Wie man sich aktuell fühlt, kann man seit einiger Zeit bei Facebook mit einem passenden Gefühlsbutton versehen – man kann dort also angeben, ob man gerade »fröhlich«, »zornig« oder »niedergeschlagen« ist. Inflationär ist der Gebrauch von Hashtags wie #blessed (selig) zu beobachten. Folgerichtig hat die Werbung schon längst die Bedeutung von Emotionen begriffen und setzt mittlerweile auf »emotional branding«, also auf eine Beziehung zwischen einer Marke und ihren Konsumenten, die von Emotionen geleitet ist. Es sind aber natürlich nur die positiven Gefühle, die in sozialen Netzwerken, Zeitschriften und in der Werbung dargestellt werden, denn happy und erfolgreich sein – das ist das große Ziel unserer Zeit.
Gefühle sind in aller Munde, aber viele Menschen ›fühlen‹ kaum oder gar nicht mehr richtig: Ihnen fällt es schwer, die emotionalen Signale ihres Körpers wahrzunehmen, zu deuten und sie in ihre Entscheidungen und in ihr Handeln auf angemessene Weise einzubeziehen.
So wie der Porno als eine Art Geschmacksverstärker wirkt und gleichzeitig den Geschlechtsverkehr ersetzt, scheinen Gefühle in unserer Gesellschaft nur noch gestellt, stilisiert und künstlich zu funktionieren. Weil aber Gefühle uns allzu oft fremd (geworden) sind, sind wir so versessen auf dieses Thema.
Emotionen treiben Handlungen voran. Viele Menschen aber haben verlernt, nach ihren Gefühlen zu handeln. Sie hassen ihren Job und fahren trotzdem jeden Morgen zur Arbeit. Ihre Beziehung besteht nur noch aus Streit, aber sie trennen sich nicht. Sie sehnen sich nach zwischenmenschlichem Kontakt, aber vergraben sich hinter ihren vier Wänden. Menschen in der westlichen Welt haben sich bis zu einem solchen Grad von ihren Gefühlen abgetrennt, dass sie sie nicht mehr verstehen oder sogar überhaupt nichts mehr empfinden. Wir unterdrücken negative Gefühle, lenken uns ab und streben einzig und allein nach einem oberflächlichen Gute-Laune-Gefühl. Aber ohne echte Gefühle ist keine Bindung möglich!
Fehlende emotionale Bindung führt dazu, dass immer mehr Menschen in der westlichen Welt allein leben und vereinsamen. Für dieses Phänomen prägte das medizinische Fachjournal The Lancet 2010 die Redewendung »Epidemie der Einsamkeit«. Wir sind zwar über alle Kontinente hinweg vernetzt, können uns aber an keine real vorhandene Schulter mehr anlehnen. Ob man es »Generation beziehungsunfähig« nennt oder »Hikikomori« – der vor allem in Japan zu beobachtende Trend bei jungen Männern, die sich komplett von der Außenwelt abkapseln –, eines haben diese Phänomene der heutigen Zeit gemeinsam: Enge Kontakte und feste Bindungen werden immer seltener, und damit verschwindet auch der Schutzraum im Leben eines jeden, in dem man Emotionen erzeugen, erlernen, anwenden und einüben kann.
Eine Studie[1] aus den USA zeigt, dass vor allem junge Menschen heutzutage weniger Sex haben als noch vor 30 Jahren. Die westliche Welt hat allerdings kein Problem mit Sex, aber ein Problem mit Kontakt, mit echtem zwischenmenschlichem Kontakt, mit Bindung. Das spiegelt sich auch auf freundschaftlicher Ebene wider: Während in den 1970er Jahren Teenies noch zu 52 Prozent angaben, sich fast jeden Tag mit Freunden zu treffen, taten das im Jahr 2017 nur noch 28 Prozent. Chatten ersetzt Sprechen; ein Herzchen-Emoticon ersetzt eine Umarmung und der Personal Coach, der persönliche Berater, ersetzt den besten Freund. Und so verlernen wir die Sprache der Gefühle.
Das kann uns auf Dauer krank machen: Die Quoten zu Depression, Angststörungen oder Burnout steigen von Jahr zu Jahr. Von 2007 bis 2017 ist die Zahl der Suizide bei 10- bis 24-Jährigen in den USA um 56 Prozent gestiegen. Die vielen verschiedenen Ursachen dafür sind komplex. Eine davon ist, dass viele Menschen in der westlichen Kultur den Bezug zu Emotionen verloren haben, und zwar seit ihrer Geburt.
Immer mehr junge Menschen leiden unter Vereinsamung. Dies hat nicht etwa begonnen, seit sie auf Facebook digital kommunizieren und nur noch wenigen Menschen analog begegnen. Schon Babys beginnen zu vereinsamen.
Was ich meine, wird Ihnen gleich einleuchten, wenn ich Ihnen das ideale Baby unserer westlichen Welt vorgestellt habe: Das Idealbaby kommt per Kaiserschnitt zur Welt. Die erste Person, die es sieht, ist ein Fremder, nämlich den Arzt oder die Ärztin, nicht seine eigenen Eltern. Das Idealbaby lässt sich problemlos ablegen, schläft nachts im eigenen Zimmer und benötigt keinerlei Körperkontakt zum Einschlafen. Die Flasche akzeptiert das ideale Baby; es verlangt nicht nach der Brust seiner Mutter. Bereits nach wenigen Monaten lässt sich das westliche Idealbaby tagsüber in einer Krippe betreuen und beschäftigt sich mit sich selbst und seinem Spielzeug. Ein Idealbaby ist ›pflegeleicht‹; es verlangt seinen Eltern so wenig Veränderung ihres Lebensstils wie nur möglich ab. Das ideale Baby ist also eines, das man kaum bemerkt.
In unserer westlichen Kultur ist man als Mutter dann ganz besonders anerkannt, wenn man so selten wie möglich oder gar nicht den Eindruck vermittelt, Mutter zu sein. Dabei ist der »After-Baby-Body« nur eines von vielen absurden Anzeichen für dieses Muttersein, dessen Ideal ist, nach außen nicht als Mutter erkennbar zu sein. Wenn eine Mutter exakt genauso viel arbeitet wie in der Zeit, als sie noch kein Kind hatte, dann hat sie es geschafft. Wenn sie körperlich noch genauso aussieht wie in der Zeit, als sie noch nicht schwanger war, verdient sie höchsten Respekt und Anerkennung.
Was steckt dahinter? Der Wunsch nach einem Kind, das möglichst nichts verändert, das zwar da ist, aber möglichst keine Spuren hinterlässt. Man möchte von sich sagen können, dass man Eltern ist, aber so richtig anmerken soll einem das bitte niemand. Und die Karriere darf natürlich auch nicht darunter leiden. Die paar Verrückten, die sich also überhaupt noch fortpflanzen, die erziehen ihre Kinder nicht, sondern trainieren sie dazu zu funktionieren. Und um zu funktionieren, ist es besonders praktisch, wenn einem Gefühle nicht in die Quere kommen.
Auf diese Weise aber wachsen immer mehr emotionale Analphabeten heran. Fragt man Psychologen, Therapeuten oder Coaches, was ihrer Meinung nach das verbreitetste Problem ist, das aber nicht als Problem angesehen wird, so sagen sie: Viele Menschen glauben, es sei normal, mit Gefühlen nicht umgehen zu können. Dabei wäre es allerdings sinnvoll, deswegen Hilfe aufzusuchen. Denn: Gefühle verstehen, über sie sprechen zu können und somit einen gesunden Umgang mit Gefühlen zu pflegen, lässt uns länger leben! Das ist wissenschaftlich belegt. So entdeckte man im Rahmen einer Untersuchung[2] von Menschen, die über 100 Jahre alt waren, einen Zusammenhang zwischen Langlebigkeit und der Fähigkeit, über Gefühle zu sprechen.
Emotionales Gleichgewicht verlängert aber nicht nur das Leben, es verbessert das Leben auch, denn es ist die beste Prävention vor psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. So konnten Wissenschaftler in einer aktuellen Studie[3] mit über 6000 Teilnehmern belegen: Zwei Faktoren aus der Kindheit einer Person tragen maßgeblich dazu bei, dass im Erwachsenenalter psychische Probleme ausbleiben – 1. möglichst viele positive Kindheitserfahrungen und 2. möglichst wenige negative Kindheitserfahrungen machen.
Das klingt natürlich banal, deshalb noch einmal etwas detaillierter: Viele Eltern denken, wenn ihr Kind frei von Gewalt oder Vernachlässigung aufwächst, entspreche dies einer »glücklichen Kindheit« und führe zu psychischer Stabilität im Erwachsenenalter. Eltern konzentrieren sich meistens also zu sehr auf Punkt 2: die Vermeidung negativer Kindheitserfahrungen. Das ist zwar löblich, aber leider nicht genug. Denn Punkt 1 (möglichst viele positive Kindheitserfahrungen) muss den Autoren der Studie zufolge auch erfüllt sein, damit Depressionen und andere psychische Erkrankungen nicht entstehen. Aber was ist mit positiven Kindheitserfahrungen genau gemeint? Interessanterweise lautet der erste zur Wahl stehende Punkt: »Ich konnte mit meiner Familie über meine Gefühle sprechen.« Bei dieser Aussage aber ist eine ausreichende soziale Bindung Voraussetzung. Und schließlich beziehen sich auch die folgenden sechs Punkte der Studie auf Bindungen innerhalb der Familie oder des Freundeskreises.
Oberflächlich mag mir vermutlich die Mehrheit in der Ansicht zustimmen, dass Freunde und Familie wichtig sind – aber die Bedeutung von Gefühlen und des Sprechens über Gefühle wird dennoch unterschätzt. Wie fundamental wichtig die Fähigkeit ist, die eigenen Emotionen erkennen und ausdrücken zu können, und wie sehr diese Fähigkeit beeinflusst, wie erfolgreich wir Bindungen eingehen und psychische Gesundheit erlangen können – darüber wissen wir kaum etwas.
Das muss man sich einen Moment lang auf der Zunge zergehen lassen: Kaum jemand weiß etwas über Gefühle. Wir alle wissen kaum etwas über das, was uns im tiefsten Kern bestimmt. Wie kann das sein?
Das, was im Mainstream – damit meine ich zum Beispiel Frauenzeitschriften, Talkshows oder die Redeweise, die man in sozialen Netzwerken beobachten kann – über Gefühle vermittelt wird, ist nicht mehr als oberflächliche, esoterisch angehauchte Gefühlsduselei. »Sei authentisch!« ist beispielsweise ein solches Gebot, dem jeder zustimmen würde, das aber in Wirklichkeit nicht weit führt. Denn wir wissen viel zu wenig über unsere eigenen Gefühle im Speziellen und über Gefühle im Allgemeinen – also wie sie funktionieren, wie sie uns beeinflussen, was sie uns sagen wollen, wie wir sie nutzen können.
Seit über zehn Jahren forsche ich bereits über Emotionen, und noch immer staune ich manchmal, wie weit die Inkompetenz reicht bei diesem so existentiellen Thema. Sehen Sie sich um! Waren Sie schon einmal in einer überfüllten Arztpraxis? Wie hat die Sprechstundenhilfe Sie behandelt? Haben Sie einen Busfahrer schon einmal nach einer Verbindung gefragt? In welchem Ton hat er geantwortet? Sind Sie schon einmal mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig gefahren? Wie haben Fußgänger auf Sie reagiert?
Wenn ich mich umschaue, dann sehe ich erschreckend viele Menschen, deren Betriebstemperatur bereits bei 180 liegt. Sie sind genervt, übermüdet, über- oder unterfordert, fühlen sich übervorteilt und schlecht behandelt, und sobald sich die kleinste Gelegenheit ergibt, bricht das Angestaute aus ihnen heraus.
Ich möchte mich hier nicht über eine etwaige deutsche Meckermentalität beschweren (das wäre ja auch in sich absurd), sondern nur darauf hinweisen, wie schlecht sich offenbar viele Menschen ständig fühlen. Das Schlecht-drauf-Sein ist der Normalzustand, wird akzeptiert, »muss halt«.
Aber wer sagt eigentlich, das müsse so sein?
Ich bin überzeugt, dass die meisten Menschen einfach nur kein Instrumentarium in der Hand haben, um substanziell etwas an ihrem Leben zu ändern. Denn dafür müssten sie an ihre Gefühle ran.
Die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte wurden Gefühle geringgeschätzt oder zumindest als nebensächlich betrachtet. Gefühle sollte man tunlichst unterdrücken. Es herrschte eine strikte Trennung zwischen Intelligenz/Ratio/Verstand und dem ganzen »Wirrwarr«, der mit dem Bereich der Emotionen zu tun hat. Gefühle sah man als etwas Niederes an, etwas, das es zu beherrschen gilt. »Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu werden, sondern um unsere Pflicht zu erfüllen.« (Immanuel Kant, 1724–1804). In diesem Satz steckt viel von dem, was uns und unsere Vorfahren geprägt hat.
Inzwischen jedoch haben Gefühle stark an Bedeutung zugenommen, wir räumen ihnen mehr Raum ein, und es gehört zum guten Ton, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen und in der Lage zu sein, über sie zu sprechen (was aber real und in der Tiefe kaum geschieht). Im Zuge dieser Entwicklung warf man auch die These der Überlegenheit des Verstands über Bord, denn die Forschung der vergangenen zwei Jahrzehnte hat gezeigt, dass dieser Glaubenssatz falsch ist: Weder ist der Verstand dem Gefühl überlegen, noch scheint die Trennung zwischen beiden Bereichen überhaupt noch zielführend zu sein. Dank neuer Methoden konnte die Wissenschaft in den vergangenen rund 20 Jahren so viele Erkenntnisse über den menschlichen Geist sammeln, dass wir heute vollkommen neu über ihn denken. Und eines ist für diese emotionale Wende zentral: Der Mensch ist in erster Linie ein fühlendes Wesen.
Wenn Menschen ein Bild von einem fremden Gesicht sehen, können sie innerhalb von 150 Millisekunden beurteilen, ob das Gesicht sympathisch wirkt oder nicht. Im direkten Kontakt kommen weitere Faktoren wie Mimik, Stimmlage und Körpersprache hinzu. Menschen spüren, wenn jemand »komisch guckt«, wenn es länger andauernde Gesprächspausen gibt, wenn das Gegenüber nicht zurücklächelt. Das komplexe Zusammenspiel, das bei der Verarbeitung von Emotionen gefragt ist, hilft uns dabei, feinfühlig zu sein, soziale Interaktionen zu meistern und erfüllte Partnerschaften zu führen.
Und Gefühle helfen uns, komplizierte Probleme zu lösen. Wenn wir Entscheidungen treffen müssen, bei denen unser Gehirn große Wissensmengen abrufen und einschätzen muss, sind sie unabdingbar. Bis zu einem gewissen Grad treffen Gefühle sogar die Entscheidungen für uns – ein Phänomen, das eine etwas ausführlichere Betrachtung verdient:
Gefühle steuern uns, ohne dass wir es bewusst wahrnehmen würden. Sie sind die Strippenzieher und wir die Marionetten. Selbst wenn wir glauben, rational zu handeln, haben unsere Emotionen uns bereits zuvor in eine Richtung gelenkt.
Wenn wir rationale Gründe für eine Entscheidung aufzählen, argumentieren wir meist lediglich unserem Bauch hinterher.
Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt stellt in seinem Buch The Righteous Mind beispielsweise dafür folgende Szenarien vor:
Ein Bruder und eine Schwester haben Geschlechtsverkehr miteinander. Sie nimmt die Pille, er zusätzlich ein Kondom. Sie haben beide Spaß daran und entscheiden trotzdem, es nie wieder zu tun. Sie wird nicht schwanger davon.
Ein Mann geht in den Supermarkt und kauft ein Suppenhuhn. Bevor er es kocht, penetriert er es. Danach bereitet er es zu und isst es.
Die meisten Menschen finden das Verhalten der Akteure in den beiden Szenen höchst verwerflich. Wenn man sie fragt warum, nennen sie Gründe. Diese Gründe halten jedoch einer eingehenderen Befragung nicht stand, was am Ende übrig bleibt ist ein unbestimmtes »Bäh«. Was am Ende zurückbleibt, ist ein Gefühl. Ein Gefühl, das nicht weg zu argumentieren ist. Nehmen wir das zweite Beispiel: Dass das Huhn gegessen wird, stört uns nicht weiter. Der sexuelle Verkehr aber stößt uns ab, wir empfinden Ekel und Abscheu dem Mann gegenüber. »Die Würde des Tieres« schießt es uns durch den Kopf, aber das Tier ist tot, es fühlt nicht mehr und ist durch den Kauf das Eigentum des Mannes geworden. Dennoch kommen wir an unserem Ekelgefühl nicht vorbei. Es ist so stark, dass unser Verstand dagegen nicht ankommt.
Im ersten Beispiel ist es ähnlich: Zwei Personen schlafen miteinander, sie willigen beide ein und genießen es. Keine weitere Person ist von dem Akt betroffen, sie tun es im Geheimen, so dass niemand Anstoß nehmen kann. Es kommt nicht zu einer Schwangerschaft. Und dennoch halten wir dieses Verhalten für falsch, das sagen wir zumindest. In Wirklichkeit aber sagt uns unser Gefühl, dieses Verhalten sei falsch. Die Inzestschwelle in uns ist zu stark, selbst wenn sie eigentlich ausgeschaltet sein müsste, da es sich um ein einmaliges Ereignis handelt, bei dem die Verhütung doppelt sichergestellt ist. Die Gefahr einer Schwangerschaft, die der Inzestschwelle zugrunde liegt, besteht nicht, und trotzdem hält ein Jeder es für falsch.
Die Gefühle leiten uns, bestimmen unsere Haltungen und treffen unsere vermeintlich rationalen Entscheidungen. Umso wichtiger scheint es, zu verstehen, wie sie funktionieren!
Aus wissenschaftlicher Sicht verstehen wir nach und nach immer besser, wie Gefühle funktionieren und welchen Einfluss sie auf uns haben.
Aber der Mensch im Einzelnen dümpelt meist eher unbeholfen durch sein Gefühlsleben.
Vermeintlich einfache Dinge sind für viele Menschen ein Rätsel:
Warum muss man überlegen, ob man verliebt ist? Warum merkt man manchmal erst nach einer Trennung, was man an jemandem hatte? Warum weint man, wenn man wütend ist? Warum lässt man jemanden nicht an sich ran, obwohl man sich nach dessen Nähe sehnt? Der plausibelste evolutionäre Grund für die Existenz von Gefühlen ist: Gefühle ermöglichen automatisierte Reaktionsmuster. Sie helfen dabei, schnell zu reagieren, ohne abwägen zu müssen. Mein Haus brennt, ich bekomme Angst, ich laufe weg. Mein Kind stirbt, ich bin traurig, ich weine und bekomme Trost.
Selbst die primitivsten Organismen sind mit solchen Mechanismen ausgestattet, die ihr Überleben sichern und dafür sorgen, dass die Grundprobleme des Lebens automatisch gelöst werden (Homöostase). Hierzu gehören etwa die Regulierung des Stoffwechsels, Reflexe und das Immunsystem. Ein Tier beispielsweise merkt, wenn es Hunger hat, und reagiert mit Futtersuche und Nahrungsaufnahme darauf; es spürt eine hormonelle Veränderung und sucht nach einer Gelegenheit zur Paarung. Mit diesen und vielen weiteren Mechanismen sichert das Lebewesen seine Existenz; das Ziel dabei ist, den neutralen, ausgewogenen Zustand beizubehalten. Und so lässt sich der Begriff »Homöostase« aus dem Altgriechischen auch übersetzen: »Gleichstand« oder »Gleichgewicht«.
Je elaborierter und komplexer der Organismus ist, desto mehr ist er ausgestattet mit weiteren homöostatischen, selbstregulierenden Mechanismen. Emotionen, wie beispielsweise Ekel, Furcht, Trauer oder Scham, dienen ebenfalls dazu, die Lebensvorgänge zu regulieren, indem sie uns auf Gefahren aufmerksam machen oder uns dazu bringen, soziale Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen.
Wenn Gefühle also die Schnellstraßen unseres Körpers sind, warum ist dann der vermutlich am häufigsten geäußerte Satz bei Trennungen: »Ich bin mir meiner Gefühle nicht sicher«? Natürlich gibt es Situationen, in denen einem die eigenen Gefühle vollkommen glasklar sind – das brennende Haus etwa, aber auch wenn einem beispielsweise gerade die Handtasche gestohlen worden ist. Dann muss man nicht grübeln, was man gerade fühlt. Aber begibt man sich in komplexere Gefilde, in denen die Gefühle nicht mehr einfach nur aus Angst, Wut, Trauer und Freude bestehen, wird es kompliziert. Jeder kennt die Situation, nicht sicher zu sein, was man gerade fühlt. Wenn also einerseits Gefühle wie Katalysatoren wirken und das »Bauchgefühl nicht trügt«, wie kann es sein, dass man nicht weiß, was man fühlt?
Meine Freundin Christiane hatte vor einiger Zeit ein Vorstellungsgespräch. Sie hatte sich große Mühe für das Abfassen der Bewerbungsunterlagen gegeben, denn das Stellenangebot entsprach genau ihren Vorstellungen. Nun war sie tatsächlich zum Gespräch eingeladen worden. Das Treffen verlief gut, das Gehalt stimmte, die Arbeitszeiten passten. Nach dem Termin rief ich sie an und fragte nach, wie es gelaufen sei. »Gut, alles gut eigentlich.« Dennoch war keine Spur Euphorie in ihrer Stimme zu erkennen. Wann sie denn anfangen würde, fragte ich. »Ich weiß noch nicht, ob ich zusage.« Auf meine Nachfragen konnte sie nicht recht antworten. Sie müsse mal darüber schlafen. Am nächsten Tag rief sie bei der Firma an und lehnte das Angebot ab.
»Irgendwas hat nicht gestimmt. Ich habe mich irgendwie unwohl gefühlt. Dabei waren alle äußeren Faktoren vollkommen okay! Das Geld, die Aufgaben, ich hätte sogar an zwei Tagen die Woche Homeoffice machen können! Ich weiß auch nicht, ich war einfach froh, nach dem Gespräch da raus zu können«, sagte sie nachher zu mir. Ich konnte jedoch nicht herausfinden, was genau dazu geführt hat, dass Christiane den Job abgelehnt hat. Ihr Gefühl hat aber letztendlich den Ausschlag gegeben, obwohl auf rationaler Ebene alle wichtigen Punkte für die Stelle gesprochen haben.
Nun gibt es aber viele Menschen, die ihre eigenen Emotionen nicht so deutlich erkennen können, wie Christiane es kann. Auch wenn sie den Ursprung ihres Unwohlseins nicht kannte, hat sie das Gefühl deutlich empfunden, bewusst wahrnehmen können und es in ihren Entscheidungsprozess einbezogen. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Schließlich können an den unterschiedlichsten Stellen innerhalb der Emotionsverarbeitung Störungen auftreten, denn der Prozess – von der ersten, feinsten inneren Regung bis zum expliziten Ausdruck eines Gefühls – ist hochkomplex. Ein Blick auf das Handy veranschaulicht dies: Mit den richtigen Apps und Erweiterungen können wir auf unserem Handy mehr als 1000 Emojis verwenden. Dazu gehören auch Symbole und Abbildungen von Tieren oder Gegenständen – und es gibt allein mehrere Hundert Emojis für Gefühlszustände. Nachfolgend ist eine kleine Auswahl von vier Gesichtern und deren Interpretation abgebildet. Wir sehen: Selbst auf den ersten Blick simpel wirkende Emojis können verschiedene Bedeutungen haben. Sie zu deuten, gleicht einer Wissenschaft.
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Leicht lächelndes Gesicht Emoji ist mit sich und der Welt zufrieden und auch gleichzeitig ein bisschen glücklich. Hat ein leichtes Lächeln im Gesicht. |
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Lächelndes Gesicht Smiley kneift die Augen zusammen. Die Augenbrauen heben sich beim leicht schelmischen und etwas schüchternen Grinsen mit nach oben. |
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Errötetes Gesicht Gesicht zeigt die innere Anspannung, könnte auch vor Scham errötet sein. Augen sind weit aufgerissen. Ist verlegen oder in einer peinlichen bzw. überraschenden Situation. |
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Grinsendes Gesicht mit lächelnden Augen Smiley zeigt die Zähne und grinst dabei, die Augen lächeln verlegen. Ist gerade sehr fröhlich oder ein bisschen peinlich berührt. |
Das Bedürfnis von Nutzern nach Emojis steigt stetig an, die digitale Kommunikation gestaltet sich immer mehr über die kleinen Bildchen. Was steckt dahinter? Vermutlich das universell menschliche Bedürfnis nach Verbindung, und zwar nach emotionaler Verbindung. Ob Emoticons dafür das richtige Mittel sind, sollen Medienwissenschaftler und Medienpsychologen unter sich ausmachen, darum soll es hier nicht gehen. Vielmehr möchte ich zeigen, wie komplex Gefühle sind, wie sie funktionieren und wie wir lernen können, unsere Gefühle wirklich zu fühlen. Wenn wir verstehen, was in uns vonstattengeht, wenn wir etwas fühlen, können wir besser damit umgehen und gewappnet mit unserem Wissen und unserem Verstand Gefühle bearbeiten. Denn nicht alle Gefühle tun uns gut! Um schädliche Gefühle loszuwerden, müssen wir aber erst verstehen, woher diese kommen, sie zulassen und schließlich umformen.
Der erste Schritt aber in diesem Prozess besteht darin, empfindsam zu werden für das, was in uns vorgeht.
Für manche Menschen jedoch ist dies besonders schwierig: Zehn Prozent unserer Bevölkerung sind gefühlsblind; jeder zehnte Deutsche kann mit Gefühlen nichts anfangen. Den statistischen Zahlen nach kennen Sie selbst also mit Sicherheit eine Person in Ihrem Umfeld, die ihre eigenen Gefühle und die Gefühle anderer Menschen nicht lesen und verstehen kann. Dieses Persönlichkeitsmerkmal, mit dem ich mich seit mehr als zehn Jahren beschäftige, nennt sich Alexithymie oder auch Gefühlsblindheit. Das Phänomen Gefühlsblindheit soll in diesem Buch als extremes Beispiel für emotionale Probleme dienen. An späterer Stelle werde ich anhand der Gefühlsblindheit veranschaulichen, welche Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen auftreten können. Wenn wir dieses Extrem verstanden haben, fällt es uns leicht, auch mildere Formen von emotionalen Problemen zu begreifen. Denn auch wenn Sie vielleicht nicht zu den zehn Prozent gefühlsblinder Menschen gehören – so ganz genau zu wissen, was man warum gerade fühlt – das ist eine Kunst für sich.
Alexander, den ich im Rahmen meiner Forschung kennengelernt habe, ist gefühlsblind. Er hat einen Job und ist verheiratet, aber er hat wenig soziale Kontakte außerhalb seiner Familie. Freunde und Kollegen gibt es zwar, aber sie spielen in seinem Leben keine große Rolle. Alexander verabredet sich nicht privat – vielleicht sagt er hin und wieder zu, wenn er eingeladen wird, aber er würde von sich aus nie ein Treffen vorschlagen. Am liebsten hat er einfach seine Ruhe und sitzt am Computer. Dort liest er Testberichte über Fahrradgangschaltungen oder neue Softwares. Ständig bekommt er von seiner Frau zu hören, er solle sich doch mehr öffnen, mehr über das sprechen, was ihn beschäftige. Aber eigentlich beschäftigt ihn einfach nicht viel.
Er erledigt seine Arbeit gut und zuverlässig, ist pünktlich und gewissenhaft. Aber wenn seine Frau beim Abendessen still und betrübt ist, bemerkt er es nicht. Er fragt nicht nach. Er nimmt sie nicht in den Arm, sondern isst, räumt ab, setzt sich vor den Fernseher. Seine Frau sagt ihm häufig, er solle doch mal romantisch sein, ihr Blumen mitbringen oder Pralinen. Wenn er dann am nächsten Tag mit Pralinen nach Hause kommt und seine Frau immer noch nicht zufrieden ist, versteht Alexander die Welt nicht mehr. Wenn sie sagt, sie sei deprimiert oder niedergeschlagen, gibt Alexander Tipps oder (in seinen Augen) konstruktive Kritik, merkt aber nicht, dass seine Frau das nicht als Hilfe empfindet, sondern als Angriff auf sich selbst.
Alexanders Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen sind ein Problem. Vermutlich würde es ihm und seiner Frau bereits helfen zu wissen, mit seiner Art nicht alleine zu sein, sondern dass es einen Namen dafür gibt und, vor allem: Hilfe. Denn Fühlen kann man lernen.
Während manche Menschen keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen haben, sie also gar nicht erst wirklich empfinden und nicht wahrnehmen, wie emotional abgestumpft sie sind, gibt es andere, die von ihren Gefühlen geradezu überrollt werden und daher Beziehungen nicht aufrecht halten können oder Probleme im Beruf haben. Oder aber die Angst vor den intensiven Gefühlen ist so groß, dass sie sie unterdrücken.
Diese Angst ist sehr verbreitet – Gefühle könnten, lässt man sie erst einmal zu, so massiv und unkontrollierbar werden, dass sie nicht mehr aufhören. So wie die an Magersucht Leidende, die glaubt, wenn sie ein paar Kilo zunimmt, ungesteuert dick zu werden, so wie der Depressive, der denkt, wenn er einmal Tränen zulässt, nie mehr mit dem Weinen aufhören zu können. Aber die gute Nachricht ist: Gefühle sind vergänglich! Das gehört zu ihrem Wesen. Wie eine Welle kommen sie auf, haben einen Höhepunkt und ebben wieder ab. Jedoch nur, wenn wir nicht versuchen, sie zu unterdrücken. Wenn wir uns trauen, sie zuzulassen, können wir sie bearbeiten und sogar nutzen. Denn Gefühle haben immer eine Ursache, sie wollen uns immer etwas mitteilen. So wie wir beispielsweise eine Wehe (Entschuldigung, liebe männliche Leser, hier bitte ein bisschen Einfühlungsvermögen) am besten nutzen können, wenn wir sie annehmen, so müssen wir auch unseren Gefühlen Raum geben – erst dann können wir sie verstehen, bearbeiten und verändern.
Um Gefühlsblindheit und mildere Formen emotionaler Probleme verstehen zu können, müssen erst ein paar theoretische Grundlagen gelegt und Begriffe geklärt werden. Im Anschluss daran werde ich erneut auf Alexander zu sprechen kommen und Ihnen seine Geschichte erzählen.
In diesem Buch soll es in besonderer Weise darum gehen, wie der erschwerte Umgang mit Emotionen aussehen kann, worin er begründet liegt und wie man ihm begegnen kann (als Betroffener sowie als Angehöriger). Denn jeder von uns steckte schon einmal in der Situation, nicht genau zu wissen, was er selbst fühlt oder was im Gegenüber vor sich geht. Die Komplexität emotionaler Prozesse macht es nahezu unmöglich, Gefühle wie an einem Fieberthermometer ablesen zu können. Einige Menschen haben jedoch größere Schwierigkeiten mit Emotionen als andere – sei es aufgrund genetischer Bedingungen oder aufgrund von Umweltfaktoren wie Bindung, Erziehung oder frühkindlicher Erfahrungen.
Am Ende wird Ihnen dieses Buch dabei helfen, sich selbst in Bezug auf die eigenen emotionalen Vorgänge besser zu begreifen. Zudem soll es dazu beitragen, das Verhalten Ihrer Mitmenschen, die eben vielleicht emotional anders aufgestellt sind als Sie, besser nachvollziehen zu können. Je mehr wir unsere eigenen Gefühle wahrnehmen, annehmen und verstehen, desto leichter fällt es uns, uns in andere hineinzuversetzen und einen Kontakt mit ihnen aufzubauen – desto zufriedener und ausgeglichener können wir sein. Und wenn wir dann auch noch in der Lage sind, unseren Kindern einen gesunden Umgang mit Gefühlen beizubringen, dann können wir dazu beisteuern, dass die nächste Generation vielleicht ein bisschen weniger einsam ist.