Ein afrikanisches Sprichwort lautet: »Das Kind, das nicht vom Dorf umarmt wird, wird es niederbrennen, um die Wärme zu spüren.« Dieses Sprichwort macht sehr deutlich, wie wichtig emotionale Bindung für das Heranwachsen ist. Was geschieht jedoch, wenn ein Kind nicht das Glück hat, in einer sicheren Bindung aufzuwachsen?
Werden Kinder ohne sichere Beziehungen zu ihren Bezugspersonen groß, fehlt ihnen eine Basis, auf der sie ein gesundes Selbstbewusstsein aufbauen können. Dann haben sie keine Vorbilder, die dabei helfen, das eigene Handeln zu reflektieren, Fehler zu erkennen und aus ihnen zu lernen. Wenn Bezugspersonen die emotionalen Bedürfnisse des Kindes nicht ausreichend befriedigen, spricht man von »emotionaler Vernachlässigung« (»childhood emotional neglect«). Ob emotional vernachlässigt oder unsicher gebunden – beides sind Bedingungen, unter denen das emotionale Lernen erschwert ist, und somit Risikofaktoren für psychische Erkrankungen und Gefühlsblindheit.
Aus unterschiedlichsten Gründen – sei es, weil Eltern nicht anders können aufgrund von (psychischer oder körperlicher) Krankheit, schweren Schicksalsschlägen während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt oder weil Eltern es bewusst so wollen aufgrund von pädagogischen Ideologien und Wertvorstellungen – kommt es dazu, dass die Bezugsperson (im Folgenden sage ich häufig »Mutter« anstelle von Bezugsperson, wobei dies keineswegs heißen soll, nicht auch der Vater oder eine andere Person könne die Bezugsperson sein!) ihrem Kind (zu) wenig Aufmerksamkeit schenkt, nicht oder zu wenig auf seine Bedürfnisse eingeht und das Kind aus diesen Gründen kein sicheres inneres Bild von sich selbst und seinem Gegenüber entwickeln kann. Eine – um Sterns Begriff zu verwenden – Abstimmung zwischen Kind und Bezugsperson findet dabei nicht statt.
Viele unter uns können sich vermutlich nicht vorstellen, wie man seinem Neugeborenen zu wenig Aufmerksamkeit schenken und nicht auf seine Bedürfnisse achten kann. Stellen wir uns beispielsweise vor, eine Mutter würde ihr Kind zwar versorgen, wenn es weint, dabei aber Ungeduld und Ärger vermitteln. Sie küsst nicht den Bauchnabel ihres Babys beim Wickeln, schaut ihm nicht in die Augen, greift nicht die kleinen Händchen und schnuppert nicht an seiner Kopfhaut. Sie tut, was getan werden muss, und zwar so schnell wie möglich. Das Bedürfnis des Kindes nach Nähe erfüllt seine Mutter entweder gar nicht oder nur hastig. Sie setzt das Baby wieder vom Arm ab, bevor es selbst seine Bereitschaft dazu signalisiert hat (weil es zum Beispiel neugierig ist, etwas zu erkunden). So lernt das Baby im Laufe des ersten Lebensjahrs, dass sein Bindungsbedürfnis, mit dem es – wie alle Menschen – zur Welt gekommen ist, unerwünscht ist. Außerdem erfährt es Zuspruch, wenn es sich allein beschäftigt. Sobald er für einige Zeit friedlich allein auf der Krabbeldecke liegt oder sich mit einem Spielzeug beschäftigt, lobt die Mutter den Säugling. Nach und nach verinnerlicht das Baby also, die Zuwendung der Mutter und ihre wohlwollende Aufmerksamkeit würden ihm hauptsächlich zuteil, wenn es selbständig zurechtkommt; das eigene Bedürfnis nach körperlicher Nähe auszudrücken, trainieren sich Kinder hingegen immer mehr ab. Sie lernen, dass sie das Verhalten, auf das ihre Bezugsperson nicht reagiert, erst gar nicht zeigen müssen.
Wie stark aber das Bedürfnis nach Zuwendung ist, veranschaulicht das sogenannte »Still-Face-Experiment«:
Das Bedürfnis von bereits sehr kleinen Kindern (ab ca. 6 Monaten) nach Abstimmung, Interaktion und Zuwendung kann man in dem sogenannten »Sill-Face-Experiment« gut beobachten. Der Psychologe Ed Tronick entwickelte dieses Experiment in den 1970er Jahren, um zu zeigen, wie massiv ein Baby leidet, wenn es nicht »gesehen wird«. Das Bedürfnis, das sich dabei bei Babys beobachten lässt, ist ein Bedürfnis nach Gemeinsamkeit – Babys, so die Theorie, wollen mit ihrer Bezugsperson gemeinsame Intentionen und Motivationen entwickeln. Es geht also um etwas sehr Spezifisches, das vielleicht mit Begriffen wie »Zuwendung«, »Nähe« und »Aufmerksamkeit« nicht genau genug beschrieben wird. Psychologen wie Tronick sind der Überzeugung, es sei für die sichere Bindung eines Kindes notwendig, mit seiner Bezugsperson einen »attentional frame«, einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu teilen; zusammen mit seiner Bezugsperson die Welt aus dem gleichen Blickwinkel zu betrachten. Wenn beispielsweise ein Elternteil bei seinem Kind das Spiel »Kommt die Maus die Treppe rauf« spielt, bei dem die Finger des Erwachsenen die Beine des Kindes hochkrabbeln, dann wartet das Elternteil darauf, dass das Kind, spätestens dann, wenn die Finger sein Ohr erreicht haben, anfängt zu lachen. In dem Moment haben sich Bezugsperson und Kind darauf geeinigt: Das ist lustig, das macht uns Spaß. In dieselbe Kategorie gehört das bei Babys häufig zu beobachtende Zeigen: Sie zeigen nicht einfach nur, weil sie etwas Interessantes sehen, sie zeigen, weil sie ihr Gegenüber dazu bringen wollen, dasselbe zu sehen wie sie. Und um dieses »dasselbe sehen« geht es schließlich auch im Bereich von Gefühlen. Wenn das Kind weint, muss – wenn die sichere Bindung nicht verletzt werden soll – die Bezugsperson versuchen, a) das Weinen zu sehen, b) den Grund des Weinens zu erkennen und c) eine Form von Abhilfe zu schaffen.
Jetzt aber zurück zu dem Experiment: Bezugsperson und Kind betreten den Testraum, setzen sich voreinander und interagieren miteinander. Nach einer Weile dreht die Bezugsperson den Kopf weg, dreht sich wieder zum Kind um, diesmal aber mit einem versteinerten, ausdruckslosen Gesicht. Dieses leblose Gesicht hält die Bezugsperson über zwei Minuten aufrecht. In diesen zwei Minuten ist zu beobachten, wie das Baby darauf reagiert, dass seine Bezugsperson es auf einmal nicht mehr zu sehen scheint. Das Baby versucht mit allen Mitteln, die Bezugsperson wieder auf sich aufmerksam zu machen – es zeigt, es lacht sie an – und schließlich enden solche Situationen meistens damit, dass das Baby weint oder sich die Hände in den Mund steckt, um sich selbst zu beruhigen. Wohlgemerkt: Seine Bezugsperson sitzt direkt vor ihm, das Baby ist weder allein noch mit einem Fremden zusammen: Das löst Stress im Kind aus.
Stellen Sie sich nun vor, wie ein Kind sich entwickelt, das das Gesicht seines Gegenübers nicht anders kennt, als leblos und ausdruckslos.
Babys lernen bereits im Laufe ihres ersten Lebensjahrs, Gefühle auszudrücken (indem man sie dazu ermuntert und sie dadurch Erfolge erzielen), aber genauso früh kann es ihnen auch ausgetrieben werden. Ganze Empfindungsbereiche können auf diese Weise verkümmern.
Die oben genannten Szenen sind nur Beispiele, die veranschaulichen sollen, wie eine Mutter-Kind-Beziehung aussehen kann, in der keine sichere Bindung besteht. Das Kind kann aber auch auf andere Weise unsicher gebunden sein, zum Beispiel weil die Bezugsperson so viel mit sich selbst, anderen Kindern, Arbeit und Haushalt zu tun hat und daher nicht flexibel auf das Nähebedürfnis des Babys eingehen kann. Es gibt auch Fälle, in denen die Bezugsperson so wenig präsent ist und so sehr in Sorgen vertieft, dass sie ihr Kind nicht wahrnimmt. Aus solchen Verhaltensweisen entwickelt sich bei den Babys schon früh der Eindruck einer Unberechenbarkeit. Diese Kinder äußern ihre Bindungsbedürfnisse, wenn eine verunsichernde Situation eintritt, meist extrem stark und dramatisch, damit sie eben überhaupt Beachtung finden.
Wenn ein Kind keine sichere Bindung zu seiner Bezugsperson aufbauen kann, gibt es unterschiedliche Wege, wie es sich entwickeln kann: entweder unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent oder desorganisiert.
Ist ein Kind durch eine unsicher-vermeidende Bindung geprägt, so wird es (typischerweise) keinen Austausch über Gefühle – speziell über negative Gefühle – kennen, beherrschen oder von sich aus initiieren. Bei Menschen mit unsicher-ambivalenter Bindung ist meist ein übersteigerter Gefühlsausdruck zu sehen, der unangemessen ist und kaum Kompromisse zulässt. Bei dem desorganisierten Bindungstyp fehlen dem Kleinkind Anpassungs- und Bewältigungsstrategien, und die Kinder zeigen ein unberechenbares und willkürliches Verhalten der Bindungsperson gegenüber.
Gemeinsam ist allen drei Typen, dass diese Kinder große Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und adäquat zu vermitteln. Hinzu kommen Probleme, die inneren Zustände des Gegenübers lesen und sich in andere hineinversetzen zu können.
Eng mit dem Bild der unsicheren Bindung hängt der Begriff »emotionale Vernachlässigung« zusammen. Emotionale Vernachlässigung in der Kindheit, wie bereits erwähnt, ist dann der Fall, wenn Bezugspersonen die emotionalen Bedürfnisse des Kindes nicht ausreichend erfüllen. Dies kann in Familien der Fall sein, die auf anderen Ebenen vollkommen optimal für das Kind sorgen – finanziell, körperlich, geistig. Da es sich bei der emotionalen Vernachlässigung – im Gegensatz zu beispielsweise einem Missbrauch – um etwas handelt, das dem Kind nicht widerfährt, sondern um einen Mangel, der durch das Unterlassen von bestimmten Verhaltensweisen der Bezugsperson(en) entsteht, fällt es Betroffenen häufig schwer, sich selbst als emotional vernachlässigt zu erkennen.
In der Wissenschaft ist der Begriff »emotionale Vernachlässigung« noch nicht so stark verbreitet, dass es einen entsprechenden Test gibt. Meist wird emotionale Vernachlässigung in Studien mithilfe eines Fragebogens zu Kindheitstraumata[1] erfasst. Die Fragen in der Rubrik »emotionale Vernachlässigung« lauten:
»Als ich aufwuchs …
gab es jemand in der Familie, der mir das Gefühl gab, wichtig und jemand Besonderes zu sein
hatte ich das Gefühl, geliebt zu werden
gaben meine Familienangehörigen aufeinander acht
fühlten sich meine Familienangehörigen einander nah
war meine Familie mir eine Quelle der Unterstützung.
Sollten Sie auf diese Fragen mit Nein antworten, so deutet das darauf hin, als Kind emotional vernachlässigt worden zu sein.
Im Zusammenhang mit Gefühlsblindheit, auf die ich an späterer Stelle ausführlich eingehen werde, sind emotionale Vernachlässigung sowie unsichere Bindung in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die als Kind unsicher gebunden waren bzw. emotional vernachlässigt worden sind, später gefühlsblind werden.[2] Zum anderen ist es naheliegend, dass gefühlsblinde Menschen ihre eigenen Kinder tendenziell häufiger emotional vernachlässigen bzw. in unsicheren Bindungen aufziehen. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssen wir lernen, Emotionen wahrzunehmen, sie zu verstehen und den Umgang mit ihnen an die nächste Generation weiterzugeben.
Natürlich sind es nicht nur soziale Faktoren (Umweltfaktoren), die dazu führen, eher Schwierigkeiten mit Gefühlen zu haben als andere. Genauso gibt es genetische Dispositionen, die einen Einfluss auf die emotionale Kompetenz des Menschen haben. Bei psychischen Erkrankungen ist in 85 Prozent der Fälle[3] ein problematischer Umgang mit Gefühlen zu beobachten: auf der einen Seite steht der Exzess (also die übertrieben starke Empfindung und Ausdrucksweise von Gefühlen), auf der anderen das Defizit (also ein vermindertes, abgeschwächtes Emotionsleben).
Innerhalb der psychopathologischen Forschung lassen sich drei unterschiedliche Formen von pathologischen emotionalen Beeinträchtigungen unterscheiden:[4]
emotionale Valenzstörungen: Die häufigsten emotionalen Störungen (und ebenso die häufigsten Probleme mit Emotionen im nicht-pathologischen Bereich) lassen sich dem Bereich »Exzesse an unangenehmen Emotionen« zuordnen. Sowohl die Dauer als auch die Intensität der negativen Emotion (meist Traurigkeit, Angst oder Schuld) sind dabei extrem. Es gibt aber auch den »Exzess an angenehmen Emotionen«, wobei Sie vielleicht einwenden: »Was soll daran bitte verkehrt sein?« Tatsächlich können aber auch manische Episoden oder ein pathologisch hohes Maß an Stolzempfinden ein Problem für Betroffene sein. Bei Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung ist dies beispielsweise der Fall. Neben dem Exzess bestehen auch Defizite, wie etwa das »Defizit an angenehmen Emotionen«: Die typischste Erkrankung in diesem Bereich sind wohl Schizophrenie und Depression. Zudem gibt es auch das »Defizit an unangenehmen Emotionen«, das zum Beispiel bei psychopathischen Menschen entsteht, die wenig oder gar keine Scham, Angst oder Schuld empfinden können.
emotionale Intensitäts-/Regulationsstörung: Zu dieser Gruppe von Störungen gehört die »emotionale Hyperreaktivität«: Häufig sind es Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, die bereits auf kleinste Ereignisse extrem stark reagieren, egal ob es sich um positive oder negative Ereignisse handelt. Dem gegenüber steht die »emotionale Hyporeaktivität«, die bei Menschen mit Depression und bei Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung zu beobachten ist. Diese »Emotionsarmut« führt letztendlich zum Ausbleiben von Zielen, Wünschen oder Interessen.
fehlende emotionale Verbindungen: Als eine »fehlende Affektverbindung« versteht man den Sachverhalt, dass das äußere Zeichen einer emotionalen Reaktion, also beispielsweise die Mimik oder die Stimme, abgetrennt sind von dem restlichen emotionalen System. Bei Menschen mit Schizophrenie, aber auch bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen sind die Gesichtsmuskeln oftmals schwer beweglich. Zu der emotionalen Hyporeaktivität tritt hier also eine neurologische Veränderung hinzu. Parallel dazu gibt es auch eine »fehlende Bewusstseinsverbindung«: Hier geht es darum, dass das Bewusstsein über emotionale Zustände vom restlichen emotionalen System getrennt ist – Menschen mit Gefühlsblindheit (Alexithymie) oder auch dissoziativen Störungen erleben zwar Formen von emotionaler Erregung, können aber keine bewusste Repräsentation in Form von beispielsweise Sprache dazu entwickeln.
Im Folgenden stelle ich einige typische Beispiele von Personengruppen bzw. Krankheitsbildern vor, bei denen emotionale Schwierigkeiten zu den Kernsymptomen zählen und die in unserer Gesellschaft vergleichsweise häufig vorkommen. Da es aber in diesem Buch nicht um krankhafte Formen von emotionalen Problemen gehen soll, sondern um die Art von Schwierigkeiten, die ein jeder von uns kennt, möchte ich diese Störungen nur kurz beschreiben, um die Palette an emotionalen Schwierigkeiten zu komplettieren. Als letztes werde ich Gefühlsblindheit (die keine Krankheit ist) vorstellen, die in diesem Buch im Fokus steht.
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine psychische Erkrankung, die sich dadurch auszeichnet, dass Betroffene Affekte nicht in normalem Maße regulieren können. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sind typischerweise hoch impulsiv und haben schnelle Stimmungswechsel. Häufig berichten sie davon, unter einer großen Anspannung zu stehen. Um diese Spannung abzubauen, können verschiedene Strategien zum Einsatz kommen: von Selbstverletzung (beispielsweise dem Schneiden mit einem scharfen Gegenstand in die Haut, meist an den Unterarmen), über Drogenkonsum bis hin zu Extremsportarten.
Außerdem sind die Beziehungen zu Mitmenschen oft intensiv, aber instabil. Denn Borderline-Patienten sehnen sich zwar nach Nähe, haben aber gleichzeitig häufig die Befürchtung, von dieser Nähe erstickt zu werden, oder große Angst, verlassen zu werden.
Das stete Auf und Ab ihres Selbstwertgefühls ruft Gefühle von Scham, Schuld, Ohnmacht und Selbstverachtung hervor. Diese zwiespältigen Gefühle sich selbst und Beziehungen gegenüber führen wiederum dazu, dass Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung selten lange und stabile Beziehungen pflegen. Zudem geht die Krankheit häufig mit Depression, Essstörungen und Abhängigkeiten einher. Etwa zehn Prozent der Betroffenen begehen Suizid.
Unter einer Depression versteht man eine psychische Erkrankung, die sich durch eine anhaltende (also über Wochen hinweg bestehende) gedrückte Stimmung, Antriebs- und Lustlosigkeit auszeichnet. Hinzu kommen oft körperliche Begleiterscheinungen wie Schlaflosigkeit, Schmerzen und Appetitlosigkeit. Während die Einen ein überwältigendes Gefühl von Traurigkeit verspüren, viel weinen müssen und suizidale Gedanken haben, ist bei den Anderen eher eine starke innere Leere wahrnehmbar. Hier ist es dann vielmehr der Mangel an jeglichem Gefühl, der für die Depression typisch ist.
Der Auslöser für Depressionen kann ein akutes Ereignis sein, sie können aber auch vollkommen losgelöst davon auftreten.
Depressionen können in jedem Alter auftreten und gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen: 16 bis 20 Prozent leiden irgendwann in ihrem Leben einmal unter einer Depression oder einer depressiven Phase.
Das bekannteste Beispiel für eine eingeschränkte Emotionalität ist vermutlich Autismus – oft denkt man dabei an einen Mr.-Spock-ähnlichen Menschen, der keinen Blickkontakt herstellt und keinerlei Gefühlsregungen hat.
Wenn ich Menschen von meiner Forschung über Gefühlsblindheit erzähle, dann fragen viele, ob diese Menschen nicht Autisten seien. Aber Gefühlsblindheit und Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind zwei verschiedene Dinge, die manche Ähnlichkeiten haben.
Der Begriff Autismus-Spektrum-Störungen ist ein Sammelbegriff für die unterschiedlichen Ausprägungen, die früher als abgegrenzte, eigene Störungen galten. Hierzu zählen der »frühkindliche Autismus«, der sich bereits vor dem dritten Lebensjahr manifestiert, der »atypische Autismus«, bei dem nicht alle Diagnosekriterien erfüllt sind, und das »Asperger Syndrom«, bei dem der Bereich Sprache und kognitive Fähigkeiten intakt bleiben.
Gemeinsam haben die drei Störungen, dass ein reduziertes Interesse an sozialen Kontakten charakteristisch ist. Zu diesem mangelnden Interesse tritt ein reduziertes Verständnis für soziale Zusammenhänge. Menschen mit ASS haben Schwierigkeiten im Umgang mit sozialen, emotionalen, nonverbalen und sogenannten pragmatischen (sachorientierten) Signalen in der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Die Auffälligkeiten im Verhalten lassen sich zwei Bereichen zuordnen: Zum einen haben Menschen mit ASS Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion, zum anderen zeigen sie sich in wiederholenden und stereotypen Verhaltensweisen und Interessen.
Diese Schwierigkeiten sind häufig bereits im Kindesalter zu beobachten. So zeigen Studien etwa deutliche Unterschiede im Geschichtenerzählen bei Kindern (im Alter zwischen 8 und 12 Jahren) mit Asperger Syndrom (AS) und Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsyndrom (ADHS) im Vergleich zu Kindern der Kontrollgruppe.[5] Bei der Aufgabe, die Geschichte eines Bilderbuchs nachzuerzählen, sind Unterschiede hinsichtlich der Länge der Erzählung erkennbar: Kinder mit AS und ADHS erzählen die Geschichte kürzer nach und vernachlässigen zudem wichtige Aspekte der Handlung. Außerdem fällt vor allem in den Erzählungen der AS-Kinder auf, dass sie deutlich weniger Sprache für innere Zustände verwenden als die Kontrollkinder.
Dieses Ergebnis ist nicht überraschend – mangelnde Empathie- und »Theory of Mind«-Fähigkeiten (ToM-Fähigkeiten, zum Erkennen von Gefühlen anderer Menschen) gehören einigen Studien zufolge zu den Kernmerkmalen der ASS. Schließlich sind Menschen mit ASS sehr unterschiedlich, und die Störung hat viele verschiedene Erscheinungsbilder, was wichtig ist zu betonen. So kann es beispielsweise vorkommen, dass ein Mensch mit ASS die Gefühle seiner Mitmenschen sehr wohl erkennt und auch mitfühlen kann, ihn das aber so sehr unter Stress setzt, da seine Emotionsregulation gestört ist. Aufgrund dessen ist er nicht imstande, empathisch zu reagieren, vielmehr zeigt er ein von außen betrachtet kühles Verhalten. Daher rührt der Eindruck des emotionslosen Roboters, der aber keineswegs der Wahrheit entspricht. Menschen mit ASS haben Schwierigkeiten, Mimik, Körpersprache und Sprachmelodie ihrer Mitmenschen zu deuten, und reagieren deshalb nicht auf solche nonverbalen Signale. Das ist auch der Grund, warum sie anderen Personen oft nicht (so stark) in die Augen sehen – das, was ihr Gegenüber durch den Blick ausdrückt, können sie nicht entschlüsseln. Das mag dann auf Außenstehende unterkühlt wirken. Ebenso die Tatsache, dass sie selbst selten Emotionen auf nonverbaler Ebene ausdrücken. Menschen mit ASS haben also durchaus Gefühle, sie zeigen sie nur nicht auf die gewohnte Weise.
Die Ausprägung von ASS kann unterschiedliche Schweregrade haben – sie kann bei der einen Person so mild sein, und daher gewinnt man im direkten Kontakt mit diesem Menschen lediglich den Eindruck, er sei etwas schüchtern. Andere Menschen hingegen mit stark ausgeprägter ASS können stark geistig behindert sein.
Viele einander widersprechende Forschungsergebnisse – wie etwa zu der Frage, ob Menschen mit ASS über eingeschränkte Empathie- und ToM-Fähigkeiten verfügen – sind vermutlich darauf zurückzuführen, dass Menschen mit ASS häufig zudem auch noch gefühlsblind sind (rund die Hälfte der Menschen mit ASS ist gefühlsblind).[6] Die mangelnden Empathie- und ToM-Fähigkeiten wären demnach der Gefühlsblindheit und nicht dem ASS zuzuschreiben.
Menschen mit ASS sind also zusätzlich häufig gefühlsblind, aber Gefühlsblindheit ist keineswegs gleichzusetzen mit Formen von ASS. Was unterscheidet die beiden Phänomene? Zum einen zählt Gefühlsblindheit nicht zu den pathologischen Störungen oder Krankheiten. Gefühlsblinde Menschen können sich außerdem häufig in der sozialen Interaktion mit Mitmenschen sehr gut anpassen und fallen dadurch überhaupt nicht als andersartig auf. Und schließlich ist das Diagnosekriterium der ritualisierten Verhaltensweisen, das bei ASS zentral ist, bei Gefühlsblindheit nicht vorzufinden.