Wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll.

Immanuel Kant, »Idee zu einer allgemeinen
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784)

Ich habe dieses Buch mit der Behauptung begonnen, dass wir uns nicht mehr ausschließlich im globalen Zeitalter befinden, das als logisches und historisches Ziel der modernen europäischen Imperien betrachtet werden könne. Das hohe Tempo der Globalisierung, der Rohstoff-Kapitalismus und die schnelle technologische Weiterentwicklung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg haben sogar den über die menschliche Lage Forschenden die Arbeitsweise des Erdsystems klargemacht, was bisher den Fachwissenschaften vorbehalten gewesen war. Bei der Anthropozän- Hypothese geht es um unsere Einmischung in planetarische Prozesse, die entscheidenden Anteil daran haben, diesen Planeten für komplexes Leben bewohnbar zu machen. Der Planet eröffnet uns einen Blickwinkel auf die Menschen, der die üblichen Vorannahmen in Frage stellt, die der Art von Beziehung zugrunde liegen, in der moderne Menschen – nach ihrem eigenen Verständnis – zur Erde stehen. Das wachsende und doch plötzliche, binnen nur eines Jahrzehnts von populärwissenschaftlichen Büchern unter Geisteswissenschaftler:innen erzeugte Bewusstsein einer planetarischen Tiefenhistorie ließe sich mit Heideggers Begriff der Erfahrung der »Geworfenheit« vergleichen. Aus ihm 308spricht die schockartige Erkenntnis der Andersheit des Planeten als solchem, obwohl wir die Welt-Erde als unsere Wohnstätte betrachten: ein erwachendes Bewusstsein, dass wir nicht immer in einem praktischen und/oder ästhetischen Verhältnis zum Planeten stehen und doch ohne ihn nicht existieren würden.

Wie ich in Kapitel 3 angedeutet habe, macht der Planet die übliche Vorannahme zu Makulatur, dass zwischen den Menschen und der »Erde« als dem Ort, an dem sie sich befinden, eine Wechselbeziehung im Sinne eines Verhältnisses auf Gegenseitigkeit, mutuality, besteht. Ich verwende das Wort mutual hier in der Bedeutung eines »wechselseitigen Geben und Nehmens«, die es im 14. und 15. Jahrhundert hatte, und nicht in der späteren Bedeutung eines gemeinsamen Besitzes oder gemeinsamer Erfahrungen, die es im 17. Jahrhundert angenommen hat und wie sie zum Beispiel in Ausdrücken wie mutual society oder mutual funds vorkommt.1

Diesen Gedanken einer zwischen Menschen und Natur unterstellten Wechselseitigkeit findet man in den Schriften vieler Philosoph:innen, wenn auch nicht unter dieser Bezeichnung. In Kants Kritik der Urteilskraft erlangt er zum Beispiel Apriori-Status. In seiner Einleitung zu diesem Buch schreibt Kant, wir müssten »aus gegebenen Wahrnehmungen einer allenfalls unendliche Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze enthaltenden Natur eine zusammenhängende Erfahrung […] machen, welche Aufgabe a priori in unserem Verstande liegt«.2 Wie der Kantspezialist Douglas Burnham anmerkt, »tritt Natur [in Kants Philosophie] auf, als ob sie von den Menschen verstanden werden könne«.3 Jedes Mal, wenn wir sie ansehen, hat Heidegger gesagt, erhebt die Erde sich, um die Menschen zu begrüßen. Zwischen der Welt der Menschen und der Erde bestehe ein Verhältnis des Streits und doch seien sie wechselseitig aneinandergebunden. Um seine Worte zu wiederholen: »Das Gegeneinander von Welt und Erde ist ein Streit.«4 Das Wort Streit – wobei das englische striving Verbin309dungen zum Wort strife, Kampf, aufweist – fungiert als Erinnerung daran, dass die Wechselbeziehung zwischen menschlichen Individuen und Erde nicht zwangsläufig harmonisch sei und »Betriebsstörungen« auftreten können – Momente, die durch das gekennzeichnet sind, was Heidegger – und vor ihm Kierkegaard – Furcht oder Angst nennen würde.

Die modernen Europäer habe die »Tiefenzeit« – als Zeit der Geologie und biologischen Evolution – im 18. Jahrhundert entdeckt und doch ging es in der Moderne darum, sie umgehend wieder zu vergessen bzw. sie als bloßen Hintergrund des menschlichen Wohnens auf dem Planeten zu behandeln. Bisher haben tiefenzeitliche Ereignisse die erlebte Zeit der Wechselseitigkeit zwischen Erde und Menschen nicht grundsätzlich in Mitleidenschaft gezogen. Doch ist dieses unterstellte Verhältnis Belastungen ausgesetzt. Was wir für den – in menschlicher Zeit – unbeweglichen Hintergrund menschlichen Handelns gehalten haben, ist dabei, sich aufgrund des menschlichen Handelns zu verändern, und gefährdet die Menschheit. Wie Benjamin über augenblickshafte Gefahr gesagt hätte, »blitzt« in dem Moment, wo wir in den Abgrund der Tiefenzeit stürzen, vor unseren Augen eine alternative Geschichte der Moderne auf und mit ihr die Möglichkeit eines neuen Verständnisses der menschlichen Vergangenheit.5

Wenn die Menschen heute tatsächlich einige Naturkräfte in einem solchen Maße übertreffen, dass das »Lebenserhaltungssystem« des Planeten – das System, das alles Leben, nicht bloß das menschliche Leben, gewährleistet – immer weiter kaputtgeht und so möglicherweise ein sechstes großes Massensterben in die Wege geleitet wird, was würde es für die Menschen – für endliche menschliche Individuen – bedeuten, den planetarischen Aspekten ihres eigenen Lebens ins Gesicht zu sehen? Die Zeiten, als Tagore seine Planetarität dichterisch zum Ausdruck gebracht hat oder Vemula die seine – ungefähr 100 Jahre nach Tagore – 310auf utopisch-politische Weise (Kap. 5), liegen hinter uns. Wie erleben die Menschen ihre individuellen, endlichen und einzigartigen Leben heute, wo sie sich der durch die menschlichen Aktivitäten verursachten Zerstörung von Leben bewusst werden? Über diese Art von Problem haben Tagore und Vemula nicht nachdenken müssen. Mit Leben meine ich hier natürlich eine metaphysische und undefinierbare Kategorie, die oftmals als der Punkt verstanden wird, an dem Chemie in Biologie übergeht, was in der Tiefenzeit tatsächlich bei vielen verschiedenen Lebensformen von der Mikrobe bis zur Megafauna geschehen ist. Und doch erlaubt diese Kategorie uns Aussagen wie »das Leben hat bisher fünf Massensterben überstanden« oder die Frage, ob es an einem anderen Ort im Universum Leben gibt.6 Dass die Definition von Leben auf der metaphysischen Ebene in eine Krise geraten ist, spiegelt sich in unserem alltäglichen Lebensgefühl in vielen Formen wider, nicht zuletzt in der zunehmend wichtiger werdenden Frage nach der Migration und den sowohl menschlichen als auch nichtmenschlichen Flüchtlingen.7

Wie wir im zweiten und sechsten Kapitel dieses Buches gesehen haben, wurde in vielen der großen, sogenannten achsenzeitlichen Weltreligionen die Vorstellung vertreten, dass der Mensch in einer besonderen Wechselbeziehung zur Erde stehe. Ich möchte aber mit einer säkularen und modernen Form dieser Debatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnen. Während des Ersten Weltkriegs und in der Zwischenkriegszeit, besonders in den späten 1920er und in den 1930er Jahren, als die Frage »des Menschen« und seiner Kultur von vielen modernen Denker:innen in Europa und anderenorts aufgeworfen wurde, entwickelte sich die Beziehung zwischen »Mensch« und Erde bzw. Welt zu einem 311heftig diskutierten Gegenstand. Dabei gaben in Europa offenbar deutsche Denker:innen den Ton an. Diesbezüglich fallen einem unter anderem Max Scheler, Helmuth Plessner, Karl Jaspers, Martin Heidegger und Sigmund Freud ein. Die überragende Sartre-Biografin Annie Cohen-Solal hat die sechs Jahre in den 1930er Jahren dokumentiert, als Sartre sich in das deutsche Denken versenkte, in erster Linie in Husserl und Jaspers, später auch in Heidegger.8 Doch die Tragweite dieser Überlegungen wurde weit über Europa hinaus empfunden. In den Hibbert-Vorlesungen, die er im Mai 1930 an der Oxford University hielt, schnitt der Inder Rabindranath Tagore diese Thematik an. Tagores Vorlesungen erschienen 1931 unter dem Titel The Religion of Man und einige Jahre später in überarbeiteter Form unter dem Titel Manusher dharma auf Bengalisch. Es gibt keine annotierte Ausgabe von Tagores Vorlesungen, aber er kann vom zeitgenössischen Denken nicht unbeeinflusst geblieben sein.9 Einige Ähnlichkeiten – unter Berücksichtigung tiefgreifender Ausbildungsunterschiede – zwischen seinen Überlegungen und den Ideen der europäischen Denker:innen, die in den Jahren zwischen den beiden verheerenden Weltkriegen im 20. Jahrhundert Fragen der philosophischen Anthropologie nachgingen, springen denn auch ins Auge.10

Ich werde diesen Text von Tagore an den Anfang meiner Auseinandersetzung mit dem Thema stellen. Tagore war gewiss kein ausgebildeter Philosoph oder Theologe und auch kein systematischer Denker. Zu seiner eigenen Verteidigung hat er gesagt, »daß meine Religion die Religion eines Dichters ist. Alles, was ich von Religion fühle, stammt aus Schau und nicht aus Erkenntnis. Ich gebe ganz unumwunden zu, daß ich keine Fragen über das Böse oder über das, was nach dem Tode sein wird, befriedigend beantworten kann.«11 Zudem bestand die politische Stoßrichtung seiner Vorlesung eigentlich in einer Kritik an aggressiven Formen imperialistischer und nationalistischer Ideologien. Trotzdem tragen einige Stellen seiner Vorlesungen entscheidend dazu 312bei, dass wir zumindest drei herausstechende Stränge und Vorannahmen bestimmen können, die den damaligen Überlegungen weitgehend gemeinsam sind. Dabei handelt es sich zugleich um die Prinzipien, die dem zugrunde liegen, was ich hier als Wechselseitigkeitsstruktur bezeichne.12 Diese Vorannahmen sind (a) die Besonderheit des Menschen, (b) die Zentralität des Menschen für das große Ganze und (c) die Vorstellung, dass Menschen das Vermögen besitzen, die ganze Welt, wenn auch in unterschiedlichen Formen von Totalität zu überblicken. In den untenstehenden Ausführungen verwende ich Mensch und Natur in dem terminologischen Sinn, in dem auch Tagore und seine Zeitgenossen diese Begriffe zur Bezeichnung der ganzen Menschheit und der Natur verwendeten, weshalb sie im Englischen Man und Nature großschrieben.

Tagore nutzte seine Lesart der Geschichte der biologischen Evolution des Homo sapiens für einige wirkmächtige säkulare Behauptungen darüber, warum den Menschen unter allen Geschöpfen die größte Besonderheit zukommt. Der einschlägige Teil seiner Vorlesung begann mit etwas, das wir heute Big History, also Großgeschichtsschreibung nennen würden: »Das Licht als die strahlende Kraft der Schöpfung begann den Kreistanz der Atome in einem Miniaturhimmel […]. Die Planeten kamen aus ihrem Feuerbad und wärmten sich weltalterlang in der Sonne. […] Dann kam eine Zeit, als das Leben […] auf den Kampfplatz trat.« Doch für die Geschichte des Lebens war der Mensch etwas Besonderes: »Ehe dieser Abschnitt [der Evolution] endete, erschien der Mensch und wendete die Richtung seiner Entwicklung von einem Marsch ins Unbegrenzte physischer Vergrößerung in die Freiheit einer feineren Vollkommenheit.«13 Während »Tiere und 313Menschen […] gleichermaßen Intelligenz und Körperkräfte entfalten [müssen], um die Ziele des Lebens zu erreichen«, ist »am Menschen« »[e]inzigartig […], daß er sein Bewußtsein entfaltet, welches fortschreitend die Verwirklichung seines unsterblichen Wesens vertieft und erweitert«.14

Tagores Argumentation stützte sich auf die Geschichte der Zweifüßigkeit, soweit sie ihm bekannt war. Dieses Wissen verleitete ihn zu der Ansicht, dass ein zweifüßiges Dasein allein dem Menschen vorbehalten war. Doch die von ihm durchdeklinierte Evolutionsgeschichte war falsch. Zweifüßigkeit war ein Merkmal der Hominiden (»spätestens vor etwa fünf Millionen Jahren«, das heißt vor der Evolution der Gattung Homo vor ungefähr 1,8 Millionen Jahren), und es gab sogar prähistorische Affen, die Ansätze zu dieser Entwicklung aufwiesen.15 Aber Tagore argumentierte nun einmal so: »Im ersten Beginn seiner Laufbahn behauptete der Mensch in seiner körperlichen Struktur seine erste Proklamation der Freiheit gegenüber der gültigen Ordnung der Natur. An einer bestimmten Biegung des Weges der Entwicklung weigerte er sich, ein vierfüßiges Geschöpf zu bleiben, und die Haltung, welche er seinen Körper einnehmen ließ, drückte für Dauer eine Geste der Widersetzlichkeit aus«, heißt es bei Tagore.16 Er war sich darüber im Klaren, dass Zweifüßigkeit für einen Affen nicht »natürlich« war: »Denn es konnte gar keine Frage sein, daß die Natur selbst den Plan hatte, alle auf dem Lande lebenden Säugetiere mit zwei paar Beinen auszurüsten, die gleichmäßig an ihrem länglichen Rumpf verteilt waren, der durch einen Kopf an einem Ende schwer belastet war. Das war der freundschaftliche Kompromiß mit der Erde, als das Tier von ihrer konservativen herabziehenden Kraft bedroht war, die von jeder Bewegung ihre Steuer fordert.« Doch aus geistiger Selbstbehauptung trotzte der Mensch dem Diktat der Natur. Tagore fuhr fort: »Die Tatsache, daß der Mensch diese offensichtlich vernünftige Anordnung aufgab, beweist seine angeborene Manie für wiederholte Reformen der Kör314perbeschaffenheit, für kümmerliche Verbesserungen bei jedem von der Vorhersehung nahegelegten Entschluß.«17

Tagores Argumentation fehlte es nicht an Humor. »Wenn wir einen vierfüßigen Tisch fänden«, schrieb er augenzwinkernd, »der auf zweien seiner Stümpfe aufrecht umherschritte, während die beiden anderen närrisch an beiden Seiten baumelten, würden wir fürchten, es sei entweder ein Gespenst oder irgendeine unnatürliche Laune dieses Möbelstücks, das sich einen derben Witz über des Tischlers Vorstellung von Brauchbarkeit erlaubte«. Die ähnlich gelagerte »Narretei«, dass Menschenaffen gerne aufrecht auf zwei Füßen stehen, würdigte er folgendermaßen: »Das ähnlich närrische Verhalten des menschlichen Körperbaus ermutigt uns zu der Annahme, daß er unter dem Einfluß eines Kometen des Widerspruches geboren wurde, der seinen exzentrischen Kurs gegen die von der Natur geregelten Bahnen erzwingt.« Auch der physische Preis, den die Menschen evolutionsgeschichtlich für ihre Einnahme der zweifüßigen Haltung zahlten, war Tagore nicht völlig unbekannt. Er merkte an: »Und es ist bezeichnend, daß der Mensch in seiner Tollkühnheit beharrt, trotz der Strafe, die er dafür bezahlt, daß er der orthodoxen Regel der Bewegung im Tierreich zuwiderhandelt. Er mildert die Hilfe einer leichten Balance seiner Muskeln um die Hälfte herab. Er ist bereit, während seiner Kindheit durch gefährliche Versuche zu wanken, seine Fortschritte mit ungenügender Unterstützung zu machen, sein ganzes Leben von dem Hange verfolgt, plötzlich zu stürzen mit all den tragischen oder heiteren Folgen, denen ein den Naturgesetzen treu gebliebener Vierfüßler nicht ausgesetzt ist.«18 Doch dies war ein Preis, den Tagores Mensch für seine Freiheit zu zahlen bereit war.

Dafür fand Tagore einfache Worte: »Diese Fähigkeit, aufrecht zu stehen, hat unserem Körper seine Freiheit der Haltung gegeben und es uns leicht gemacht, uns nach allen Seiten zu wenden und uns selbst als Mitte aller Dinge wahrzunehmen.«19 In erster Linie scheint die Welt für uns zu existieren. »Irgendwie scheint in der Anordnung dieser Welt größter Wert darauf gelegt zu werden, uns Freude zu geben. Das beweist, daß im Weltall weit über die Bedeutung von Stoff und Kraft hinaus durch die magische Berührung der Persönlichkeit eine Botschaft vermittelt wird.«20 »Als ich 18 Jahre alt war«, schrieb er mit etwa 70 unter Berufung auf einen Moment der Erleuchtung in seiner Jugend, »drang plötzlich zum erstenmal ein Frühlingsausbruch religiöser Erfahrung in mein Leben ein […]. Als ich nämlich eines Tages im ersten Morgendämmern beobachtete, wie die Sonne ihre Strahlen hinter den Bäumen emporsandte, fühlte ich plötzlich, wie […] das Morgenlicht über dem Angesicht der Welt […] mir ein inneres Strahlen der Freude [offenbarte].«21

Die dritte Vorannahme, dass die Welt sich allein dem Menschen als Ganzheit darstelle, folgte einfach aus dem bisher Gesagten. Tagore stellte allerdings klar, dass es sich dabei nicht um die natürliche »Welt« handele, die Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit sei: »Ich meine nicht jene Welt, die in abstrakten Symbolen verschwindet hinter ihrem Selbstzeugnis an die Wissenschaft, sondern diejenige, welche ihren Reichtum an Wirklichkeit unserem persönlichen Selbst verschwenderisch darbietet und unserer menschlichen Natur dauernd auf ihre Weise antwortet.«22

Und zum krönenden Abschluss seines Arguments richtete Ta316gore sein Augenmerk auf die Funktionsweise des menschlichen Sehvermögens: »von der höheren günstigen Gelegenheit unseres physischen Wachtturmes aus haben wir unsere Schau gewonnen, die nicht nur Unterrichtung über die örtliche Lage der Dinge ist, sondern über ihre Wechselbezogenheit und Einheit.«23 Diese Stelle im gedruckten Text war eine ausgearbeitete Version dessen, was Tagore in der ersten Vorlesung gesagt hatte, die er tatsächlich vor Publikum in Oxford gehalten hatte: »Das Objektbewusstsein, das Tiere durch Gerüche und Blicke erlangen, dient im Wesentlichen den Interessen der unmittelbaren Bedürfnisse. Durch den aufrechten Gang sah der Mensch nicht mehr bloß voneinander getrennte Einzelobjekte; er hatte auch die Einheit mannigfaltiger Dinge vollständig im Blick. Er sah sich selbst im Zentrum einer ungeteilten Weite. Der aufrecht Stehende schätzte die Entfernung höher als die Nähe.«24 Dass die zweite und dritte Vorannahme über den Menschen eng zusammenhängen, sollte anhand dieser Zitate klar geworden sein.

Ironischer-, aber typischerweise war die »Welt«, zu der »der Mensch« in Tagores Augen eine enge Beziehung unterhielt, sehr materialitätsarm. In ihrem unermesslichen, ausdruckslosen Einssein hat die relativ leere, aber weitgefasste Kategorie »der Welt« – in ihrem Verhältnis zum Menschen – die reichhaltige, fremde und eigenwillige Diversität des tatsächlich Existierenden absorbiert und ausgelöscht. (Tagores Gedichte bzw. Gesänge würden dagegen diesen Kritikpunkt nicht auf sich ziehen.) Wir haben es hier mit einer Erfahrung der Welt zu tun, der jedes Gefühl für die Andersheit des Planeten, das sich aus einem historischen Sinn für Tiefenzeit hätte ergeben können, abhandengekommen ist; übrig bleibt das metareligiöse Gefühl von unwandelbarer Unendli317chkeit, in der Strukturen sich bloß unendlich wiederholen. Hier noch einmal Tagore, der um 1914/1915 herum schrieb: »Am Allererstaunlichsten [ist], […] welche unerschöpfliche Formenvielfalt fortwährend aus dem formlosen Einen hervorgeht. […] Ich habe festgestellt, dass die Sonne heller scheint und das Licht des Mondes sich süßer anfühlt, wenn mein Herz voller Liebe ist. […] Daher weiß ich, dass die Welt sich nicht von meinem Geist und von meinem Herzen trennen lässt.«25

Tagores eigene Version der Wechselbeziehung zwischen Menschen und Welt – »diese Welt, die wir durch unsere Sinne, durch Geist und Lebenserfahrungen wahrnehmen, ist im tiefsten eins mit uns selbst« – mag zu idealistisch gewesen sein, aber das oben erörterte Gerüst aus Vorannahmen macht sich in vielen geisteswissenschaftlichen Texten als ein Leitmotiv bemerkbar, das beträchtliche räumliche und zeitliche Gräben überdauert hat.26 Besonders deutlich werden diese Vorannahmen in einer ästhetisierten und vergeistigten Landschaftserfahrung, von der einfache, volkstümliche Versionen oftmals in Hochglanzreiseführern für Weltenbummler auftauchen, in denen die ungestümen Bewegungen der geologischen Geschichte zur menschlich-ästhetischen Kategorie der Landschaft erstarren. Man könnte sogar behaupten, dass die ästhetisch-vergeistigte Kategorie »Landschaft« als eine Art Aussiebevorrichtung für die Mechanismen der von mir so genannten »Wechselseitigkeit« fungiert: Sie verbirgt vor uns, dass die kontingente Geschichte von Geologie und Leben so reich an Katastrophen ist.

Nehmen wir zum Beispiel einen Abschnitt aus Martin Hägglunds neuestem Buch This Life. Secular Faith and Spiritual Freedom, das scharfe Einwände gegen Religion erhebt. »An einem Spätsommernachmittag«, schreibt Hägglund, »sitze ich auf einem Berggipfel in Nordschweden. Der Ozean unter mir ist ruhig und erstreckt sich weit bis zum Horizont. Kein anderer Mensch ist zu sehen und kaum ein Geräusch zu vernehmen. Nur eine Möwe 318segelt im Wind.« Hägglund ist nicht zum ersten Mal an diesem Ort, aber jede Begegnung ist neu und einzigartig. Die Welt stellt eine Struktur dar, die sich wiederholt und sich zugleich immer wieder erneuert: »Wie so viele Male zuvor fasziniert es mich, eine durch die Luft schwebende und über der Landschaft verweilende Möwe zu beobachten. So lange ich denken kann, sind Möwen Teil meines Lebens gewesen. […] Doch so wie an diesem Nachmittag bin ich noch nie einer Möwe begegnet. Als die Möwe mit einem Flügelschlag auf einen angrenzenden Berg zufliegt, versuche ich mir vorzustellen, wie der Wind sich anfühlen und wie die Landschaft der Möwe erscheinen mag.«27 Natürlich räumt Hägglund sogleich ein, dass er »nie wissen wird, wie es ist, eine Möwe zu sein.« Doch in seinem Kopf beschwört diese einsame Begegnung mit einem anderen Geschöpf – deren »Einsamkeit« in diesem Fall auf der Unermesslichkeit einer scheinbar leeren Landschaft beruht – eine grundsätzliche Seinsfrage im Stil von Heidegger herauf: Er macht sich Gedanken darüber, »wie es ist, eine Möwe zu sein«.28

Wie der Leser an dem Abschnitt aus Hägglunds Buch feststellen wird, bezieht sein Gefühl einer Wechselbeziehung mit der Erde sich auf eine Erfahrungsstruktur, die sich wiederholen kann: »Wie so viele Male zuvor«. Wechselseitigkeit besteht für ein einzelnes menschliches Wesen, das sich in der Einsamkeit seines einzelnen menschlichen Lebens seiner Umgebung gegenübersieht und diese Umgebung nicht nur als etwas erfährt, das seinem Blick entgegenkommt, sondern auch – was genauso wichtig ist – als dauerhaft. Denn die Dauerhaftigkeit der Landschaft erlaubt die Wiederholung der Erfahrung. Von einem solchen Wechselseitigkeitsgedanken ging auch William James aus, als er ziemlich am Anfang seiner Vorlesungsreihe über die Vielfalt religiöser Erfahrung sagte, Religion solle »für uns bedeuten: die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, daß sie in Beziehung zum Göttlichen ste319hen«.29 Martin Bubers klassische und viel gepriesene Auffassung der Ich-Du-Beziehung ist nur ein weiteres Beispiel für das, was ich Wechselseitigkeit nenne und in die jedes einzelne, endliche menschliche Leben eingebettet ist.30

In ästhetisch-vergeistigten Landschaftserfahrungen steht der Mensch »in Beziehung zur« Landschaft und im James'schen Schema nimmt diese den Platz des Göttlichen ein. Charles Taylors Gedanke einer »Fülle des menschlichen Lebens«, die in seinen Augen entscheidend für dieses »säkulare Zeitalter« ist, nimmt Bezug auf die Lebenserfahrung von Einzelpersonen, da sich sonst die Frage der »Erfahrung« nicht stellen würde. Taylor zitiert einen Abschnitt aus der Autobiographie des in Großbritannien geborenen Benediktinermönchs und Yogis Bede Griffiths (The Golden String [1979]), der bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit dem Passus aufweist, den ich aus Hägglunds Buch zitiert habe, obwohl vier Jahrzehnte zwischen den beiden liegen. Als er gegen Ende seiner Schulzeit einmal »allein spazieren[ging]«, erlebte Griffiths den Gesang der Vögel auf eindrucksvolle neue Weise:

 

Auf einmal flog eine Lerche neben dem Baum, an dem ich stand, vom Boden auf und ließ ihr Lied über mir erklingen, bis sie nach wie vor singend herabflog, um zu schlafen. Dann wurde alles still, als die letzten Sonnenstrahlen verschwanden und der Schleier der Dämmerung die Erde bedeckte. […] Ich entsinne mich des Gefühls der Ehrfurcht, das über mich kam. Ich wollte auf dem Boden niederknien, so als sei ein Engel gegenwärtig. Ich wagte es kaum, zum Himmel (face of the sky) aufzublicken, denn es kam mir vor, als wäre er nur ein Schleier vor dem Angesicht (face of) Gottes.31

 

Griffiths' Bezugnahme auf die »Angesichter« (faces) – Gottes und des Himmels – beruft sich auf jenen wechselseitigen Akt, einander ins Gesicht zu sehen (facing), der eine enge Beziehung zum Göttlichen aufweist.

Wir könnten sogar noch weiter zurück-, zu einem Tagebucheintrag von Søren Kierkegaard am 29. Juli 1835 gehen, in dem es 320heißt: »Wenn man vom Gilleleie-Krug über Schwarzenbrück (sogenannt, weil die Pest seinerzeit hier haltgemacht haben soll) in die kahlen Felder hineingeht, die sich am Strand entlangziehen, ungefähr eine Viertelmeile gegen Norden, so kommt man zu dem höchsten Punkt hier […]. Dieser Punkt ist ständig einer meiner Lieblingsstellen gewesen.« »Und wenn ich hier eines stillen Abends stand, wenn das Meer mit tiefem, aber stillem Ernst seinen Sang anstimmte; wenn mein Auge keinem einzigen Segler auf der ungeheuren Fläche begegnete, sondern das Meer den Himmel begrenzte und der Himmel das Meer; wenn auf der andern Seite des Lebens emsige Geschäftigkeit verstummte und die Vögel ihr Abendgebet sangen.« Man beachte die Wiederholungsstruktur, die durch das Wort »ständig« und durch die ungeheure begrenzte Fläche heraufbeschworen wird, welche uns auf Landschaftsbilder zurückverweist. Dann setzt der Prozess ein, den ich oben als Ausdünnung oder Entleerung der »Welt« bezeichnet habe. Kierkegaard dürfte nicht allein in der Landschaft gewesen sein. Andere Geschöpfe umgaben ihn – er selbst räumt die Gegenwart einiger Vögel ein –, doch bei Einbruch der Dunkelheit verliert er sie aus den Augen, als solle so die Struktur einer unsichtbaren Wechselseitigkeit zwischen diesem Menschen und der Welt aufrechterhalten werden, der er sich gegenübersieht: »Wenn ich […] einsam und verlassen dort stand und des Meeres Gewalt und der Kampf der Elemente mich an meine Nichtigkeit erinnerten, und auf der andern Seite der sichere Flug der Vögel mich an Christi Wort erinnerte: ›Nicht ein Sperling fällt auf die Erde ohne den Willen eures himmlischen Vaters‹, da fühlte ich auf einmal, wie groß und wie klein ich sei.«32

***

Natürlich muss das Wechselseitigkeitsproblem nicht schematisch die Frage eines Sich-Ansehens oder Sich-Gegenüberstehens 321(facing) nach sich ziehen. Man könnte es auch auf Levinas'sche Weise nicht als zwei sich einander notwendig zuwendende Gesichter verstehen, sondern als das Antlitz als solches, das darin besteht, der Andersheit ausgesetzt zu sein.33 Der grundsätzlichere Punkt ist, dass die Wechselseitigkeitsstruktur nur funktioniert, wenn das Wort Leben sich auf das einzelne Leben eines endlichen Individuums bezieht, denn die ontologische Projektion, in deren Rahmen die »Erfahrung« der Wechselbeziehung zur Erde sich tatsächlich vollziehen kann, ist eine Frage, die sich nur im Fall eines menschlichen Individuums stellt. Nachdem sie ausgesprochen und geteilt worden sind, können solche Erfahrungen dann freilich kollektive Gefühls- und Erfahrungsgemeinschaften begründen. Doch was wird aus diesem Gefühl von Wechselseitigkeit, wenn wir aufgrund einer allgemeinen Lebenskrise – der Möglichkeit eines weiteren Massensterbens – vor der unmöglichen Aufgabe stehen, Zeugnis von der konvulsiven geologischen Geschichte des Planeten abzulegen, die für unser eigenes und für das Gedeihen anderer Lebensformen so entscheidend ist?

Im Planetarischen ist die Tiefenzeit am Werk. Normalerweise denken wir nicht über die Tiefenzeit nach. Sie bleibt ein Teil dessen, was wir für gegeben halten. Man erinnere sich an Wittgensteins Frage in Kapitel 7: Bei Häusern fragen wir nach ihrem Alter, warum stellen wir bei Bergen nicht dieselbe Frage? Anscheinend tun wir das nicht, weil wir die Berge – oder die Landschaft – für den bloßen Hintergrund halten, vor dem wir unsere Wechselbeziehung zur Erde erfahren können. Gebirge sind Teil der Landschaft. Was wäre, wenn wir die Landschaft als solche in der historischen Tiefenzeit in – häufig verhängnisvoller – Bewegung sehen könnten: steigende, das Land überschwemmende Meeresspiegel 322oder Dürren, die es verwüsten, Rohstoff-Kapitalismus, der in den Meeren und an Land »tote Zonen« hinterlässt, artspezifische Lebensräume, die zerstört werden, Landschaften, die nicht mehr bloß den Hintergrund für menschliches Handeln abgeben?34 Der bekannte Photograph Edward Burtynsky hat die Beziehung zwischen Menschen und Landschaft in einem bemerkenswerten Bild festgehalten: Ein Paar genießt die Sonne am felsenumsäumten Itzurun-Strand im spanischen Baskenland. Unbeachtet legen hinter ihm die Gesteinsschichten Zeugnis sowohl vom Massensterben vor 65 Millionen Jahren ab, das die Dinosaurier auslöschte, als auch vom Temperaturmaximum (PETM), das sich zehn Millionen Jahre später ereignete und 200 ‌000 Jahre lang anhielt. Wann wird das Paar die in den Felsen um es herum konservierte Vergangenheit bemerken?35

Diese Art von Problem hat J. ‌B. Haldane 1926 in seinem berühmten Essay »On Being the Right Size« erörtert.36 Unabhängig davon, ob moderne Medizin und öffentliches Gesundheitswesen ihnen beistehen, erstrecken menschliche Leben sich normalerweise über wenige Jahrzehnte. Darin besteht die phänomenologische Grundlage, auf der wir stehen. Schon ein paar Tausend Jahre, ganz zu schweigen von Millionen sind einfach zu gewaltig für unsere Erfahrung. Dadurch wird die für den Gedanken der Wechselbeziehung zur Erde charakteristische Wiederholungsstruktur möglich, wie das Motiv, während eines individuellen Lebens immer wieder in dieselbe Landschaft zurückzukehren, anschaulich macht, das in den obigen Zitaten von Kierkegaard, Griffiths und Hägglund zu Tage trat. Man stelle sich ein unmögliches Szenario vor, nämlich dass menschliche Individuen nach geologischen oder unmenschlichen Zeitmaßstäben leben könnten. Was würde aus der Wechselseitigkeit werden, wenn wir alle als Einzelpersonen 20 ‌000 Jahre lang leben würden? Die in meiner Kommentierung der Zitate von Hägglund, Griffiths und Kierkegaard erörterte Wiederholungsstruktur würde niemals zustande 323kommen. Letztere würden keine Naturziele nennen können, zu denen sie immer wieder zurückkehren, um dieselbe Erfahrung noch einmal zu erleben! Wenn sie alle länger als 12 ‌000 Jahre gelebt hätten – was nach geologischen Maßstäben kein besonders langer Zeitraum ist –, hätten sie gesehen, wie instabil die Landschaft ist, weil sich aufgrund umwälzender geomorphologischer Veränderungen von Zeit zu Zeit ihre Form wandelt. Es hätte keine gleichbleibenden Merkmale gegeben, zu denen man hätte zurückkehren können. Die Wechselseitigkeitsstruktur wird dadurch möglich, dass die menschliche Zeit, so wie sie ist, uns erlaubt, nicht an die Tiefenzeit zu denken, indem wir sie unbewusst in eine räumliche Figur verwandeln: in die scheinbar dauerhafte Landschaft.

Doch dies ändert sich gerade. Es sieht so aus, als würde die Krise des Anthropozäns – die Aussicht, einen weniger bewohnbaren Planeten zu bewohnen – uns auf unsere Kreatürlichkeit reduzieren, auf den Zustand des »ersten Menschen«, den die Aufklärungsphilosophen sich mit Blick auf die menschliche Zivilisation so oft ausgemalt haben, wie etwa in der »Siebente[n] und letzte[n] Epoche« von Buffons Geschichte der Erschaffung der Welt: »Die ersten Menschen zeugen von den noch frischen und so oft wiederholten Zerrüttungen der Erde, hatten keine anderen Zufluchtsörter bey den Ueberschwemmungen, als die Gebürge, und wurden auch oft von eben diesen Zufluchtsörtern durch das Feuer der Vulcane vertrieben. Zitternd auf einer unter ihren Füßen zitternden Erde, […], dem Ungestüm aller Elemente ausgesetzt, […], alle gleichmäßig von der gemeinschaftlichen Empfindung eines verderblichen Schreckens durchdrungen.«37 Heute beginnt das Werk der Tiefenzeit über unser Alltagsbewusstsein der menschlich-historischen Zeit hereinzubrechen und fordert uns auf, vom konvulsiven Charakter dieses Planeten Zeugnis abzulegen wie Buffons erster Mensch. Darin besteht der »Schock des Anthropozäns«, der eine Lücke in der menschlich-histori324schen Zeitstruktur und in der Wechselseitigkeitsstruktur anzeigt und eine Auseinandersetzung mit der Tiefenzeit und der Geschichte des Lebens auf diesem Planeten erzwingt. Eugene Thacker legt seinen Finger in die Wunde, wenn das Problem sich in seinen Augen auch in einem verwandten, aber anderen Kontext stellt:

 

Wenn das Vorhandensein von Katastrophen, Pandemien und nichtmenschlichen Netzwerken uns überhaupt etwas sagt, dann dass es zusätzlich zu der Welt, die ›für uns‹ da ist, eine weitere Welt gibt. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine Welt an sich und auch nicht um eine Welt, die für uns bestimmt ist; vielmehr lässt uns diese Welt an die Grenzen unseres Vermögens geraten, sie nach Begriffen zu verstehen, die eben gerade nicht dem Begriff eines ›an sich‹ oder eines ›für uns‹ entsprechen. Es handelt sich um eine Welt ›ohne uns‹ (das Leben sans soi). Die Herausforderung besteht darin, über einen Begriff des Lebens nachzudenken, der grundsätzlich und nicht nur zufällig ein nicht- oder unmenschlicher Begriff des Lebens ist.38

 

In Anknüpfung an Thacker könnte ich die Frage stellen, wie eine ethisch-geistige Beziehung zum Planeten – weder »an sich« noch »für uns« – aussehen würde, die uns die übliche Zusicherung einer imaginierten Wechselbeziehung zur Erde verweigert, die wiederum älter sein mag als die Moderne, aber stets mit unserem Modernitätsverständnis einhergegangen ist.

Für eine Antwort auf die eben gestellte Frage wende ich mich an die Planetenforscher:innen selbst, denn wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, finden sich bei ihnen Anhaltspunkte für die zutiefst phänomenologischen und menschlichen Reaktionen, die ihre kognitive Begegnung mit dem Planeten bzw. mit dem Erdsystem in ihnen auslöst. Viele dieser Reaktionen machen sich zum Beispiel an der Frage des Geoengineering fest, das heißt an den verschie325denen Plänen, die mittlerweile ernsthaft in Erwägung gezogen werden, wie das Klima des ganzen Planeten, wenn nicht das Erdsystem selbst ›gemanagt‹ werden soll.

Die Wissenschaftler:innen, die sich für Geoengineering einsetzen, kommen in der Regel aus Fächern, deren analytischer Ansatz ahistorisch ist – wie etwa Physik oder Chemie. Die Forscher:innen, die den Planeten historisch untersuchen, wie Geolog:innen oder Evolutionsbiolog:innen, stehen solchen Maßnahmen gewöhnlich misstrauisch gegenüber.39 Ich möchte hier ohne Wenn und Aber klarstellen, dass ich mich nicht in die laufende Debatte über Wünschbarkeit oder Nichterwünschtsein von Geoengineering einmischen werde. Dafür bin ich nicht qualifiziert. Ich werde lediglich die ganz unterschiedlichen geistigen Beziehungen zur Kategorie des Planeten (bzw. des Erdsystems) schildern, zu denen diese Art von Wissenschaften die Einzelpersonen zu veranlassen scheinen, die sie praktizieren. Nach meinem Eindruck sieht es so aus, als ob einige dieser Wissenschaftler:innen sich als menschliche Individuen bemühen, das Planetarische auf das Globale und damit auf eine Wechselseitigkeitsstruktur herunterzubrechen.

Dafür liefert die einleuchtende und mitreißende Verteidigung des »Klima-Engineering« in einem populärwissenschaftlichen Buch des Harvard-Physikers David Keith über dieses Thema ein Beispiel.40 Eine seiner Grundannahmen ist, dass die Natur den Menschen etwas bedeutet (Wechselseitigkeit) und dass genau diese Fürsorglichkeit sich im Geoengineering fortsetzt. »Eine verschwommene Naturliebe«, schreibt Keith, »ist unstrittig.« »Ich vermute«, fügt er hinzu, »dass der Insektenkundler und Autor Edward O. Wilson mit seiner Biophilie-Hypothese, der zufolge Menschen ein angeborenes Bedürfnis verspüren, sich anderen Lebensformen anzuschließen, mehr als ein Körnchen Wahrheit erfasst hat.« Nach Keiths Meinung besteht also zwischen Naturfürsorge und Geoengineering-Projekt kein Konflikt, solange man keine »naiven Behauptungen über eine scharfe Unterscheidung 326von Natur und Kultur« aufstellt.41 Da es keine von menschlicher Aktivität unberührte Natur gebe, gehe es beim Klima- oder Geoengineering bloß darum, ob die Menschen in der Lage sind, mit einer Großversion dieser Tatsache umzugehen.

Keiths Sichtweise des Geoengineering als einer Ausdrucksform von »Biophilie« ist bezeichnend. Biophilie ist ein Bestandteil der Wechselseitigkeitsstruktur. Wilson hat den Begriff Biophilie 1979 in einem Artikel über Naturschutz für die New York Times geprägt. »Er bezeichnet«, schrieb er später, nachdem er 1984 ein ganzes Buch über das Thema verfasst hatte, »die angeborene Affinität des Menschen zu anderen Lebensformen, die […] durch Freude, ein Gefühl der Geborgenheit, Ehrfurcht oder sogar mit Abscheu vermischte Faszination hervorgerufen wird. Eine elementare Erscheinungsform von Biophilie ist […] eine Vorliebe für bestimmte natürliche Lebensräume als Wohnstätte.« Dieser Gedanke ging auf die Arbeit von Gordon Orians, einem Zoologen an der University of Washington zurück, der Menschen nach ihren »idealen« Lebensräumen gefragt und festgestellt hatte, dass die meisten von ihnen, wenn sie die Wahl hätten, gerne »auf einer Anhöhe inmitten einer Parklandschaft, in der Nähe eines Sees, Meeres oder sonstigen Gewässers« leben würden. »Von ihren Häusern aus möchten sie auf Bäume mit breitwüchsigen Kronen schauen, deren zahlreiche Äste in Bodennähe am Stamm entspringen, horizontal verlaufen und dicht mit kleinen oder feingegliederten Blättern besetzt sind.« Wilson wurde klar, dass »dieser Archetyp einer tropischen Savanne [entspricht], wie sie in Afrika, der Wiege der Evolution des Menschen, weit verbreitet ist.«42 Doch Biophilie reproduziert nur die begrenzte »Welt« der Wechselseitigkeit. Sie kann sich nur auf Lebensformen erstrecken, die für Menschen sichtbar sind, nicht auf Mikroben und Bakterien, die den überwiegenden Teil des Lebens ausmachen. Cary Wolfe hat denn auch überzeugend dargelegt, dass es vom menschlichen Standpunkt aus nicht möglich ist, allen Lebensformen den glei327chen Wert beizumessen: »Werden wir Anthrax oder Cholera-Mikroben erlauben, sich dadurch selbst zu verwirklichen, dass sie ganze Schafherden oder menschliche Kindergärten auslöschen? Werden wir Salmonellen oder Botulismus-Mikroorganismen auch in Zukunft ihre gleichen Rechte verweigern, wenn wir die Skelette toter Tiere und die Überreste der Pflanzen weiterverarbeiten, die wir essen?«43

Im Gegensatz zu Physikern wie David Keith empfiehlt der Geologe Andrew Glikson eine ehrfürchtige Haltung gegenüber der Erde, obwohl sich dies bei ihm im Rahmen eines Verlustnarrativs äußert. Ich habe ihn im letzten Kapitel zitiert, aber im Zusammenhang mit dem hier Erörterten sind seine Worte eine Wiederholung wert: »Da sie jedes Gefühl von Ehrfurcht gegenüber der Erde verloren haben, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Menschen im Begriff sind, das Reich der Vorstellungen, Träume, Mythen, Legenden und Verleugnung hinter sich zu lassen. […] Vielleicht ist es zu viel verlangt, von irgendeiner lebenden Spezies zu erwarten, so viel Weisheit und Verantwortlichkeit an den Tag zu legen, wie für die Kontrolle über die eigenen Erfindungen erforderlich ist. […] [Doch] ohne Ethik kann der Homo sapiens nicht überleben.«44 Auch die Geologin Marcia Bjornerud empfiehlt einen vorsichtigen Umgang mit dem Planeten. In Bezug auf die »Idee, den Planeten mit Schwefelaerosolen zu kühlen, die in die Stratosphäre geschossen werden«, was David Keith als Maßnahme befürwortet, weist sie darauf hin, dass »der Himmel dann nicht mehr blau, sondern ständig weiß wäre.« Man stelle sich eine Erde ohne blauen Himmel vor und was dann aus unserem Gefühl von Wechselseitigkeit werden würde! »[D]ie meisten lautstarken Verfechter der stratosphärischen Sulfatinjektion«, fügt sie hinzu, kommen »entweder aus den Wirtschaftswissenschaften […] und [sind] daran gewöhnt […], die natürliche Welt als ein Warensystem zu betrachten, […] oder aus der Physik und [behandeln] daher die Erde als leicht verständliches Labormodell 328[…]. Für die meisten Geowissenschaftler, die Einblick in die lange und komplexe Geschichte der Atmosphäre, Biosphäre und des Klimas […] haben, ist die Vorstellung, der Mensch könnte den Planeten ›managen‹, wahnhaft und gefährlich45 Außerdem sei noch einmal an die im zweiten Kapitel zitierten Worte des Klimaforschers Wallace Broecker erinnert: »Ab und zu […] entschließt sich die Natur, der Klimabestie einen kräftigen kurzen Tritt zu verpassen. Und wie wilde Tiere das tun, hat das Biest heftig und schlecht vorhersagbar reagiert.«46 In seinem neuesten Buch Die Hälfte der Erde hat sogar Wilson im Zusammenhang mit den »gigantischen und gefährlichen großtechnischen Methoden des Geo-Engineering«, die heute diskutiert werden, das Wort gefährlich verwendet und stattdessen vorgeschlagen, dass die Menschen zur Rettung der Biodiversität aus Vorsicht dem »Präventionsprinzip« folgen und die Hälfte der Landfläche auf dem Planeten anderen Lebensformen als der menschlichen überlassen sollten.47

Von wo aus und wie soll ein humanistischer Historiker anfangen, über einen Beitrag zu der neuartigen politischen Aufgabe der Schaffung von Gemeingut im Sinne einer »Allmende« nachzudenken, die Bruno Latour und andere als Option für die Zukunft vorgeschlagen haben, ohne dabei all das zu leugnen, was die Menschen im Raum des Politischen jetzt schon voneinander trennt? Wie auch immer man die Zukunft des Menschen einschätzt, steht außer Frage, dass jede Definition des Politischen an einer von europäischen politischen Denkern der Moderne festgelegten Bedingung festhalten muss: dass die Menschen Schutz vor Räubern benötigen. Beim menschlichen Wohnen geht es immer darum, sich sicher zu fühlen. Obwohl ein bloßes Obdach in Heideggers Phi329losophie noch kein Wohnen ausmacht, beinhaltet Wohnen das Prinzip des »Obdachs«; es verschont die Menschen:

 

Doch worin besteht das Wesen des Wohnens? Hören wir noch einmal auf den Zuspruch der Sprache: Das altsächsische ›wunon‹, das gotische ›wunian‹ bedeuten ebenso wie das alte Wort bauen das Bleiben, das Sich-Aufhalten. Aber das gotische ›wunian‹ sagt deutlicher, wie dieses Bleiben erfahren wird. Wunian heißt: zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben. Das Wort Friede meint das Freie, das Frye, und fry bedeutet: bewahrt vor Schaden und Bedrohung, bewahrt – vor … d. ‌h. geschont.48

 

Diese grundlegende Anforderung an das Wohnen, dass es nämlich die Frage des Sich-sicher-Fühlens umfassen sollte, reicht weit, ganz weit in die Tiefenhistorie des Menschen zurück. Als er über die Aufenthaltsorte des südafrikanischen Australopithecus (einem zweifüßigen Primaten sowohl mit Affen- als auch mit Menschenmerkmalen) schreibt, erwähnt Robin Dunbar, dass es sich dabei häufig um »an Flusstäler grenzende« Kalksteinhöhlen handelte, die diese Geschöpfe warm hielten und ihnen »in Gegenden, in denen es nur wenige große Bäume zum Schlafen [gab], Sicherheit vor Räubern« boten.49 Das Bedürfnis, vor Räubern sicher zu sein, dürfte sich durch die Domestizierung bestimmter Tiere, den Siegeszug des Ackerbaus und schließlich die Schaffung der Städte noch weiter erhöht haben, sodass jede »moderne« menschliche Ansiedlung oder Zivilisation – wie sich anhand der Geschichte von der großangelegten Abschlachtung von Dingos durch europäische Siedler in Australien veranschaulichen ließe – letztendlich als von Menschen dominierte Lebensordnung definiert ist, das heißt als eine Ordnung, die sich dadurch definiert, dass sie den Menschen vor großen oder kleinen Räubern zu bewahren vermag.50

Doch heute geht es um die Frage, sich auf einem Planeten sicher zu fühlen, auf dem viele Regionen – nicht nur für Menschen, sondern auch für viele andere Arten – unbewohnbar werden könnten. Deshalb darf der Schutz sich nicht einfach auf die Bür330ger:innen eines Nationalstaats erstrecken, sondern muss auf Immigrant:innen, Flüchtlinge und Fremde ausgeweitet werden, deren Zahl höchstwahrscheinlich in den einzelnen Nationen und nationenübergreifend steigen wird – den Hauptentwicklungslinien der Antieinwanderungspolitik so vieler heutiger Nationen genau entgegengesetzt. Und die Politik des menschlichen Wohls darf den Bezug zum Problem der »Bewohnbarkeit« dieses Planeten nicht verlieren, das Bewusstsein, dass die menschliche Geschichte nur einen Teil der Geschichte des komplexen Lebens auf diesem Planeten ausmacht und Biodiversität entscheidend dazu beiträgt, diesen Planeten bewohnbar zu machen. Wir müssen anfangen, die Menschheit nicht nur als eine über den ganzen Planeten verstreute biologische Spezies zu betrachten, sondern diese Diaspora auch für eine minoritäre Lebensform zu halten, da Mikroben die tragende Säule des biologischen Lebens auf dem Planeten sind. Wir müssen uns einen Weg zu einer Ordnung bahnen, die gegenwärtig unvorstellbar erscheint: eine Ordnung, die nicht notwendig von Menschen dominiert wird. Unser neuartiges politisches Denken muss also auch an das geistige Erbe des minoritären Denkens anknüpfen und seinen Ausgangspunkt nicht von der Position derjenigen nehmen, die Herrschaft über die Ordnung der Dinge beanspruchen.51 Pfade dorthin sind noch nicht abgesteckt worden. Uns wird zunehmend klar, wie hoffnungslos humanozentrisch alle unsere politischen und ökonomischen Institutionen immer noch sind. Letzten Endes wird das Politische auf der Basis eines neuartigen philosophischen Verständnisses der menschlichen Lage neu begründet werden müssen.

Deshalb möchte ich mit einer besonderen Denkaufgabe schließen. In gewisser Weise ähnelt sie der Denkanstrengung, die der 331deutsche Philosoph Karl Jaspers in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts unternommen hat, als er seine Idee des »epochalen Bewusstseins« entwickelte. Dass ich nicht in allen Hinsichten mit Jaspers übereinstimme, muss uns hier nicht aufhalten, denn in meinen Augen lässt sein Denken etwas von dem Geist erahnen, der die besagte Aufgabe beseelt.

Natürlich stehen Jaspers' Überlegungen in einem ganz anderen Kontext. »Atomare Vernichtung« deutet nicht auf dieselbe Art von Krise hin wie globale Erwärmung. Beide mögen zwar anthropogener Natur sein, aber bei einer atomaren Krise könnte es sich um ein einmaliges Ereignis katastrophischen Ausmaßes handeln, während globale Erwärmung eine Reihe von Geschehnissen benennt, die sich im Laufe des Lebens vieler Generationen und darüber hinaus abspielen. Weil aber beide die Zivilisation, wie wir sie kennen, zu zerstören vermögen, lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf das Problem des Gemeinguts bzw. der Gemeingüter, und an dieser Stelle könnten Jaspers' Überlegungen immer noch etwas zu bieten haben. Zwei Aspekte seines Denkens scheinen für das, was ich hier anstrebe, besonders relevant zu sein: (a) sein Gedanke eines »epochalen Bewusstseins« geht auf eine bestimmte (im Wesentlichen deutsche) Tradition zurück, in einem Moment globaler Krisenhaftigkeit oder Not die gesamte Menschheit zum Gegenstand der Philosophiegeschichte zu machen, und weite Teile meiner Überlegungen in diesem Buch beerben diese Tradition; und (b) die Tatsache, dass Jaspers jene Kategorie des »epochalen Bewusstseins« erfand, um einer Art von Denken eine Heimstatt zu bieten, das Raum für die eigentliche Politik ließ, aber trotzdem so etwas wie einen perspektivischen und ethischen Blickwinkel schuf, den er als »vorpolitisch« bezeichnete. Vorpolitisch im ganz besonderen Sinne einer Bewusstseinsform, welche die Entzweiungen in der politischen Welt nicht leugnet, anprangert oder verurteilt und doch versucht, sich selbst als etwas zu positionieren, das der Politik oder dem 332politischen Denken vorausliegt, sozusagen als Prä-position im Vorfeld des Politischen.

In seinem Buch Die geistige Situation der Zeit von 1931, das 1933 unter dem Titel Man in the Modern Age auf Englisch erschien, stellte Jaspers die Idee des »epochalen Bewusstseins« als ein Problem dar, das die europäischen Intellektuellen »[s]eit mehr als einem Jahrhundert« umgetrieben habe. Darüber hinaus behauptete er, es sei ein Problem, das »seit dem Kriege [dem Ersten Weltkrieg]« dringend geworden sei, weil seither »die Bedrohung [der Menschheit] […] fast jedermann« deutlich geworden sei.52 Den Kontext des »epochalen Bewusstseins« erklärte Jaspers folgendermaßen: »Der Mensch ist das Wesen, das nicht nur ist, sondern weiß, daß es ist. Selbstbewußt erforscht er seine Welt und verwandelt sie planend. Er ist hindurchgebrochen durch das Naturgeschehen.«53 Epochales Bewusstsein war also ein »modernes« Phänomen, das erst möglich wurde, nachdem der Mensch gelernt hatte, durch das »Naturgeschehen […] hindurch[zu]​br[e]​chen«.

Während es schon vorher – etwa im Christentum, Judentum und Islam – »transzendente« und universelle Geschichtskonzeptionen gegeben hatte, die »in der Folge der Generationen« weitergegeben wurden, »riß« diese kontinuierliche Kette, wie Jaspers behauptete, im 16. Jahrhundert »mit der bewußten Säkularisierung menschlichen Daseins«.54 In diesem Moment setzte der Prozess der europäischen Herrschaft über den Globus ein: »Durch die Jahrhunderte ging ein Entdecken: der Erde in allen ihren Meeren und Ländern, der astronomischen Welt, der Naturwissenschaft, der Technik, der Rationalisierbarkeit der Staatsverwaltung.«55 Die Französische Revolution war womöglich das erste Ereignis, das in Form »epochalen Bewusstseins« Ausdruck im Werk von Philosophen fand. »Erst die französische Revolution geschah in dem Bewußtsein, durch die Vernunft das menschliche Dasein aus der Wurzel umzuschaffen, nachdem seine als schlecht er333kannte historische überkommene Gestalt zerstört wäre.« Auch wenn der »Wille zur Herstellung menschlicher Freiheit […] zum Terror, der alle Freiheit zerstörte, [wurde]«, hinterließ die Revolution, so Jaspers, in den Menschen »eine Unruhe um das Ganze ihres Daseins, für das sie [jetzt] selbst die Verantwortung tragen, da es nach Plan zu verändern und auf das Beste einzurichten sein könnte.«56 Jaspers nennt Kant, Hegel, Kierkegaard, Goethe, Tocqueville, Stendhal, Niebuhr, Talleyrand, Marx und unter anderem Nietzsche als Träger unterschiedlicher Formen von epochalem Bewusstsein und beendet die Reihe mit Walther Rathenaus Zur Kritik der Zeit (1912) und Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918) als zwei Büchern, die vor seinem eigenen Versuch in Die geistige Situation der Zeit Formen epochalen Bewusstseins aufwiesen.57 Und natürlich können wir dieser Liste weitere Namen aus dem 20. Jahrhundert hinzufügen, darunter Martin Heidegger, Hannah Arendt und, wie die obigen Ausführungen nahelegen, Rabindranath Tagore.

Als Denkform sollte epochales Bewusstsein zwei Wesenszüge besitzen. Es war ein nichtspezialisiertes Denken und, wichtiger noch, es war nicht auf das Finden von Lösungen ausgerichtet.58 Epochales Bewusstsein, heißt es bei Jaspers, ist »dem Menschen vergönnt […], aber ohne ihm die Ruhe des Abschlusses zu bringen«. Über ein solches Bewusstsein zu verfügen, »fordert langen Atem«, denn es »fordert auszuhalten in den Spannungen des Unlösbaren«.59 Letzten Endes ist epochales Bewusstsein ethisch. In ihm geht es darum, wie wir uns gegenüber einer Welt verhalten, die sich augenscheinlich gerade in einer globalen – und inzwischen planetarischen – Krise befindet. Es bildet die Grundlage unseres Handlungshorizonts. Folgendes soll deshalb eine Art Dialogangebot an den Leser sein. Denn wie schon Jaspers, mit einem Nietzsche-Zitat, geschrieben hat: »Die Wahrheit beginnt zu zweien.«60

Ich möchte noch einmal an die Worte des Geologen Andrew Glikson erinnern: »Da sie jedes Gefühl von Ehrfurcht gegenüber der Erde verloren haben, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Menschen im Begriff sind, das Reich der Vorstellungen, Träume, Mythen, Legenden und Verleugnung hinter sich zu lassen. […] Vielleicht ist es zu viel verlangt, von irgendeiner lebenden Spezies zu erwarten, so viel Weisheit und Verantwortlichkeit an den Tag zu legen, wie für die Kontrolle über die eigenen Erfindungen erforderlich ist. […] [Doch] ohne Ethik kann der Homo sapiens nicht überleben.«61 Ehrfurcht, Weisheit, Verantwortlichkeit, Ethik – all dies sind säkulare Wörter zur Bezeichnung einer geistigen Beziehung zur Erde. Es steht außer Frage, dass wir damit die Sprache der Geologie weit hinter uns gelassen haben und uns in der Nähe der Theologie befinden. Bei der Ehrfurcht geht es nicht einfach um Neugier, Erstaunen oder Biophilie. Ehrfurcht deutet auf ein respektvolles, mit Furcht und Schaudern vermischtes Verhältnis hin. Das englische Wort für Ehrfurcht, reverence, hat protolateinische Wurzeln, die »auf der Hut sein« bedeuten.62 Wir verstehen den Planeten und seine Prozesse nicht vollständig. Er ist kein Bestandteil der Wechselseitigkeitsstruktur, die Heidegger, Tagore und andere umrissen haben. Wir können nicht einmal seinen »Groll« immer vorhersehen, deshalb müssen wir auf der Hut vor ihm sein. Wie die australischen Buschfeuer des Jahres 2019 vor Augen geführt haben, kann der Planet uns auf unsere Kreatürlichkeit reduzieren, wo wir mit anderen Arten ums nackte Überleben konkurrieren (zum Beispiel um Wasser mit Kamelen in Australien). Sich vor etwas in Acht zu nehmen, das gleichzeitig ein Wunder (weil es komplexes Leben hervorbringt) und gefährlich – nicht immer in die Wechselseitigkeit einbezogen – ist: Das ist der Geist, von dem Glikson spricht, wenn auch auf nostalgische, zur Vorsicht mahnende Weise. Nostalgisch, 335weil die Menschen allem Anschein nach vergessen haben, dass der Planet etwas von dem an sich hat, was Rudolf Otto in Das Heilige als »mysterium tremendum« – als etwas »Drängende[s] Tätige[s] Bezwingende[s] Lebendige[s]« – bezeichnet. Der Planet vermag einen »Zorn« zum Ausdruck zu bringen, der nichts Moralisches an sich hat – er bestraft die Menschen nicht für etwas, das sie falsch gemacht haben könnten –, denn er ist in der Lage, uns auf das Gefühl von kläglicher Kreatürlichkeit zu reduzieren, weil seine Gegenwart so übermächtig sein kann.63

In Menschen, die das Phänomen der Biodiversität untersuchen, weckt diese das Gefühl, dass hier ein Wunder geschehen sei, denn die Entstehung komplexen Lebens auf diesem Planeten war keineswegs unausweichlich. Das Erdsystem hat eine fein abgestimmte Atmosphäre – unsere »moderne« Atmosphäre – hervorgebracht, die komplexes tierisches und pflanzliches Leben gedeihen ließ. Diese Atmosphäre ist etwa 400 Millionen Jahre lang bestehen geblieben. Wir sind auf sie angewiesen, aber sie wurde nicht mit uns vor Augen geschaffen. Theoretisch gesehen, wäre sie auch da, wenn es keine Menschen gegeben hätte. Als die Menschen in ihrer Eigenschaft als Tiere die Bühne betraten, erfüllte Furcht unser tierisches Leben – nach dem Muster von William James könnte man sagen, dass dem eine Vielfalt altertümlicher religiöser Erfahrungen entsprang. Vor allem fürchteten wir uns vor anderen Tieren und vor Geistern, Ehrfurcht bestand gegenüber dem Nichtmenschlichen und Nichtlebendigen. Die alten Religionen Afrikas, der Amerikas und Australasiens erwecken nicht die Vorstellung, dass die Welt in erster Linie oder gar ausschließlich für den Menschen erschaffen wurde. Furcht war entscheidend für das Überleben der Spezies, denn Furcht regelte die Beziehungen zwischen den Arten. Dann kamen Holozän und menschliche Zivilisation. Die Achsenreligionen vermittelten uns das Gefühl, im Mittelpunkt des Wunders der Schöpfung zu stehen. Was den Platz und die Aussichten der Menschheit anbelangte, zeig336ten sich die europäischen Denker im 17. und 18. Jahrhundert – also in einer Zeit, in der Europäer das Land anderer Völker an sich rissen und zunehmend im Luxus schwelgten – mitunter allzu zuversichtlich. In seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung verkündete Locke – und dachte dabei weitestgehend an die Neue Welt –, Land sei für Menschen genauso reichlich vorhanden wie Wasser: »Es gereichte auch niemandem zum Schaden, wenn man sich derart, indem man es bebaute, irgendein Stück Land aneignete, denn es war noch genügend und ebenso gutes Land vorhanden – und mehr sogar, als die nutzen konnten, die noch ohne Land waren. […] Niemand kann sich geschädigt fühlen, wenn ein anderer trinkt – mag dieser auch einen mächtigen Schluck tun –, solange ihm selbst ein ganzer Fluß desselben Wassers bleibt, um seinen Durst zu stillen. Wo aber von beidem genügend vorhanden ist, kann man Land und Wasser wie ein und denselben Fall betrachten.«64 In Mare liberum (Von der Freiheit des Meeres, 1609) erklärte Grotius die Ozeane nicht nur zum gemeinsamen Eigentum aller Menschen, sondern auch für unerschöpflich im Hinblick auf die Menge an Nahrung, die sie für uns bereithielten: »Denn es ist sicher, daß, wenn viele auf dem Lande jagen oder im Flusse fischen, leicht der Wald seiner Tiere und der Fluß seiner Fische beraubt wird, was im Meere nicht der Fall ist.«65 Und im Jahr 1735 katalogisierte der europäische Gelehrte Carl von Linné uns, seine eigene Spezies, sogar unter der Rubrik »Der vernünftige Mensch«, Homo sapiens, mit einem kleinen Seitenvermerk, wie für ihn selbst, der lautete: Nosce te ipsum (»Ein jeder kenne sich selbst«), und nahm dies in die zehnte Auflage seines Systema naturae (1758) auf.66 Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts tat Kant voller Selbstvertrauen kund, dass der Pelz auf dem Rücken der Schafe für uns Menschen gedacht sei.67 Und zum Schluss kam die industrielle und kapitalistische Moderne gefolgt von der intensiven Globalisierung und Demokratisierung des Konsums in den letzten vier Jahrzehnten. Die Kultur der 337Ehrfurcht, auf der alle alten, indigenen, ja sogar bäuerlichen Religionen beruhten, haben wir dabei allmählich vergessen.68

Von Ehrfurcht vor dem Planeten spricht Glikson zu Recht in einem nostalgischen Ton, denn beim Modern-Werden ging es – ob in Europa oder seinen Kolonien – in ganz verschiedenen Hinsichten grundsätzlich um eine Überwindung der Furcht (darunter auch die Furcht vor ausländischen oder einheimischen Unterdrückern). Die Leser:innen werden sich erinnern, dass Horkheimer und Adorno ihre Dialektik der Aufklärung mit folgender Feststellung eröffneten: »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.«69 Im Zuge der Modernisierungswellen des 19. und 20. Jahrhunderts überwanden die Menschen dank einer Kombination aus Elektrizität und Technik sowie der wachsenden Zahl der Städte und von deren Einwohner:innen ihre Furcht – und Ehrfurcht – vor anderen Lebensformen und vor den Bestandteilen ihrer Welt, die sie für vorgegeben hielten.

Modern zu sein, hieß also, sich ein aristotelisches Gefühl des Erstaunens und der Neugierde gegenüber der Welt und dem Universum zu bewahren, aber jedes Gefühl von Furcht als einem Wert (im Unterschied zur Furcht als einem Instinkt oder Trieb) zu verlieren – mit Ausnahme der politischen Gesetzes- und Staatsfurcht des Bürgers, wie Hobbes sagen würde. Wenn das stimmt, steht der Historiker des Anthropozäns vor folgender Aufgabe: Als Bedingung für ihr Gedeihen und gleichzeitig als Folge desselben haben die modernen Menschen die Furcht vor anderen Arten zwar verloren. Unser Leben in den Bahnen der sogenannten menschlichen Zivilisation ist entscheidend darauf angewiesen, dass wir uns vor den meisten anderen Lebensformen nicht fürchten müssen, wenn wir unseren Alltagsgeschäften nachgehen. Dies ist eine Grundbedingung des modernen Lebens. Doch auf welche Weise haben wir diese Furcht verloren? Ich stelle diese 338Frage, weil dies nicht überall zur selben Zeit geschah. Als ich in den 1950er Jahren in Kalkutta aufwuchs, war die Furcht vor wilden Tieren – im Wesentlichen vor Füchsen, Schlangen, Fledermäusen und Fröschen aller Art – genauso real wie die Furcht vor Gespenstern und Geistern. Als wir später Elektrizität hatten und die Menschen Häuser bezogen, für deren Bau Land gerodet wurde, verschwanden diese Geschöpfe. Die Vielfalt der Vögel, die in den Städten zu sehen waren, nahm ab. In Indien ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen. Wie die Arbeit von Annu Jalais über die Dorfbewohner des Ganges-Deltas in den südbengalischen Sundarbans zeigt, gibt es in Indien und Bangladesch immer noch Gegenden, in denen Tiere (im vorliegenden Fall Tiger) nach wir vor gefürchtet und manchmal auch angebetet werden.70

Dies wäre in der Tat ein Projekt zur Provinzialisierung Europas. Wie schreibt man die Geschichte des Prozesses, der zweifellos in Europa begonnen hat und in dessen Verlauf die modernen Menschen ihre Furcht – als Wert und nicht als Instinkt – verloren haben? Die Begründer des modernen (europäischen) politischen Denkens gingen im 17. Jahrhundert davon aus, dass die menschliche Furcht vor wilden Tieren per definitionem ein Bestandteil der »natürlichen« Ordnung sei. Deshalb war in ihren Texten mit dem Schutz des menschlichen Lebens und Besitzes ein Schutz vor den räuberischen Praktiken anderer Menschen und nicht vor wilden Tieren gemeint.71 Hobbes' Ausführungen zum »Recht über Lebewesen, die der Vernunft ermangeln«, in seiner Schrift De cive (Vom Bürger, 1642) unterstellten zum Beispiel, dass an den menschlichen Wohnorten bereits keine Furcht vor wilden Tieren mehr bestand. Dies war eine Bedingung des Politischen: »Wenn jeder im natürlichen Zustand nämlich, auf Grund des Krieges aller gegen alle, andere Menschen unterwerfen oder sie sogar töten darf, sofern ihm dies vorteilhaft erscheint, so ist das um so mehr Tieren gegenüber erlaubt. Das heißt, man kann Tiere, die sich zähmen und zu Diensten gebrauchen lassen, nach Gutdünken in 339das Joch spannen und die übrigen in einem fortwährenden Krieg als schädlich verfolgen und vernichten. Die Herrschaft über die Tiere hat deshalb ihren Ursprung im Naturrecht, nicht im gegebenen, göttlichen Recht72 Und er fügte hinzu: »Von Tieren verschlungen werden zu können, ohne daß Unrecht geschieht, Tiere ihrerseits aber nicht verzehren zu dürfen, wäre [im Naturzustand] eine für die Menschen sehr mißliche Lage gewesen. Wenn es also nach dem natürlichen Recht geschieht, daß ein Tier einen Menschen töten kann, so geschieht es nach demselben Recht, daß der Mensch Tiere schlachten darf.«73 Für Hobbes gehörten »wilde Tiere« also bereits zum Urzustand der Menschen, nicht zu ihrer Lage, nachdem sie einen Staat gegründet hatten.

Heute erinnert uns der Planet daran, dass dieses Streben, das Gefühl der Ehrfurcht vor der uns umgebenden Welt zu überwinden, zwar wertvoll gewesen sein mag, in der Wertsphäre aber auch mit einem Verlust verbunden war. In gewisser Weise sogar mit einem entscheidenden Verlust. Wenn wir eine neue Tradition des politischen Denkens begründen wollen, in der es nicht bloß um die Herrschaft des Menschen über die Erde geht, müssen wir Wege finden, wie wir gegenüber den Orten, die wir bewohnen, ein Verhältnis eingehen können, das Elemente sowohl des Erstaunens als auch der Ehrfurcht kombiniert. Auch wenn diese Aufgabe kollektiv und historisch im Rahmen des bestehenden Raums des Politischen bewältigt werden muss, ohne dass eine Erfolgsgarantie besteht, bietet Hobbes uns zumindest auf rhetorischer Ebene einen Ansatzpunkt. Doch finden wir diesen Ansatzpunkt nur, wenn wir ihn gegen den Strich lesen. Im Leviathan setzt Hobbes seinen Leser:innen zwei lateinische Begriffe auseinander: prudentia (Klugheit) und sapientia (Weisheit). Er schreibt: »Wie reiche Erfahrung Klugheit ist, so ist Reichtum an Wissenschaft Weisheit. Denn obwohl wir gewöhnlich den Namen Weisheit für beides anwenden, so unterschieden doch die Römer immer zwischen prudentia und sapientia, wobei sie das Erste der Erfah340rung, das Letzte der Wissenschaft zuschrieben.« Hobbes schätzte »Wissenschaft« mehr als Erfahrung. Klugheit bzw. Erfahrung sei »nützlich«, Wissenschaft aber »unfehlbar«. Daran lässt er keinen Zweifel: »Vernunft ist der Schritt, die Mehrung der Wissenschaft der Weg und die Wohlfahrt der Menschheit das Ziel74 Wo Wissenschaft fehlt, könne man sich von Erfahrung und »natürliche[m] Urteil« leiten lassen, denn in Hobbes' Augen bestand das schlimmste Vergehen im dogmatischen Kleben an Texten, im Vergehen der Buchstabengelehrtheit: »Aber es ist in allen Handlungen, bei denen man nicht nach einer unfehlbaren Wissenschaft vorgehen kann, ein Zeichen von Narrheit, die man allgemein verächtlich Buchstabengelehrtheit nennt, wenn man sein eigenes natürliches Urteil aufgibt und sich von den allgemeinen Sätzen anleiten läßt, die man in Büchern gelesen hat und die vielen Ausnahmen unterliegen.«75 Doch sei Erfahrung der Wissenschaft unterlegen. Sie habe nicht die »Unfehlbarkeit« der Wissenschaft, ja schütze nicht einmal vor der Zweideutigkeit der Sprache und biete aus diesem Grund keine Grundlage für eine Ordnung. Deshalb zog Hobbes immer Wissenschaft, Weisheit, als etwas vor, das für seine Philosophie der politischen Ordnung einen höheren Wert besaß als reine Klugheit bzw. Erfahrung. »Klare Wörter sind das Licht des menschlichen Geistes«, schreibt er im Leviathan, »aber nur, wenn sie durch exakte Definitionen geputzt und von Zweideutigkeiten gereinigt sind. […] Und im Gegensatz dazu sind Metaphern und sinnlose und zweideutige Wörter wie Irrlichter, und sie dem Denken zugrunde legen heißt durch eine Unzahl von Widersinnigkeiten wandern, und an ihrem Ende stehen Streit und Aufruhr oder Ungehorsam.«76 Klugheit definiert er als »Mutmaßung der Zukunft […], die aus der Erfahrung der Vergangenheit abgeleitet wurde« – doch ist eine solche Mutmaßung schwach, da sie »nur auf Erfahrung gründe[t].«77

Es ist unwahrscheinlich, dass es heute jemand für möglich halten würde, Wörter von den ihnen innewohnenden Zweideutig341keiten zu bereinigen oder eine politische Ordnung auf solch eine imaginäre Reinigung zu gründen. Auch würde Wissenschaft nicht mit derselben Gewissheit einhergehen wie einstmals bei Hobbes. Ihr Anspruch, der Erfahrung überlegen zu sein, würde ebenfalls nicht unwidersprochen bleiben, weil gerade die – indirekte und direkte – »Erfahrung« der Auswirkungen unserer Wissenschaft und Technik auf die Biosphäre uns deren Fehlbarkeit verrät und bei vielen Menschen die tiefe Ambivalenz verstärkt, die sie zu Recht schon sehr lange gegenüber ihrer eigenen Macht empfinden. Doch wer würde andererseits leugnen, dass Wissenschaft und Technik zentral für das menschliche Gedeihen sowohl im Hinblick auf unsere Zahl als auch in Bezug auf die Lebensqualität gewesen sind, in deren Genuss heute eine große Zahl von Menschen kommen? Im Guten wie im Schlechten – möglicherweise im Guten und im Schlechten – sind wir Bewohner:innen einer Welt, die unsere Gehirne gerade dank unserer technischen Erfindungen in weit höherem Maße anregt, als es zu jeder anderen Zeit in der Menschheitsgeschichte möglich gewesen ist. Und eben diese blühende Zeit der »großen Beschleunigung« der menschlichen Ökonomie und Zahl der Menschen hat auch unser derzeitiges Gefühl einer planetarischen Krise hervorgerufen.

Hobbes' Ausführungen stellen uns vor folgende Frage: Können die Menschen aus der Erfahrung des Anthropozäns etwas lernen, damit sie das moderne politische Denken erneuern können, ohne – wie Tagore und andere – vorauszusetzen, dass wir für die Geschichte des komplexen Lebens eine besondere Rolle spielen oder zentral für das große Ganze, ja sogar in der Lage sind, das Ganze zu überblicken? Kann der Homo sapiens lernen, ungeachtet der politischen Schlachten, die uns trennen, ein Homo prudens zu werden? Ich sollte klarstellen, dass ein Projekt, das den menschlichen Verlust der Ehrfurcht vor der Welt, in der wir uns wiederfanden, zu verstehen versucht, nicht die Absicht verfolgt, den moralischen Mut in Abrede zu stellen, den die Men342schen immer gebraucht haben, um gegen verschiedene Herrschafts- und Ausbeutungsformen zu kämpfen, einschließlich derjenigen, die der verschwenderische Gebrauch von fossilen Brennstoffen durch den modernen Menschen möglich gemacht hat. Ein solcher moralischer Mut kann nämlich ohne Probleme neben dem Geist der Ehrfurcht bestehen, dessen Verlust Glikson beklagt. In vielerlei Hinsichten hat eine Persönlichkeit wie Mohandas Gandhi diese beiden Werte verkörpert.78 Zu lernen, ein Homo prudens zu werden, heißt nicht, den moralischen Mut zu verlieren, im Gegenteil: Moralischen Mut zu haben – zum Beispiel den Mut einer Rachel Carson – heißt, aus der menschlichen Erfahrung zu lernen und Visionen menschlicher Dominanz in Frage zu stellen.

Die Visionen menschlicher Dominanz lassen sich nicht mehr vom Überhandnehmen des globalen Rohstoff- und Konsumkapitalismus trennen, das den Menschen die kalte Indifferenz dessen offenbarte, was ich das Planetarische genannt habe, und sie ihr gleichzeitig aussetzte. Mittlerweile finden die Menschen sich außerdem in einer Zeitmanagement-Krise wieder, denn der planetarische Kalender (von dem der IPCC spricht) und der Zeitplan des Globus (den die UN zu verwalten versuchen) lassen sich nicht immer synchronisieren. Zudem habe ich angedeutet, dass es sich dabei für Menschen um eine zutiefst phänomenologische Herausforderung handelt, weil die Größenordnung einiger der Probleme, vor denen wir stehen, unsere Größenmaßstäbe übertrifft. Unser verkörpertes Selbst und unsere Institutionen haben sich nicht so entwickelt, dass sie mit Problemen fertig werden, die sich über geologische Zeitspannen erstrecken. Wir haben uns dadurch entwickelt, dass wir das Werk der Tiefenzeit als gegeben ansahen und sind in den letzten hundert Jahren »modern« geworden, weil wir die Welt um uns herum als etwas betrachtet haben, das »für uns« existiert. Es gab und gibt immer noch Menschengruppen, die diese Annahme nicht teilen, aber sie haben den Kampf 343um die Welt gegen die »Modernen« verloren. Die Annahme, dass die Welt im Wesentlichen dazu da ist, um einen Hintergrund für den Ablauf des Dramas der menschlichen Geschichte abzugeben, ist in ihren Grundfesten erschüttert worden (was die massiven und tragischen Feuer in Australien 2019-2020 auf dramatische Weise anschaulich gemacht haben). Uns wird immer klarer, dass der Planet nicht mit uns Menschen vor Augen geschaffen wurde. Seit wir gezwungen sind, uns aufgrund von Problemen wie dem Klimawandel, dem Artensterben, dem Steigen des Meeresspiegels, der Versauerung der Meere, Extremwetterlagen, der Wasser- und Nahrungssicherheit und so weiter mit dem Planeten zu befassen, lassen sich im Grunde genommen zwei Arten von Forderungen vernehmen. Beide entspringen der Anerkennung der gegenwärtigen Notlage der Menschheit. Zum einen wird gefordert, die Herrschaft des Menschen über den Planeten auszuweiten und aus diesem Planeten einen »intelligenten« Planeten zu machen, indem sichergestellt wird, dass sogar dort, wo (nach menschlichem Dafürhalten) einmal »Natur« gewesen ist, nur noch Technologie und menschliche Gerechtigkeit walten.79 Dies würde bedeuten, das Werk des Globalen fortzusetzen, zu intensivieren und zu versuchen, das Planetarische auf seine Reichweite herunterzubrechen. Zum anderen ergeht die – gegenwärtig utopische, aber meiner Einschätzung nach absolut entscheidende und bei vielen der in diesem Buch Zitierten laut gewordene – Forderung, auf einen Planeten hinzuarbeiten, der nicht länger Teil der von Menschen dominierten Ordnung ist, die von europäischen Imperien, postkolonialen und sich modernisierenden Nationalismen und dem globalisierten Kapitalismus und Konsum in den letzten 500 Jahren geschaffen wurde, wobei das Tempo der Ereignisse seit den 1950er Jahren zugenommen hat. Wie auch immer die Menschen im Weiteren mit dieser Situation umgehen – höchstwahrscheinlich werden sie beide Optionen auf verschiedenen Organisationsebenen auf verschiedene Weisen mischen –, werden 344sie sich an zwei zusammenhängenden, aber unterschiedlichen begrifflichen Entitäten – dem Globus und dem Planeten – orientieren müssen; Ersterer bleibt eine humanozentrische Konstruktion und Letzterer dezentriert den Menschen in unseren Narrativen über die Welt.

In seinem nachdenklichen Buch Learning to Die in the Anthropocene hat Roy Scranton vorgeschlagen, dass wir uns auf den Untergang dieser kapitalistischen Konsumkultur vorbereiten sollten.80 Der Untergang dieser Kultur oder Zivilisation bedeutet jedoch nicht den Untergang aller möglichen Vorstellungen von Zivilisation. Jede richtige Auffassung einer zivilisierten menschlichen Zukunft müsste in meinen Augen drei Prinzipien aufgreifen: (a) alle Menschenleben müssten geschützt und ihr Gedeihen ermöglicht und sichergestellt werden; (b) Biodiversität – die für einen bewohnbaren Planeten sorgt – müsste geschützt werden; und (c) müssten Rückzugsprozesse aus der derzeitigen, von Menschen dominierten Ordnung auf der Erde angestoßen und vorangetrieben werden. Mit anderen Worten wird der humanozentrische Gedanke der Nachhaltigkeit für den planetozentrischen Gedanken der Bewohnbarkeit sprechen müssen. Denn wenn meine Behauptung zutrifft, dass die Intensivierung des Globalen zu unserer Begegnung mit dem Planeten geführt hat, ist das von den europäischen Imperien und vom Kapitalismus geschaffene Zeitalter des rein Globalen, über das die Theoretiker:innen sich seit den 1990er Jahren den Kopf zerbrochen haben und das von Historiker:innen dokumentiert und analysiert worden ist, jetzt vorbei. Wir leben am Scheitelpunkt von Globalem und Planetarischem.