnet wurde] würde wahrscheinlich die Wahrnehmung beeinflussen, wie menschliches Handeln sich auf die Umwelt auswirkt. […] [1610] hieße, dass Kolonialismus, globaler Handel und Kohle das Anthropozän herbeigeführt haben. Im Allgemeinen stehen dabei soziale Belange im Vordergrund, insbesonde286re die ungleichen Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Menschengruppen, Wirtschaftswachstum, die Auswirkungen des globalisierten Handels und unsere derzeitige Angewiesenheit auf fossile Brennstoffe. […] Die Entscheidung für den Spitzenwert an Radioaktivität erzählt die Geschichte einer von einer Elite vorangetriebenen technologischen Entwicklung, die den ganzen Planeten zu zerstören droht.57
Lewis und Maslin betrachten das Anthropozän als etwas, das Erdgeschichte und Weltgeschichte zusammenführt: »Die Auswirkungen des Zusammentreffens der menschlichen Populationen der Alten und der Neuen Welt – einschließlich einer geologisch beispiellosen Homogenisierung der irdischen Biota – könnten den Anfang des Anthropozäns markieren. […] Sie stellen [gleichzeitig] ein welthistorisches Großereignis dar.«58
Lewis' und Maslins Sichtweise ist sowohl heftig kritisiert als auch verteidigt worden.59 Doch solange das Anthropozän als Maßeinheit für das menschliche Einwirken auf den Planeten betrachtet wird, kann es nur mehrere Anfänge haben und muss es eher eine informelle als eine formale geologische Kategorie bleiben, die eine Vielzahl von Geschichten über menschliche Institutionen und Moral in sich birgt. Die Angelegenheit lässt sich nicht von politischen und moralischen Anliegen trennen. Fragen von stratigraphischer Bedeutung – wie etwa ob in den Gesteinsschichten des Planeten genügend Belege vorhanden sind, damit Stratigraph:innen die These vertreten können, dass die Schwelle des Holozän-Zeitalters überschritten worden sei – werden dann mit ganz verschiedenen, tiefschürfenden und oberflächlichen, großen und kleinen menschlichen Geschichten überschrieben. Aus ebendiesem Grund ist der Text von Zalasiewicz, aus dem ich eingangs zitiert habe, von Interesse für diese Debatte: Er entfernt – möglicherweise zum ersten Mal in der seit einem Jahrzehnt schwelenden Kontroverse über das Anthropozän – die Spinnweben (aber vielleicht sollte ich eher von einem Menschennetz als von einem Spinnennetz sprechen) der welthistorischen Zeit, 287um das ins Blickfeld zu rücken, was er »einfache« geologische Zeit nennt.
Zalasiewicz macht einige entscheidende Schachzüge, die besondere Erwähnung verdienen. Er räumt ein, dass »die gewöhnlichen Abläufe durch Paul Crutzens einfallsreiche Improvisation auf einer Konferenz in Mexiko auf den Kopf gestellt wurden, als er vor gerade einmal 15 Jahren das Anthropozän – zumindest im praktischen Sinne – aus der Taufe hob«.60 Die Idee dazu kam »aus der den planetarischen Wandel in Echtzeit aufzeichnenden geowissenschaftlichen Community«, es handelte sich aber nicht zwangsläufig um Stratigraphen. Als die Anthropozän-Arbeitsgruppe der Unterkommission für Quartärstratigraphie – »eine Teilkörperschaft der Internationalen Stratigraphischen Kommission (des Entscheidungsgremiums, das die Geologische Zeitskala überwacht)« – eingerichtet wurde, bestand die »erste Aufgabe« der Gruppe darin, »herauszufinden, ob es auf der Erde tatsächlich eine systematisch erkennbare Gesteinsschicht gibt, die sich dem Zeitalter des Anthropozäns als materieller Körper zuordnen lässt«. Im Geologenjargon würde solch eine »materielle Zeit-Gestein-Einheit entsprechend der ›Zeit‹-Einheit anthropozäne Serie heißen«.61 In diesem speziellen Aufsatz, aber auch an anderen Stellen haben Zalasiewicz und seine Kolleg:innen große Anstrengungen unternommen darzulegen, aus welchen Materialien (einschließlich Techno-Fossilien) solch eine Zeit-Gestein-Einheit höchstwahrscheinlich bestehen würde.62
Eine solche Suche nach einschlägigen stratigraphischen Belegen für das Anthropozän konzentriert sich auf die Frage, ob man die These vertreten kann, dass es genügend Anhaltspunkte in der Lithosphäre und auf der Planetenoberfläche gibt, auf die sich die Behauptung stützen lässt, dass der Planet die Grenzen des Holozän-Zeitalters hinter sich gelassen hat. Fragen danach, »welche globale Bedeutung« die neue Grenze – für den Menschen – hat, oder »wann es erste Anzeichen für den Einfluss 288eines wichtigen neuen Faktors auf das Erdsystem gegeben hat«, die verständlicherweise viele beschäftigt haben, die über die moralischen Aspekte des Anthropozän-Gedankens stritten, sind für Stratigraphen nicht maßgeblich. Wie Zalasiewicz es formuliert, »[geht es] bei der Definition eines ›stratigraphischen Anthropozäns‹ […] eher um Veränderungen des Erdsystems als darum, dass sich das Ausmaß verändert hat, in dem [wir] menschlichen Einfluss erkennen können«. Entscheidend sei, ob man in der Lage ist, anhand stratigraphischer Belege zu zeigen, dass »das planetarische System sich erkennbar ändert«. Um eine formelle Aussage über das Anthropozän zu treffen, ist es nicht unbedingt erforderlich, dass der Stratigraph sich dafür interessiert, wer schuld an der Geschichte ist. Es kommt auf das Einwirken auf die Lithosphäre an; wer diese Einwirkung verursacht, ist nicht wichtig. Für Stratigraph:innen ist mit dem Namen Anthropozän keine besondere wörtliche Bedeutung mit Blick auf den Menschen verbunden, weil »die Aktivitäten der menschlichen Spezies momentan bloß zufällig der größte Störfaktor sind«. »Aufgrund der Größenordnung der planetarischen (also die Gesteinsschichten betreffenden) Auswirkungen«, schreibt Zalasiewicz, »wäre das Anthropozän geologisch genauso wichtig, wenn es eine andere Ursache hätte« als menschliche Aktivitäten. »In diesem Fall«, führt er aus, »wäre der Begriff für Menschen sogar leichter verständlich, und eine Reaktion darauf würde ihnen leichter fallen.«63 Aus dieser stratigraphischen Perspektive – die für eine formale Anerkennung des neuen geologischen Zeitalters eingenommen werden müsste – ist das Anthropozän, wie Zalasiewicz es ausdrückt, »eher als planetenzentriertes denn als menschenzentriertes Phänomen zu betrachten«.64
Seine Beschäftigung mit dem, was er als »stratigraphisches Anthropozän« bezeichnet, erlaubt es Zalasiewicz herauszuarbeiten, dass die geologische Zeit sich von der Zeit der menschlichen Geschichte unterscheidet. »Die Frage der [Epochen-]Grenze hat 289eine ganze Reihe von Kommentaren auf den Plan gerufen«, schreibt er, »nicht zuletzt im Hinblick auf die sich lange hinziehende und immer weiter zunehmende, beträchtliche Einflussnahme des Menschen auf die Erde, die vom Aussterben der ersten terrestrischen Megafauna, das bereits vor 50 000 Jahren einsetzte, […] über die Entstehung und Verbreitung des Ackerbaus, die vor etwa 10 000 Jahren begann, bis zum Ursprung und zur Ausbreitung der Urbanisierung etwas später reicht.« Die sich daraus ergebende »zeittransgressive, durch den Menschen geformte Oberflächenschicht«, die man als Archäosphäre bezeichnet, wird gelegentlich als »sichtbarste Widerspiegelung« des Anthropozäns betrachtet. Doch »würde dies«, kommentiert Zalasiewicz, »archäologischen Zeiteinteilungen wie dem ›Paläolithikum‹, der ›Bronzezeit‹ und so weiter entsprechen, in denen sich je nach dem kulturellen Stand [und den Machtbeziehungen, könnte man hinzufügen] der lokalen menschlichen Population in verschiedenen Regionen ein anderes Alter widerspiegelt«. Diese Liste von eher menschen- als planetenzentrierten Definitionen des Anthropozäns ließe sich noch um »Kapitalozän« ergänzen. Sie alle würden, behauptet Zalasiewicz, »einer Eigentümlichkeit der geologischen Zeit zuwiderl[aufen], die im Kern darin besteht, dass es sich bei dieser schlicht und einfach um Zeit handelt – wenn auch in sehr großen Mengen. Eine (ob nun geochronologische oder chronostratigraphische) Zeitgrenze ist bloß eine zeitliche Schnittstelle zwischen einem Zeitintervall (das Millionen Jahre lang sein kann) und einem anderen, die selbst keine Dauer hat – sie ist kürzer als ein Augenblick. In dem Gebiet, auf dem sie gilt, das heißt auf dem Heimatplaneten, verläuft sie grundsätzlich synchron.«65
Ich möchte kurz bei der Unterscheidung innehalten, die Zalasiewicz zwischen menschen- und planetenzentrierten Denkweisen vorgenommen hat. Teilweise zieht die These, dass die Menschen eine geologische Kraft darstellen, die sich mit dem Milanković-Effekt vergleichen lässt, der die Glazial-Interglazial-Zyklen steuert, nämlich ein Denken in Zeitmaßstäben nach sich, die in jedem Fall zu umfangreich für die politisch-affektive Fassungskraft und folglich für politische Entscheidungen und Strategien sind. Nach menschlichen Begriffen sind einige Erdprozesse extrem langsam. Wie David Archer schreibt, ist der Millionen Jahre beanspruchende Kohlenstoffzyklus des Planeten »für menschlichen Zeitmaßstäben folgende politische Erwägungen über den Klimawandel nicht relevant«, aber »im Endeffekt wird das Klimaphänomen globaler Erwärmung anhalten, bis diese langsamen Prozesse Wirkung zeigen«.66 Nach menschlichen Zeitmaßstäben sind Erdreich, fossile Brennstoffe und Biodiversität nicht erneuerbar. Frühere Katastrophen, schreiben Charles H. Langmuir und Wally Broecker in ihrem Buch How to Build a Habitable Planet, zeigen, dass die »Biodiversität sich nur in Zeiträumen von Millionen von Jahren erholt«.67 Alle diese Phänomene oder Prozesse werden von der menschlichen Aktivität in Mitleidenschaft gezogen, laufen aber selbst nicht nach dem Zeitmaßstab der Weltgeschichte, sondern nach geologischen Zeitmaßstäben ab.
Geologische Zeit ist nicht mit absoluter mathematischer Zeit identisch. Für Geolog:innen behält Zeit eine materielle Seite, weil es ohne geologische Objekte keine geologische Zeit gibt. Für die Zwecke unserer Diskussion lässt diese Zeit sich letztendlich an den Gesteinsschichten des Planeten ablesen. »Es sind nämlich genau diese Schichten mit ihren Radionukliden, ihrer Flugasche, Mikroplastik, ihren Hühnerknochen aus dem Supermarkt und so weiter, die den Kern der Argumente für ein ›geolo291gisches [stratigraphisches] Anthropozän‹ bilden«, schreibt Zalasiewicz.68
Doch was wir auch immer von geologischer Zeit halten mögen – an deren Geschichte christliche Theologie (Geologie als Buch der Natur), Astronomie, Physik, Evolutionsbiologie und andere Bereiche des Denkens viele Jahre lang mitgewirkt haben –, ist sie zum Teil einer Zeitklasse zuzuordnen, die immer schon (lange vor der Geologie) als Gegensatz zum Zeitgefühl bzw. -maßstab der menschlichen Geschichte galt.69 In den Augen von Augustinus handelte es sich dabei um eine »nicht mehr in Zahlen auszudrückende[…] Zeit«; Buffon hielt sie für eine sich nicht »den begrenzten Fähigkeiten unserer Intelligenz fügende« Zeit; Darwin nannte ihre »Unermesslichkeit« »unergründlich«; im frühen 19. Jahrhundert kamen selbsternannte Geologen nicht umhin, sie als etwas hinzunehmen, das – in den Worten eines ihrer großen Historiker – »im wahrsten Sinne des Wortes jenseits der menschlichen Vorstellungskraft« liege, selbst wenn »ihr [noch] keine quantitativen Zahlen beigelegt werden konnten«.70 Selbstverständlich ist in all diesen Beschreibungen nicht von »leerer« und in dieser Eigenschaft aller menschlichen Affekte beraubten Zeit die Rede. Augustinus, Buffon und Darwin sprechen über diese Zeit ausschließlich in ihrem Verhältnis zum Menschsein und geben so zu erkennen, dass sie für die historische Zeit eine Grenze darstellt, einen begrifflich-zeitlichen Ort, an dem die »Sinnbildung« menschlicher Geschichte – die Spannung zwischen Erwartungshorizont und Erfahrungshorizont – nicht mehr funktioniert.71
Inzwischen kollidiert das welthistorische Narrativ (in unseren Köpfen) mit der sehr viel längeren geologischen Geschichte des Planeten bzw. – in heutiger Benennung – des Erdsystems.72 Die sich auf planetarische Geschichten stützende Erdsystemwissenschaft stellt eine späte und durchführbare Variante der Gaia-Hypothese dar, die James Lovelock in den 1960er Jahren aufgestellt 292hat. Wenn wir nicht in der Lage wären, den Planeten als eine Art von System zu betrachten – als ein System »stabilen Ungleichgewichts«, das von einer externen Energiequelle (der Sonne) aufrechterhalten wird, die miteinander verzahnte, auf lange Sicht für das Leben förderliche Prozesse und Rückkopplungsschleifen in Bewegung setzt –, hätte es keine Erforschung des planetarischen Klimawandels und auch keine wissenschaftliche Formulierung des Problems gegeben.73 Die Publikationsgeschichte von Langmuirs und Broeckers Buch How to Build a Habitable Planet hält so etwas wie die frühen Jahre des Faches Erdsystemwissenschaft fest. Broecker veröffentlichte dieses Buch 1984 unter demselben Titel als alleiniger Autor. Doch zu dieser Zeit, heben Langmuir und Broecker in der zweiten Auflage hervor, »waren Dunkle Energie und Dunkle Materie noch nicht entdeckt worden, die Ozeanrücken kaum kartiert, die hydrothermalen Schlote auf dem Meeresboden waren so gut wie unbekannt, der antarktische Eiskern war noch nicht angebohrt worden, die Hypothese vom ›Schneeball Erde‹ war nicht in vollem Umfang formuliert worden, die globale Erwärmung war noch kein dringliches Thema und kein Exoplanet war entdeckt worden«. Im Stil von Latour könnte man sagen, dass alle diese Technologien und Entdeckungen erforderlich waren, damit Forscher:innen das »Erdsystem« als Untersuchungsgegenstand herbeidenken konnten. In die überarbeitete Fassung des Buches von 2012 fügten die Autoren »Erörterungen über das Leben, […] Erdgeschichte, Sauerstoffanstieg, […] Vulkanismus und die Rolle Fester Erde für die Bewohnbarkeit« ein. Außerdem wählten sie »eine ›systemische‹ Herangehensweise an die Geschichte und das Verständnis unseres Planeten«. »Wenn es ein Leitmotiv gibt, das wir in dem Buch deutlich gemacht zu haben hoffen«, schreiben sie im Vorwort, »ist es das eines vernetzten Universums, in dem Menschen ein Auswuchs und ein integraler Bestandteil sind.«74
Während die Erdsystemwissenschaft für Überlegungen zum 293planetarischen Klimawandel und zum Verständnis des Anthropozäns zentral ist, betrifft, wie in Kapitel 3 deutlich geworden ist, die Schlüsselfrage, die hinter diesem interdisziplinären Wissenschaftszweig steht, die Geschichte des Lebens auf der Erde und für es förderliche Erdsystemprozesse, für die ausnahmslos geologische, wenn nicht gar astronomische Zeitmaßstäbe gelten. Was macht einen Planeten nicht nur für menschliches, sondern für komplexes Leben im Allgemeinen bewohnbar? Haben die Menschen zwangsläufig einen Platz in der planetarischen Evolution inne? Gibt es irgendwo da draußen andere, die so sind wie wir?75 »Eine entscheidende Unbekannte«, wenn wir uns die Worte von Langmuir und Broecker ins Gedächtnis rufen, »ist der Bruchteil an planetarischer Lebenszeit, den die technologische Zivilisation einnimmt. Zerstört eine solche Zivilisation sich in wenigen Hundert Jahren selbst oder wird sie sich Millionen von Jahren halten? Damit eine solche Zivilisation sich hält, muss die […] Spezies die planetarische Bewohnbarkeit erhalten und fördern, anstatt die planetarischen Ressourcen zu plündern.«76
Mit dem für die Astrobiologie so zentralen und sich so stark vom menschenzentrierten Nachhaltigkeitsgedanken unterscheidenden Bewohnbarkeitsproblem muss noch nicht einmal die Unterstellung verbunden sein, dass es Menschen auf anderen Planeten gibt. Um sich technologische Zivilisationen an anderen Orten vorzustellen, brauchen die Astrobiolog:innen lediglich die Existenz von etwas vorauszusetzen, das sie SWEIT nennen: »Species with Energy-Intensive Technology«.77 Die Astrobiologie betrachtet die Erde und andere Planeten von einem imaginären Fluchtpunkt im Weltraum aus: »Damit eine technologische Zivilisation bestehen bleibt, muss sie zu einem Planeten als einem natürlichen System passen.«78 Je nachdem, wie eine SWEIT sich verhalte, könne ein Planet sich von einem »›bewohnbaren Planeten‹ zu einem ›bewohnten Planeten‹, das heißt zu einem Planeten entwickeln, auf dem Intelligenz und Bewusstsein in globaler Grö294ßenordnung vorhanden sind, was dem Planeten und dem gesamten Leben auf ihm zugutekommt«. Es könne aber auch zu einer »missglückten, erfolglosen Mutation« kommen und ein Planet würde in ein früheres Evolutionsstadium des Lebens zurückfallen, eine Verringerung der Biodiversität erleiden oder sogar mehr oder weniger absterben.79
In dem von mir erörterten Aufsatz gibt Zalasiewicz einen ähnlichen Blick auf den Planeten von außen zu erkennen, als würde er ihn mit Hilfe einer Reihe von Fotos im Zeitraffer betrachten. Als nach der Großen Sauerstoffkatastrophe vor 2,5 Milliarden Jahren Mineraloxid- und Hydroxidschwaden entstanden, »wechselte die Farbe einer auf die Grau- und Grüntöne ihrer chemischen Bestandteile reduzierten Welt zu Rot-, Orange- und Brauntönen«.80 Auf ähnliche Weise kommt Langmuirs und Broeckers Sichtweise eines »bewohnten Planeten«, der technische Intelligenz verinnerlicht hat, der Behauptung des Geologen Peter Haff nahe, dass die »Erde« über eine Technosphäre verfügt, also über eine Schicht, die sich seines Erachtens analytisch von der Lithosphäre, Atmosphäre oder Biosphäre unterscheiden lässt und für deren Erforschung man einen extraterrestrischen Standpunkt einnehmen muss: »Die Menschen sind in die technologische Matrix hineingezogen worden und werden mittlerweile von einer sich daraus ergebenden Dynamik getragen, der sie nicht entrinnen können, ohne ihr Leben zu verlieren. […] Technologie ist die neue Biologie.«81
Die Zeit einer solchen Geschichte ist die für die Belange der menschlichen Geschichte unermessliche und unergründliche, unserem kognitiven und affektiven Vermögen aber zugängliche Zeit der Erdsystemwissenschaft. Mit Althussers Worten von ehedem ausgedrückt, ist die Geschichte des Erdsystems reiner »Prozess ohne Subjekt«. In Bruno Latours Vokabular handelt es sich um ein Narrativ vieler verstreuter und vernetzter Akteure, von denen keiner mit dem Gefühl von innerer Autonomie agiert, die in den 295Augen humanistischer Historiker:innen das Wort agency, Handlungsmacht, erfüllt. Trotzdem überschreibt die menschliche Zeit der Weltschichte in den sozialwissenschaftlichen Debatten über das Anthropozän die geologische Zeit, und treten die Menschen nicht nur in den humanwissenschaftlichen Schriften, sondern auch in den Texten der Erdwissenschaftler:innen als Subjekte im Drama des Anthropozäns auf. Dies liegt eindeutig daran, dass die Erdsystemwissenschaft historisch durch dieselben Technologien möglich geworden ist, die auch die schädlichen Auswirkungen des Komplexes aus Arten und Lebensformen auf die Biosphäre hervorgebracht, kartiert und gemessen haben, für den die Menschen, die auf sie angewiesenen oder mit ihnen koevoluierenden Lebewesen und ihre Technologie stehen. Dieser Spezies-Technologie-Komplex hat sich auf Kosten vieler anderer Arten entfaltet und droht mittlerweile, das Erdsystem in eine völlig neue Phase zu versetzen.
Die Texte, die Erdsystemforscher:innen wie Langmuir und Broecker zur Übermittlung der Nachricht von der derzeitigen planetarischen Umweltkrise verfassen, sprechen notgedrungen mit gespaltener Zunge. Sie denken sozusagen auf zwei verschiedene Weisen gleichzeitig: menschenzentriert und planetenzentriert – zum einen die überwältigende Geschichte des Lebens auf diesem Planeten und allgemeine Fragen der Bewohnbarkeit eines Planeten, für die der Mensch nicht zentral ist; zum anderen aber das Motiv der Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf die Erde. »Die menschliche Zivilisation hat zur ersten globalen Gemeinschaft einer einzigen Spezies geführt, zur Zerstörung von Ressourcen, die Milliarden Jahre lang akkumuliert worden sind, zu einer veränderten Zusammensetzung der Atmosphäre, einer vierten planetarischen Energierevolution und zu einem Massensterben. […] Das Potenzial zu einem planetarischen Wandel ist beinahe ebenso groß wie das vom Ursprung des Lebens oder vom Sauerstoffanstieg erzeugte Potenzial«, schreiben Langmuir und 296Broecker. Sie regen sogar an, dass die Bezeichnung des neuen geologischen Zeitalters unter Umständen um eine Stufe auf die Ebene einer anthropozoischen Ära heraufgesetzt werden müsste. Eine anthropozoische Ära, warnen sie, könne »eine missglückte, erfolglose Mutation sein, wenn die intelligente Spezies sich selbst und ihre Umwelt zerstört«. »Sollten wir scheitern«, schreiben Langmuir und Broecker, »und sollte in einigen zehn Millionen Jahren eine andere Form von intelligentem Leben auftreten, würde diese einen Planeten vorfinden, dessen Schatztruhen größtenteils leer sind«, was »eine zweite planetarische Zivilisationsanstrengung entsprechend erschweren würde«.82
Auf den Schlussseiten ihres Buches über die tiefenzeitlichen Dimensionen des Anthropozäns sprechen der Geowissenschaftler und Paläoklimatologe Andrew Glikson und der Primatologe und Säugetierforscher Colin Groves eine ähnliche Warnung aus:
Der Homo sapiens hat nicht begriffen, dass die Biosphäre analog zu seinen eigenen, auf den über die Lungen vermittelten Sauerstoff-Kohlenstoff-Kreislauf angewiesenen Lebensprozessen vom planetarischen Sauerstoff- und Kohlenstoffkreislauf abhängt. Das Phänomen, dass eine Säugetierart ein Massensterben anrichtet, lässt sich im Rahmen darwinistischer Evolution nicht erklären. […] Da sie jedes Gefühl von Ehrfurcht gegenüber der Erde verloren haben, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Menschen im Begriff sind, das Reich der Vorstellungen, Träume, Mythen, Legenden und Verleugnung hinter sich zu lassen. […] Weil eine Mehrheit das sich rasch wandelnde Klima nicht zur Kenntnis nimmt, durch Interessengruppen und deren Medienkanäle fehlinformiert wird, sich von feigen Führern betrügen und durch die schiere Größe des die Macht des Menschen überschreitenden Ereignisses entmutigen lässt, […] treibt die Menschheit auf eine beispiellose Katastrophe zu.83
Und diesen katastrophischen Prozess taufen sie auf den Namen Planetizid.84
Ich kann mir viele Sozialwissenschaftler:innen vorstellen, die Glikson und Groves entweder ins Gebet nehmen wollen, weil sie aus dem Homo sapiens das Subjekt einer möglichen planetarischen 297Tragödie machen oder weil sie die gesamte Menschheit als »eins« betrachten. Einige könnten sogar Einwände gegen den »Katastrophismus« ihrer Ausführungen erheben. Ginge es nach dem Willen vieler Sozialwissenschaftler:innen, würde ein anderes Subjekt angeklagt, wie wir gesehen haben: die Klasse, die entwickelten Nationen, patriarchische Entscheidungsstrukturen, kapitalistische Akkumulation, europäische Imperien und Kolonisierung von Ländern und Völkern und so weiter. Manche, wie Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz, würden sogar die Befugnis und die Autorität in Frage stellen, die Naturwissenschaftler:innen im Hinblick auf die Definition des Anthropozäns für sich beanspruchen: »Schließlich handelt es sich um ein prophetisches Narrativ, das den Erdsystemwissenschaftler:innen und ihren neuen Anhänger:innen in den Humanwissenschaften auf einem zerzausten Planeten den Befehlsstand über die auf ihm umherirrende Menschheit überträgt. Eine Georegierung aus Naturwissenschaftler:innen!«85 Sie sind dagegen, »den Expert:innen einen Freibrief zu erteilen und so die spezifischen Ressourcen einzubüßen, über die alle Gemeinschaften verfügen, die in ihrer Diversität und lokalen Gebundenheit unverzichtbare Antriebskräfte für einen gerechten ökologischen Wandel sind«.86 Und am anderen Ende stehen wohl diejenigen, die im Anthropozän eine Gelegenheit für die Menschen sehen möchten, sich dadurch zu rehabilitieren, dass sie zu erfolgreichen Paten des Planeten, zu einer Art Gottes-Spezies werden.87
Diese unterschiedlichen menschlichen Anliegen sind völlig legitim, sogar die Anliegen der sogenannten Klimawandelleugner – vor allem dann, wenn den Wissenschaftler:innen nicht die unangefochtene Autorität zugesprochen wird, das Problem der anthropogenen globalen Erwärmung zu definieren. In Anbetracht nicht nur planetarischer Umweltprobleme, sondern auch enormer Ungerechtigkeiten in der menschlichen Welt ist es nur vernünftig, dass die Menschen über ihre Optionen streiten: über das 298Tempo des Umsteigens auf erneuerbare Energien, über Geoengineering, Klimagerechtigkeitsprobleme, Kohlenstoffsequestrierung, Regenwasserspeicherung, Nahrungssicherheit, Klimaflüchtlingspolitik, Anpassungs- und Vorbeugungsmaßnahmen und ähnliche Fragen. Ob die Menschen am Ende notwendig zum Besseren fortschreiten und sich als »kluge« Spezies zu erweisen vermögen, ist eine Frage, die an den Witz erinnert, den Kant in seinem Streit der Fakultäten erzählt: »Ein Patient, den sein Arzt von Tag zu Tag auf baldige Genesung vertröstete: den einen, daß der Puls besser schlüge; den anderen, daß der Auswurf, den dritten, daß der Schweiß Besserung verspräche usw., bekam einen Besuch von einem seiner Freunde. Wie geht's, Freund, mit eurer Krankheit? war die erste Frage. Wie wird's gehen? Ich sterbe vor lauter Besserung!«88 Wie hinreichend bekannt ist, machte Kant seine Hoffnung auf menschlichen Fortschritt von einer Reihe von Faktoren abhängig: (a) von der »Belehrung [der Menschheit] durch öftere Erfahrung«, (b) von »einer Weisheit von oben herab ([…]Vorsehung)« und (c) von der »Aussicht in eine unabsehliche Zeit […], wofern nicht etwa [sagt er mit einem Seitenblick auf die Evolutionsgeschichte des Lebens] auf die erste Epoche einer Naturrevolution, die […] bloß das Tier- und Pflanzenreich, ehe noch Menschen waren, vergrub, noch eine zweite folgt, welche auch dem Menschengeschlecht ebenso mitspielt, um andere Geschöpfe auf diese Bühne treten zu lassen«.89 Ob die Menschen weiterhin Aussichten auf »eine unabsehliche Zeit« haben, ist natürlich ein strittiger Punkt in der gegenwärtigen Debatte über den Klimawandel.
Bonneuil und Fressoz fürchten, dass die Geolog:innen und Forscher:innen, die die globale Erwärmung sowohl als geologisches Ereignis als auch als etwas betrachten, für das »der Mensch« bzw. der Homo sapiens verantwortlich ist, das Ende der Politik einläuten. »Was bleibt nach dem geologischen Maßstab, auf den das Anthropozän uns verpflichtet, von der Politik übrig?«, fragen sie. »Was können wir angesichts der gewaltigen Größenordnung 299des Anthropozäns auf individueller und kollektiver Ebene überhaupt noch tun? Es besteht die Gefahr, dass das Anthropozän und sein bombastischer Zeitrahmen die Politik anästhesiert. Dadurch würde den Naturwissenschaftler:innen eine Monopolposition zukommen, sowohl was die Definition dessen anbelangt, was uns widerfährt, als auch in Bezug darauf, wer bestimmt, was zu tun ist.«90 Wie Kant spüren sie, dass angesichts der »Allgewalt der Natur […] der Mensch […] nur eine Kleinigkeit« ist.91 Dabei übersehen sie allerdings, dass ihre Verurteilung von Konsumdenken und Kapitalismus auf derselben zeitlichen Grundlage beruht wie die Argumente, mit deren Hilfe nach einer politischen Lösung für das Anthropozän gesucht wird, für die Klimaforscher:innen und ein kollektives Verantwortungsgefühl (wie zum Beispiel bei den Pariser Klimagesprächen im Jahr 2015) sich einsetzen. All ihrer Unterschiede zum Trotz siedeln diese unterschiedlichen Positionen die Diskussion ausschließlich in der Zeit der Weltgeschichte an.
Der Verlagerungsprozess, der hier am Werk ist und die Zeit der Geologie in den Hintergrund drängt, ist deutlich zu erkennen – auf diese Weise werden »die Menschen als geologische Kraft« und das Anthropozän zu Motiven, die von Macht- und Verantwortungsfragen durchdrungen sind. Zunächst einmal tritt durch diese Verlagerung so etwas wie eine einzige, autonome Handlungsmacht (ob es sich dabei um die als Einzelfigur verstandene Menschheit oder um eine bestimmte Klasse handelt, spielt keine Rolle), der sowohl Schuld als auch Verantwortung zugeschrieben werden kann, an die Stelle der (noch einmal in Latours Worten) überall verteilten Handlungsmacht der »Erd«prozesse. Der Handlungsträger steht dabei immer in einem synekdochischen Verhältnis zur verteilten Handlungsmacht der Erdprozesse. Die Seinsweise, in deren Rahmen Menschen kollektiv als geologische Kraft agieren können, ist mit anderen Worten nicht die Seinsweise, in deren Rahmen Menschen sich – individuell oder 300kollektiv – bewusst zu machen vermögen, dass sie eine solche Kraft sind. In der Rede von einer »bewussten« oder verantwortlichen »Kraft« fallen – vor jeder tatsächlichen Geschichte, die eine solche Verschmelzung zulassen würde – die beiden unterschiedlichen Weisen des Menschseins zusammen.
Die hier vorgenommene Verlagerung lässt sich folgendermaßen beschreiben: Auch wenn es in der Erdsystemwissenschaft darum geht, planetarische Prozesse (an denen Intelligenz einen Anteil hat) aufzuzeigen und zu beobachten, sodass sie folglich kein Subjekt (den Menschen, eine Klasse und dergleichen) beschreibt, sondern ein »Es«, dessen innerer Aufbau pluraler Natur ist – als instabiles System besteht der Planet aus unvollkommen miteinander verzahnten Prozessen (zu denen auch der Mensch als planetarische Kraft gehört) –, wird der Platz dieses »Es« jetzt von einem Subjekt, einem »Ich« eingenommen. Dies erinnert an Lacans sich Freud bedienender psychoanalytische Lesart des Wesens des Subjekts: »wo es war, […] soll das Subjekt ankommen.«92 Bonneuil und Fressoz bezeichnen die Erdsystemwissenschaft – nicht ohne Grund – als »Blick aus dem Nirgendwo« (auch wenn die Menschen dieses Nirgendwo mittlerweile kognitiv bewohnen) und fragen: »Was wäre, wenn die ›Aus dem Nirgendwo betrachtete Erde‹ und das Narrativ der ›Interaktionen zwischen menschlicher Spezies und Erdsystem‹ nicht der interessanteste Blickwinkel ist, um das zu schildern, was uns in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten widerfahren ist, geschweige denn, um die Zukunft vorherzusagen? Möglicherweise sollten wir den Begriff des Anthropozäns anerkennen, ohne auf sein vorherrschendes Narrativ hereinzufallen[,] […] ohne den Expert:innen einen Freibrief zu erteilen.« Die Erdsystemforscher seien gut darin, uns vor Gefahren »zu warnen«, aber »sie kommen ›vom anderen Abhang‹«, behaupten sie mit einem Zitat aus René Chars Gedicht »Les Inventeurs« von 1949.93 Ihre Worte helfen uns, die zweite Verlagerung zu erkennen, die hier erfolgt und die vorgenommen werden muss, wenn 301die (für Menschen) abgründige Zeit der Geologie durch die Zeit menschlicher Belange überschrieben werden soll. Die »Inside-Out«-Perspektive menschlicher Kombattanten um Macht und Widerstand tritt an die Stelle des »Outside-In«-Blickwinkels der Erdsystemwissenschaft. Wenn wir uns die Erdsystemforscher:innen – im Stil von Latour – als Sprachrohre des »Erdsystems« vorstellen, bewirkt das Herunterbrechen der geobiologischen Zeit der Geschichte des Planeten auf die welthistorische Zeit der Menschheit eine weitere faszinierende Verschiebung. Es ist so, als würde das Erdsystem, der Planet, zu seinen bewussten Bestandteilen – den Menschen – sagen – um noch einmal eine Anleihe bei Lacans Ausdrucksweise zu machen –, dass »Du mich nie da erblickst, wo ich Dich sehe«.94
Wie Nigel Clark es unverblümt ausgedrückt hat, konfrontiert das Anthropozän »das Politische mit Kräften und Ereignissen, die das Politische aufzulösen vermögen«. Indem er die Humanist:innen »dauerhaft mit Zeiten und Räumen in Berührung« bringt, »die radikal über jedes vorstellbare menschliche Dasein hinausgehen«, lädt er sie ein, »das durch und durch Inhumane« in ihr Denken »einzubeziehen«.95 Einer Lesart zufolge ist das Anthropozän eine Geschichte über Menschen, aber nach einer anderen Lesart ist es auch eine Geschichte, von der die Menschen nur ein Bestandteil, ja sogar nur ein kleiner Bestandteil sind und für die sie nicht allein verantwortlich zeichnen. Wie dieses zweite Anthropozän so bewohnt werden soll, dass menschliche Wohnstätten das Geologische in sich aufnehmen, ist eine offene Frage. Tatsächlich könnte es »Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte« dauern, warnt Jasanoff, »sich auf eine revolutionäre Neuausrichtung des Verhältnisses von Mensch und Natur […] einzustellen«.96
302Wie ich zu zeigen versucht habe, besteht ein Hindernisgrund, eine solche Anpassung – und die damit zusammenhängende Frage menschlicher Verletzbarkeit – in Erwägung zu ziehen, darin, dass ein Großteil des zeitgenössischen Denkens an einer ganz bestimmten Deutung »des Politischen« festhält, obwohl uns möglicherweise gerade seine Neugestaltung aufgegeben ist. Dieses Festhalten dient als ängstlicher und besorgter Vorbehalt, das Geobiologische zu denken, damit wir am Ende nicht das Politische als solches »anästhesieren« oder »lähmen«.97 Das Politische (und unsere Forderungen nach Gerechtigkeit zwischen den Mächtigeren und den nicht so Mächtigen) aufzugeben, kann der Mensch sich nicht leisten, aber angesichts der Notlage, in der die Menschheit sich befindet, müssen wir es in einen anderen Zusammenhang stellen. Bisher ist das politische Denken humanozentrisch gewesen; es hat die »Welt« stets aus den menschlichen Belangen herausgehalten oder ihr Hereinbrechen über die Zeit der menschlichen Geschichte als Einmischung von »außen« behandelt. Ein solches »Außen« gibt es nicht mehr. Was in einem bestimmten Zeitraum für Menschen »richtig« ist, könnte in einem anderen unsere Existenz gefährden. Davon abgesehen, hat die Erdsystemwissenschaft die unwiderrufliche Verwobenheit des menschlichen Lebens mit den geo-biochemischen Prozessen des Planeten deutlich gemacht. Bei unserer Sorge um Gerechtigkeit darf es nicht mehr allein um den Menschen gehen, aber wir wissen noch nicht, wie wir dieses Anliegen auf das Universum nichtmenschlicher Wesen (d. h. nicht gerade weniger Arten) ausweiten sollen. Außerdem stehen wir vor der Aufgabe, die gewaltigen Zeitmaßstäbe der Geobiologie, auf die unsere affektiven Strukturen im Allgemeinen nicht ausgerichtet sind, in die Reichweite eben dieser Strukturen der menschlich-historischen Zeit bringen zu müssen. Auch auf diese Aufgabe hat unsere Evolution uns nicht vorbereitet, wie der Biologe David Reznick erklärt:
303Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was ›plötzlich‹ in der Geologie bedeutet, ist es sinnvoll zu bedenken, wie die Welt sich heute verändert. Wir befinden uns mitten im sechsten Massensterben. In 100 Millionen Jahren werden die fossilen Belege aus unserer Zeit dramatische Anhaltspunkte für die Ausbreitung der Menschheit […] vor etwa 100 000 Jahren […] enthalten, für die Verbreitung des Ackerbaus, die vor etwa 10 000 Jahren begann, für das Einsetzen der industriellen Revolution und dann für das superexponentielle Wachstum der menschlichen Population. Das derzeitige Aussterben begann während des Pleistozäns, als die Säugetiermegafauna anfing abzunehmen. […] Dann kam es zum globalen Rückgang der Wälder, zur Vergrößerung der Wüsten und Ausweitung des Weidelands, zur Anhäufung von Industrieabfällen und zur Beschleunigung des Aussterbens. […] Der Grund, warum wir den Kataklysmus nicht spüren, obwohl die geologischen Belege ihn mit Sicherheit als solchen konservieren werden, liegt darin, dass der Zeitrahmen unserer Leben sich vom Zeitrahmen der geologischen Belege unterscheidet. Für uns sind 100 Jahre eine lange Zeit. In den fossilen Belegen können 100 000 oder sogar eine Million Jahre wie ein Augenblick wirken.98
Man kann sehen, warum es heute so reizvoll ist, das Klimawandelnarrativ auf die vertrauten Strukturen zwischenmenschlicher Belange des Politischen herunterzubrechen, die seit dem 17. Jahrhundert Teil der Moderne sind und in der Zeit ausgeweitet und vertieft wurden, die große Dekolonisierungswellen, Bürgerrechtsbewegungen, feministische Bewegungen, Kämpfe um Menschenrechte und die Globalisierung erlebte. Doch all dies geschah, bevor die Nachricht vom anthropogenen Klimawandel die humanistische Welt erreichte. Die Zeit des Anthropozäns verleiht einer anderen Frage Nachdruck: Was heißt es zu wohnen, politisch zu sein, nach Gerechtigkeit zu streben, wenn wir unseren Alltag in dem Bewusstsein erleben, dass etwas, das nach menschlichen und welthistorischen Begriffen »langsam« wirkt, nach erdhistorischem Maßstab möglicherweise eigentlich »instantan« ist, und das Leben im Anthropozän bedeutet, in beiden Gegenwarten gleichzeitig zu wohnen? Ich kann diese Frage noch nicht vollständig oder gar zufriedenstellend beantworten, aber wir können mit Sicherheit nicht einmal zu einer Antwort ansetzen, wenn »das Politi304sche« weiterhin für ein ängstliches Verbot steht, über etwas nachzudenken, das in uns das Gefühl hinterlässt, größenmäßig übertroffen oder »ausgestochen« zu werden.99
Unser Verständnis des Planeten beruht in höchstem Maße auf etwas, das Edmund Husserl mit einem berühmten Ausdruck einmal als »Seinsgewissheit« der Welt bezeichnet hat, in deren Genuss die Menschen kämen. »Die Welt«, schrieb er, »ist uns, den wachen, den immerzu irgendwie praktisch interessierten Subjekten […] vorgegeben. Leben ist ständig In-Weltgewißheit-leben. Wachleben ist, für die Welt wach sein, […] und seiner selbst als in der Welt lebend ›bewußt‹ sein, die Seinsgewißheit der Welt wirklich erleben, wirklich vollziehen.«100 Er wird diesen Punkt in seinem kurzen Aufsatz über den »Ursprung der Geometrie« wiederholen, dem berühmten Text von 1936, der als Beilage III in Husserls Krisis-Buch aufgenommen wurde.101 Die Erde, die unserem alltäglichen Welthorizont entspricht, kann nicht Gegenstand einer objektiven Wissenschaft sein.
Jacques Derrida zitiert aus einem »Fragment« von Husserl, das im Original den Titel »Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der räumlichen Natur« trägt und in dem Husserl zwischen der kopernikanischen Weltsicht – (in der so etwas wie die von Zalasiewicz angeführte »planetenzentrierte« Sichtweise zum Ausdruck kommt und) derzufolge »[w]ir Kopernikaner, wir Menschen der Neuzeit sagen: Die Erde ist nicht die ›ganze Natur‹, sie ist einer der Sterne im unendlichen Weltraum« – und unserem alltäglichen Verhältnis zur Erde unterscheidet. »Die Erde ist ein kugelförmiger Körper, freilich nicht auf einmal und von Einem wahrnehmbar in seiner Gänze«, führt er aus. Sie ist nur »in einer primordialen Synthesis als Einheit aneinandergeknüpfter Einzelerfahrungen« wahrnehmbar, obwohl sie »der Erfahrungsboden für alle Körper in der Erfahrungsgenesis unserer Weltvorstellung« sein kann. Diese »Erde«, versichert Husserl, sei unbeweglich: »Auf der Erde, oder an der Erde, von ihr weg, 305auf sie hin findet Bewegung statt. Erde selbst in der ursprünglichen Vorstellungsgestalt bewegt sich nicht und ruht nicht, in bezug auf sie haben Ruhe und Bewegung erst Sinn.« Die Einheit dieser primordialen »Erde« ergibt sich aus der Einheit der gesamten Menschheit. Selbst wenn wir von einem anderen Planeten aus auf die Erde sähen, hätten wir »[z]wei Stücke einer Erde mit einer Menschheit«, denn, wie Derrida anmerkt, »[d]ie Einheit der ganzen Menschheit […] bestimmt die Einheit des Bodens [der Erde] als solche«.102
Der Klimawandel stellt diese Seinsgewissheit der Erde in Frage, in deren Genuss die Menschen während des Holozäns und vielleicht sogar noch länger gekommen sind. Unser Alltagsdenken hat – abermals dank der momentanen Weiterverbreitung geologischer Termini wie dem des Anthropozäns in der kulturellen Öffentlichkeit – angefangen, sich an der geologischen Tatsache zu orientieren, dass die Erde, die Husserl als stabile und unerschütterliche Grundlage für selbstverständlich hielt, von der das gesamte menschliche Denken (sogar das kopernikanische) seinen Ausgang nimmt, auf ihrer langen Reise durch die Untiefen der geologischen Zeit in Wirklichkeit immer eine unbeständige und ruhelose Entität gewesen ist.103 Es ist keineswegs so, dass wir nicht von Katastrophen in der geologischen Geschichte des Planeten gewusst hätten. Das haben wir, aber dieses Wissen ließ unser alltägliches Gefühl einer angeborenen Sicherheit unberührt, dass die Erde eine stabile Grundlage abgibt, auf die wir unsere politischen Zwecke projizieren können. Das Anthropozän stört diese Gewissheit, weil es das Geologische im Alltag zum Thema macht. Nigel Clark nimmt eine solche Beobachtung in seinem faszinierenden Buch Inhuman Nature zum Ausgangspunkt, wenn er festhält, dass wissenschaftliche Tatsachen das »instinktive Vertrauen in Erde, Himmel, Leben und Wasser«, das Menschen eigen ist, nie ganz zu verdrängen vermögen. Und doch ist nicht zu übersehen, dass alle vier Begriffe von Clark heute in Fragen ste306hen: Wir wissen nicht, ob die Erde (bzw. das Erdsystem) unser Vertrauen honorieren wird, wenn wir sie durch die Freisetzung von Treibhausgasen in den Himmel aufwärmen; ob Trinkwasser knapp werden wird; und ob dem Leben, wie manche vorhersagen, ein sechstes großes Aussterben droht.104
Wittgenstein hat einmal gesagt: »Wir sehen Menschen Häuser bauen und zerstören und werden zu der Frage geleitet: ›Wie lange steht dieses Haus schon?‹ Aber wie kommt man darauf, dies von einem Berg, z. B., zu fragen?«105 Nach Bergen haben wir seit Ewigkeiten nicht gefragt, weil wir sie für einen Teil von dem hielten, was den Menschen von der Erde vorgegeben war. Doch dieses Gefühl von Gegebenheit steht in Frage. Vielleicht kann ich als Historiker eine Antwort auf Wittgensteins Frage wagen. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem das Geologische und das Planetarische in unserem Alltagsbewusstsein Spuren hinterlassen, wenn zum Beispiel die Rede vom »überschüssigen« Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre – nur nach dem Maßstab menschlicher Belange »überschüssig« – oder von erneuerbaren und nicht erneuerbaren Energiequellen ist (nicht erneuerbar nach menschlichen Zeitmaßstäben). Für heute lebende Geisteswissenschaftler:innen, die über das Anthropozän nachdenken, gehören Fragen nach der Geschichte der Vulkane, Berge, Ozeane und Plattentektonik – kurz gesagt, nach der Geschichte des Planeten – inzwischen genauso zu den Routinen kritischen Denkens wie Fragen des globalen Kapitals und der zwangsläufigen Ungerechtigkeiten in der von ihm geschaffenen Welt.