VORWORT:
EINE HOCHKULTUR IM DSCHUNGEL

Nichts im Drama der Weltgeschichte hat je einen gewaltigeren Eindruck auf mich gemacht als der Anblick dieser einst bedeutenden und prächtigen Stadt, jetzt aber verfallenen, verödeten, tief im Waldesdunkel schlummernden, ja sogar namenlos gewordenen Stadt – trauriges Zeugnis eines Weltenwandels, der nichts verschont.1

So John Lloyd Stephens, der schon zuvor Ägypten und andere Länder des Orients bereist hatte und dem die Wiederentdeckung der vorspanischen Maya-Städte im 19. Jh. zu verdanken ist, über die Ruinen der bekannten Stadt Palenque, so wie er sie bei seinem Besuch erlebte. Heute sind viele Maya-Städte der klassischen Zeit zwar nicht mehr namenslos, aber nach wie vor wartet eine Vielzahl der Stätten der vorspanischen Maya-Kultur auf ihre Entdeckung im Dickicht des Regenwaldes. Trotz der Fortschritte der Maya-Forschung vor allem in den letzten Jahrzehnten sind noch längst nicht alle Geheimnisse der Maya-Kultur entschlüsselt. So gibt es immer wieder neue, sensationelle Funde, zum Beispiel das erst 2020 entdeckte Aguada Fénix (Mexiko), die eine Revidierung des bisherigen Wissenstandes notwendig machen. Musste sich John Lloyd Stephens noch mühsam zu Fuß und mit der Machete den Weg zu den Ruinen im Dschungel bahnen, ermöglichen heute eine ganze Reihe moderner technischer Methoden einen bequemeren und vor allem schnelleren Überblick.

Die Kultur der Maya ist eine der faszinierendsten Hochkulturen der Welt und muss den Vergleich mit den Kulturen der Alten Welt nicht scheuen. Eine immer noch als geheimnisvoll geltende Kultur mitten im tropischen Regenwald mit zahlreichen Städten und prachtvollen Tempeln. Mit dem am weitesten entwickelten Schrift-, Zahl- und Kalendersystem waren die Maya die Genies unter den präkolumbianischen Kulturen. Sie rechneten mit dem Zahlwert Null, eine Errungenschaft, die im Abendland erst um 1000 n. Chr. mit Einführung des arabischen Zahlsystems bekannt wurde und sich in Deutschland erst im 15. Jh. durchsetzte. Die Maya hatten nicht nur eines, sondern mehrere Kalendersysteme, die die Tage sogar – wenn auch nur ein wenig – genauer berechneten als unser heutiger gregorianischer Kalender. Aufgrund intensiver Beobachtungen – ohne Teleskope! – waren die Priester genauestens über den Verlauf der Gestirne wie Sonne, Mond oder Venus informiert und richteten ihre Tempelbauten danach aus. Alle diese kulturellen Leistungen fanden ein plötzliches Ende, dessen genaue Umstände immer noch nicht vollständig geklärt sind. Die Maya und ihre kulturellen Leistungen gerieten schnell in Vergessenheit. Erst im 19. Jh. wurden die Ruinen ihrer Städte und Tempel im tiefsten Dschungel auf abenteuerliche Weise wiederentdeckt. So kaufte John Lloyd Stephens die bedeutende Maya-Stadt Copán für ein paar Dollar, um sie zu erkunden und für die Nachwelt zu dokumentieren. Während der von Stephens initiierten Erforschung nahm man dann lange Zeit an, die Maya seien als Volk der künstlerischen und wissenschaftlichen Hochleistungen – im Gegensatz zu den Azteken – ein Volk ohne Kriege und Menschenopfer gewesen. Aber bald stellte sich heraus: Wie die Azteken führten auch die Maya zahlreiche Kriege und praktizierten Menschenopfer. Geheimnisvoll bzw. ungeklärt ist immer noch, wie es den Maya der klassischen Zeit möglich war, den für Menschen lebensfeindlichen, feuchtheißen Regenwald intensiv landwirtschaftlich zu nutzen, dort eine Hochkultur zu entwickeln und wie genau es zu deren plötzlichem Ende kam.

Die Geschichte der vorspanischen Maya-Kultur umspannt die Zeit von den Anfängen und ersten großen Zeremonialanlagen in der Präklassik (1800–250 v. Chr.) – über die Zeit der Klassik (250–950 n. Chr.), in der Schrift- und Kalendersystem sowie Kunst den Höhepunkt ihrer Entwicklung erlebten, und die geprägt war durch eine Reihe von Stadtstaaten im Tiefland, deren Herrscher miteinander konkurrierten – bis hin zur Postklassik (950–1697 n. Chr.), der letzten Blütezeit der Maya-Kultur im Hochland von Guatemala und in Yukatan.

Ebenso interessant und abenteuerlich ist die weitere Geschichte der Maya bis zur Gegenwart. Die vollständige spanische Eroberung des Maya-Gebietes dauerte 173 Jahre, länger als die Eroberung der Azteken-Hauptstadt Tenochtitlán und des Inka-Reiches. Während der Kolonialzeit wehrten sich die Maya gegen die »unerhörten Grausamkeiten«2 der Spanier. Es kam immer wieder zu Aufständen. Heute noch leben ca. sechs Millionen Maya in Südmexiko, in Guatemala, Belize, El Salvador sowie im Westen von Honduras, die nach wie vor um ihre gesellschaftlich-politische Anerkennung kämpfen. Vor allem im Bereich der Religion prägen traditionelle Vorstellungen und Praktiken das Alltagsleben: Beispiele dafür sind die Heiler bzw. »Schamanen«, die nach wie vor konsultiert werden, oder die Verehrung vorspanischer Gottheiten in Gestalt christlicher Heiliger.

Seit der Wiederentdeckung der Maya-Kultur durch John Lloyd Stephens übt sie nicht nur in der wissenschaftlichen Welt bis heute eine Faszination aus, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit. Ein Beispiel dafür ist die in der Esoterik-Szene erzielte Breitenwirkung nicht zuletzt durch den Hype des nach dem Maya-Kalender für 2012 prophezeiten angeblichen Weltuntergangs, der wiederum von einer Reihe traditioneller Maya-Schamanen aufgenommen wurde.

Der Leser ist eingeladen, an dieser Faszination teilzunehmen und die Anfänge der Maya-Kultur kennenzulernen, die spannende Geschichte der Städte und ihrer Herrscher in der klassischen Zeit im Tiefland und deren plötzliches Ende, die zweite Blütezeit im Hochland von Guatemala und in Yukatan sowie die einzigartigen kulturellen Leistungen der Maya bezüglich Schrift, Kalender und Kunst, die abenteuerliche Eroberung des Maya-Gebietes durch die Spanier, die zahlreichen Aufstände der Maya bis hin zum Kastenkrieg und den Zapatistas, die Rückbesinnung der Maya auf ihre eigene Tradition, aber auch die spannende Forschungsgeschichte, die nicht mit Fachgelehrten, sondern Quereinsteigern begann. Abschließend wird ein Blick geworfen auf die Nachwirkungen der Maya-Kultur in der Esoterikszene sowie die aktuellen Entwicklungen in der Maya-Forschung und in der heutigen Welt der Maya. Meinen Dank möchte ich hierbei Stefan Gücklhorn, Lektor des Verlagshauses Römerweg, für die hervorragend gute Zusammenarbeit aussprechen. Vor allem danke ich auch Dr. Heinz Ulrich Brinkmann für die Mühe und den Zeitaufwand, die er mit seinem äußerst gründlichen und hilfreichen Lektorieren des Manuskriptes freundlicherweise auf sich genommen hat.

Nach wie vor gilt angesichts der noch zu erwartenden Neuentdeckungen in der Maya-Forschung das, was Stephens schon im 19. Jh. feststellte: »[…] wenn das Geheimnis dieser Ruinen aber einmal enträtselt sein wird, muss die Weltgeschichte neu geschrieben werden.«3

1John Lloyd Stephens 1980, 170.

2Wie es Diego de Landa formulierte, einer, der es wissen musste, war er doch als Missionar selbst daran beteiligt.

3John Lloyd Stephens 1980, 191.