FASZINATION MAYA: DIE MAYA IN FORSCHUNG UND ESOTERIK

Die Zeichnung stellt den gegenwärtigen Zustand des Gebäudes dar, umgeben und überwachsen von Bäumen; aber von dem tiefen, erhabenen Eindruck, den es auf uns machte, vermag keine Schilderung und keine Zeichnung eine Vorstellung zu vermitteln. Allein, es war unser Ziel, das Gebäude so wiederzugeben, wie es einst im unversehrtem Zustande ausgesehen haben mochte, um es der gelehrten Betrachtung und dem Vergleich mit der Architektur anderer Länder und Zeiten zur Verfügung zu stellen.194

So John Lloyd Stephens bei seinem Forschungsaufenthalt in Palenque. Mit der Wiederentdeckung der Maya-Ruinen im 19. Jh. durch John Lloyd Stephens begann die Maya-Forschung. Waren es zu Anfang »Seiteneinsteiger« wie Stephens, die – von der Maya-Kultur fasziniert – im privaten Rahmen den Bestand dokumentierten, führten in der zweiten Phase Institutionen in den USA wie das Peabody Museum of Archaeology and Ethnology (Harvard University, Cambridge, Massachusetts) und die Carnegie Institution for Science (Washington, D. C.) archäologische Ausgrabungen durch. Die Maya-Forschung ist weitgehend eine Domäne von Forschern der USA. Aber auch Briten und Deutsche sind nach wie vor maßgeblich daran beteiligt. Von Anfang an war auch das esoterische Interesse an der Maya-Kultur groß und nicht selten mit der wissenschaftlichen Forschung verbunden. Charles Étienne Brasseur de Bourbourg ist hier als Beispiel zu nennen, dem wir einerseits erste wissenschaftliche Entdeckungen verdanken, der aber andererseits ebenso esoterische Theorien vertrat. Im Folgenden werden die wichtigsten Forscher und Ereignisse der Maya-Forschung zusammengefasst – sozusagen als Ausschnitt, eine detaillierte Übersicht würde den Rahmen dieses Buches sprengen.

John Lloyd Stephens und die Wiederentdeckung der Maya-Kultur

Die vorspanische Maya-Kultur geriet nach der spanischen Eroberung im Laufe der Zeit in Vergessenheit und wurde erst im 19. Jh. buchstäblich wiederentdeckt. Es war wie erwähnt der US-Amerikaner John Lloyd Stephens (1805–1852), der als Pionier der amerikanischen Archäologie im Maya-Gebiet im Regenwald die vergessenen Tempel und Paläste der Maya wiederentdeckte, durch seine Publikationen weltweit bekannt machte und andere wie Charles Étienne Brasseur de Bourbourg zur weiteren Forschung anregte. Und er war es, der erkannte, dass es sich bei den Ruinen um Reste einer eigenständigen Kultur der Neuen Welt handelte und sie in Verbindung zu den zeitgenössischen Indios brachte. Erst nach Stephens setzte sich die Bezeichnung Maya für diese Kultur durch. Stephens war Jurist, Diplomat, Amateurarchäologe und Reisebuchautor, der schon zuvor viele Länder Europas und des Nahen Ostens bereist und darüber berichtet hatte.195

1839 wurde Stephens zum US-Botschafter in der Zentralamerikanischen Konföderation in Guatemala-Stadt ernannt. Diese Zeit nutzte er für Entdeckungsreisen im Maya-Gebiet. Auf diesen Reisen begleitete ihn der britische Architekt und Maler Frederick Catherwood (1799–1854). Dieser hatte ebenfalls zuvor Reisen nach Palästina, Ägypten, Griechenland und in die Türkei unternommen, und Stephens 1836 in London kennengelernt. Beide unternahmen zusammen zwei Forschungsreisen ins Maya-Gebiet 1839/40 und 1841/42.

Stephens Reisebericht, in dem er nicht nur die von ihm entdeckten Maya-Ruinen genauestens beschrieb, sondern auch seine eigenen abenteuerlichen Erlebnisse, die Begegnungen mit der Bevölkerung und diverse Ereignisse des Bürgerkrieges dieser Zeit lebendig schildert, wurde ein Weltbestseller. Catherwood lieferte die Abbildungen. Ihm verdanken wir die ersten Bilder der Maya-Ruinen, die er detailgetreu zeichnete und später aquarellierte. Detailgetreu deshalb, weil er die Camera Lucida verwendete. Mit einer solchen werden die Umrisse des Motivs durch ein Prisma auf dem Zeichenpapier wiedergegeben und auf diese Weise relativ naturgetreue Abbildungen ermöglicht.

Incidents of Travel in Central America, Chiapas and Yucatan erschien in zwei Bänden 1841 und 1843. Stephens besuchte zusammen mit Catherwood mehr als vierzig Maya-Stätten, darunter Copán, Palenque, Uxmal, Nohpat, Kabah, Sayil, Labna, Kiuik, Chichén Itzá, Cozumel und Tulum. Diese Ruinen waren zu jener Zeit von Bäumen und Pflanzen des Regenwaldes völlig überwachsen, und nicht selten Teil eines Hacienda-Besitzes. So kaufte Stephens für eine »Handvoll Dollar«, genau 50 Dollar, die Ruinen der Maya-Stadt Copán einem Hacendero ab, um ungestört seine Studien durchzuführen:

»Es wird den Leser vielleicht interessieren, wie man in Zentralamerika alte Städte kauft. […] So vernehme denn der Leser, dass ich für Copan fünfzig Dollar zahlte. Wegen des Preises gab es keine Schwierigkeit: Ich bot jene Summe, und Don José Maria hielt sie für so übermäßig hoch, dass ich in seinen Augen geradezu als Narr erschien; hätte ich mehr geboten, er würde mich wahrscheinlich für etwas noch Schlimmeres angesehen haben.«196

Ebenso berichtet er über die Schwierigkeiten bei der Erforschung von Ruinen wie zum Beispiel Copán: »Das Gelände war uneben und so dicht bewaldet, dass auf dem ganzen Wege ein Indianer vor uns hergehen und mit seiner Machete die Zweige und Schösslinge niederhauen musste.«197 Zudem wurde der Aufenthalt durch starke Unwetter, Moskitos, Zecken und Sandflöhe erschwert.

Auf den Spuren einer geheimnisvollen Kultur: Die Maya-Forschung im Überblick

Wohl nicht zuletzt inspiriert durch die Berichte von Stephens und Catherwood begann der Franzose Charles Étienne Brasseur de Bourbourg (1814–1874) sich mit der Maya-Kultur zu beschäftigen, obwohl er ursprünglich Theologie und Philosophie studiert hatte. Er war längere Zeit in Guatemala als Missionar tätig. Ihm verdanken wir die Entdeckung der Kopien des Popol Vuh (1854), des Manuskriptes von Landas Bericht aus Yukatan (1862) und des Madrider Maya-Codex (1866). Außerdem erkannte er, dass es sich bei dem Pariser und dem Dresdner Codex um Maya-Schriften handelte. Brasseur de Bourbourg ermöglichte so schließlich die spätere Entzifferung der Maya-Schrift. Darüber hinaus übersetzte er die Annalen der Kaqchikel (1855), schrieb eine Grammatik der K’iche’-Sprache198 (1862) und einen – von Jean-Frédéric Waldeck illustrierten – Bericht über die Maya-Ruinen199 (1866). Brasseur de Bourbourg war allerdings ebenso der Erste, der das Thema Maya im Esoterik-Bereich maßgeblich beeinflusste.200

Teobert Maler (1842–1917) war ein deutsch-österreichischer Architekt. Er war im Freikorps von Erzherzog Ferdinand Maximilian, Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph und 1864–67 Kaiser von Mexiko, nach Amerika gekommen, wo er bis zu seinem Tod blieb. Als er 1877 Palenque besuchte, war er von den Maya-Ruinen so fasziniert, dass sie seitdem zu seinem Lebensziel wurden. Dieses konnte er sich durch sein Privatvermögen und die finanzielle Unterstützung des Peabody Museums ermöglichen. Er war der Erste, der über hundert archäologische Orte mit mehreren tausend Fotografien dokumentierte. In Mérida hatte er sich ein Fotostudio eingerichtet. Seine Fotoarbeiten waren nicht nur technisch auf dem neuesten Stand seiner Zeit, sondern er war ebenso fotografisch hoch begabt. Seine Aufnahmen201 sind von höchster Qualität und bis heute eine wichtige Quelle der Maya-Forschung, weil viele der fotografierten Maya-Ruinen nicht mehr erhalten sind. Eine Ehrung wurde ihm aber zu Lebzeiten nicht mehr zuteil: Er musste zuletzt vom Verkauf seiner Fotografien leben und starb verarmt.

Ernst Wilhelm Förstemann (1822–1906) war Germanist und Direktor der Dresdner Bibliothek, der zunächst dafür sorgte, dass der Dresdner Codex 1880 publiziert wurde. Von 1887 bis 1898 gab er die Schriftenreihe Zur Entzifferung der Mayahandschriften heraus. Hierbei gelang ihm, das Zahlen- und Kalendersystem des Dresdner Codex zu entschlüsseln, konkret das 20-Tagesystem der Maya und die Lange Zählung.

Der Berliner Paul Schellhas (1859–1945) wandte sich, unterstützt von Förstermann, neben seinen Tätigkeiten als Anwalt und Richter der Maya-Forschung zu. Beschäftigte er sich zunächst mit der altägyptischen Hieroglyphenschrift, galt sein Interesse bald ausschließlich dem Dresdner Codex und der Entzifferung der Maya-Schrift. Seine Einstufung der Maya-Schrift als ideografisch bzw. piktografisch erwies sich zwar als falsch. Aber seine Vermutung, dass die Inschriften auf Steinmonumenten die Eigennamen der abgebildeten Personen enthielten, sowie seine Betonung der Bedeutung der Hieroglyphenschriften auf Keramikgefäßen wurden von späteren Maya-Forschern wie Heinrich Berlin, Tatjana Proskouriakoff und Michael D. Coe weiterentwickelt. Seine bedeutendste Leistung aber war die Identifizierung von 30 im Dresdner Codex dargestellten Maya-Gottheiten.202 Diese nach ihm benannten Schellhas-Gottheiten versah er mit Buchstaben, die teilweise bis heute ihre Gültigkeit besitzen.

Heinrich Berlin Neubart (1915–1988) emigrierte als jüdischer Verfolgter in der Nazizeit nach Mexiko-Stadt, wo er Völkerkunde studierte. 1938–1945 war er an den Ausgrabungen in Palenque beteiligt. In den 1950er-Jahren war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nationalmuseum von Guatemala und Professor am Institut für Anthropologie und Geschichte in Guatemala-Stadt. Er entdeckte die Bedeutung der Emblem-Hieroglyphen. Dies sind bestimmte Hieroglyphen, die wie Wappen als Zeichen für eine bestimmte Stadt oder Herrscherfamilie verwendet werden. Seine Vermutung, dass die Maya-Inschriften historischen Inhalts sind, sollte sich als richtig erweisen und wurde später von Tatiana Proskouriakoff eindeutig belegt.

Dem US-amerikanischen Archäologen Sylvanus Morley (1883–1948) verdanken wir nicht nur die Ausgrabungen von Chichén Itzá, sondern auch wichtige Erkenntnisse über Schrift und Kalender der Maya. Durch seine populärwissenschaftlichen Bücher machte er die Kultur der Maya einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Nach seinem Tod wurde bekannt, dass er seine archäologische Arbeit in Yukatan mit Spionagetätigkeit für die USA verbunden hatte.203

Juri Walentinowitsch Knorosow (1922–1999) hatte zunächst Ägyptologie studiert. Er war als Soldat der Roten Armee 1945 beim Einmarsch in Berlin dabei. In der Berliner Preußischen Staatsbibliothek entdeckte er eine Kopie des Dresdner Codex und des Berichts aus Yukatan. Er nahm beides mit, schrieb in der UdSSR eine Diplomarbeit über die Maya-Schrift (1952)204, dann seine Dissertation über Landas Bericht aus Yukatan (1955) und war danach an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR tätig. Knorosow verglich die Maya-Schrift mit der altägyptischen Hieroglyphenschrift und stellte fest, dass beide Schriftsysteme ungefähr gleich viele Zeichen aufweisen. Er erkannte, dass Diego de Landa die von ihm aufgelisteten Silbenzeichen als Buchstaben missverstanden hatte. So beschrieb dieser zum Beispiel das Zeichen be als Buchstaben, obwohl es sich dabei in Wirklichkeit um ein Silbenzeichen handelt. Das Verdienst von Knorosow ist folglich die Erkenntnis, dass die Maya-Hieroglyphen eine Silbenschrift darstellen und dass ein Begriff durch mehrere Schrift- oder auch Bildzeichen wiedergegeben werden kann.

In der westlichen Forschung wurde diese bahnbrechende Erkenntnis lange Zeit abgelehnt. Dafür sorgte der Brite Sir John Eric Sidney Thompson (1898–1975), der damals führende Maya-Forscher, dem unter anderem eine Korrelation zwischen dem Maya-Kalender und unserem Gregorianischen Kalender zu verdanken ist. Thompson, der die Maya-Hieroglyphen als Wortschrift ansah, bezeichnete die Arbeit Knosorows als kommunistische Propaganda – in Zeiten des Kalten Krieges sehr wirkungsvoll. Aufgrund einiger Detailfehler lehnte er gleich die ganze Arbeit als falsch ab. Der Archäologe David Humiston Kelley (1924–2011) und der Anthropologe Floyd Glenn Lounsbury (1914–1998), die die Erkenntnisse Knosorows trotzdem anerkannten und weiterentwickelten, wurden ebenfalls kommunistischer Propaganda verdächtigt. Erst nach dem Tod Thompsons wurde das Werk Knorosows gewürdigt, das nun den Grundstein für die weitere Entzifferung der Maya-Hieroglyphen bildete.

Auch die Arbeit von Tatiana Avenirovna Proskouriakoff (1909–1985) tat Thompson als marxistische Propaganda ab. Diese war 1915 in die USA gekommen, hatte zunächst Architektur studiert, ehe sie sich der Archäologie zuwandte. Sie war zuerst an der Carnegie Institution for Science (Washington D. C.) und später am Peabody Museum of Archaeology and Ethnology (Harvard University; Cambridge, Massachusetts) tätig. Als archäologische Illustratorin ist ihr in der Entzifferung der Maya-Schrift205 ein wesentlicher Fortschritt zu verdanken: Sie erkannte und bewies, dass die Inschriften in Piedras Negras206 ebenso wie Stelen in Tikal und Chichén Itzá über geschichtliche und biografische Ereignisse in der Regierungszeit der Herrscher berichten. Außerdem konnte sie eine Reihe von Verben entziffern bzw. übersetzen.

Michael Douglas Coe (1929–2019) war vor seiner Karriere als Maya-Forscher, ähnlich wie Morley, für einige Monate im Spionagebereich als Führungsoffizier für die CIA in Südostasien tätig gewesen. Er war Professor für Anthropologie an der Yale University (New Haven, CT), Kurator am Peabody Museum of Natural History (Yale University; New Haven, CT) sowie Autor einiger populärwissenschaftlicher Bücher über die Maya. Sein Schwerpunkt war die Maya-Schrift.

Merle Greene Robertson (1913–2011) nahm nach einem Kunststudium in den 1970er-Jahren an einem Forschungsprojekt in Palenque teil, wobei sie insgesamt 2000 Abklatsche bzw. Kopien der dortigen Reliefs anfertigte. Diese sind heute wichtige Zeugnisse, da die Originale inzwischen durch Regen sowie Plünderung zerstört worden sind. Zudem organisierte sie die Palenque Round Tables – internationale Konferenzen, die besonders in der Entzifferung der Maya-Hieroglyphen Fortschritte verbuchten, vor allem hinsichtlich der Grammatik. Wichtigste Erkenntnis dieser Konferenzen war, dass die Syntax der Inschriften dieselbe ist wie die der heutigen Maya-Sprachen, und aus der Reihenfolge Verb, Objekt und Subjekt besteht. Das ermöglichte es, die Hieroglyphen Wortarten zuzuordnen, selbst wenn die genaue Übersetzung noch unklar war.

Robertson war die Lehrerin von Linda Schele (1942–1998), die wie diese ebenfalls zunächst Kunst studierte. Als Schele von der Universität den Auftrag bekam, die Ruinenstadt Palenque zu fotografieren, war dies der Beginn ihrer Karriere als Maya-Forscherin. Sie promovierte über die Maya-Hieroglyphen.207 Zusammen mit Floyd Glenn Lounsbury und Peter Matthews erstellte sie die 200-jährige Dynastie-Geschichte von Palenque. Aus ihrem 1977 gegründeten Maya Hieroglyphic Workshop entwickelte sich in den 1990er-Jahren das international führende Forschungsprojekt Texas Notes zur Entzifferung der Maya-Schrift. Seit 1988 organisierte sie mit Nikolai Grube und Frederico Fahsen Workshops für die heutigen Maya, um diese über ihre Geschichte, Kultur und Schrift ihrer Vorfahren zu informieren.

Nikolai Grube (geb. 1962), aktuell einer der weltweit führenden Maya-Forscher, arbeitete zunächst mit Linda Schele zusammen. Er war Inhaber des Linda and David Schele Chair in the Art and Writing of Mesoamerica (University of Texas) in den Jahren 2000–2004, ehe er in Bonn Professor für Altamerikanistik und Ethnologie wurde. Neben archäologischen Ausgrabungen im Maya-Gebiet und Organisation von Ausstellungen ist er maßgeblich an den Fortschritten in der Entzifferung der Maya-Schrift beteiligt.

Mayanism – Die Maya in der Esoterikszene

Nicht nur Wissenschaftler waren und sind von der Maya-Kultur fasziniert, sondern zunehmend auch ein weiter Kreis von Laien. Schon zu Beginn der Maya-Forschung entwickelte sich zeitgleich das Interesse der Esoterik an der Kultur der klassischen Maya. Heute gibt es eine eigene Sparte der modernen Esoterik (mayanism208), die sich speziell mit den Maya beschäftigt. Dabei werden zum Beispiel diverse Theorien zum Ursprung der Maya-Kultur in pseudowissenschaftlicher Art und Weise vertreten oder vermeintlich authentische »schamanistische« Praktiken der Maya für den eigenen, individuellen Weg der Selbsterkenntnis oder Persönlichkeitserweitung genutzt. Insgesamt lassen sich hierbei vier Themenschwerpunkte zusammenfassen:

·Die Maya als Nachkommen eines untergegangenen Volkes oder der Bevölkerung eines verlorenen Kontinents (Atlantis) bzw. derjenigen, die mit Atlantis irgendwie in Kontakt standen: So nahm der Ire Edward King, besser bekannt als Lord Kingsborough (1795–1837), an, die Maya seien der verlorene Stamm Israels. Charles Étienne Brasseur de Bourbourg (1814–1874) vermutete, dass der Ursprung der Maya-Kultur mit dem verlorenen Kontinent Atlantis in Zusammenhang stehe. Die Atlantis-Theorie wurde vor allem von Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) und der Theosophie aufgenommen.

·Die Maya als Beispiel und Beleg für die Existenz außerirdischer Besucher auf der Erde: »Begründer« dieser Theorie und nach wie vor Hauptvertreter ist Erich von Däniken (geb. 1935), der davon ausgeht, dass die Leistungen der Maya-Kultur wie die anderer Hochkulturen nur mit dem Besuch von Außerirdischen auf der Erde zu erklären sind.

·Der Maya-Kalender als Prophezeiung des Weltunterganges 2012: Maßgebend war hierbei vor allem José Argüelles (1939–2011).209

·Die Maya als Beispiel für schamanistische Erfahrungen und halluzinogene Visionen: In der Esoterik spielt die spirituelle Praxis eine große Rolle. So boten sich die auch in der Forschung öfters betonten schamanistischen Praktiken und Erfahrungen der klassischen Maya als Vorbild an. Diese Vorstellungen wurden von einigen autochthonen Maya-Priestern übernommen, die so wiederum in der westlichen Esoterikszene aktiv und bekannt wurden.

Diese vier aufgezählten Themenaspekte sollen im Folgenden etwas näher dargestellt werden.

Es war Charles Étienne Brasseur de Bourbourg (1814–1874), der sich als einer der Ersten mit der Maya-Kultur beschäftigte. Dabei gab er nicht nur, wie weiter oben beschrieben, entscheidende Impulse in die wissenschaftliche, sondern mit seinen späteren Schriften ebenso in die esoterische Richtung. Sich auf Platons Beschreibung eines verlorenen Kontinentes namens Atlantis berufend, vermutete er, dass sowohl die Alte als auch die Neue Welt ihren Ursprung in Atlantis gehabt hätten, und dass es schon vor der Entdeckung durch Kolumbus Kontakte zwischen der Alten und der Neuen Welt gegeben hätte. So sah er vor allem in der Mythologie und im Pantheon der Maya und des Alten Ägypten Ähnlichkeiten. Diese Vorstellungen inspirierten und beeinflussten wiederum vor allem Auguste Le Plongeon (1825–1908) und Ignatius Donnelly (1831–1901), die diese Ideen weiterentwickelten und damit ihrerseits Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) und die Theosophie bis hin zur modernen Esoterik beeinflussten. Brasseur de Bourbourg legte somit nicht nur den Grundstein zur Maya-Forschung, sondern auch zu dem Mayanism genannten Bereich der modernen Esoterik.

In den 1970er-Jahren brachte Erich von Däniken (geb. 1935) die These vor, dass die Götter der Alten und der Neuen Welt außerirdische Astronauten gewesen seien, die auf der Erde gelandet seien und den Menschen Kultur und Wissen gebracht hätten. Nach wie vor publiziert Däniken zahlreiche Bücher zu diesem Thema, unter anderem Was ist falsch im Maya-Land? Versteckte Technologien in Tempeln und Skulpturen (2011). Darin vertritt er die These, dass die archäologischen Funde der vorspanischen Maya-Kultur sich mit dem Besuch von Außerirdischen erklären lassen. Dänikens Grundthese ist, dass Außerirdische auf der Erde gelandet seien und es dann aufgrund der sexuellen Verbindung mit den Menschenaffen bzw. Menschen der Frühzeit zur Entwicklung der frühen menschlichen Kulturen gekommen sei. Von den Menschen wurden diese außerirdischen Astronauten weltweit als Götter in den Religionen verehrt. Auch die Kunst, Architektur und hochentwickelte Technologie der Maya sind für Däniken ein Zeugnis der Erinnerung an diese außerirdischen Besucher.

Däniken versucht seine Theorie am Beispiel der Maya-Kultur, wie der Untertitel seines Buches schon sagt, durch »versteckte Technologien in Tempeln und Skulpturen« nachzuweisen. So interpretiert er zum Beispiel die im »El-Baúl-Monument 27« (besser bekannt als Stele 5 von El Baúl) dargestellte Person mit Maske als außerirdischen Besucher im Astronautenanzug: Die Maske sei der Astronautenhelm, aus dem sichtbar der Atem des Astronauten als »Atemfahne« herausströmt. Der geschlossene Helm mit Sichtscheibe sei nötig, so Däniken, »wegen der irdischen Luftzusammensetzung und der Bakterien. Aus einem Tank auf dem Rücken floss irgendein chemisches Gemisch, das unsere Luft anreicherte oder desinfizierte. Die verbrauchte Luft wurde wieder ausgestoßen. Der ganze Körper steckte in einem engen, luftundurchlässigen Overall, abgeschlossen durch die hohen Stiefel.«210 Der Künstler habe aber »persönlich nie einen ›Gott‹ zu Gesicht bekommen. Das lag weit, weit in der Vergangenheit. Die Fleißarbeit des Künstlers entstand aus der Fantasie der Überlieferung, vergleichbar dem heutigen Kunstmaler, der die Himmelfahrt Jesu über einen Seitenalter pinselt, obschon er beim tatsächlichen Ereignis nie dabei war.«211

Tatsächlich handelt es sich bei der Stele 5 von El Baúl um die Darstellung eines Ballspielers mit einer Kojoten- oder Jaguarmaske (und nicht mit einem Helm, wie Däniken es interpretiert), mit Fäustlings-Handschuhen, nacktem Oberkörper und Beinkleidung (also kein Overall, wie Däniken meint) und mit einem davor auf dem Boden liegenden zweiten Spieler. Nicht ganz eindeutig ist einzuordnen, was aus dem Mund des Spielers tritt (Atemluft, Blut, Spucke?). Und hier hat Däniken für seine Fans den Vorteil, eine eindeutige Antwort zu geben: verbrauchte Atemluft aus dem Sauerstofftank der Raumfahrerausrüstung. Dänikens Ideen wirken auf einen mehr oder weniger großen Leserkreis bis heute durchaus faszinierend und sind für die Wissenschaft wie »zwickende Hämorrhoiden«212. Denn da, wo der Wissenschaft bislang Grenzen gesetzt sind, sie (noch) keine Antworten zu bieten hat und dies ehrlicherweise bekennen muss, kann Däniken alle ungelösten Fragen unbeschwert mit seinen Theorien beantworten.

Der Mythos der Maya-Kultur wurde in der modernen Esoterik zur Grundlage der Prophezeiungen für den Weltuntergang im Jahre 2012, der dann doch nicht eintraf. Der Ursprung dieser modernen Prophezeiung lässt sich zeitlich ziemlich genau auf das Jahr 1987 mit dem Erscheinen von José Argüelles’ Buch Der Maya-Faktor datieren. Diesem Buch folgte eine Unzahl weiterer Bücher zu diesem Thema. José Argüelles (1939–2011), US-amerikanischer Künstler und Autor, war zwar nicht der Erste, der über ein zu erwartendes neues Zeitalter mit Hinweis auf den Maya-Kalender schrieb. Aber er verstand es, den Maya-Kalender in einem esoterischen Kontext und als esoterisches System publikumswirksam darzustellen und dadurch diese Endzeitvorstellungen populär zu machen. Zwar berufen sich diese Prophezeiungen auf Zukunftsdeutungen der vorspanischen Maya, aber diese lassen sich wissenschaftlich nicht belegen: Der Maya-Kalender bzw. Long-Count der Maya endet nicht mit dem Jahr 2012, das Jahr 2012 bedeutete für die Maya nicht das Weltende. So gibt es zum Beispiel eine Datierung für das Jubiläum des Herrschers Pakal von Palenque, das zwei Jahrtausende später, am 15.10.4772, stattfinden soll. Der 23.12.2012 ist für die Maya auch nicht die Wiederkehr des Datums der Weltschöpfung, denn dieses fällt auf den Tag 4 Ajaw 8 Kumk’u und nicht auf den des 4 Ajaw 3 Kankin (eben den 23.12.2012). Zudem bedeutete die Wiederkehr des Weltschöpfungsdatums für die Maya nicht den Untergang der Welt. Das Datum ist schlicht und einfach »nur« der Beginn einer neuen Zeitperiode, wie zum Beispiel für uns der Beginn eines neuen Jahrhunderts. Es ist der Beginn eines neuen Baktuns (400 Jahre), konkret des 13. Baktuns. Das Jahr 2012 wird nur dreimal auf Monumenten der vorspanischen Maya-Kultur erwähnt, wobei das Monument 6 in Tortuguero (Costa Rica) die Inthronisation des Gottes Bolon Yokte’ K’uh im Jahre 2012 ankündigt. Und gerade dieses Monument dürfte Argüelles und seinen Anhängern mit Sicherheit nicht bekannt gewesen sein! Der prophezeite Weltuntergang 2012 nach dem Maya-Kalender hatte in der modernen Esoterik so großen Erfolg, weil das im New Age angekündigte und erwartete neue »Zeitalter des Wassermanns« nicht eintrat und man nun mit einer neuen Endzeit spekulieren konnte. Mit der Erwartung des Untergangs der »alten« Welt und der Erwartung einer neuen Zeit, eines neuen Paradigmas, übte man Kritik an der jetzigen Zeit. Die Botschaft dabei war, dass man sich von der durch Technologie dominierten gegenwärtigen Welt mit ihren Umweltkatastrophen und anderen Problemen abwendet und durch Transformation wieder zum wahren Selbst findet. Der Mythos der Maya-Kultur bot dafür eine geeignete Projektionsfläche. Und das wahrscheinlich nicht zum letzten Mal.

An diesem Hype der Prophezeiungen zum Weltende 2012 nahmen auch autochthone Maya-Priester teil. So organisierte zum Beispiel eine Vereinigung von Maya-Priestern namens Oxlajuj Ajpop in Guatemala die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten am 23.12.2012 in den Ruinenstätten. Das zeigt: Man mag solche Vorstellungen der modernen Esoterik wie die Prophezeiungen für 2012 als Unsinn abtun, aber deren Breitenwirkung nicht nur bei uns, sondern wie in diesem Fall ebenso auf die Maya selbst, ist als Tatsache nicht zu unterschätzen. Bei den Maya ist dieser Einfluss von außen zu einem der Faktoren ethnischer Rückbesinnung geworden, die nicht zuletzt nach dem als Trauma erlebten Bürgerkrieg in Guatemala begann. Bei solch einer ethnischen Rückbesinnung versucht man, die eigene, in diesem Fall indianische, Tradition wiederzubeleben. Dabei muss die Vorstellung von der eigenen Tradition nicht unbedingt mit den historischen Fakten übereinstimmen, sondern diese ist oft eine Mischung aus realen und subjektiv-selektiven Elementen. So übernahmen einige Maya-Priester und -Schamanen nicht nur Elemente der modernen Esoterik in ihre Lehre, sondern sind auch selbst weltweit in der modernen Esoterik-Szene aktiv beteiligt und sehr erfolgreich in der Vermarktung ihrer Lehren und Rituale. Als Beispiele sind hier die Maya Alejandro Ciriolo Pérez Oxlaj oder Hunbatz Men zu nennen. Letzterer wurde durch eine Reihe von Publikationen über die »Geheimnisse des Maya-Wissens« bekannt.213 Daneben gibt es selbsternannte Maya-Priester, die keine gebürtigen Maya sind, zum Beispiel die Mexikanerin Eugenia Casarín, die sich Nah Kin nennt, oder der Ire Thomas Hart. Wie der Heiligenkult und die Cofradías ist auch das ein Phänomen nicht nur in Mittel-, sondern auch in Südamerika.214

194John Lloyd Stephens 1980, 141.

195Incidentes of Travel in Egypt, Arabia Petraea and the Holy Land (1837) und Incidentes of Travel in Greece, Turkey, Russia and Poland (1838).

196John Lloyd Stephens 1980, 39.

197Ebd., 59.

198Grammaire de la langue quichée.

199Monuments anciens du Mexique.

200s. S. 254.

201Diese befinden sich heute als Nachlass mit seinen Tagebüchern und Manuskripten im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin und im Peabody Museum in Cambridge, MA (USA).

202Die Göttergestalten der Maya-Handschriften: Ein mythologisches Kulturbild aus dem Alten Amerika, Dresden 1897.

203Für das Office of Naval Intelligence (»Amt für Marinenachrichtendienstliche Angelegenheiten«, abgekürzt ONI).

204Engl. Übersetzung: The Writing of the Maya Indians (Series of the Peabody Museum of Archaeology and Ethnology IV), 1967.

205An Album of Maya Architecture, Washington, D. C. 1946; A Study of Classic Maya Sculpture, Washington, D. C. 1950.

206s. S. 93.

207Maya Glyphs: The Verbs, 1982

208Bislang gibt es nur die englische Bezeichnung dafür, da diese esoterische Richtung vor allem in den USA verbreitet ist.

209Der Maya-Faktor, 1987.

210Erich von Däniken 2011, 43.

211Ebd.

212Wie es Harald Lesch in einer Radiosendung zum 80. Geburtstag von Däniken formulierte.

213Vgl. Die heilige Kultur der Maya. Ihre atlantische Herkunft, das Kalendersystem und seine Ausrichtung auf die Plejaden, Hanau 2011 als deutsche Publikation.

214S. dazu z. B. Francisco Gil García: Religionen des zentralandinen Südamerika, in: Mark Münzel: Indigene Religionen Südamerikas (Die Religionen der Menschheit 7,1), Stuttgart 2021, 236–306.