»Stets wird es den Mächtigen der Christenheit, ob Katholiken oder Protestanten, zur Schande gereichen, dass sie ihre Kräfte nicht vereinen, um die Nester jener frevelhaften Korsaren zu zerschlagen, wie sie es wohl könnten. Stattdessen erbetteln sie von ihnen von Mal zu Mal mit Bitten und Geschenken ihre Freundschaft, die sich, kaum wird sie auf die Probe gestellt, oftmals zu Treuebruch verkehrt.«
Lodovico Antonio Muratori, Annali d’Italia1
Die kleine Flottille aus vier Galeeren hatte von Neapel aus Kurs auf Barcelona genommen, als sie am 21. September 1575 vor der katalanischen Küste in einen Sturm geriet. Drei Schiffe konnten später ihre Fahrt fortsetzen und erreichten sicher ihr Ziel. Das vierte Schiff, die Sol, wurde jedoch von algerischen Korsaren abgefangen und die Besatzung nach stundenlangem Kampf überwältigt. Unter den Gefangenen der Sol, die von den Siegern nach Algier verschleppt wurden, befand sich auch der spätere Dichter des »Don Quichotte«, der damals 28-jährige Miguel de Cervantes. Der Spanier war ein Veteran der Schlacht von Lepanto, in der er dreimal verwundet worden war und den Sieg der christlichen Flotte mit einer gelähmten Hand bezahlt hatte.2
Mit seiner Verschleppung nach Algier teilte Cervantes das traurige Schicksal von fast einer Million Menschen, die nach der immer noch gültigen Schätzung des Franzosen Pierre Dan allein zwischen 1530 und 1640 im westlichen Mittelmeer oder an seinen Küsten von nordafrikanischen Freibeutern entführt wurden, um auf den Sklavenmärkten von Algier, Tunis oder Tripolis verkauft zu werden.3 Dabei agierten die dreisten Räuber mit dem vollen Einverständnis und entsprechenden Kaperbriefen ihrer Beys und sogar unter den Augen der in Algier und Tunis residierenden europäischen Diplomaten. Ihre räuberische Bilanz war beeindruckend. Allein 40 Überfälle auf die Küste Siziliens erwähnen lokale Chroniken zwischen 1570 und 1606. 4000 Männer, Frauen und Kinder aus Granada waren allein bei dem großen Überfall von 1566 in die Hände der moslemischen Menschenräuber gefallen.4
Selbst im Atlantik trieben die nordafrikanischen Korsaren ihr Unwesen und brachten im Jahre 1617 1200 Bewohner der Insel Madeira auf ihre Schiffe. 14 Jahre später wagten sie sich sogar bis nach Island vor, von wo sie 400 Menschen verschleppten.
Die Zahl der spektakulären Überfälle an Land mit mehreren Hundert Gefangenen ging zwar im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich zurück, dafür mehrten sich jedoch die Angriffe auf einzelne Schiffe und sogar Konvois. So kaperten Korsaren aus Algier zwischen 1628 und 1634 allein 80 französische Segler und machten dabei fast 1000 Gefangene. Eine Statistik der etwa zur selben Zeit im Mittelmeer eingetretenen englischen Schiffsverluste gelangt bis 1641 sogar auf 131 Fälle, wobei insgesamt 2555 Untertanen ihrer Majestät in die Sklaverei verschleppt wurden.5
Die Europäer und zuletzt sogar die Amerikaner, die in den Jahren von 1785 bis 1793 mehr als 130 Seeleute verloren, taten sich schwer, die empfindlichen Störungen ihres atlantischen Handels zu unterbinden. Isolierte Strafaktionen spanischer, britischer und sogar holländischer Flotten vor der nordafrikanischen Küste blieben bis ins 19. Jahrhundert wirkungslos. Noch in den Jahren 1783 und 1786 bombardierten spanische Geschwader tagelang die Stadt Algier, ohne damit den Bey zu irgendeinem Zugeständnis zwingen zu können.6 Umso erstaunlicher war die Leichtigkeit, mit der schließlich im Jahre 1830 ein französisches Expeditionskorps die Stadt Algier besetzen konnte. In den Gefängnissen (Bagnos) der Stadt fanden sich damals noch 122 christliche Sklaven. Als sich nach diesem Schlag auch die Beys von Tunis und Tripolis mit ihrer Zusicherung beeilten, zukünftig auf die Sklavenjagd zu verzichten, war nach drei Jahrhunderten der maritimen Anarchie eine Geißel der christlichen Seefahrt endlich ausgeschaltet.7
Auch Cervantes war 1575 nach Algier verschleppt worden, allerdings sollte er dort nicht auf dem Sklavenmarkt landen, da ihn sein Entführer, ein griechischer Renegat namens Dali Mami, für eine hochgestellte Persönlichkeit hielt. Seine Sonderstellung unter den Gefangenen verdankte Cervantes vor allem einem Empfehlungsschreiben Juan d’Austrias. Das Kalkül seines Besitzers, ein hohes Lösegeld einstreichen zu können, sollte sich jedoch als Irrtum erweisen, denn Cervantes’ Familie war zwar adlig, aber verarmt. So musste der Spanier fast fünf traumatische Jahre in Ketten im berüchtigten Gefängnis des Beys von Algier, einem von sechs Bagnos in der Stadt, verbringen, ehe es 1580 den Brüdern der Trinitarier schließlich gelang, den verzweifelten Spanier und 186 seiner Mitgefangenen freizukaufen. Über Jahrzehnte war der katholische Orden mit seinen Spendenaufrufen bemüht, Spanier aus der moslemischen Gefangenschaft zu erretten. Über Jahrzehnte erlangten jährlich bis zu 200 europäische Sklaven durch seine rührige Hilfe ihre Freiheit zurück. Dass es die frommen Fratres bei ihrer Spendenakquise mit der Wahrheit nicht so genau nahmen und oft die Lebensverhältnisse der ihrer Befreiung harrenden Gefangenen in den düstersten Farben schilderten, kann nicht überraschen.8 Cervantes selbst beschrieb später in seinem »Don Quichotte« die ständige Drohung von Gewalt und Willkür gegen die Gefangenen als kaum ertragbare Belastung. »Obschon wir häufig, ja ständig unter Hunger und Blöße zu leiden hatten, so litten wir doch am meisten darunter, dass wir jeden Tag die nie erhörten und nie gesehenen Grausamkeiten hören und sehen mussten, die mein Herr gegen die Christen verübte. Er ließ jeden Tag einen Mann aufknüpfen, ließ den einen pfählen, dem anderen die Ohren abschneiden, und dies aus so geringfügigem Grunde, dass sogar die Türken einsahen, er tue es nur um des Tötens willen.«9
Bis zu 25 000 christliche Sklaven sollen sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts allein in den Kerkern von Algier befunden haben, wo sie entweder als hochrangige Persönlichkeiten auf ihre Auslösung warteten oder tagsüber von ihren Besitzern zu den verschiedensten Tätigkeiten oder Baumaßnahmen herangezogen wurden. Einer der Auswege aus ihrer beklagenswerten Lage war der Freikauf, der allerdings von der Spendenbereitschaft in den Heimatländern und dem Geschick der Unterhändler abhing. Selbst in den norddeutschen Hansestädten Hamburg und Lübeck mussten sich die Behörden nach schmerzhaften Schiffsverlusten im Mittelmeer mit dem Problem des Freikaufs von gefangenen Besatzungen befassen und gründeten 1622 (bzw. 1627) zu diesem Zweck sogenannte Sklavenkassen, in die zumindest die Kapitäne und Steuerleute einen abgestuften Teil ihrer Heuer einzahlen mussten.10 Den Schriftverkehr und die Zahlungen konnten die Norddeutschen sogar über den französischen Konsul in der Piratenstadt abwickeln.
Christlichen Gefangenen, die keine Aussicht hatten, freigekauft zu werden, oder aber nicht die Geduld aufbrachten, jahrelang auf ihre Rettung zu warten, blieben nur wenig andere Optionen. Zwar war eine Flucht schwierig, jedoch nicht unmöglich. Nur wenige brachten freilich den Mut auf, einen 400 Kilometer langen Fußmarsch durch die Wüste nach Oran zu unternehmen, das noch eine spanische Besatzung hatte. Häufiger, aber nicht minder gefährlich, waren Versuche, bei Nacht mit einem Boot aufs offene Meer zu fahren und darauf zu hoffen, dass vielleicht eines der vielen vor der Küste kreuzenden Schiffe aus Spanien oder Frankreich den Flüchtling aufnahm. Vereinzelt sollen aber von Sklaven gesteuerte Boote sogar Sizilien erreicht haben. Mit immerhin vier Fluchtversuchen bildete Cervantes fraglos eine Ausnahme unter den Sklaven von Algier. Nur durch Glück und Fürsprache überlebte er seine gewagten Aktionen. Es diente vor allem der Abschreckung, dass jeder eingefangene Sklave trotz seines wirtschaftlichen Wertes gewöhnlich zu Tode gefoltert wurde.
Der Austausch von Gefangenen war eine dritte Rettungsoption, denn auch die Ritter der Johanniter oder des 1561 in Pisa gegründeten Stephansordens machten mit großem Erfolg Jagd auf moslemische Schiffe und deren Besatzungen. Allerdings behielten die christlichen Ritterorden gewöhnlich ihre robustesten Sklaven, um sie auf ihren Galeeren einzusetzen. Der Bedarf an Ruderern war so groß, dass die 150 gefangenen »Türken«, die Kaiser Leopold I. nach der Einnahme von Buda 1686 seinem Schwager, dem Großherzog der Toskana, schickte, ein hochwillkommenes Geschenk waren.11
Noch im Jahre 1740 stieß Johann Caspar Goethe, der Vater des Weimarer Dichterfürsten, in der toskanischen Hafenstadt Livorno auf ein Bagno mit moslemischen Sklaven, die tagsüber in der Stadt ihrem Lebensunterhalt nachgingen und sich regelmäßig in einer nahe gelegenen Moschee zum Gebet versammelten.12
Der Königsweg aus der Gewalt der nordafrikanischen Sklavenjäger war jedoch für jeden gewöhnlichen Gefangenen der Glaubenswechsel zum Islam. Jeder Christ, der sich entschloss, »Türke« zu werden, konnte seine Lage damit erheblich verbessern und in überschaubarer Zeit sogar auf seine Freilassung rechnen. Etliche der Korsarenkapitäne aus Algier, Tunis oder Tripolis waren als Renegaten zum Islam übergetreten. Von den rund 100 000 Einwohnern Algiers sollen nach Schätzung des portugiesischen Klerikers Antonio de Sosa, der zusammen mit Cervantes in Algier gefangen gehalten wurde, aber erst ein Jahr nach ihm freikam, fast die Hälfte ehemalige Christen aus sämtlichen europäischen Ländern gewesen sein.13 Selbst Hassan Bey, der wegen seiner Jähzornigkeit gefürchtete »König von Algier«, war in Venedig geboren und aufgewachsen. Besondere Wertschätzung von ihren moslemischen Herren erfuhr der Glaubenswechsel christlicher Sklaven freilich nicht, da der wirtschaftliche Verlust die Freude über die Bekehrung eines Fremden zum »wahren Glauben« gewöhnlich stark schmälerte.14 Es war daher keine Überraschung, dass die Behörden in Algier, Tunis oder Tripolis eine Seelsorge durch meist katholische Missionare zuließen und sogar regelmäßige Messen für die Gefangenen in den Bagnos gestatteten.15
Nur die wenigstens Konvertiten kehrten jemals in ihre Heimat zurück, wo sie zuweilen, wie etwa der aus Marienburg stammende Balthasar Sturmer, große Mühe hatten, ihren temporären Abfall vom Christentum vor den Angehörigen oder den Behörden zu vertuschen.16 Während jedoch der Westpreuße Sturmer nach seiner Rückkehr ein Leben als wohlhabender und geachteter Bürger von Königsberg führen konnte, ließ Cervantes das Trauma seiner Gefangenschaft nie mehr los. Es sollte sein gesamtes literarisches Werk prägen. So lässt er etwa in seinem Don Quichote einen ehemaligen Sklaven aus Algier eine Lebensgeschichte erzählen, die unverkennbar seine eigenen Erfahrungen widerspiegelt. Die tief empfundene Abscheu seines »Ritters von der traurigen Gestalt« beim Anblick eines Dutzends in Ketten marschierender Gefangener veranlasst diesen, die für die Galeeren des Königs bestimmten Unglücklichen in einer aberwitzigen Aktion aus den Händen ihrer Bewacher zu befreien.17
Genau zu der Zeit, als Europäer zusammen mit afrikanischen Warlords den atlantischen Dreieckshandel mit Menschen vom schwarzen Kontinent betrieben, bedrohte fast drei Jahrhunderte lang die Sklavenjagd maghrebinischer Korsaren auf Europäer massiv die christliche Seefahrt zwischen Gibraltar und der Straße von Messina. Mit vielleicht anderthalb Millionen geraubten Christen erreichte die moslemische Sklaverei zwar bei Weitem nicht das Ausmaß der 12 Millionen von christlichen Europäern nach Amerika verschleppten Schwarzafrikanern. Doch gegenüber dem mit allen Mitteln im öffentlichen Bewusstsein gehaltenen Unrecht der schwarzen Sklaverei ist die zeitgleiche massenhafte Versklavung weißer Europäer durch Moslems und Renegaten weitgehend in Vergessenheit geraten.18 In den Nachfolgestaaten der einstigen maghrebinischen Korsarenhochburgen erinnert heute keine Bevölkerungsgruppe mehr an diese lange und peinliche Periode, in der die aufstrebenden europäischen Staaten in Übersee gewaltige Kolonialreiche errichteten, aber nicht willens oder in der Lage waren, ihre eigenen Bürger vor dem Zugriff der tolldreisten Menschenjäger aus Algier, Tunis und Tripolis wirksam zu schützen. Selbst noch lange nachdem die letzte osmanische Flotte ihren Weg ins westliche Mittelmeer gefunden hatte und schließlich auch die Macht der Sultane als ehemalige Schutzherren der nordafrikanischen Sklavenhochburgen erkennbar erodiert war, fanden die betroffenen Seemächte Europas kein anderes Mittel gegen ihre fortgesetzte Demütigung durch rückständige und brutale Barbaren als Verträge und Schutzgeldzahlungen. Es fällt tatsächlich schwer, der vor fast 300 Jahren erhobenen Anklage des italienischen Klerikers und Geschichtsschreibers Lodovico Antonio Muratori gegen die »Mächtigen der Christenheit« nicht zuzustimmen.