Das Gebiet von Nordmexiko bis Mittel- bzw. Zentralamerika4 ist in vorspanischer Zeit von einer Vielzahl von Hochkulturen geprägt, die man als mesoamerikanische Kulturen bezeichnet. Die Maya-Kultur ist neben der der Azteken die bekannteste unter ihnen. Den Fachausdruck Mesoamerika führte der Altamerikanist Paul Kirchhoff 19435 ein, um damit – unabhängig von den modernen Staatsgrenzen – das Ausbreitungsgebiet bzw. Kulturareal der dortigen vorspanischen Hochkulturen zu bezeichnen. Die Grenze Mesoamerikas verlief in Nordmexiko auf der Höhe des nördlichen Wendekreises, ungefähr in Übereinstimmung mit dem Verlauf der Flüsse Río Pánuco und Río Lerma. Im Süden gehörten die heutigen Staaten Guatemala, Belize, El Salvador und Honduras, zu gewissen Zeiten Nicaragua und Costa Rica zu Mesoamerika. D. h. die Grenzen Mesoamerikas veränderten sich und waren jeweils von den einzelnen Kulturen und ihren Zeiten abhängig – ähnlich wie die Ausbreitung und die Grenzen des Römischen Reiches sich mit den Zeiten veränderten. Nach dem Vorbild der griechischen Antike ordnet man die mesoamerikanischen Kulturen in eine archaische, präklassische (vorklassische), klassische und postklassische (nachklassische) Zeit ein.
Übersichtskarte über die mesoamerikanischen Kulturen (einschließlich der Maya)
Hier ein kurzer Überblick über die mesoamerikanischen Kulturen6, die für die Maya als Vorgänger und Nachbarkulturen von entscheidender Bedeutung waren. Die erste nachweisbare Hochkultur Mesoamerikas ist die der Olmeken in der präklassischen Zeit (1800–250 v. Chr.) mit ihren Zeremonialzentren San Lorenzo und La Venta (in den heutigen mexikanischen Bundesstaaten Veracruz und Tabasco). Die klassische Zeit (250–950 n. Chr.) wird durch die Blütezeit von Teotihuacán geprägt, einer Megastadt mit riesigem Zeremonialzentrum im Hochtal von Mexiko (nordöstlich von Mexiko-Stadt). Die postklassische Zeit (950 n. Chr. bis zur Ankunft der Spanier 1519) ist im Hochtal von Mexiko zunächst durch die Tolteken und ihre Stadt Tula (nordwestlich von Mexiko-Stadt; 950–1150 n. Chr.) gekennzeichnet. 1325 gründen die Azteken ihre Hauptstadt Tenochtitlán (heute Mexiko-Stadt), die 1521 von den Spaniern erobert wurde. Neben diesen Hochkulturen in Zentralmexiko sind als weitere »Nachbarkulturen« der Maya die der Zapoteken und Mixteken in Oaxaca mit ihrem Zentren Monte Albán und Mitla zu nennen. Alle mesoamerikanischen Kulturen zeichnen sich durch Gemeinsamkeiten aus, die Paul Kirchhoff erstmals zusammenstellt hat. Er betonte dabei folgende gemeinsamen Merkmale:
· Hierarchisch in Adel, Priester, Krieger, Handwerker und Bauern gegliederte Gesellschaften;
· Kultzentren und Stadtanlagen mit Tempelpyramiden, Palästen und Ballspielplätzen;
· hochentwickelte Kunstwerke wie Keramik, Skulpturen oder Malereien;
· Schrift-, Zahlen- und Kalendersysteme
Darüber hinaus lassen sich noch weitere Gemeinsamkeiten der mesoamerikanischen Kulturen feststellen. So basierten sie alle auf einer hochentwickelten Landwirtschaft mit Bewässerungstechniken. Die Grundnahrungsmittel waren und sind bis heute das »Dreigestirn« Mais, Bohnen und Kürbis. Man verwendete keine Werkzeuge aus Eisen. Nur mit Steinwerkzeugen errichtete man die monumentalen Pyramidenbauten. Zug- und Reittiere sowie Pflug und Töpferscheibe kannte man nicht.
Angesichts der kulturellen Leistungen in Mesoamerika stellt sich immer wieder die Frage, ob es sich dabei um eigene, autochthone Leistungen handelt oder ob die mesoamerikanischen Kulturen ihren Ursprung den Kulturen der Alten Welt verdanken oder zumindest von ihnen beeinflusst wurden. In der Wissenschaft stehen sich als Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der neuweltlichen Kulturen zwei Theorien gegenüber: Die Diffusions- und die Konvergenztheorie. Die Diffusionstheorie besagt, dass gleiche bzw. ähnliche Kulturleistungen und -merkmale einen einzigen, gemeinsamen Ursprung haben, von dem aus sie sich verbreitet haben. Sie vertritt daher auch die Ansicht, dass die Leistungen der mesoamerikanischen Kulturen aus der Alten Welt stammen. Nach der Konvergenztheorie dagegen beruhen ähnliche Kulturphänomene nicht auf einem gemeinsamen Ursprung, sondern sind an verschiedenen Orten unabhängig voneinander mehrmals entstanden. Danach haben sich die mesoamerikanischen Kulturen ohne Einfluss der Alten Welt entwickelt.
Auf Ähnlichkeiten zwischen der Alten Welt und speziell der Maya-Kultur wurde zum Beispiel in Hinblick auf das Kalender- und Zahlensystem hingewiesen: Sowohl die alten Inder als auch die vorspanischen Maya rechneten mit der Zahl 0. Und die Kalendersysteme beider Kulturen rechneten mit großen Zeit- bzw. Weltepochen. Sogar der Beginn der Zeitrechnung ist ungefähr gleich: für die Inder ist es das Jahr 3102 v. Chr., für die Maya 3114 v. Chr. Eine Parallele zum alten China ist die besondere Verehrung des Drachen. Die »Gefiederte Schlange« – oft einem Drachen verblüffend ähnlich dargestellt – ist eine der wichtigsten Gottheiten in den mesoamerikanischen Kulturen. Ferner glaubte man, in einigen Skulpturen der Olmeken und Maya Ähnlichkeiten zu asiatischen Buddhadarstellungen feststellen zu können. Und sowohl in China als auch bei den Maya galt Jade als wertvoll und wurde häufig für Schmuck u. a. verwendet.
Generell ist aber von einem autochthonen Ursprung der mesoamerikanischen Kulturen auszugehen. Denn bisher hat man keinen einzigen archäologischen Fund vorliegen, der ganz eindeutig aus der Alten Welt stammt. Somit fehlen bislang »handfeste« Beweise für einen Einfluss der Alten auf die Neue Welt. Selbst wenn es solche Einflüsse vielleicht gegeben haben mag, dann waren sie nicht von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der mesoamerikanischen Kulturen. Als Teil Mesoamerikas standen die Maya immer wieder mit den anderen mesoamerikanischen Kulturen (vor allen denen von Zentralmexiko) in Kontakt und erhielten von ihnen dementsprechend Impulse. In der präklassischen Zeit waren es die Olmeken, in der klassischen Zeit die Stadt Teotihuacán und in der postklassischen Zeit Tula, die Kontakte mit der Maya-Kultur hatten und sie beeinflussten. Diese werden im Folgenden kurz dargestellt.
Der Beginn der Maya-Kultur in der präklassischen Zeit ist eng mit der Kultur der Olmeken verbunden. Diese beeinflusste als erste Hochkultur in Mesoamerika überhaupt nicht nur die Maya, sondern auch alle anderen mesoamerikanischen Kulturen wie Teotihuacán, Zapoteken, Mixteken, Tolteken und Azteken. Denn schon in der olmekischen Kultur sind alle typischen Merkmale der mesoamerikanischen Hochkulturen nachweisbar, wie Stadtanlagen mit Tempeln, Schrift, Zahlen- und Kalendersystem oder das Ballspiel. Wer die Olmeken bzw. die Träger der olmekischen Kultur waren, ist nicht bekannt. »Olmeken« ist kein Eigenname einer Ethnie, sondern eine Benennung durch Archäologen mit einem Nahuatl-Wort, das »Leute aus dem Kautschukland« bedeutet.
Die olmekische Kultur ist durch zwei Phasen und zwei Orte gekennzeichnet: San Lorenzo im mexikanischen Bundesstaat Veracruz (1500–1150 v. Chr.) und La Venta im mexikanischen Bundesstaat Tabasco (1000–475 v. Chr.). In San Lorenzo bestand ein Zeremonialplatz mit zwei großen, mit Erde aufgefüllten Pyramiden sowie vielen Steinskulpturen, unter anderem den als Markenzeichen dieser Kultur geltenden riesigen Köpfen. Die Keramik der Olmeken war in weiten Teilen Mesoamerikas verbreitet, was auf einen intensiven Handel hindeutet. Das Ende von San Lorenzo kam plötzlich, wahrscheinlich durch Eroberung von außen. Ebenso wurde La Venta zerstört, erholte sich dann aber wieder und wurde zum zweiten Zentrum der Olmeken-Kultur. Das Zeremonialzentrum in La Venta glich dem von San Lorenzo. Kennzeichnend war eine große, 32 m hohe Pyramide mit rechteckigen Grundriss. Möglicherweise gehörte zudem ein Ballspielplatz zum Zentrum.
Kennzeichnend für die Olmekenkultur sind die vielen Steinskulpturen, oft in monumentaler Größe. In San Lorenzo fand man acht der riesigen, individuell gestalteten Köpfe aus Basalt. Diese sind ungefähr einen Meter hoch und bis zu 20 Tonnen schwer. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um Darstellungen von Herrschern. Viele kleine, aus Jade und Serpentin geschnitzte Figuren, die man in La Venta fand, zeigen ein sogenanntes baby-face, bei dem sich die Züge eines Babys und eines Jaguars vermischen. Ferner gibt es Skulpturen, die wahrscheinlich einen Würdenträger (Herrscher oder Priester) darstellen. Ein anderer besonderer Typ von Steinmonumenten sind die großen, tischförmigen Altäre. An einer Längsseite befindet sich jeweils ein Relief mit der Darstellung eines Herrschers bzw. Würdenträgers im Schneidersitz, oft mit einem Kind oder »Jaguar-Baby« im Arm oder mit einem Kriegsgefangenen. In der Religion spielten der Jaguar und der Werjaguar (ein Wesen halb Mensch, halb Jaguar) eine wichtige Rolle.
Der Einfluss der Olmeken reichte sehr weit: Im Nordwesten bis Puebla im Hochtal von Mexiko, Guerrero, Morelos und Oaxaca und im Süden bis Guatemala und El Salvador. Dies lässt sich anhand der Verbreitung von Handelsobjekten und des Kunststiles belegen. So gab es im Kerngebiet der Olmeken kein Obsidian. Es musste aus dem Hochland von Mexiko und aus Guatemala importiert werden. Aus dem Obsidian wurden Werkzeuge (Messer) und Figuren hergestellt. Die Expansion der Olmeken erfolgte vermutlich eher über Handelsbeziehungen als über militärische Eroberungszüge. Bezüglich der Beziehung zwischen Olmeken- und Maya-Kultur ist noch nicht alles geklärt. So ist die Frage, ob es nur einen einseitigen Einfluss der Olmeken auf die Maya-Kultur oder eventuell auch eine gegenseitige Beeinflussung gab, bislang unbeantwortet. Bei diversen archäologischen Funden ist es im Einzelfall nicht immer einfach oder gar unmöglich, sie konkret der einen oder der anderen Kultur zuzuordnen.
Ein Verbindungsglied zwischen Olmeken und Maya ist Izapa an der Pazifikküste des mexikanischen Bundesstaates Chiapas – ein Knotenpunkt des damaligen »internationalen« Handels. Izapas Besiedlungsgeschichte reicht von ca. 1900 v. Chr. bis 1000 n. Chr., die Blütezeit ist von 850 bis 100 v. Chr. anzusetzen. Berühmt ist die Stadt vor allem wegen ihrer 89 Stelen, die sich durch einen eigenen Stil auszeichnen: Sie zeigen Darstellungen von Gottheiten oder Herrschern in rituellen Szenen zwischen den Bereichen Himmel, Erde und Unterwelt. Diese Stelen weisen keine Hieroglypheninschriften oder Datumsangaben auf – im Unterschied zu den Stelen der späteren Epi-Olmeken (den Nachfolgern der Olmeken) und der Maya. Vielleicht hat man ganz bewusst auf Schriftzeichen verzichtet, da Izapa ein Schnittpunkt zwischen verschiedensprachigen Ethnien und Kulturen war. Zudem fanden sich 61 Altäre, meist in Form von Fröschen. Diese Stelen und Altäre standen in einem engen Zusammenhang, sodass man von einem Stele-Altar-Komplex spricht, der ebenso für die spätere klassische Maya-Zeit kennzeichnend ist. Einige Wissenschaftler vermuten, dass der 260-Kalender (Tzolk’in) hier entstanden und keine Erfindung der Maya ist.
Teotihuacán im Hochtal von Mexiko, ca. 50 km von Mexiko-Stadt entfernt, entwickelte sich in der Zeit der Klassik zu einer Megastadt, deren Handelsbeziehungen und Einfluss bis ins Maya-Gebiet reichte. Teotihuacán war religiöses Wallfahrtszentrum und Handelsmetropole in einem – größer als das antike Rom und die meisten europäischen Städte dieser Zeit.
Wer genau die Träger der Kultur von Teotihuacán waren, weiß man nicht. Die Anfänge eines Zeremonialzentrums sind in der Zeit zwischen 1 v. Chr. und 150 n. Chr. anzusetzen, die Blütezeit von 250–550 n. Chr. In der Zeit zwischen 550 und 650 n. Chr. zerstörte ein Brand das Stadtzentrum und beendete so diese Kultur.
Der schachbrettmusterartige Grundriss der Stadt Teotihuacán ist durch zwei Hauptachsen in vier Bezirke unterteilt. Eine dieser beiden Achsen ist die »Straße der Toten«, die das Zeremonialzentrum von Teotihuacán prägt. Diese Straße, die 2,5 km lang und 40 bis 50 m breit ist, verläuft in Nordsüd-Richtung. Rechts und links von ihr liegen – neben der riesigen »Pyramide der Sonne« und der etwas kleineren »Pyramide des Mondes« – eine Unzahl kleinerer Pyramiden, auf denen sich früher Tempel befanden. Die Mondpyramide befindet sich am südlichen Ende der Straße der Toten, die Sonnenpyramide, etwas zurückversetzt, an der Westseite dieser Straße. Die Straße der Toten endet nördlich im Zentrum mit dem Komplex der sogenannten Zitadelle und des Quetzalcoatl-Tempels. Bei der Zitadelle handelt es sich wahrscheinlich um den Herrscherpalast. Dahinter verlief eine zweite große Straße in Ostwestrichtung, sodass die Zitadelle und der Quetzalcoatl-Tempel sich an der Kreuzung der beiden Straßen und damit im Zentrum der Stadt befanden. Der Quetzalcoatl-Tempel wurde von den Archäologen nach seinem Fassadenschmuck benannt: Dieser zeigt abwechselnd vollplastische Köpfe der Gefiederten Schlange (Quetzalcoatl) mit federartigem Kopfputz und des Regengottes mit brillenartigen Augen. Dies ist die erste Darstellung der Gefiederten Schlange, die dann als Quetzalcoatl in Tula und als K’uk’ulkan in Chichén Itzá große Verehrung erlebte. Auf diesen beiden großen Pyramiden, der Sonnen- und der Mondpyramide, befand sich jeweils ein Tempel. Die Sonnenpyramide, 65 m hoch, hat eine Grundfläche von 225 m2 und einen Inhalt von 1 Mio. m3 (halb so viel an Rauminhalt wie die Cheopspyramide in Ägypten). Die Mondpyramide ist nicht ganz so groß wie die Sonnenpyramide. Welchen Gottheiten die beiden Pyramiden geweiht waren, ist unbekannt. Im Inneren der Mondpyramide wurden mehrere Opfergräber gefunden. Interessant ist das Opfergrab 5: Hier wurden drei Männer im Alter zwischen vierzig und siebzig Jahren im Schneidersitz nach Westen blickend bestattet, eine Bestattungsform, die nur sehr ranghohen Personen vorbehalten war. In Teotihuacán ist es das einzige Beispiel dieser Bestattungsform. Zwei der Männer trugen als Brustschmuck Pektorale, wie sie bei hohen Würdenträgern der Maya üblich waren, der Dritte trug zwei große, scheibenförmige Ohrringe. Nicht nur die Pektorale, sondern auch die Bestattungsform im Schneidersitz weisen auf das Maya-Gebiet hin. Das Grab wäre somit ein Beleg für die Kontakte und Handelsbeziehungen zwischen Teotihuacán und den Maya. Bei den Toten handelt es sich dementsprechend vermutlich um Würdenträger, Botschafter, Krieger oder vielleicht Händler aus dem Maya-Gebiet.
Die Grundlage der Kultur von Teotihuacán war neben einem intensiven Feldbau mit künstlicher Bewässerung vor allem ein »weltweiter« Handel weit nach Norden (bis Sinaloa), bis nach Oaxaca im Westen, zur Golfküste im Osten und nach Süden bis ins Maya-Gebiet hinein. Trotz des oben erwähnten intensiven Feldbaus wurden große Mengen von Lebensmitteln aufgrund der hohen Bevölkerungszahl von außerhalb eingeführt, ebenso Keramik und Luxusartikel (Türkissteine, Jade, Gold, Federn exotischer Vögel, Kakao etc.). Andererseits exportierte Teotihuacán zum Beispiel Keramikwaren nach Oaxaca, Veracruz und ins Maya-Gebiet bis Guatemala. Ein wichtiger Exportartikel war Obsidian.
Zwischen Teotihuacán und dem Maya-Gebiet bestanden dementsprechend zunächst Handelskontakte, denn die exotischen Güter wie Jade, Kakao oder Vogelfedern aus dem Maya-Land waren in Teotihuacán begehrt, und umgekehrt war grünes Obsidian bei den Maya gefragt. Später kam es allerdings zu einer Invasion durch Teotihuacán in Tikal und anderen Maya-Städten.7
Tula im Hochtal von Mexiko, ca. 90 km nördlich von Mexico-Stadt, war die Hauptstadt der Tolteken in der Frühen Postklassik. Über die Tolteken sind wir durch aztekische Berichte und Mythen informiert. Die Stadt Tula selbst bestand aus drei zeremonialen Komplexen: Tula Chico, Tula Grande und El Corral. Das bekannteste Gebäude von Tula Grande ist der Tempel des Quetzalcoatl, auch Tempel des Tlahuizcalpantecuhtli (»Morgenstern« bzw. »Venusstern«; eine Erscheinungsform des Quetzalcoatl) oder Tempel B genannt. Er ist schon von Weitem durch die auf der Pyramidenplattform stehenden Säulen in Gestalt von Kriegern erkennbar. Die Krieger stellen wahrscheinlich Quetzalcoatl dar, und zwar in seiner Erscheinung als Tlahuizcalpantecuhtli, dem Morgenstern. Sie tragen jeweils einen Panzer aus Baumwolle, einen Helm aus Quetzalfedern, einen Schild auf dem Rücken und ein Schmetterlingswappen oder -schild auf der Brust sowie Waffen (Pfeile und Atlatl, die Speerschleuder). Man nennt die Krieger-Figuren auch Atlanten, da man davon ausgeht, dass sie als eine Art Säulen das Dach des Tempels getragen haben. Die Basis der Pyramide ist mit Reliefplatten versehen, die abwechselnd Jaguare und Adler zeigen, die Herzen verschlingen. Neben dem Tempel des Quetzalcoatl befinden sich der »abgebrannte Palast« (Palacio Quemado) und der »Haupttempel«, von dem heute nur noch die vordere Seite erhalten ist. Vor den toltekischen Tempeln waren oft Chak Mo’ol-Figuren aufgestellt: mit angewinkelten Beinen auf dem Rücken liegende Kriegerfiguren, den Kopf zur Seite gedreht und mit den Händen auf dem Bauch eine Schale haltend. Wahrscheinlich hatten sie die Funktion von Altären, in die Schale wurde das Opfer gelegt. Schließlich sind in Tula Grande noch zwei Ballspielplätze zu erwähnen.
Man vermutet, dass die Kultur der Tolteken durch einen kriegerischen Aspekt gekennzeichnet war, denn die Städte sind befestigt oder auf Bergen angelegt und es werden sehr häufig Krieger dargestellt. Notwendige Nahrungsmittel und Luxusartikel, die man selbst nicht besaß bzw. herstellte, erwarb man durch Handel oder durch mit Waffengewalt erzwungene Tribute. Der Handel der Tolteken – vor allem Export von Obsidian und Import von Keramik – reichte weit nach Westen und Norden sowie bis ins Maya-Gebiet hinein. Nicht zufällig gelten daher Tula und Chichén Itzá als Zwillingsstädte: Beide Städte sind in gleicher Art und Weise geplant und gebaut. Außerdem finden sich in Chichén Itzá toltekische Architekturmerkmale: Chak Mo’ol-Figuren, Säulen in Form von Schlangen mit Schlangenköpfen an der Basis, Krieger- und Jaguarfiguren, die als »Bannerträger« für Papierfahnen und als Trägerfiguren (»Karyatiden«) von Altären dienten. was auf eine mehr oder weniger intensive Beziehung schließen lässt. Wie diese Beziehungen konkret aussahen, ist bis heute nicht geklärt.
Durch den Mythos bekannt und wahrscheinlich eine historische Person von Tula ist der Herrscher Ce acatl topiltzin (»Unser Herr Eins Rohr«), der gleichzeitig Priester des Gottes Quetzalcoatl war und als solcher auch den Namen Quetzalcoatl trug. Angeblich lebte er von 947 bis 999 n. Chr. Der Mythos erzählt vom Ende der Herrschaft dieses Quetzalcoatls und der Tolteken: Von seinen Kontrahenten ließ er sich verleiten, Alkohol zu trinken und war deshalb als Herrscher und Priester nicht mehr tragfähig. So verließ er die Stadt und fuhr mit einem Schiff übers Meer. Hier stellt sich die Frage, ob der Mythos Bezug nimmt auf die historische Auswanderung von Einwohnern Tulas nach Chichén Itzá. Damit könnte die Erwähnung von Diego de Landa in seinem Bericht aus Yukatan in Verbindung stehen, dass ihm die Indios in Yukatan von drei Häuptlingen erzählt hätten. Diese seien mit ihren Leuten aus dem Westen nach Chichén Itzá gekommen. »Sie waren große Verehrer ihres Gottes, und darum errichteten sie viele Gebäude, die sehr schön sind, insbesondere eines, das größte8 […] Diese Häuptlinge, erzählen sie, hätten ohne Frauen und überaus ehrsam gelebt, und solange sie so lebten, hätten alle sie immer hochgeachtet und ihnen gehorcht.«9 Aber nach dem Verschwinden oder Tod eines dieser Häuptlinge begingen die Nachfolger solche »Verfehlungen«, sodass das Volk sie getötet und den Ort zerstört und verlassen habe.
Das etwa 350 000 km2 große Kulturareal der Maya umfasst den südlichen/südöstlichen Teil von Mexiko (mit den Bundesstaaten Tabasco, Campeche, Yukatan, Quintana Roo und Chiapas), alle Gebiete der heutigen Staaten Guatemala und Belize, El Salvador sowie den westlichen Teil von Honduras. Geografisch gesehen gehört das Maya-Gebiet zum nordamerikanischen Kontinent, wobei der größte Teil zu der als Zentral- bzw. Mittelamerika bezeichneten Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika gehört. Dabei bildet der Isthmus von Tehuantepec die nördliche Grenze. Aufgrund seiner Lage südlich des Wendekreises des Krebses ist das Maya-Gebiet den Tropen zuzuordnen. Geografisch unterscheidet man die pazifische Küstenregion, das durch Gebirgsketten geprägte Hochland und das flache, durch Regenwald sowie – im Fall von Yukatan durch Savannenlandschaft – gekennzeichnete Tiefland. Diese Einteilung entspricht weitgehend den Kulturarealen der Maya. Man spricht auch von einer Südregion (pazifische Küstenebene und Hochland), einer Zentralregion (südliches Tiefland) und einer Nordregion (nördliches Tiefland bzw. Yukatan). Diese Kulturareale sollen im Folgenden geologisch näher beschrieben werden.
Die Südregion ist das Hochland, das vom mexikanischen Bundesstaat Chiapas über Guatemala bis El Salvador reicht. Dieses Hochland besteht aus mehreren von Nordwesten nach Südosten verlaufenden Gebirgsketten wie der Sierra de los Cuchumatanes im Norden und der Sierra Madre de Chiapas im Süden mit größtenteils noch aktiven Vulkanen. Der Vulkan Tajumulco in der Sierra Madre ist mit 4220 m Höhe der höchste Vulkan Mittelamerikas, der Vulkan Tacaná erreicht 4093 m. Im Hochland befinden sich die Quellen der drei großen Flüsse des Maya-Gebietes: des Río Grijalva, des Río Usumacinta und des Río Motagua. Die Südregion ist klimatisch der Tierra Templada (gemäßigte Zone) und Tierra Fría (kalte Zone) zu zuordnen. Die Tierra Templada umfasst das Gebiet in einer Höhe von 800 bis 1800 m, mit vorwiegend aus Laubbäumen bestehenden Mischwäldern. Hier erreichen die Tagestemperaturen maximal 30 Grad und die Nachttemperaturen liegen unter 20 Grad. Die Tierra Fría (kalte Zone) liegt über 1800 m Höhe und weist eine den Alpen ähnliche Vegetation mit Mischwäldern aus Nadel- und Laubbäumen sowie Graslandschaft auf. Die durchschnittliche Tagestemperatur liegt bei 15 bis 25 Grad und die Nachttemperaturen können gelegentlich auch um den Gefrierpunkt liegen. Der Übergang von Hoch- zum Tiefland ist durch einen – aufgrund der langen Regenzeit tropischen – Bergwald gekennzeichnet.