WELTBILD UND RELIGION

Die Kultur der Maya wurde entscheidend von der Religion geprägt. Religion war ein das gesamte Alltagsleben bestimmender Faktor – nicht wie in unserer modernen Welt, in der die Religion letztlich zu einer »Nebensache« im privaten Bereich degradiert ist. So sahen die Maya Gesellschaft, Politik, Kunst, Schrift und Kalenderwissenschaft unter religiösen Aspekten bzw. im religiösen Kontext. Im Weltbild der Maya wurden sehr viel mehr Phänomene des Lebensraumes bzw. der Umwelt als numinos bzw. heilig oder göttlich (k’uh) betrachtet als in unserem: Nicht nur Tempel und Kultanlagen, sondern zum Beispiel auch Berge, Seen, Flüsse, bestimmte Bäume und Kunstwerke galten als heilig. Uns profan erscheinende Handlungen wie Aussaat oder Ernte waren mit religiösen Ritualen verbunden.

Die Quellen zu dem, was wir über die Religion der Maya wissen, sind zum einen die archäologischen Zeugnisse wie Tempel, Grabbauten, Altäre, Stelen, Götterdarstellungen auf Reliefs oder als Tonfiguren, sodann Kultgeräte und Opfer- und Grabbeigaben wie zum Beispiel Keramikgefäße oder Schmuck. Besonders zu erwähnen sind die Wand- und Keramikmalerei sowie schließlich die schriftlichen Zeugnisse wie die Maya-Codices, das Popol Vuh der K’iche’-Maya, die Chilam-Balam-Bücher aus Yukatan und der Bericht aus Yukatan des spanischen Missionars Diego de Landa. Diese Quellen bieten uns allerdings im Vergleich zu anderen Hochkulturen nicht so viele konkrete und sichere Informationen, dass sie uns ein umfangreiches und verlässliches Bild von der Religion der Maya vermitteln. In vielen Fällen müssen wir uns eher mit Indizien als mit handfesten Beweisen begnügen. So kann der Mythos vom Maisgott – der vom Gott der Unterwelt gefangen gehalten, dann befreit wird und wieder auf die Erde zurückkehrt – nur aufgrund der Interpretation von Darstellungen auf Keramikmalerei oder Reliefs erschlossen werden. Einzig und allein der Schöpfungsmythos und der Mythos der Göttlichen Zwillinge sind in einer schriftlichen Quelle überliefert: dem Popol Vuh der K’iche’-Maya.

Die »Maismenschen« und ihre Welt

Aus Mais, dem Lebensstoff […] schufen sie, formten sie des Menschen Fleisch. […] So ging der Mais durch der Erzeuger Werk in die Schöpfung ein.133

Wie hier im Schöpfungsbericht des Popul Vuh beschrieben, erschufen die Götter den Menschen aus Mais. Dementsprechend spielt die Fruchtbarkeit des Maises eine zentrale Rolle nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Weltbild und in der Religion der Maya. Für die Maya der klassischen Zeit bestand der Kosmos aus 13 Himmeln, der Erde und neun Unterwelten. Die Erde stellten sich die Maya meist als eine auf dem Urwasser schwimmende Schildkröte vor, die Maya der Postklassik in Yukatan als eine runde Scheibe oder als den Rücken eines Krokodils. Auf ikonografischen Darstellungen ist der Himmel durch ein Himmelsband und den Gott Itzamnaaj in Vogelgestalt repräsentiert, das Urwasser durch ein Wasserband und Seerosen sowie die Unterwelt durch einen aufgesperrten Rachen.

Die Erde war durch die vier Himmelsrichtungen und die Erdmitte gekennzeichnet, denen jeweils eine Gottheit, eine Pflanze und/oder ein Tier, eine Farbe und ein bestimmtes Tageszeichen zugeordnet waren. Der Osten war durch die Farbe Rot markiert, der Süden durch gelb, der Westen durch schwarz, der Norden durch weiß und die Mitte der Erde durch grün. In der Mitte der Erde befand sich der kosmische Welten- bzw. Lebensbaum (wak chan = »aufgerichteter Himmel«), eine Weltenachse, die durch alle drei Bereiche Himmel, Erde und Unterwelt reichte: Der Baum war in der Unterwelt verwurzelt, sein Stamm befand sich auf der Erde und seine Krone reichte in die Himmelsregion. Dieser Weltenbaum wird meist als Kreuz dargestellt, manchmal verbunden mit einer Gottheit wie Chaak, aus dem der Baum sozusagen herauswächst. Das Kreuz war zudem das Symbol der Milchstraße, die – nach Vorstellung der Maya – eine Art Achse im Himmel darstellte. Für die Maya verkörperte der bis zu 75 m große und bis heute als heilig geltende Kapokbaum (Ceiba pentandra) diese Weltachse. Berge und Höhlen als das Innere der Berge waren besonders heilige Stätten.

Die Unterwelt (Xibalbá = »Ort der Angst«) war ein trostloser, dunkler und kalter Ort, der die Menschen nach dem Tod erwartete. Die oberste der neun Unterweltsbereiche bestand aus Wasser. Flüsse, Seen und Cenotes134 sowie Ballspielplätze galten als Eingänge zur Unterwelt. Das Popul Vuh beschreibt ausführlich die Unterwelt und die Prüfungen, die den Verstorbenen dort erwarten:

»Zahlreich waren die Züchtigungen in Xibalbá, vielerlei Prüfungen gab es da. Zuerst kam das Dunkle Haus, ganz schwarz war es drinnen. Das zweite Haus, Xuculim genannt, ist innen schrecklich kalt, und eisiger Wind fegt über die weißen Wände. Das dritte ist Jaguarhaus genannt, nur Jaguare sind da drinnen. Sie drängen sich, springen wie toll, fletschen die Zähne, diese im Haus eingeschlossenen Jaguare. Fledermaushaus heißt die vierte Marterstätte, nur Fledermäuse sind in dem Haus. Sie pfeifen, piepsen und flattern durch das Haus. […]. Das fünfte ist Messerhaus genannt. Da gab es einzig scharfe, spitze Obsidianmesser, mit Spitze und Schneide schimmerten sie, klirrend schlugen sie aneinander im Raum. Viele Marterstätten gibt es in Xibalbá […].«135

Diese Vorstellungen vom Kosmos bildeten das Ordnungsprinzip, an dem sich die Maya beim Bau von Städten, Gebäuden und sogar der Anlage von Feldern orientierten. So spiegelt ein Zeremonialzentrum die Erde als Mikrokosmos wider: Die Pyramide symbolisierte den heiligen Berg (witz) und der Tempel galt als heiliges Haus. Der Tempeleingang war der Eingang zum Berg, im Tempelinneren befand sich das Tor zum Jenseits. Tempel und Pyramide wurden gern mit dem Motiv des Witz-Monsters verziert und die Tempeleingänge häufig als Rachen des Witz-Monsters dargestellt. Die Stelen, die man im Tempelbezirk aufstellte, wurden »Baum-Steine« (te-tun) genannt. Der Platz mit den aufgestellten Stelen symbolisierte einen heiligen Wald. Tempel, Stelen und Keramikgefäße waren für die Maya mit einer besonderen, heiligen Kraft versehen. Zur Einweihung von Tempeln und anderen Denkmälern gehörte das Vergraben von Opfergaben, um ihnen Leben zu verleihen. Hatten sie als sakrale Objekte ausgedient, musste man sie rituell töten oder bestatten, um ihnen diese Kraft zu nehmen. Gebäude wurden zerstört, Stelen begraben und Keramik zerbrochen oder durchbohrt.

Die jetzige Welt wurde nach der Vorstellung der Maya am 08. September 3114 v. Chr. erschaffen bzw. nach ihrem Kalender am Tag 4 ajaw 8 kumk’u, an dem das Zeitalter des 13. Bak’tun vollendet wurde. Dieses Datum ist der Beginn der Kalenderrechnung des Maya-Kalenders gemäß der Langen Zählung. Als ersten Akt der Schöpfung stellten die Gottheiten drei Steine als Zentrum des Kosmos auf: Den »Jaguar-Bündel-Stein«, den »Schlangen-Bündel-Stein« und den »Wasser-Bündel-Stein«. Diese Steine entsprachen den drei Herdsteinen in der Mitte eines jeden Maya-Hauses, womit der Schöpfungsakt beim Hausbau symbolisch wiederholt wurde. Im Popol Vuh liegt uns eine ausführliche Version des Schöpfungsberichtes vor, der folgendermaßen beginnt:

»Das ist die Kunde: Da war das ruhende All. Kein Hauch. Kein Laut. Reglos und schweigend die Welt. Und des Himmels Raum war leer. […] Noch war der Erde Antlitz nicht enthüllt. Nur das sanfte Meer war da und des Himmels weiter Raum. […] Unbeweglich und stumm war die Nacht, die Finsternis. Aber im Wasser, umflossen vom Licht, waren diese: Tzakól, der Schöpfer; Bitól, der Former; der Sieger Tepëu und die Grünfederschlange Cucumátz; Alóm auch und Cahalóm, die Erzeuger.«136

Diese Götter erschaffen zusammen mit Huracán, dem »Herz des Himmels« zunächst die Erde und danach die Tiere. Aber da diese nicht sprechen und daher die Götter nicht loben und anbeten konnten, entschieden die Götter, dass sie als Nahrung dienen sollten und sprachen zu ihnen: »Das ist fortan euer Schicksal: euer Fleisch wird vertilgt werden. So sei es. So sei euer Schicksal.«137 Die Götter entschlossen sich zu einem zweiten Versuch. Sie schufen ein Menschenwesen aus Erde bzw. Lehm. »Wohl sprach es, aber es hatte keine Vernunft. Bald weichten es die Wasser auf, und es sank dahin.«138 Da es sich auch nicht vermehren konnte, zerstörten die Götter ihr Werk. Beim dritten Versuch erschufen die Götter Menschen aus Holz. Sie sahen zwar wie Menschen aus, aber es fehlte ihnen Seele und Verstand. Daher zerstörten die Götter auch diese. Ihre Nachkommen leben heute als Affen in den Wäldern. »Die Vollendung der Schöpfung« waren dann die Menschen aus Mais:

Die Götter »überlegten weiterhin die Schöpfung und Formung unserer ersten Mutter und unseres ersten Vaters. Aus gelbem und weißem Mais machten sie sein Fleisch. Aus Maisbrei machten sie die Arme und Beine des Menschen. Einzig Maismasse trat in das Fleisch unserer Ahnen, der vier Menschen, die geschaffen wurden.

Dies sind die Namen der vier ersten Menschen, die geschaffen und geformt wurden: Waldjaguar, der erste. Der zweite Nachtjaguar. Nachtherr war der dritte. Und der vierte Mondjaguar. Dies sind die Namen unserer Ahnen. […]. Es waren gute und schöne Menschen und ihre Körper war der des Mannes [sic!]. […]

Dann waren auch die Gattinnen da, wurden die Weiber geschaffen. Gott selbst machte sie mit aller Sorgfalt […]. Hier sind die Namen der Frauen: Himmelswasser nannte sich die Frau des Waldjaguars. Brunnenwasser nannte sich die Frau des Nachtjaguars. Kolibriwasser war die Frau des Nachtherren. Und Papageienwasser war der Name von Mondjaguars Frau. Das sind die Namen ihrer Frauen, welche die ersten Herrinnen waren.

Sie erzeugten die Menschen, die kleinen und die großen Stämme. Und sie waren der Ursprung von uns, dem Stamme Quiché.«139

Eine Vielfalt von Göttern: Das Pantheon

Sie hatten so viele Götzenbilder, dass ihnen nicht einmal diejenigen ihrer Götter genügten, vielmehr gab es kein vierfüßiges Tier und kein Gewürm, denen sie nicht Standbilder errichteten, und alle gestalteten sie in der Art ihrer Götter und Göttinnen.140

Wie schon Landa feststellte, bestand das Pantheon der Maya aus einer Vielzahl von Gottheiten. Die spanischen Missionare bezweifelten übrigens nicht die Existenz dieser Götter, aber ihre Göttlichkeit. Sie sahen sie als »Teufel« bzw. Teufelswerk an. Denn zu dieser Zeit war der Teufel im christlichen Glauben noch sehr präsent. Wie in den Hochkulturen der Alten Welt unterschieden sich die Götter aus Sicht der Maya von den Menschen durch ihre wesentlich größere Macht, waren aber ansonsten durchaus durch »menschliche« Eigenschaften wie Zorn oder Eifersucht geprägt. Dem Menschen konnten die Götter Heil, aber ebenso Verderben bringen. So konnte der Regengott Chaak Regen und Fruchtbarkeit für die Felder bescheren, aber er brachte auch Dürre oder Überschwemmungen. Daher mussten die Götter durch Opfergaben der Menschen günstig gestimmt werden, vor allem durch das Blutopfer.

Gottheiten konnten in Menschengestalt, in Tiergestalt oder in Mischgestalt auftreten. So erscheint der junge Maisgott in Menschengestalt, K’uk’ulkan als »gefiederte Schlange« oder Jun B’atz und Jun Chuwen, die Schutzpatrone der Schreiber, mit Affenkopf und Menschenkörper. Jede Gottheit ist an spezifischen Symbolen, an körperlichen Merkmalen, an Kleidung, Kopfbedeckung, Schmuck oder Farben erkennbar, und jeder Gottheit war ein bestimmter Bereich zugeordnet, für den sie »zuständig« war. Eine Gottheit konnte aber auch verschiedene Zuständigkeits- und Funktionsbereiche haben. Ein und dieselbe Gottheit konnte in verschiedenen Erscheinungsformen und Aspekten präsent sein: So wird Itzamnaaj, der höchste Gott, in menschlicher Gestalt oder als Vogel dargestellt. Der Regengott Chaak konnte in vierfacher Form erscheinen, wobei jeder Erscheinung eine Himmelsrichtung und eine Farbe zugeordnet war. Diese Vielfältigkeit der Gottheiten erschwert nicht selten die konkrete Zuordnung. Die Namen von Gottheiten auf den Inschriften werden häufig mit der Hieroglyphe k’uh (»heilig«, »numinos«, »göttlich«) eingeleitet.

Wie in vielen Religionen der Welt sind auch in Mesoamerika die Vorstellungen der Götterwelt abhängig von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen. Grundlage für das Leben und Überleben der Maya war und ist eine erfolgreiche Landwirtschaft, die durch Regen, Sonne und das Gedeihen bzw. die Fruchtbarkeit des Maises garantiert wird. Dementsprechend waren der Regengott Chaak, der Maisgott Jun Ye’ Nal und der Sonnengott K’inich Ajaw die wichtigsten Götter. Jede Maya-Stadt bzw. Herrscherdynastie hatte darüber hinaus bestimmte Gottheiten, die sie als Schutzpatrone besonders verehrte. So wissen wir von Palenque, dass dort eine Götterdreiheit als Schutzpatrone der Stadt und der Herrscherdynastie verehrt wurden, die von dem ersten Götterpaar Jun Ye Nal Chaak I. und Jemnal Jxik Matan abstammten: zum einen Jun Ye Nal Chaak II., außerdem K’awiil als zweiter und schließlich K’inich Ajaw als dritter Gott. Daneben hatten die einzelnen Herrscher ihre persönlichen Schutzgottheiten, nach denen sie sich benannten, zum Beispiel K’inich Ajaw, K’awiil oder Chaak. Im Folgenden sollen die Hauptgottheiten der Maya dargestellt werden:

Chaak ist eine der wichtigsten und ältesten Gottheiten des Maya-Pantheons. Die Karriere seiner Verehrung reicht von den Anfängen der Maya-Kultur bis in die Gegenwart. Als Regengott, als der »Beste« (yutzil), wie er oft bezeichnet wird, ist Chaak für die Bereiche Regen, Wasser, Fruchtbarkeit, Blitz und Sturm zuständig. Dargestellt wird er anthropomorph mit langer Nase, übergroßen Augen und einer Muschelschale als Ohrschmuck. Sein Attribut ist ein Beil, mit dem er den Panzer der als Schildkröte gedachten Erde aufbricht und dabei den Donner erzeugt. In der Zeit der Klassik erscheint Chaak zudem reptilienartig mit Reptiliengesicht. Besonders oft findet man Darstellungen der elefantenartigen Regengott-Maske an den Tempeln im Chenes-Stil in Yukatan, leicht zu erkennen an der langen, nach oben gebogenen, rüsselartigen Nase. In den postklassischen Codices ist der Regengott identisch mit dem Schellhas-Gott B und nimmt eine menschlichere Gestalt an. In den Codices ist Chaak der am häufigsten vorkommende Gott. Der Regengott konnte in vierfacher Form erscheinen: als »roter Chaak des Ostens« (Chak Xib Chaak), als »weißer Chaak des Nordens« (Sac Xib Chaak), als »schwarzer Chaak des Westens« (Ex Xib Chaak) und als »gelber Chaak des Südens« (Kan Xib Chaak). Bis heute werden dem Regengott Chaak Opfer dargebracht und Mythen über ihn überliefert.

Der Maisgott Jun Ye’ Nal (»Korn des Maiskolbens«) ist eine weitere zentrale Gottheit der Maya-Religion. Als jugendlicher, dem Schönheitsideal der Maya entsprechender Gott personifiziert er die für die Maya lebenswichtige Maispflanze. In Darstellungen der Frühklassik trägt er einen Maiskolben auf dem Kopf, in der Spätklassik wird er, ebenfalls dem Schönheitsideal der Maya entsprechend, auch mit deformierten Kopf und Tonsur gezeigt. Meist ist er nur mit einem Lendenschurz und Gürtel aus Jadeperlen bekleidet. Malerei und Inschriften stellen den Mythos dar, in dem der Maisgott vom Gott der Unterwelt gefangengenommen und von den Göttlichen Zwillingen Hunahpú und Ixbalanqué befreit wird und wieder auf die Erde zurückkehren kann. Dieser Mythos spielte für die Aussaat und Ernte des Mais eine wichtige Rolle, denn dabei wiederholt sich der Tod bzw. die Gefangennahme des Maisgottes in der Unterwelt und seine Wiedergeburt auf der Erde zur Regenzeit.141 Keramikmalereien zeigen Szenen, in denen die beiden alten sogenannten Ruderer-Gottheiten als Helfer des Maisgottes diesen in die Unterwelt rudern, der eine mit Knochen als Nasenschmuck, der andere mit Jaguarmaske und Jaguarflecken am Körper. Eine weitere ikonografische Version zeigt die Wiedergeburt des Maisgottes, indem der Maisgott aus dem aufbrechenden Panzer einer die Erde symbolisierenden Schildkröte hervorsteigt und die Göttlichen Zwillinge diesem Vorgang beiwohnen.

Wie bereits erwähnt, sind wir in diesem Fall allein auf ikongrafische Darstellungen angewiesen, sodass noch etliches ungeklärt ist. So zum Beispiel ähnelt der Maisgott dem Kakao-Gott und ist ikongrafisch manchmal nicht von diesem zu unterscheiden. Daher stellt sich die Frage, ob es sich vielleicht um zwei Erscheinungen ein und derselben Gottheit handelt.

Der Sonnengott K’inich Ajaw (»Herr der Sonne«), der dem Schellhas-Gott G entspricht, garantiert durch das Sonnenlicht die Fruchtbarkeit der Natur und somit Leben, kann aber andererseits auch Dürrekatastrophen herbeiführen. Er wird als alter Mann mit Bart und großen, eckigen Augen dargestellt. Sein Erkennungszeichen ist die einem Blattkreuz ähnelnde Hieroglyphe k’in (= »Tag«) in den Augen oder am ganzen Körper. Er stellt ferner die Hieroglyphenkopfvariante der Zahl Vier dar und gilt als der Patron des Monats Yachin. K’inich Ajaw ist am Tag auf der Erde als Sonne präsent, nach Sonnenuntergang hält er sich in der Unterwelt als Jaguar auf. Er steht in Verbindung mit dem Schöpfergott Itzamnaaj. So war K’inich Ajaw Itzamnaaj in der postklassischen Zeit eine Erscheinungsform von Itzamnaaj. Eine Reihe von Maya-Herrschern identifizierten sich mit dem Sonnengott und K’inich ist dementsprechend ein Bestandteil ihres Namens.

K’awiil (»reiche Ernte«), Gott K nach Schellhas, ist der Gott des Blitzes und als solcher der Begleiter des Regengottes Chaak, mit dem er gleichgesetzt wird. Auch mit dem Sturmgott Huracán ist er verbunden. Er ist zudem der Gott der Visionen, des Überflusses und der Herrscher. Seine Funktionsbereiche sind Blitz, Fruchtbarkeit (vor allem Mais und Kakao) sowie die Macht der Herrscher. Daher ist K’awiil ein häufiger Bestandteil von Herrschernamen. Herrscher werden oft mit einem Zepter in Form des Gottes K’awiil gezeigt. Zu erkennen ist K’awiil an seiner hochgezogenen Stirn mit brennender Fackel und seinem rechten Bein, das aus einem Schlangenleib besteht. Unter den Namen Tohil kommt K’awiil bei den K’iche’-Maya und in ihrem Buch Popol Vuh eine bedeutende Rolle zu, ebenso als Bolon Dz’acab im Buch Chilam Balam von Chumayel der yukatekischen Maya.

Itzamnaaj (»Haus des Kaimans«), der Schellhas-Gott D, galt als der höchste Gott der Maya, als Göttervater sowie Himmels- und Schöpfergott. Seine Bereiche sind der Himmel und die Schöpfung sowie Schrift und Kalender, als deren Erfinder er gilt. Letzteres gibt ihm den Titel Aj Tz’iib’ (»Herr des Schreibens«). Seine Partnerin ist die Mondgöttin Ix Chel. Er erscheint in verschiedenen Formen: als alter Mann mit blütengeschmücktem Stirnband, als Schreiber, als Priester, als Kaiman oder als Vogel. Die Gestalt des Kaimans weist auf seine Verbindung zur Erde hin, die Vogelgestalt auf seinen himmlischen Bereich. Itzamnaaj ist identisch mit dem Vogelmonster im Popol Vuh. Auch Heilkünste wurden ihm zugeschrieben.

Die Mondgöttin Ix Chel (»Frau Regenbogen«), Itzamnaajs Partnerin, ist ferner die Göttin der Fruchtbarkeit, des Wassers, der Nacht, der Heilkunst und der Webkunst. Sie ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Maya-Gottheiten nicht nur in verschiedenen Erscheinungen auftreten, sondern dem Menschen sowohl Heil als auch Unheil bringen konnten. Ix Chel tritt dementsprechend in zwei Erscheinungen auf: Als junge Frau bzw. aufgehender Mond mit großen weiblichen Brüsten, herunterhängender Locke und manchmal mit einem Kaninchen ist sie die Mond- und Fruchtbarkeitsgöttin schlechthin: Das jugendliche Aussehen und die Brüste verweisen auf die Fruchtbarkeit, das Kaninchen symbolisiert den Mond. Denn wie wir vom »Mann im Mond« sprechen, war es für die Maya das Kaninchen »im Mond«. Ix Chel ist auch für Krankheiten verantwortlich. In ihrer Erscheinung als alte Frau bzw. als untergehender Mond mit einer Schlange im Haar und manchmal mit einem Wasserkrug ist Ix Chel für Wasser, sowie für Katastrophen wie Überschwemmungen, für Heilkunst und Weberei zuständig. Schellhas unterschied diese beiden Erscheinungen als Göttin I (Ix Chel als junge Frau) und als Göttin O (Ix Chel als alte Frau). Heute weiß man, dass es sich um ein und dieselbe Gottheit handelt. In postklassischer Zeit waren die Yukatan vorgelagerten Inseln Cozumel und Isla Mujeres viel besuchte Pilgerstätten von Ix Chel.

Der Gott der Unterwelt bzw. der Schellhas-Gott L, dessen Name bis heute unbekannt ist, wird als alter Mann mit schwarzer Körperbemalung dargestellt. Er ist mit Mantel oder einem Jaguarfell bekleidet, trägt einen Hut, auf dem eine Eule als Symbol der Unterwelt sitzt, und raucht eine Zigarre. Manchmal hat er einen Wanderstab oder eine Rückentrage. Szenen der Unterwelt zeigen ihn auf einem Jaguarthron sitzend, oft in Gesellschaft junger Frauen. Er ist der Gegenspieler des Maisgottes, den er in der Unterwelt gefangen hält, bis dieser durch die Göttlichen Zwillinge befreit wird.

Neben diesen zentralen Gottheiten gab es noch viele andere. Chan k’uh und Kab k’uh war das Götterpaar des Himmels und der Erde. Pawahtún (Schellhaas Gott N), der Träger des Kosmos, wird gezeigt, wie er als sitzender alter Mann eine Schnecke oder Schildkröte (die Erde) auf seinem Rücken trägt. Der Schellhas-Gott Q ist der Gott des Krieges und der Opfer. Der Name, bestehend aus der Zahl 10 und einer Gesichtsglyphe, ist bis heute nicht ganz entziffert. Gezeigt wird er als junger Mann mit einer Schlangenlinie im Gesicht und am Körper. Yum Kimil (»Herr des Todes«) war der Todesgott, dargestellt als Skelett oder mit Zeichen der Verwesung. Bestimmte Berufsgruppen hatten ihre eigenen Götter, zum Beispiel Jun B’atz und Jun Chuwen, die Schutzpatrone der Schreiber. Sie treten in Mischgestalt mit Affenkopf und menschlichem Körper auf, haben ein Stirnband und sind mit den Gerätschaften der Schreiber ausgestattet: Tinten- bzw. Schneckenschale, Pinsel und Faltbücher. Ek’ Chuak (Schellhas-Gott M) war der Gott der Kaufleute und des Handels, aber auch des Feuers. Dargestellt wird er einerseits als alter, andererseits als junger Gott mit schwarzer Körperbemalung auf der Wanderschaft mit Bündel und Speer, aber ebenso beim Bohren des Feuers oder beim Blutopfer. Eine wichtige Rolle in der Mythologie spielen die Göttlichen Zwillinge bzw. Heldenzwillinge. Über ihre Abenteuer und Taten sind wir aus dem Popol Vuh informiert.142 Sie sind erfolgreiche Jäger und Ballspieler, denen es gelingt, die Unterweltsherrscher zu besiegen.

Vor allem die Codices sind eine wichtige Quelle für die Kenntnis der Maya-Götterwelt. Paul Schellhas legte 1904 die Ergebnisse einer Analyse der Darstellungen der Maya-Gottheiten in den uns erhaltenen Codices vor, die bis heute noch inklusive der Benennungen weitgehend gültig ist. Schellhas bezeichnete die Gottheiten mit Buchstaben, da nicht alle Namenshieroglyphen der Götter bekannt sind. Zu erwähnen ist, dass in den drei Codices nur zwei Göttinnen vorkommen, aber über zwanzig männliche Gottheiten. Ferner sind eine ältere und eine junge Generation von Gottheiten zu unterscheiden: Die ältere Generation ist durch Kopfputz oder eine besondere Frisur gekennzeichnet, eine hakenförmige, große Nase, eingefallene Backen mit sichtbaren Kiefernknochen, eine U-förmige Einrahmung der Augen und meistens einem zahnlosen Mund bzw. mit nur einem Zahn. Die junge Göttergeneration ist durch mandelförmige Augen und eine – dem Maya-Schönheitsideal entsprechende – hohe Stirn bzw. deformierten Kopf charakterisiert.

Am häufigsten in den Handschriften abgebildet ist der alte Gott B, der Regengott. Am zweithäufigsten dargestellt ist der alte Gott D, der Schöpfergott Itzamnaaj und den dritten Platz nimmt der Gott E ein, der junge Maisgott. Von den Gottheiten A′, A″, CH, H, P, R, U, W, X und Y kennen wir bisher keine Namenshieroglyphe, sie sind nicht identifiziert. Wir wissen nur, wie sie in den Codices dargestellt werden und können von daher gewisse Rückschlüsse ziehen, aber eindeutige Beschreibungen sind bislang nicht möglich. So wissen wir zum Beispiel, dass die Gottheit CH die Zahl Neun symbolisiert und mit dem Bereich des Todes in Verbindung zu stehen scheint. Darauf weisen Totenkragen, Totenschellen und die Punkte am Körper als Zeichen der Verwesung in seinen Darstellungen hin. Gottheit P könnte eine andere Erscheinung der Gottheit N sein. Gott Y wird als Hirschgottheit bezeichnet, weil er mit dem Kopf eines Hirsches oder mit einem Hirschgeweih auf dem Kopf und menschlichem Körper dargestellt wird oder aber zusammen mit einem Hirsch. Vielleicht ist Gott Y als »Herr der Tiere« zu deuten.

Auch von den Maya-Gottheiten, die die Liste143 auf den Seiten 184 bis 187 zusammenfasst, sind uns nicht in jedem Fall die Namen und die Funktionsbereiche bekannt. Manchmal scheint ein und dieselbe Gottheit verschieden dargestellt worden zu sein.

In den Zeremonialzentren und Tempeln der Maya wurden Abbilder der Gottheiten aufgestellt. Aber auch in den Wohnhäusern, vor allem der Adligen und Priester, gab es »Betkapellen und Götzenbilder […] für ihre persönlichen Gebete und Opfergaben«144, wie Diego de Landa ausführt. »Sie hatten so viele Götzenbilder […], und alle gestalteten sie in der Art ihrer Götter und Göttinnen. Sie hatten wenig Götzenbilder aus Stein und weitere kleine Bildsäulen aus Holz, indes nicht so viele wie die aus Ton. Die Götzenbilder aus Holz wurden so hochgeachtet, dass man sie als den wichtigsten Teil des Familienbesitzes vererbte.«145

Wie in vielen Religionen spielten Geister eine wichtige Rolle. Sie waren zwar nicht so mächtig wie die Götter, konnten das Leben aber nach Ansicht der Maya entscheidend prägen – im positiven Sinn als Schutzgeister oder Ahnengeister, im negativen Sinn als Unheil bringende Geister bzw. Dämonen. Der Maya-Begriff für diese Geister war way (Grundbedeutung: »schlafen«, »träumen«). Way ist zum einen ein Schutzgeist, das tierische Alter Ego bzw. ein geistiger Doppelgänger des Menschen (ähnlich dem Schutzengel im Christentum), der ihm bei der Geburt zugeteilt und im Traum offenbart wird. Informiert sind wir über den way des Herrschers. So finden sich auf Keramikgefäßen Darstellungen solcher Schutzgeister mit Angaben des Besitzers, zum Beispiel »die Hirsch-Schlange ist der way des Ajaw von Calakmul«146. Daneben wurde der Begriff way aber ebenso für eine Vielzahl von Dämonen verwendet, vor allem Krankheits-, Todes- und Unterweltsgeister, die zum Beispiel »Tod mitten auf der Straße« oder »roter Galle-Tod«147 genannt wurden.

Name der Gottheit

Übersetzung

Charakteristik

Akan

 

Gott des Rausches und der Krankheiten

Chaak Gott B

»Blitz«, »Donner«

Regengott

Chan k’uh & Kab k’uh

 

Götterpaar des Himmels und der Erde

Ek’ Chuak Gott M

»Schwarzer Skorpion«

Gott der Kaufleute;
Gott der Erdmitte, wo er das erste Feuer entzündete

Gott H

 

weder Name noch Funktionsbereich bekannt

Hunahpú & Ixbalanqué

 

die Göttlichen Zwillinge aus dem Popul Vuh

Hun-Hunahpú und Vucub-Hunapuh

»Einsjäger« & »Siebenjäger« Hun-Hunahpú (Vater der Göttlichen Zwillinge)

Vätergeneration der Göttlichen Zwillinge aus dem Popol Vuh

Hu’unal

 

Personifizierung des königlichen Stirnbandes

Itzamnaaj Gott D

»Haus des Kaimans«

Göttervater, Himmelsgott, Schöpfergott, Erfinder der Schrift und des Kalenders, daher früher auch Gott der Schreiber (Aj Tz’iib’)

Ix Chel in den Erscheinungsformen der Göttin I und Göttin O

»Regenbogen«

Mondgöttin, Göttin der Fruchtbarkeit, des Wassers, der Nacht, der Medizin und der Krankheiten, der Webkunst; Begleiterin von Itzamnaaj

Jun B’atz & Jun Chuwen

 

Gottheiten der Schreiber

Funktionsbereich

Darstellung

 

Kopfschmuck und Umhang mit Knochen

Regen, Wasser, Fruchtbarkeit, Blitz, Sturm

anthropomorph mit langer Nase, übergroßen Augen; Muschelschale als Ohrschmuck; mit einem Beil (mit dem er den Donner erzeugt)

Himmel, Erde

 

Handel, Feuer

junger oder alter Gott, mit schwarzer Körperbemalung, auf der Wanderschaft mit Bündel und Speer, beim Bohren des Feuers oder beim Blutopfer

 

anthropomorph, junger Gott mit Vogel als Kopfschmuck

erfolgreiche Ballspieler und Jäger, Überwindung der Unterwelt, Auferstehung, enge Verbindung mit dem Maisgott

 

 

 

Königswürde

lange Nase und eine Art Narrenkappe (daher auch »Jester-Gott« genannt)

Schöpfung, Himmel

alter Mann, aber auch als Kaiman oder Vogelgottheit Itzamnaaj Muut; immer mit blütengeschmücktem Stirnband

Mond, Fruchtbarkeit, Nacht, Wasser, Medizin, Weberei, aber auch der Katastrophen wie Überschwemmungen

junge Frau (Göttin I = aufgehender Mond) mit großen weiblichen Brüsten, herunterhängender Locke und manchmal mit einem Kaninchen, oder alte Frau (Göttin O = untergehender Mond) mit einer Schlange im Haar, manchmal mit Wasserkrug

Schreibkunst

Affenkopf und menschlicher Körper, mit Stirnband, Tinten- bzw. Schneckenschale sowie Pinsel und Faltbüchern der Schreiber

Name der Gottheit

Übersetzung

Charakteristik

Jun Ye’ Nal Gott E

»Korn des Maiskolbens«

Maisgott, Personifizierung der Maispflanze, Gegenspieler von Gott L

K’awiil Gott K

»Reiche Ernte«

Gott des Blitzes, Begleiter des Regengottes Chaak, Gott der Visionen und des Überflusses

K’inich Ajaw Gott G

»Herr der Sonne«

Sonnengott

K’u o Ch’u Gott C

»Heiligkeit«, »Gottheit«

Gott der Heiligkeit (eventuell auch Gott des Polarsterns)

Gott L (Name unbekannt)

 

Gott der Unterwelt

Pawahtún Gott N

 

eine Gruppe von Göttern, die sog. Pawajtun-Götter, Träger des Himmels bzw. Kosmos

Gott Q (der Name besteht aus der Zahl 10 (lahun) und einer Gesichtsglyphe)

 

Gott des Krieges und der Opfer

Gott R

 

Name und Funktionsbereich unbekannt

Ruder-Götter

 

Helfer des Maisgottes

Wuk Sip Gott Y

 

Herr der Hirsche, Herr der Tiere

Yum Kimil Gott A

»Herr des Todes«

Gott des Todes

Funktionsbereich

Darstellung

Mais, Fruchtbarkeit

junger Gott, dem Schönheitsideal der Maya entsprechend; spärliche Kleidung, Rock aus Jadeperlen und Gürtel

Blitz, Fruchtbarkeit (vor allem Mais, Kakao), Macht der Herrscher

hochgezogene Stirn, in die eine brennende Fackel hineingesetzt ist, rechtes Bein als Schlange

Unheil

anthropomorph, alter, zahnloser Gott mit Bart und Schlangenelementen

Personifikation der Idee des Heiligen (eventuell auch Gott des Sternenhimmels)

affenähnliches Gesicht, manchmal mit Seil vom Himmel herabhängend und mit Strahlenkranz

Unterwelt, Nacht, Gegenspieler des Maisgottes

alter Gott, schwarze Körperbemalung, mit Hut, auf dem eine Eule sitzt; mit Zigarre und bekleidet mit Mantel oder Jaguarfell; manchmal mit Wanderstab oder mit Rückentrage oder auf einem Jaguarthron sitzend

Kosmos, Himmel, Berge

sitzende, alte, zahnlose Götter mit einer Schnecke oder Schildkröte auf dem Rücken

Krieg, Menschenopfer (von Kriegsgefangenen)

junger Gott, mit einer Schlangenlinie im Gesicht und am Körper

 

junger Gott mit schwarzer Markierung

bringen den Maisgott mit einem Boot in die Unterwelt

alte Götter, rudernd in einem Boot; der eine mit Knochen als Nasenschmuck, der andere mit Jaguarmaske und Jaguarflecken am Körper

Jagdtiere

alter Gott, schwarzer Körper, mit Hirschgeweih, lange Ohren, mit Schneckentrompete als Halsschmuck

Tod

Skelett oder mit Zeichen der Verwesung

Das Popul Vuh berichtet ausführlich über die »Herren der Unterwelt« bzw. Dämonen der Unterwelt:

»Die sich Einstod und Siebentod nannten, waren die obersten Richter. Alle übrigen Herren gaben Einstod und Siebentod ihr Amt und ihre Aufgabe. Die sich Reißender Habicht und Aasgeier nannten, vergossen das Blut der Menschen. Andere nannten sich Ahalpúh und Ahalganá. Ihr Amt war, die Menschen aufzublähen, Geschwüre an den Beinen zu erwecken und das Gesicht gelb werden zu lassen; das nennt man […] Gelbfieber. […] Andere waren der Herr Knochenbrecher und der Herr Schädelzertrümmerer, Wächter der Unterwelt, deren Stäbe aus Knochen waren. Ihre Aufgabe war, die Menschen auszuzehren bis aufs Bein, bis auf den nackten Schädel, bis sie starben. Dann zerrten sie ihnen Leib und Knochen auseinander und trugen sie von dannen.«148

»Sie wurden auf Schultern getragen«: Priester, Schamanen und Heiler

Die größten Götzenanbeter waren die Priester, die Chilanes, und die Zauberer und Ärzte, die Chaces und Nacones. Das Amt des Priesters war es, ihre Wissenschaften zu pflegen und zu lehren […], die Feste zu verkündigen und anzugeben, Opfer zu bringen und ihre Sakramente auszuteilen. Das Amt der Chilanes war es, dem Volk die Antworten der Teufel zu überbringen, und sie wurden so hochgeachtet, dass sie, wie es oft geschah, auf Schultern getragen wurden. […] Die Chaces waren vier alte Männer, die stets neu gewählt wurden, um dem Priester zu helfen […]. Nacones hießen zwei Ämter: Das eine war auf Lebenszeit und wenig ehrenhaft, weil derjenige es ausübte, der den Geopferten die Brust aufschnitt; das andere war das eines gewählten Hauptmannes für den Krieg und weitere Feste, und es hatte eine Dauer von drei Jahren.149

Diese Beschreibung von Diego de Landa aus dem Yukatan der postklassischen Zeit ist eine der wenigen Informationen über die Priester der Maya – im Unterschied zu den Azteken. Als höchsten Priester nennt Landa den Ajaw Can (»Schlangenherrn«, auch »oberster Lehrer«). Zudem wissen wir, dass in der klassischen Zeit die Herrscher priesterliche Aufgaben übernahmen. Der Chilam (oder chilan, wie Landa ihn nennt) ist der Wahrsager, das Sprachrohr der Gottheiten, der vor allem in der Volksfrömmigkeit eine große Rolle spielte. Denn der Chilam verkündete die Prophezeiungen der Gottheiten, er informierte über zukünftige Ereignisse, wie günstig oder ungünstig die Sterne z. B. für Unternehmungen standen. Bekannt sind die Prophezeiungen der Chilam-Balam-Bücher. Der Chilam kann als Opferpriester fungieren. Deshalb wird der Chilam Balam auch als Nacom Balam bezeichnet.

Eine besondere Rolle spielen bis heute die Schamanen, von Landa »Zauberer« und »Ärzte« genannt. Inwieweit der Chilam schamanistische Tätigkeiten ausübte, ist unklar. Denn was genau ein Schamane ist, darüber wird nach wie vor seit Beginn der wissenschaftlichen Erforschung des Schamanismus im 19. Jh. bei den Völkern Sibiriens und des nördlichen Zentralasiens in Ethnologie und Religionswissenschaft diskutiert. Dabei geht es um die Frage: Ist Schamanismus ein Phänomen, das nur auf Sibirien und Zentralasien beschränkt ist oder ist es ein weltweites Phänomen? Schamanismus wird als religiöses Phänomen den sogenannten Naturvölkern, vor allem den Kulturen der Jäger und Sammlerinnen zugeordnet und nicht den Hochkulturen. Eine allgemeingültige Definition des Schamanismus fehlt bis heute. Aber es gibt eine Reihe von Kennzeichen wie Berufung, Initiation, Hilfs- und Schutzgeister, Jenseitsreise und Schamanenausrüstung. Wichtigstes Merkmal ist die Ekstase.150 Mircea Eliade betont dabei, dass der »echte« Schamane sich ohne Drogen in Ekstase versetzen kann. Denn durch Drogen hervorgerufene Ekstase ist in der Religionsgeschichte ein häufiger Bestandteil kultischer Handlungen und ist somit nicht in jedem Fall als ein Beleg für Schamanismus zu werten. Der Schamane ist ein Vermittler zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt und ein Begleiter der Seele (»Psychopomp«). Er übt alle die Tätigkeiten aus, die nach der Vorstellung der Naturvölker mit der Seele zusammenhängen: Krankenheilung, Begleitung der Seelen von Toten ins Jenseits, Überbringung von Opfern an die Gottheiten und Geister, Zukunftsvorhersagen, Auffinden von Jagdwild und anderes mehr. Im Unterschied zum Schamanen ist der Priester in den Hochkulturen ein religiöser Funktionär, der sein Amt hauptberuflich ausübt. Und im Unterschied zum Medizinmann und Heiler deckt der Schamane einen größeren Tätigkeitsbereich ab: Jeder Schamane ist zwar auch ein Medizinmann, aber nicht jeder Medizinmann ist ein Schamane. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Quellenlage zu den Maya der klassischen und postklassischen Zeit zu dürftig ist, um bestimmte Phänomene mit Sicherheit als schamanistisch bezeichnen zu können.

Noch heute ist die Volksfrömmigkeit der Maya durch die Tätigkeit von Heilern und Medizinmännern (Curanderos) geprägt, die man gerne generell als »Schamanen« bezeichnet. Inwieweit es sich wirklich um Schamanen handelt, wäre im konkreten Fall jeweils genauer zu klären. Jedenfalls besteht hier die Gefahr des inflationären Gebrauchs des Begriff »Schamane«, der ihn letztlich nicht mehr aussagekräftig machen würde.

In der klassischen Zeit kamen auch dem Herrscher eines Stadtstaates priesterliche Aufgaben zu, da er von göttlicher Abstammung und als solcher für den Erhalt der Weltordnung im Bereich des Kultes verantwortlich war. Er war, wie der Priester, ein Mittler zwischen Diesseits und Jenseits und kommunizierte wie dieser im Ritual und beim Opfer mit Ahnen, Schutzgeistern und Gottheiten. Dieser Kontakt mit dem Jenseits wurde in der Ikonografie durch die sog. Visionsschlange über dem Kopf des Herrschers oder durch einen Schlangenstab angedeutet. Vor allem das Blutopfer durch Blutentnahme an der Zunge, am Ohr oder am Penis war ein Vorrecht des Herrschers, aber gleichzeitig seine Pflicht gegenüber dem Volk. Die Thronbesteigung, die Einweihung eines Tempels oder bestimmte Jubiläen waren immer mit einem Blutopfer verbunden. Der Herrscher vollzog das Blutritual in der Regel öffentlich auf der Pyramidenplattform vor dem Tempeleingang. Dabei durchstach er seine Zunge, sein Ohr oder seinen Penis mit einer Obsidianklinge oder einem Rochenstachel. Dann zog er eine Kordel mit Dornen durch Zunge, Ohr oder Penis. Das Blut fing er dabei mit Papierstreifen auf. Die vollgesogenen Papierstreifen wurden in Räuchergefäßen als Opfer verbrannt. Der Schmerz führte zu einer Trance, in der der Herrscher Visionen hatte und so mit den genannten Wesenheiten kommunizierte oder sich selbst in ein übernatürliches Wesen verwandelte und dessen Macht übernahm. Auch Alkohol und andere Rauschmittel sowie Tänze dienten den Herrschern und Priestern dazu, sich in einen Trance- bzw. Ekstasezustand zu versetzen. Bei diesem sowie anderen Riten wurden Musikinstrumente wie Trommeln, Flöten, Rasseln und Muschelhörner verwendet, zudem bei den meisten Räucherharz bzw. Copal verbrannt.

Feste und Rituale

Wie in allen Kulturen waren Geburt, Eintritt ins Erwachsenenalter, Heirat und Tod Anlass zu besonderen Festen, die man in der Ethnologie als Übergangsriten bezeichnet. Und wie ebenfalls weltweit waren auch die Jahreszeiten und der Lauf der Gestirne mit bestimmten Festen bzw. Ritualen verbunden, zum Beispiel Aussaat oder Ernte. Schließlich sind die Festtage bestimmter Gottheiten sowie bestimmter Gesellschaftsgruppen wie Jäger oder Fischer zu erwähnen.

In der klassischen Zeit wurde jeder K’atun (20 Jahre) besonders gefeiert, indem der Herrscher eine Stele mit entsprechender Inschrift bzw. Information aufstellen ließ. Während wir darüber hinaus für die klassische Zeit über wenig detaillierte Informationen bezüglich Ablauf oder Daten der Riten verfügen, liefert uns Diego de Landa151 für die postklassische Zeit eine ausführliche Darstellung, in der folgenden Liste zusammengefasst:

Fest

(unser) Monat

Monat des Maya-Kalenders

»Erneuerung des Tempels« (ocná) zu Ehren der »Götter der Maisfelder«

Januar

Ch’en

Fest der Jäger zur Besänftigung der Götter

Februar

Sak

großes dreitägiges Fest

Februar

Sak

Fest für die »Götter der Kornfrüchte«

März

Mac

Fest für Itzamnaaj

März

Mac

Fest für die Gottheiten der Kakaopflanzungen

April

Muwan

Fest für einen siegreichen Krieg (pacumchac)

Mai

Pax

Zabcilthan

Mai

Pax

Neujahrsfest

Juli/August

Pop

Fest der Jäger und Fischer (pocam)

August

Uo

Fest der Göttin Ix Chel (ibcil)

September

Slip

Fest der Jäger und der Gottheiten der Jagd

September

Slip

Fest der Fischer

September

Slip

Fest der Bienenzüchter

Oktober

Tzek

Fest des K’uk’ulkan

Oktober

Xul

Fest für alle Götter

Dezember

Mol

(weiteres) Fest der Bienenzüchter

Dezember

Mol

In den Jahren, in denen die Monate mit den Tageszeichen K’an, Muluc, Ix und Kawak begannen, wurden außerdem besondere Feste gefeiert.

Die Verstorbenen bzw. Ahnen erfuhren außergewöhnliche Verehrung. Man begrub sie oft unter dem Fußboden des Hauses, während für die Herrscher meist ein Pyramidenbau errichtet wurde. Für die Reise ins Jenseits wurden die Toten mit allen benötigten Beigaben ausgestattet: Lebensmittel, Kleidung, Schmuck, Keramik etc.

Über die Bestattungsriten berichtet Landa, dass große Trauer sowie Fasten für den Toten üblich war, vor allem wenn der Ehepartner gestorben war. Die Toten wurden in ein Leinentuch eingehüllt und in den Mund wurde ihnen gemahlener Mais als Nahrung für das Jenseits gelegt. Als Grabbeigaben waren »Götzenbilder« üblich, bei Priestern Bücher und bei »Zauberen« die entsprechenden Utensilien wie zum Beispiel »Zaubersteine«. Der Tote wurde im oder hinter dem Haus beerdigt, das man dann nicht mehr nutzte bzw. unbewohnt ließ – »außer wenn viele Leute in ihm lebten, deren Gesellschaft ihnen etwas die Furcht nahm, die ihnen der Tod weiter einflößte«.152

Landa erwähnt, dass früher die Leichname der Häuptlinge und Adligen verbrannt und die Asche in großen Gefäßen aufbewahrt wurde, über die man Tempel errichtete. Zu seiner Zeit aber sei es Brauch bei den Vornehmen geworden, Ton- oder Holzfiguren für die Asche der Verstorbenen anzufertigen, die »in den Betkapellen der Häuser bei den Götzenbildern aufgestellt wurden«.153

Auch eine Art Beichte in nachklassischer Zeit erwähnt Landa, die die Indios ablegten, wenn sie von Krankheit, Tod oder anderen Nöten betroffen waren und die Ursache dafür in ihren Verfehlungen sahen. Die »Beichte« erfolgte öffentlich vor einem Priester oder auch vor den Eltern oder Ehepartnern. »Die Sünden, deren sie sich gewöhnlich anklagten, waren Diebstahl, Totschlag, Fleischessünden und falsches Zeugnis […].«154

»Wenn sie ihm das Herz herausschneiden«: Blutige Opfer

Um die Feste würdig zu begehen, wurden Menschen geopfert, und darüber hinaus geboten ihnen die Priester oder die Chilanes auch bei irgendwelcher Bedrängnis oder Notlage, Menschen zu opfern; […] Und wenn der Tag gekommen war, versammelten sie sich im Hof des Tempels; sollte (der Sklave) mit Pfeilschüssen getötet werden, so zogen sie ihn nackt aus, bestrichen ihm den Körper mit blauer Farbe und (setzten ihm) eine Büßermütze auf den Kopf; […] Der schmutzige Priester, der seine Tracht angelegt hatte, stieg hinauf und verwundete ihn mit einem Pfeil in der Schamgegend, gleichgültig, ob es eine Frau oder ein Mann war; er zapfte Blut ab, stieg herunter und bestrich damit die Gesichter des Teufels; dann gab er den Tänzern ein bestimmtes Zeichen, und sie liefen wie im Tanz schnell vorbei und beschossen alle der Reihe nach mit Pfeilen sein Herz, das mit einem weißen Flecken angegeben war; und solcherart richteten sie ihn sogleich dermaßen zu, dass er wie ein Igel aus Pfeilen aussah.155

Wie Diego de Landa hier berichtet, waren Menschenopfer bei den Maya durchaus üblich. Schon Darstellungen der klassischen Zeit zeigen, wie die Maya Kriegsgefangene opfern.

In allen Religionen hat das Opfer als Mittel, mit der Gottheit in Verbindung zu treten, mit ihr zu kommunizieren, eine ganz besondere Bedeutung – als Dank an die Gottheit oder um etwas von ihr zu erbitten. Menschenopfer sind in der Religionsgeschichte und in Hochkulturen weltweit durchaus kein seltenes Phänomen und insofern keine Besonderheit der Maya. Die Gründe und Anlässe für Menschenopfer sind verschieden: zum Beispiel als Bitt- oder Dankopfer, zur Sicherung der Ernte bis hin zum Erhalt von Gesellschaft und Kosmos, oder als Grabbeigaben. In Indien wird heute noch vereinzelt die Witwenverbrennung (Sati) praktiziert – ebenfalls ein Menschenopfer, obwohl seit 1830 offiziell verboten. Selbst im Alten Testament findet sich die Erinnerung daran, dass im Alten Israel Menschenopfer praktiziert und dann durch Tieropfer ersetzt wurden. Beispiel dafür ist die Geschichte von Abraham, der bereit ist, auf Anweisung Gottes seinen Sohn Isaak zu opfern. Dies wird im letzten Moment verhindert, und Abraham opfert stattdessen eine Ziege (vgl. Gen 22).

Ähnlich wie bei den Azteken opferten die Maya nach Landas Bericht auch menschliche Herzen:

»Wenn sie ihm das Herz herausschneiden sollten, brachten sie ihn mit großem Pomp und zahlreichem Gefolge in den Hof, und nachdem sie ihn mit blauer Farbe beschmiert und ihm die Büßermütze aufgesetzt hatten, brachten sie ihn zu der runden Plattform, die der Opferplatz war; nachdem der Priester und seine Amtsgehilfen jenen Stein mit blauer Farbe bestrichen und den Teufel ausgetrieben hatten, indem sie den Tempel reinigten, ergriffen die Chaces das arme Opfer, sehr geschwind legten sie es rücklings auf jenen Stein, und alle vier packten es an Armen und Beinen, wobei sie jedem eines von seinen Gliedern zuteilten. In diesem Augenblick kam der Nacón, der Henker mit einem steinernen Dolchmesser und versetzte dem Opfer mit großer Gewandtheit und Grausamkeit einen Messerstich zwischen die Rippen, an der linken Seite unterhalb der Brustwarze, und sogleich fuhr er dort schnell mit der Hand hinein und packte das Herz wie ein wütender Tiger, riss es ihm bei lebendigen Leib heraus, legte es in eine Schale und gab es dem Priester, der eilends zu den Götzenbildern lief und ihnen die Gesichter mit jenem frischen Blut bestrich.

Bisweilen nahmen sie dieses Opfer an dem Stein und auf der obersten Plattform des Tempels vor, dann warfen sie den schon toten Körper die Stufen hinunter, unten packten ihn die Amtsgehilfen und zogen ihm die ganze Haut ab, nur die der Hände und Füße nicht; nachdem der Priester sich entkleidet hatte, streifte er sich jene Haut über, und zusammen mit ihm tanzten nun die übrigen, was für sie etwas sehr Weihevolles war. Diese Geopferten begrub man gewöhnlich im Hof des Tempels, oder sonst wurden sie von ihnen gegessen, wobei man sie unter die Häuptlinge und jene verteilte, für die sie ausreichten; die Hände, die Füße und der Kopf fielen dem Priester und dem Amtsgehilfen zu; und diese Geopferten hielt man für Heilige. Wenn sie Sklaven waren, die man im Krieg gefangen hatte, nahm ihr Herr die Knochen an sich, um sie bei den Tänzen als sein Wahrzeichen und seine Trophäe vorzuführen.«156

Landa beschreibt hier zum Schluß ein Menschenopfer, bei dem einem getöteten Opfer die Haut abgezogen wird. Diese Praxis hatte man aus Zentralmexiko übernommen – ein Opfer, das bei den Azteken dem Fruchtbarkeitsgott Xipe Totec dargebracht wurde. Dabei wurden gewisse Teile des Körpers gegessen, um so die Kraft und göttliche Energie des Opfers in sich aufzunehmen.

Steinernes Zeugnis der Menschenopfer ist die Nachbildung eines Schädelgerüstes in Chichén Itzá. Solche Schädelgerüste dienten in natura zur Aufbewahrung der Totenschädel der Menschenopfer. Schließlich hat Chichén Itzá seinen Namen von dem Brunnen, in den man lebende Menschen als Opfer hineinwarf »und glaubte, sie würden am dritten Tage heraufkommen, obwohl sie nie wieder erschienen«.157

Nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Gruppen auf einmal wurden geopfert. So fand man vor einigen Jahren in Cancuén (Dept. Petén, Guatemala) in einer Zisterne die Überreste von ca. 50 Frauen, Männern und Kindern. Sie stammen aus der Zeit um 800 n. Chr., der Zeit des Niedergangs der Städte der klassischen Zeit im Tiefland. Vielleicht war Cancuén erobert worden und die Herrscherdynastie der Stadt ausgelöscht bzw. geopfert worden. Ein ähnlicher Fall liegt wohl auch in Uxul im mexikanischen Bundesstaat Campeche vor. Hier fand man 2013 ein Massengrab von ca. 20 Frauen, Männern und Kindern, die in diesem Fall vermutlich als Kriegsgefangene des siegreichen Herrschers von Uxul rituell geopfert worden waren. Die Leichname wurden zerstückelt, enthauptet, erhitzt, von den Schädeln wurden die Unterkiefer abgetrennt. Letztere wurden in einem Halbkreis um die in der Mitte deponierten Knochen bzw. Gliedmaßen gelegt. Dass sie nicht achtlos weggeworfen wurden, lässt auf eine rituelle Tötung schließen.158

Nicht tödlich, aber dafür aber sehr schmerzlich war das Opfer des eigenen Blutes, die Selbstkasteiung, die ebenso in ganz Mesoamerika verbreitet war. Von der Opferung des eigenen Blutes bei den Maya von Yukatan beschreibt Landa die verschiedensten Formen. So durchbohrten sie sich die Wangen, die Unterlippen oder die Zunge. Zudem schnitten sie sich Teile der Ohren oder des »Schamgliedes« heraus. Üblich war auch, dass sich mehrere Männer im Tempel versammelten. Dabei

»bohrte sich jeder ein schräges seitliches Loch in das männliche Glied; sobald sie dies getan hatten, zogen sie die größtmöglichste Menge Schnur durch die Löcher, so dass sie nun alle miteinander verbunden und aneinandergereiht waren; sie bestrichen auch den Teufel mit dem Blut von all diesen Schamgliedern […]

Bei den Frauen war derartiges Blutvergießen nicht üblich […]. Und sie opferten andere Dinge, die sie besaßen. Einigen Tieren schnitten sie das Herz heraus und opferten es; andere opferten sie ganz, die einen lebend und die anderen tot, die einen roh und die anderen gekocht, sie opferten auch viel Brot und Wein sowie alle bei ihnen üblichen Speisen und Getränke.«159

Und schließlich galt auch die Verbrennung von Copalharz als Opfer.

Ballspiel als Gottesdienst

Das Ballspiel war in ganz Mesoamerika verbreitet. Jede bedeutende Stadt bzw. Kultanlage hatte einen oder mehrere Ballspielplätze. Der bisher größte bekannte Ballspielplatz ist der von Chichén Itzá mit einer Länge von 166 m und 68 m Breite. Ballspielplätze gab es schon seit der frühen Präklassik. Zu den frühesten Ballspielplätzen im Maya-Gebiet zählen der von Paso de la Amada im mexikanischen Bundesstaat Chiapas oder der von Sakajut (Alta Verapaz). Das Ballspiel war im vorspanischen Amerika kein Sport in unserem Sinne, sondern ein Teil des Kultes, ein religiöser Akt bzw. »Gottesdienst« – hatte aber gleichzeitig vermutlich auch wirtschaftliche und politische Bedeutung.

Beim Spiel standen sich zwei Mannschaften gegenüber, deren Spielerzahl von einem bis zu sieben variieren konnte. Die Spieler trugen einen Ledergürtel, Lenden-, Arm- und Knieschutz, Handschuhe sowie hut- oder tierkopfähnlichen Kopfschmuck. Wie Abbildungen zeigen, mussten sie vor dem Spiel mit fremder Hilfe »eingekleidet« werden, ähnlich wie die Ritter des Mittelalters ihre Rüstungen nicht alleine anlegen konnten. Gespielt wurde mit einem Vollgummiball aus Kautschuk, den man mit Hüfte, Brust, Rücken, Gesäß oder Ellenbogen spielte und nicht mit Hand, Knie oder Kopf berühren durfte. Ziel war es wohl, den Ball so lange wie möglich »in Bewegung« zu halten und nicht auf den Boden kommen zu lassen. Ansonsten wissen wir wenig über die Regeln oder wer wann und wie siegte. Vermutlich gab es diesbezüglich regionale und zeitliche Unterschiede.

Die Ballspielplätze hatten einen rechteckigen Grundriss, meistens in Form eines I oder T. Die Plätze waren an den Längsseiten von Steinwänden eingegrenzt, an den Schmalseiten waren sie offen. Während im südlichen Tiefland wie in Copán (Honduras) die Seitenwände schräg sind und sich auf dem Spielfeld Markiersteine befinden, sind in Yukatan wie zum Beispiel in Chichén Itzá die Seitenwände des Ballspielplatzes senkrecht und mit steinernen Ringen versehen, durch die vermutlich der Gummiball gespielt werden musste.

Aus Bilddarstellungen und aus Texten geht hervor, dass Spieler durch Enthauptung geopfert wurden. Vermutlich waren es die Spieler der Mannschaft, die verloren hatte. Denn wenn man die Sieger geopfert hätte, wäre das ein Verlust der besseren bzw. besten Spieler gewesen. Vielleicht waren es auch Kriegsgefangene, denen man die Möglichkeit zum Ballspiel gab, bevor sie geopfert wurden. Reliefdarstellungen aus Chichén Itzá zeigen enthauptete Ballspieler, aus deren Rumpf sieben Schlangen entspringen – als Symbol für Blut und die Erneuerung des Lebens.

Für das Ballspiel gibt es verschiedene Deutungen, zum Beispiel als Fruchtbarkeitsritus, Jagd- oder Kriegszeremonie. Diente das Ballspiel als Kriegszeremonie dazu, Konflikte »spielerisch« auszutragen? Wollte man den in einer Schlacht gefangenen Gegnern ein ehrenvolles Ende im Ballspiel ermöglichen? Oder war es ein Fruchtbarkeitsritus, der den Kreislauf der Jahreszeiten, des Lebens und der Natur, Leben und Tod, Tod und Wiedergeburt und den Verlauf der Himmelsgestirne (Sonne, Mond, Venus) darstellte? Stellte das Ballspiel den Sieg der Sonne über die Mächte der Dunkelheit, über die Götter der Unterwelt dar? Oder war es ein Ritus, der das Wachsen der Maispflanze und ihre Fruchtbarkeit und somit die Nahrungsgrundlage für den Menschen sicherte? Symbolisierte der Ballspielplatz die Öffnung zur Unterwelt, im Unterschied zu den Pyramiden als Öffnung zum Himmel? Mussten die Spieler diese Unterweltsöffnungen passieren, um Tod und Wiedergeburt zu erfahren? Das alles sind mögliche Thesen und Erklärungen – Fragen, die bislang nur mit Vermutungen beantwortet werden können.

Für die Deutung des Ballspieles als Fruchtbarkeitsritus, der die Dualität von Tod und Leben bzw. Tod und Wiedergeburt repräsentiert, würde auch der Mythos von den Göttlichen Zwillingen im Popol Vuh der K’iche’-Maya sprechen. Dementsprechend wird vermutet, dass der im Popol Vuh erzählte Mythos von den Göttlichen Zwillingen im kultischen Ballspiel der Maya »nachgespielt« wurde, das heißt bei jedem Ballspiel wieder lebendig wurde und sich noch einmal ereignete.

Der Mythos von den Göttlichen Zwillingen

Im ersten Teil des Popol Vuh wird erzählt, wie die Göttlichen Zwillinge Hunahpú und Ixbalanqué die Götter bzw. »Herren« von Xilbalbá, der Unterwelt, im Ballspiel besiegen. Dies ist der bekannteste Mythos der Maya und bis heute aktuell.

Die Erzählung von den Göttlichen Zwillingen beginnt damit, dass Hun-Hunahpú (»Einsjäger«), der Vater der Zwillinge, und sein Bruder Vucub-Hunahpú (»Siebenjäger«), ebenfalls Zwillingsbrüder, die Götter der Unterwelt durch den Lärm des Ballspiels stören und diese ihnen daher befehlen, zu ihnen zu kommen. Die Herrscher der Unterwelt stellen den Brüdern die Aufgabe, dass jeder einen Kienspan und eine Zigarre die Nacht über brennen lassen und diese morgens zurückgeben soll, ohne dass sie aufgebraucht sind. Kienspan und Zigarre aber brennen ab, die Aufgabe ist nicht erfüllt. So werden sie von den Herren der Unterwelt getötet.

Der eine Bruder wird unter dem Ballspielplatz begraben, der Schädel von Hun-Hunahpú wird an einem Baum aufgehangen. »Aber kaum hatte man den Kopf in den Baum gesetzt, da bedeckte sich dieser mit Früchten. Niemals hatte der Frucht getragen, bevor man den Kopf Hun Hunahpús in seine Äste gesetzt hatte. Darum nennen wir heute die Jicara-Frucht ›den Kopf Hun Hunahpús‹.«160 Der Kopf Hunahpús unterschied sich nicht mehr von den anderen Jicara-Früchten. Die Herren der Unterwelt verboten deshalb, Früchte von diesem Baum zu pflücken. Aber Ixquic, die Tochter eines der Unterweltsherren, war neugierig und suchte diesen Baum auf. Der Schädel sprach zu ihr:

»›Was wünschest du? Diese runden Dinge an allen Ästen sind nichts als Schädel.‹ So sprach der Kopf von Einsjäger zur Jungfrau. ›Gelüstet es dich danach?‹ ›Ja, mich gelüstet es‹, sagte die Jungfrau. ›Es ist gut‹, sagte der Schädel. ›Strecke mir nur deine rechte Hand entgegen. Zeige her.‹ ›Wohl!‹ sagte die Jungfrau, erhob ihre rechte Hand und streckt sie dem Schädel entgegen. Da spritzte der Schädel einen Strahl Speichel mitten auf die Handfläche der Jungfrau. Die schaute nachdenklich in ihre Hand, aber der Speichel des Schädels war verschwunden. ›Mit diesem Wasser, diesem Speichel habe ich dir mein Liebespfand gegeben. Nun hat mein Haupt keinen Wert mehr, nichts als Knochen ohne Fleisch bleibt es. So sind die Schädel der Großen Herren: nur das schöne Fleisch gibt ihnen Ansehen. […] Aber ihr Wesen verliert sich nicht, wenn sie hingehen: es vererbt sich. […] Es bleibt vielmehr in den Töchtern und Söhnen, die sie erzeugen. Eben diese habe ich mit dir getan. Steige nun empor zur Erde […].‹ Und es kehrte nach dieser Rede die Jungfrau sogleich heim. Und schon war sie schwanger an Söhnen, allein durch den Speichel. So geschah die Zeugung von Hunahpú und Ixbalanqué.«161

Als der Vater von Ixquic erfährt, dass sie schwanger ist, will er sie töten lassen. Ihr aber gelingt die Flucht auf die Erde, wo sie bei ihrer Schwiegermutter unterkommt und die Zwillinge gebiert. Diese sind als Erwachsene ebenso wie ihr Vater talentierte Jäger und Ballspieler. Von ihren beiden älteren Brüdern missachtet, verwandeln die Zwillinge diese in Affen und seitdem sind diese nun die Schutzpatrone der Musiker, Maler und Bildhauer.

Wie ihr Vater und dessen Bruder stören die Zwillinge mit ihrem Ballspiel die Herren der Unterwelt, die die Zwillinge in die Unterwelt beordern und versuchen, sie zu hintergehen. Tagsüber müssen die Zwillinge gegen die Unterweltsherrscher Ball spielen und lassen diese dabei immer gewinnen. Nachts werden ihnen Prüfungen auferlegt, durch die sie getötet werden sollen, die sie aber alle meistern. So sollen sie in der ersten Nacht im Haus der Finsternis zwei Zigarren und einen Kienspan die ganze Nacht am Brennen halten und am Morgen aber unversehrt wieder zurückgeben. Ihnen gelingt dies, indem sie Glühwürmchen an die Zigarrenspitzen und den Schwanz eines Aras an den Kienspan anbringen und somit das Brennen vortäuschen. Die zweite Nacht verbringen die Zwillinge im Dolchmesserhaus, wo sich ständig Messer bewegen und Fleisch schneiden. Gleichzeitig sollen sie Blumensträuße herbeischaffen. Die Zwillinge bringen die Messer mit dem Versprechen zur Ruhe, ihnen Tierfleisch zu besorgen und lassen sich durch Ameisen die Blumensträuße besorgen. Danach folgt eine Nacht im Haus Xuxulim, wo extreme Kälte herrscht, dann im Jaguarhaus, das voller hungriger Jaguare ist, im Haus des Feuers zwischen Feuerflammen und schließlich im Haus der Fledermäuse. Dabei wird einem Zwilling von einer Fledermaus der Kopf abgerissen. Beim Ballspiel mit den Unterweltsherrschern am nächsten Tag benutzen diese den Kopf als Ball. Dem anderen Zwilling gelingt es aber, den Kopf seines Bruders gegen einen Kürbis auszutauschen und ihm seinen richtigen Kopf wieder aufzusetzen. Nun beschließen die Herrscher der Unterwelt, die Zwillinge in einer Siedebütte zu töten. Diese erfahren davon, springen aber trotzdem hinein. Danach werden ihre Leiber »zermahlen und in fließendes Wasser gestreut. Aber sie trieben nicht davon, sondern sanken auf den Boden des Wassers und verwandelten sich in schöne Jünglinge. In dieser Gestalt erschienen sie aufs neue«162. Sie wechseln danach ihre Gestalt und erscheinen als Menschenfischer, dann als Bettler, die Tänze und Zaubertricks in der Unterwelt vorführen. Vor den beiden obersten Herren der Unterwelt, Einstod und Siebentod, führen sie schließlich den Opfertanz auf, wobei der eine den anderen enthauptet, zerstückelt und dann wieder zum Leben erweckt. Fasziniert davon bitten die Unterweltsherrscher die Zwillinge, dies an ihnen selbst durchzuführen. Dieser Bitte kommen die Zwillinge nur zum Teil nach: Sie töten zwar die Herrscher der Unterwelt, machen sie aber nicht wieder lebendig. Damit waren die Herren der Unterwelt besiegt. »So brach Macht und Glanz von Xilbalbá zusammen, nie gewann es neue Größe. Das war die Tat von Hunahpú und Ixbalanqué.«163 Ihren Vater und dessen Bruder können sie allerdings nicht mehr wieder zum Leben erwecken. »So nahmen sie Abschied, nachdem sie ganz Xibalbá besiegt hatten. Hierauf mitten ins Licht stiegen sie, zum Himmel erhoben sie sich sogleich. Zur Sonne wurde der eine, zum Mond der andere. Und so füllte Licht die Kuppel des Himmels und das Angesicht der Erde. Am Himmel verweilen sie.«164 Damit endet der Mythos, der letztlich aufzeigt, dass der Tod überwindbar ist. Damit wird die Hoffnung vermittelt, dem Tod genau wie die Zwillingsbrüder zu entgehen. Bis heute ist der Mythos der Göttlichen Zwillinge auch im Weltbild der modernen Maya lebendig.

133Popul Vuh 1978, 102.

134Die für Yukatan typischen Karsthöhlen mit Grundwasser.

135Popol Vuh 1978, 60.

136Ebd., 29.

137Ebd., 32.

138Ebd., 33.

139Ebd., 103–106.

140Diego de Landa 2017, 78.

141Ähnlich verbringt Persephone im altgriechischen Mythos nach ihrer Entführung durch den Unterweltsgott Hades den Winter in der Unterwelt und den Sommer auf der Erde bei ihrer Mutter Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit und des Getreides.

142s. S. 199–202.

143Alphabetisch geordnet.

144Diego de Landa 2017, 77 f.

145Ebd., 78.

146Vgl. Nikolai Grube: Die Sujets der Vasenmalerei, in: ders. / Maria Gaida 2006, 57.

147Ebd.

148Popol Vuh 1978, 55.

149Diego de Landa 2017, 78 f.

150So Mircea Eliade in seinem Standardwerk Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Paris 1951.

151Diego de Landa 2017, 117–157.

152Ebd., 97.

153Ebd.

154Ebd., 76.

155Ebd., 81 f.

156Ebd., 82 f.

157Ebd., 83.

158s. S. 263.

159Diego de Landa 2017, 79 f.

160Popol Vuh 1978, 61.

161Ebd., 62 f.

162Ebd., 94.

163Ebd., 100.

164Ebd., 101.