Vor beinahe 20 Jahren erschien in der Hamburger Wochenzeitschrift DIE ZEIT ein Beitrag des inzwischen verstorbenen Historikers Hans-Ulrich Wehler zur Debatte über den möglichen Beitritt der Türkei in die Europäische Union. Der renommierte Doyen der westdeutschen Sozialgeschichte polarisierte damals mit seiner These, dass die Türkei unmöglich ein Teil der Brüsseler Staatengemeinschaft werden könne. Das moslemische Osmanische Reich habe als Vorgängerstaat, so Wehler, rund 450 Jahre lang gegen das christliche Europa unablässig Krieg geführt. Das sei im Kollektivgedächtnis der europäischen Völker, aber auch der Türkei tief verankert. Es spräche daher nichts dafür, »eine solche Inkarnation der Gegnerschaft« in die EU aufzunehmen.1
Unter seinen Zunftgenossen sorgte der Bielefelder Historiker damals für erhebliches Kopfschütteln. Allein schon die Betonung einer historischen Gegnerschaft wollte so gar nicht mehr zum neudeutschen Zeitgeist passen.2
Wehler hatte seiner ansonsten bedenkenswerten politischen Analyse mit seinem einleitenden Ressentiment gewiss keinen Gefallen getan. Tatsächlich gab es genügend überzeugende Gründe, die Türkei nicht in die Europäische Union aufzunehmen. Wehler hat sie aufgezählt, und sie gelten heute noch unverändert. Erwähnt seien nur das Kurdenproblem, die Zypernfrage und die schiere Größe eines Staates mit 90 Millionen Einwohnern, der sein entsprechendes Gewicht in der europäischen Staatengemeinschaft unmissverständlich einfordern würde. Man müsste also gar nicht erst eine historische und im Übrigen seit der deutsch-osmanischen »Waffenbrüderschaft« im Ersten Weltkrieg überwundene Gegnerschaft bemühen, um vor einem Beitritt der Türkei zur Brüsseler Staatengemeinschaft zu warnen. Mit seinem Bild einer europäisch-türkischen Dauerkonfrontation verstieß Wehler jedoch nicht nur gegen das vorherrschende akademische Postulat der unbedingten Suche nach Gemeinsamkeiten, es war historiografisch auch gleich in dreifacher Hinsicht falsch.
Zunächst erscheint es problematisch, wie Wehler von einem einheitlichen Gedächtnis der osmanisch-europäischen Geschichte in Europa zu sprechen. In Ungarn, Bulgarien oder in Serbien wird man sich an die verheerende Epoche der Türkenkriege gewiss anders erinnern als etwa in Großbritannien oder Frankreich. Selbst in den ehemals habsburgischen Gebieten, die zwischen 1526 und 1683 die vorderste Front der »Christenheit« gegen das Reich der Sultane gebildet hatten und überdies mit den Herzogtümern Kärnten, Krain und Steiermark schon seit dem 1470er-Jahren immer wieder Opfer von moslemischen Räuberhorden geworden waren, dürfte das unterstellte kollektive Trauma der »Türkenzeit« längst kaum noch eine Rolle spielen.3 Auch in diesen einst umkämpften Regionen Europas überwiegt inzwischen die Erinnerung an die spätere, fast ebenso lange Phase der Schwäche und des Zerfalls des Osmanischen Reiches, in der aus dem »grausamen Türken« plötzlich der edle Wilde wurde. Schon bald nach dem spektakulären Scheitern der zweiten Belagerung Wiens (1683) war die Stimmung im Reich rasch von der traditionellen Türkenfurcht in eine voyeurhafte Neugier für das orientalische Fremde umgeschlagen. Europas Monarchen und Diplomaten wiederum äußerten im Verlauf des 18. Jahrhunderts wiederholt ihren Unmut über das vermeintliche Ungeschick der osmanischen Politik, während viele Aufklärer sogar eine tiefe Verachtung für die angebliche vernunftwidrige Barbarei der »Türken« empfanden. Als Bedrohung jedenfalls wurde das Osmanische Reich spätestens seit den spektakulären Siegen des Prinzen Eugen von Savoyen kaum noch empfunden. Seine beiden letzten »Türkenkriege« an der Seite Russlands führte Habsburg allein aus bündnispolitischem Kalkül und wenigstens der erste von ihnen gilt inzwischen sogar als der »vergessene Krieg«.4
Spätestens seit dem Wiener Kongress von 1814 / 15 war die Politik des Staatskanzlers Metternich sogar bestrebt, den ehemaligen »Erbfeind« im Südosten als Mitgaranten von Ruhe und Stabilität in Europa zu erhalten und dies sogar auf Kosten der Freiheit der christlichen Balkanvölker.
Lange vorher schon hatten Frankreich, Schweden und zuletzt auch Preußen im Osmanischen Reich einen wichtigen Alliierten bei der Durchsetzung ihrer antihabsburgischen Machtambitionen gesehen. Frankreichs Rolle als beständiger Alliierter der »Türken« und »ausdauernder Erbfeind« der Deutschen seit den Zeiten der Valois müsste im Übrigen nach Wehlers Logik auch unseren westlichen Nachbarn dauerhaft aus der europäischen Staatengemeinschaft ausschließen.5
Die auf Zar Nikolaus I. zurückgehende Metapher vom »kranken Mann am Bosporus« ist also nicht nur jünger, sondern tatsächlich für das europäische Gedächtnis auch prägender als der Rückblick auf die ältere Epoche der Türkenkriege. Sie kann zudem beanspruchen, tatsächlich eine kollektive europäische Erinnerung an die »Türkenzeit« zu sein. War doch im 19. Jahrhundert in allen Metropolen von London bis St. Petersburg die Wahrnehmung von Schwäche, Zerfall und Rückständigkeit der einstigen Supermacht annähernd identisch, selbst wenn diese Entwicklung je nach Interessenlage der verschiedenen Höfe Sorge oder Begehrlichkeit auslöste.
Falsch ist Wehlers Bild aber auch in einer zweiten Hinsicht. Das Osmanische Reich war nie nur ein türkischer Staat. Tatsächlich bestimmten über weite Phasen seiner Geschichte nicht die traditionellen türkischen Familien die Politik des Riesenreiches, sondern Christen, die als freiwillige Renegaten, als ehemalige Gefangene oder als Opfer der berüchtigten Knabenlese in den Dienst der Sultane gelangt waren. Oft zu höchsten Ämtern aufgestiegen, befürworteten sie als neue »Türken« und getrieben vom Eifer des Konvertierten nicht selten sogar einen deutlich aggressiveren Kurs gegenüber der christlichen Staatenwelt. Ohne die riesige Zahl der zum Islam konvertierten Überläufer aus Italien, Frankreich und dem Reich, aus Dalmatien, Bosnien und Albanien mit ihren Kenntnissen und Fertigkeiten im Schiffbau, Geschützwesen und in der Architektur hätte es nie einen osmanischen Staat mit seiner gewaltigen Machtfülle gegeben. Die Erinnerung an diese ruhmreiche Epoche der großen Sultane ist heute fraglos Teil der modernen türkischen Identität und wird von Staatspräsident Recep Erdoğan auch nach Kräften befördert, doch sie gehört den Türken nicht allein. Das Reich der Sultane war immer auch ein europäischer Staat, dessen Existenz lange auf dem Einverständnis und der Loyalität seiner christlichen Bewohner beruhte. Ungarn hätte gewiss seine Unabhängigkeit von den »Türken« früher und wohl auch aus eigener Kraft wiedergewonnen, wenn sich seine Magnaten nur so oft gegen den Sultan erhoben hätten, wie sie es tatsächlich gegen den Kaiser taten.
Zuletzt muss auch Wehlers dritte Behauptung von einem 450 Jahre langen unablässigen Kriegszustand zwischen lateinischer Christenheit und Osmanischem Reich kritisch gesehen werden. Die habsburgischen Kaiser kämpften mit den Sultanen ausschließlich um den Besitz des Königreiches Ungarn, das die Osmanen zwischen 1521 und 1542 überhaupt nur sehr zögerlich in Besitz genommen hatten. Dass der »Türke« außerdem auch das Reich und die Christenheit dauerhaft mit Vernichtung bedroht habe, war dagegen ein beliebter Propagandatopos von Kaiser und Papst, der dank der beiden Türkenbelagerungen von Wien allerdings unschwer am Leben gehalten werden konnte. Während der erste Vorstoß im Jahre 1529 spontan und schlecht vorbereitet eher als Strafaktion Sultan Süleymans gegen den »unbotmäßigen« Ferdinand gesehen werden muss, dürfte die zweite von Kara Mustafa aus Übermut begonnene Türkenbelagerung von 1683 bereits die Kräfte des Riesenreiches überfordert haben. Der rasche Zusammenbruch der osmanischen Militärmacht nach dem überstürzten Rückzug des Großwesirs spricht klar für diese Annahme.
Aus diesen Befunden aber nun eine Nachbarschaft zu konstruieren, wie es einige dem Islam offenbar nahestehende Forscher inzwischen tun, erscheint ebenso abwegig wie Wehlers Behauptungen. Zwar herrschte zwischen 1529 und 1790 nur in 37 von 261 Jahren wirklicher Kriegszustand zwischen Habsburg und der »Hohen Pforte«. In den langen Unterbrechungen konnte Habsburg ungestört von den Heeren des Sultans im Reich den Dreißigjährigen Krieg, den Spanischen Erbefolgekrieg und zuletzt auch noch den Siebenjährigen Krieg führen. Im letztgenannten Fall hatte sich die »Hohe Pforte« sogar ausdrücklich für neutral erklärt. Gleichwohl war für die entlang der Grenzen in Kroatien, Ungarn und Siebenbürgen lebenden Menschen der ständig geführte Kleinkrieg lokaler osmanischer Warlords mit seinen mutwilligen Zerstörungen und Menschenjagden mindestens ebenso belastend wie die wirklichen Waffengänge der Kaiser und Sultane. Er führte fraglos zu einer bis heute erkennbaren Verödung weiter Landstriche in Ungarn.
Die Existenz des Osmanischen Reiches bildete für die angrenzende Staatenwelt eine extreme Dauerbelastung, und die lokalen Beys mit ihren Raubscharen waren tatsächlich mehr Plage als Nachbar.
Eine ähnlich schlimme Plage war gewiss auch das bourbonische Frankreich für die westlichen Gebiete des Reiches. Doch das Land ließ nicht nur seine Heere wiederholt über den Rhein marschieren, es befruchtete immerhin auch mit seiner überreichen Kultur und Sprache die europäische Staatenwelt. Sogar bis an den fernen Hof der Zarin reisten damals Frankreichs Aufklärer.
Der kulturelle Beitrag der »Türken« blieb dagegen auffällig blass, und der türkische Historiker Halil İnalcık musste doch arg konstruieren, um einen Beitrag des Osmanischen Reiches zur europäischen Zivilisation und Staatenwelt wenigstens in Ansätzen anzudeuten.6 Ohne die »Hohe Pforte« sei, so das Argument, der Aufstieg Frankreichs und des Protestantismus in Europa überhaupt nicht möglich gewesen.
Tatsächlich muss man sogar von einer parasitären Existenz des osmanischen Staates sprechen, der jahrhundertelang in kaum vorstellbarem Umfang Güter, Menschen und Fachwissen aus den christlichen Ländern ansaugte, ohne dafür Bedeutsames zurückzugeben. Jenseits aller demonstrativen Prachtentfaltung der Sultane war das Leben in ihrem Reich für Europäer erstaunlich bescheiden. Die Mahlzeiten waren einfach und karg, allenfalls für Soldaten geeignet, wie europäische Diplomaten betonten, und selbst öffentliche Bauwerke nach dem Zeugnis des kaiserlichen Gesandten Ogier Ghiselin de Busbecq schmucklos und streng auf ihren Zweck beschränkt. Ein Interesse an verfeinerten Gegenständen des täglichen Gebrauchs, wie sie in den Manufakturen der Europäer entstanden, existierte offenbar nicht, und die meisten Artefakte wurden als Spielerei abgetan. So ließ etwa Sultan Murad III. die ihm von den europäischen Gesandtschaften regelmäßig als Geschenk überbrachten Uhren entweder verkaufen oder in einer großen Kammer seines Palastes einfach verrotten.7 Selbst feine goldene und silberne Platten oder Vasen schmolz man gewöhnlich ein, um daraus das dringend benötigte Münzgeld zu prägen. Das Osmanische Reich besaß keine erwähnenswerte gewerbliche Produktion hochwertiger und exportfähiger Güter, mit denen sich das einseitige Bild hätte aufpolieren lassen. Nicht einmal die berühmte Krone, die Sultan Süleyman 1532 bei seinem pompösen Einzug in Belgrad hinter sich hertragen ließ, hatten seine Untertanen fertigen können. Sie war von Kunstschmieden aus Venedig im Auftrag des Großwesirs angefertigt worden. Sieht man vom Kaffee, einigen Lehnwörtern und schließlich den osmanischen Rossschweifen ab, die sich heute noch in den Schellenbäumen der Militärkapellen wiederfinden, fällt die interkulturelle Bilanz zwischen Europa und dem Osmanischen Reich recht mager aus.
Trotz langer Phasen offiziell friedlicher Koexistenz waren die Osmanen keine Nachbarn und lange auch nicht Teil der europäischen Staatenwelt.
Dieser nüchterne Befund spräche jedoch nicht unbedingt gegen einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union, wenn erstens geklärt wäre, was die Brüsseler Staatengemeinschaft eigentlich sein will, und zweitens die Türkei (in einer Zeit nach Erdoğan) zu demokratischen Verhältnissen zurückkehren würde, unter denen auch das Kurdenproblem gelöst und die Geschichte des armenischen Völkermordes ohne das ewige to quoque an die Adresse Europas endlich angemessen aufgearbeitet werden könnte.