Emotionen sind die Farben in unserem Leben, aber nicht alle Menschen sehen sie. Natürlich haben wir alle hin und wieder Schwierigkeiten, unsere eigenen Gefühle oder die anderer zu erkennen, aber einigen Menschen fällt dies besonders schwer.
Zehn Prozent der Bevölkerung sind gefühlsblind, das ist durch zahlreiche Studien gesichert.[1] Häufig geht Gefühlsblindheit einher mit psychischen Erkrankungen wie Depression, Essstörungen oder Suchterkrankungen, aber auch Menschen, die keinerlei psychische Auffälligkeiten haben, können gefühlsblind sein.
Ist es nicht merkwürdig, über dieses so verbreitete Phänomen so wenig zu hören? Dass die meisten Menschen gar nichts von der Existenz der Gefühlsblindheit wissen?
Vor etwa 13 Jahren startete an der Berliner Freien Universität ein fächerübergreifendes Forschungsprojekt, das sich mit Gefühlsblindheit beschäftigte. Psychologen, Mediziner, Linguisten und Forscher weiterer Fachbereiche wollten herausfinden, was es mit diesem Phänomen auf sich hat: Woher kommt sie? Was genau zeichnet sie aus? Ist sie genetisch bedingt? Ich arbeitete damals in der sprachwissenschaftlichen Sektion und wollte gemeinsam mit meinen Kollegen erforschen, durch was die Sprache von alexithymen Menschen gekennzeichnet ist.
Was aber braucht man als Erstes für ein solches Projekt? Natürlich Probanden. So suchten wir also gefühlsblinde Menschen, die NICHT zusätzlich auch eine psychische Krankheit hatten, die also gesund waren. Dafür platzierten wir Annoncen in den Berliner U-Bahnen. Warum erzähle ich Ihnen das alles? Weil der Zulauf unfassbar war. Für die Studie bewarben sich unerwartet viele Menschen!
Aber was stand überhaupt auf dem Aushang in den U-Bahnen? Darauf war die Überschrift zu lesen: »Sprechen Sie nicht gern über Ihre Gefühle?«
Was diese kleine Anekdote zeigt, ist: Gefühle sind wichtig. Gefühle beschäftigen uns. Das Bedürfnis, über Gefühle zu sprechen ist enorm, weil wir alle emotional unterversorgt sind.
Umso schwieriger ist es für gefühlsblinde Menschen, in dieser Welt zurechtzukommen.
Sie selbst kennen mit großer Wahrscheinlichkeit einen solchen Menschen in Ihrem Umfeld. Gefühlsblinde Menschen können ihre eigenen Gefühle weder erkennen noch ausdrücken, noch können sie die Gefühle ihrer Mitmenschen lesen. Wenn sie auf ihr Leben zurückblicken, ist da kein Auf und Ab, keine Erinnerung daran, frisch verliebt gewesen zu sein, oder an Momente tiefer Trauer. Wenn sie an ihre Zukunft denken, ist da kein Kribbeln in Vorfreude auf den nächsten Urlaub; keine Aufregung, weil der Sohn zum ersten Mal auf Klassenfahrt geht. Für diese Menschen ist jeder Tag gleich, ein steter, ruhiger Fluss. In ihren Augen sind alle anderen einfach nur hysterisch.
Ein aus der Fachliteratur bekanntes Fallbeispiel ist Gary, der gefühllose Chirurg.[2] Garys Ehefrau drängte ihn irgendwann zu einem Therapeuten, weil sie an ihm verzweifelte. Sie hatte einen intelligenten, erfolgreichen Mann geheiratet, der aber, sobald es um das Thema Gefühle (seine eigenen oder ihre) ging, vollkommen verstummte. Sie hatte das Gefühl, gegen eine Wand anzulaufen. Ihr zuliebe suchte er schließlich einen Therapeuten auf, und als dieser ihn nach seinen Gefühlen fragte, antwortet er: »Ich weiß nicht, wovon ich reden sollte; ich habe keine starken Gefühle, weder positive, noch negative«.[3]
Der Mensch aus Ihrem Umfeld, an den Sie nun vielleicht denken, gilt wahrscheinlich als »rationaler Typ«, als »Kopfmensch«, als »unnahbar«, als »langweilig«. So wirken gefühlsblinde Menschen auf ihr Umfeld, einen solchen Eindruck hatte auch ich von den Begegnungen mit Alexander, den ich zu Beginn vorgestellt habe.
Obwohl wir über Jahre hinweg mehrmals teilweise recht private Gespräche geführt haben, stellte sich nie so etwas wie Vertrautheit ein. Alexander vermittelte im persönlichen Kontakt nie den Eindruck, viel Interesse an den Testsitzungen oder an dem Thema zu haben, denn er war stets eher kurz angebunden und wenig positiv. Oft erhielt ich jedoch im Nachhinein eine E-Mail von ihm, in der er Fragen stellte oder Nachbetrachtungen zu unserem Treffen machte. Es war offensichtlich, dass er gedanklich stark in das Thema involviert und hoch interessiert daran war, mehr über sein Persönlichkeitsmerkmal zu lernen; nur im direkten Kontakt konnte er das nicht ausdrücken, vermutlich weil die soziale Nähe, die während der Testsitzungen herrschte – ich als Versuchsleiterin und er als Proband saßen einander gegenüber, zu zweit in einem ruhigen Raum, und sprachen über Gefühle –, ihn irritierte.
In den 70er Jahren beschäftigten sich viele amerikanische und europäische Wissenschaftler mit diesem Phänomen. Die Studien waren meist qualitativer Natur, also Studien basierend auf interpretativen Methoden, oder Untersuchungen mit relativ geringer Fallzahl. Innerhalb der Fachgemeinde diskutierte man, ob Alexithymie tatsächlich eine eigenständige und unabhängige Erscheinung ist oder ob sie eher als Begleiterscheinung psychischer Störungen anzusehen ist. Nachdem das Phänomen zwischenzeitlich wieder etwas in den Hintergrund der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geraten war, stieg das Interesse an Gefühlsblindheit in den 90er Jahren wieder enorm an – dank der sogenannten »emotionalen Wende«. So galten Gefühle lange Zeit als nicht erforschbar – weil sie als wirr, willkürlich und dem Verstand sowieso unterlegen betrachtet worden waren, aber nach und nach öffnete sich die Wissenschaft diesem riesigen, extrem spannenden und fundamental wichtigen Bereich.
Ebenso wie sich ein Mediziner, der auf Prestige aus ist, nicht auf Gastroendokrinologie spezialisieren wird, sondern vielleicht auf Neurochirurgie, haben sich Psychologen lange Zeit tendenziell eher mit Persönlichkeitsstörungen beschäftigt als mit dem, was Menschen fühlen. Aber genauso wie es mehr Menschen mit Verdauungsproblemen gibt als Menschen, die eine Gehirn-OP benötigen, spielen auch Emotionen im Alltag der meisten Menschen eine größere Rolle als Schizophrenie oder eine psychische Störung des Sozialverhaltens. Glücklicherweise erlangen Emotionen immer mehr an Bedeutung, werden ernst genommen – sowohl im Privaten als auch als Forschungsobjekt.
Und dennoch leben wir (noch) nicht im emotional befreiten Paradies, in dem jeder seine Gefühle frei äußern kann, auf die Gefühle des Anderen angemessen reagiert und Wohlwollen, Respekt und Harmonie herrschen; die heutige Lage ist bigott. Es herrscht zwar ein großes Bedürfnis nach Emotionen, und Emotionen sind ein Thema in Mainstreammedien, aber wirklich echte Gefühle gibt es kaum.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es heutzutage noch Kontaktanzeigen gibt, aber wenn, dann würde wahrscheinlich eine übliche Forderung an den Partner in spe lauten: Er soll emotional kompetent sein, über Gefühle sprechen können, gefühlvoll sein (vermutlich lassen sich dafür dann im Inserat ziemlich schräge Formulierungen finden). Selbst Männer sehen sich mit dem Anspruch konfrontiert, sie sollten über Gefühle sprechen können! Auf der anderen Seite, im beruflichen Umfeld, gilt emotionales Auftreten schnell als unprofessionell. Den Chef anzubrüllen oder bei Kritik in Tränen auszubrechen, ist in diesem Bereich eher unprofessionell; aber ich halte es sehr wohl für möglich, Gefühle auf eine professionelle Weise in berufliche Kontexte mit einzubeziehen – ohne dass man selbst oder die Kollegen dabei ihr Gesicht verlieren. Aber so weit sind wir noch nicht.
Den amerikanischen Psychiatern John Case Nemiah und Peter Emanuel Sifneos fielen in den 1970er Jahren Patienten auf, die ihre eigenen Gefühle nicht in Worte fassen konnten. Als sie die Patienten nach ihren Gefühlen fragten, antworteten diese häufig mit Beschreibungen körperlicher Prozesse oder hatten Schwierigkeiten, Worte zu finden. Nach systematischer Beobachtung und Beschreibung dieses Phänomens prägten die beiden Psychiater den Begriff Alexithymie. Alexithymie ist ein aus dem Griechischen stammendes Wort, das übersetzt »keine Wörter für Gefühle« bedeutet. Es stellt ein Konstrukt aus unterschiedlichen Defiziten dar:
Schwierigkeiten, eigene Gefühle zu beschreiben und anderen mitzuteilen
Schwierigkeiten, eigene Gefühle zu identifizieren und von körperlichen Empfindungen zu unterscheiden
Mangel an Fantasie und Vorstellungsfähigkeit
nach außen orientierter, rationaler Denkstil
Das Phänomen Gefühlsblindheit/Alexithymie tauchte nicht einfach aus dem Nichts auf. Schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts beschrieben Psychologen und Psychiater immer mal wieder Patienten, die auf verschiedenste Arten emotional unterentwickelt schienen. Diese Patientengruppen bezeichneten sie zum Beispiel als »infantile personalities« (zu Deutsch: unreife Persönlichkeiten),[4] »emotionale Analphabeten«,[5] Menschen mit »Pinocchio-Syndrom«[6] oder mit »pensée opératoire« (operatives/rationales Denken).[7] All diese Begriffe setzten sich jedoch auf Dauer aufgrund mangelnder systematischer Beschreibungen nicht durch und wurden von der Bezeichnung »Alexithymie« ersetzt.
Alexithymie ist ein Persönlichkeitsmerkmal so wie beispielsweise Extraversion bzw. Extrovertiertheit. Extraversion ist eine Eigenschaft, die zu den sogenannten »big five« gehört – den fünf wichtigsten Persönlichkeitsmerkmalen. Es gibt eine Reihe von Tests, mithilfe derer man einschätzen kann, wo die eigene Persönlichkeit auf den fünf Skalen liegt. Neben Extraversion gehören »Offenheit«, »Kontrolle«, »Altruismus« und »Emotionale Stabilität« zu den zentralen Merkmalen.
Mein Mann beispielsweise ist introvertiert. Wenn man ihn unter Leuten erlebt, würde man das nicht vermuten, denn er ist sehr unterhaltsam und führt oft das Gespräch. Aber Introvertiertheit ist eben nicht Schüchternheit oder Sozialphobie, sondern bezeichnet den Umstand, dass Introvertierte den Kontakt mit Menschen als anstrengend empfinden und Energie eher aus dem Alleinsein schöpfen. Aus meinem Mann wird niemals ein Cliquentyp werden, jemand, dessen Haustür immer offensteht. Genauso wenig wird ein gefühlsblinder Mensch jemals ein sensibles Pflänzchen oder ein aufbrausender Euphoriker.
Gefühlsblindheit ist somit keine Krankheit, sondern eine Disposition, die genau wie andere Persönlichkeitsmerkmale relativ stabil und zeitlich überdauernd ist. Man kann sich Alexithymie als eine Art Gegenpol zu Empathie oder emotionaler Intelligenz vorstellen[8] – hohe Alexithymiewerte gehen häufig mit geringen Empathiewerten einher. Empathie wird in psychologischen Kontexten häufig mit einem Test gemessen, der »Interpersonal Reactivity Index« heißt (IRI, was ins Deutsche übersetzt etwa Fragebogen zur zwischenmenschlichen Reaktivität bedeutet). Gefühlsblinde oder alexithyme Personen erzielen überdurchschnittlich häufig niedrige IRI-Werte.[9] Sich in andere hineinversetzen zu können, ist nämlich eng verknüpft mit der Fähigkeit, sich selbst verstehen zu können. Menschen, die keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen haben, keine großen emotionalen Regungen in sich spüren oder diese nicht begreifen und ausdrücken können, haben gleichermaßen Schwierigkeiten, andere Menschen in ihren Gefühlen nachzuvollziehen. Das liegt daran, dass das Gehirn gewissermaßen keinen Unterschied macht, ob die beobachteten Gefühle im eigenen Körper entstehen oder beim Gegenüber zu finden sind (dem »shared-network«-Modell zufolge, ein Modell, bei dem man von einem gemeinsamen Netzwerk ausgeht, werden sowohl beim Erleben als auch beim Beobachten ähnliche neuronale Netzwerke aktiviert[10]).
Das Empathiedefizit bei Alexithymie ließ sich durch zahlreiche Studien belegen: Menschen mit und ohne emotionale Einschränkung betrachteten dabei beispielsweise Bilder von einem menschlichen Arm, dem gerade eine Spritze gesetzt wird. Nun sollten die Probanden angeben, wie schmerzhaft diese Situation vermutlich für den auf dem Bild abgebildeten Menschen ist und wie das Bild auf sie selbst wirkt. Gefühlsblinde Personen gaben deutlich niedrigere Werte auf beide Fragen hin an als nicht-gefühlsblinde Teilnehmer.[11] Dieses Ergebnis ließ sich auch neurowissenschaftlich unterfüttern, denn verschiedene emotionsverbundene Areale (u. a. das Kleinhirn (Cerebellum), der anteriore zinguläre Kortex (ein Bereich der Großhirnrinde) oder der Inselcortex (ebenfalls ein Teil der Großhirnrinde)) zeigten im Magnetresonanztomographen niedrigere Aktivierungen bei alexithymen Menschen in Reaktion auf emotional aufgeladene Bilder.[12]
Leider weiß man noch nicht ganz genau, wie diese Art der emotionalen Einschränkung entsteht, bzw. welche Faktoren dazu führen, dass ein Mensch gefühlsblind wird. Wissenschaftler diskutieren dabei heute vor allem zwei unterschiedliche Theorien: die neuropsychologische und die entwicklungspsychologische Theorie.
Wie ich weiter oben bereits erläutert habe, ist das emotionale Lernen in der frühen Kindheit eng an die Bindungen und Erfahrungen des Kindes mit seinen engsten Vertrauten gekoppelt. Entwicklungspsychologen sind der Ansicht, traumatische Erfahrungen, wie beispielsweise Gewalt oder sexueller Missbrauch, aber auch emotionale Vernachlässigung oder eine unsichere Bindung zur Bezugsperson seien mögliche Ursachen von Gefühlsblindheit.[13] Wenn beispielsweise die Bezugsperson in emotional geladenen Situationen ihre eigenen Gefühle oder die des Kindes unzureichend oder falsch benennt oder sie gar ignoriert, kann die emotionale Entwicklung auf den verschiedensten Ebenen beeinträchtigt bleiben: Das Kind lernt die eigenen Gefühle nicht verstehen und in Worte fassen, es lernt nicht, wie und warum sein Gegenüber fühlt, was es fühlt. Wie weiter oben geschildert, hängen die Bindungserfahrungen auch eng mit der Entwicklung der Sprache für innere Zustände zusammen, was die entwicklungspsychologische These zur Entstehung von Gefühlsblindheit sehr überzeugend macht.
Neurowissenschaftliche Forscher hingegen vertreten die These, angeborene hirnanatomische Bedingungen, die einen Menschen gefühlsblind machen, seien der Grund dafür. In diesem Bereich gibt es vier unterschiedliche Theorien, die sich jeweils auf unterschiedliche Hirnareale beziehen. Kurz gesagt: Studien belegen, dass die Gehirne von gefühlsblinden Menschen tatsächlich anders aussehen als die von nicht-gefühlsblinden Menschen.[14] So ließen sich sowohl strukturelle Unterschiede finden – das heißt, die Gehirne der beiden Personengruppen unterscheiden sich auch im neutralen bzw. Ruhezustand – als auch funktionale – das bedeutet, die Gehirne weisen unterschiedliche Aktivierungsmuster auf, wenn sie Reize verarbeiten.
Ob aber diese neuroanatomischen Unterschiede in den Gehirnen der Probanden bereits ab Geburt vorhanden gewesen sind oder ob sich die Gehirne aufgrund von Umweltfaktoren unterschiedlich entwickelt haben, das lässt sich zum heutigen Zeitpunkt noch nicht mit letzter Sicherheit beantworten.
Alexithymie kann, wie andere Persönlichkeitsmerkmale auch, unterschiedlich stark ausgeprägt sein und wird anhand eines Fragebogens zur Selbstauskunft gemessen. Die Auswertung des Fragebogens ergibt einen Wert, anhand dessen man als entweder niedrig oder hoch alexithym bzw. gefühlsblind eingestuft werden kann.
Im Folgenden sind die beiden verbreitetsten Fragebögen aufgeführt und jeweils eine Anleitung zur Auswertung, damit Sie ihren eigenen Alexithymiewert herausfinden können.
Bitte kreuzen Sie an, inwieweit die folgenden 20 Aussagen auf Sie zutreffen. Sie können den Grad Ihrer Zustimmung oder Ablehnung anhand einer 5-Punkte-Skala einschätzen: 1 = trifft überhaupt nicht zu 2 = trifft selten zu 3 = trifft teilweise zu, teilweise auch nicht 4 = trifft oft zu 5 = trifft immer zu |
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1. |
Mir ist oft unklar, welche Gefühle ich gerade habe. |
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2. |
Es fällt mir schwer, die richtigen Worte für meine Gefühle zu finden. |
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3. |
Ich habe körperliche Empfindungen, die sogar die Ärzte nicht verstehen. |
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4. |
Es fällt mir leicht, meine Gefühle zu beschreiben. |
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5. |
Ich gehe Problemen lieber auf den Grund, als sie nur zu beschreiben. |
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6. |
Wenn mich etwas aus der Fassung gebracht hat, weiß ich oft nicht, ob ich traurig, ängstlich oder wütend bin. |
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7. |
Ich bin oft über Vorgänge in meinem Körper verwirrt. |
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8. |
Ich lasse die Dinge lieber einfach geschehen und versuche nicht herauszufinden, warum sie grade so passiert sind. |
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9. |
Einige meiner Gefühle kann ich gar nicht richtig benennen. |
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10. |
Sich mit Gefühlen zu beschäftigen, finde ich sehr wichtig. |
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11. |
Ich finde es schwierig zu beschreiben, was ich für andere Menschen empfinde. |
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12. |
Andere fordern mich auf, meine Gefühle mehr zu beschreiben. |
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13. |
Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. |
1 |
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3 |
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5 |
14. |
Ich weiß oft nicht, warum ich wütend bin. |
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5 |
15. |
Ich unterhalte mich mit anderen nicht so gerne über ihre Gefühle, sondern lieber darüber, womit sie sich täglich beschäftigen. |
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5 |
16. |
Ich sehe mir lieber »leichte« Unterhaltungssendungen als psychologische Problemfilme an. |
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5 |
17. |
Es fällt mir schwer, selbst engen Freunden gegenüber meine innersten Gefühle mitzuteilen. |
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18. |
Ich kann mich jemanden sogar in Augenblicken des Schweigens sehr nahe fühlen. |
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19. |
Ich finde, daß das Mir-Klarwerden über meine persönlichen Gefühle wichtig ist, wenn ich persönliche Probleme lösen muß. |
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20. |
Durch die Suche nach verborgenen Bedeutungen nimmt man sich das Vergnügen an Filmen oder Theaterstücken. |
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Abbildung 6: Toronto Alexithymia Scale 20-item Version[15]
Bei der Auswertung des Tests ist zu beachten, dass einige Aussagen/Items »negativ« kodiert sind; das bedeutet, Ihnen wird dabei die umgekehrte Punktzahl angerechnet. Ein Beispiel: Der Aussagepunkt Nummer 4 ist negativ kodiert. Wenn Sie also bei »Es fällt mir leicht, meine Gefühle zu beschreiben« die 4 angekreuzt haben, dann erhalten Sie nicht 4 Punkte, sondern 2. Hätten Sie die 5 angekreuzt, würden Sie einen Punkt erhalten, und hätten Sie den mittleren Wert angekreuzt, die 3, dann blieb es bei 3 Punkten.
Negativ kodierte Items sind: Nummer 4, Nummer 5, Nummer 10, Nummer 18 und Nummer 19. Dies hat keinen inhaltlichen Grund, sondern dient lediglich einer zuverlässigeren Auswertung.
Die Antworten auf die restlichen Aussagen ergeben direkt (also ohne irgendein Umrechnen) die Punktzahl. Sie addieren nun Ihre Punkte bei allen 20 Aussagepunkten und landen irgendwo zwischen 5 und 100. Der Wert gibt das Ausmaß der Gefühlsblindheit an. Ab einem Wert von 60 gilt man als gefühlsblind, wenn der Wert unter 51 liegt, gilt man als nicht-gefühlsblind. Das Mittelfeld, zwischen 51 und 60, bedeutet weder gefühlsblind noch nicht-gefühlsblind.
Neben dem TAS-20 gibt es noch weitere Fragebögen zur Selbstauskunft (hierzu gehören vor allem der »Bermond-Vorst-Alexithymie-Questionnaire« (BVAQ) und die »Levels of Emotional Awareness Scale« (LEAS)) und Tests, die auf Fremdbeurteilung basieren (»Observer Alexithymie Scale« (OAS)).
Die »Levels of Emotional Awareness Scale« (fünfstufiges Modell zur Einschätzung des emotionalen Bewusstseinsstands) ist ein Fragebogen, bei dem man frei auf Fragen antworten soll. Der Fragebogen gibt Situationen wieder, und der Proband soll schildern, wie er sich in dieser Situation fühlen würde. In den Szenen taucht auch noch eine andere Person auf, über die der Proband ebenfalls sagen soll, wie diese sich in der beschriebenen Situation fühlen würde.
Einer unserer Probanden mit emotionaler Einschränkung (TAS-Wert von 69) antwortete beispielsweise folgendermaßen auf diese Fragen:
»Ein unerwartetes Ferngespräch erreicht Sie: Ein Arzt teilt Ihnen mit, dass Ihre Mutter gestorben ist. Wie würden Sie sich fühlen? Wie würde sich der Arzt fühlen?«
»Ich meine, für den Arzt ist es ein Stück weit Routine, weil ich davon ausgehe, dass man als Arzt bestimmt eine Menge Elend sieht. Und dann auch den Tod oder so. Und er wird sich nicht wohl fühlen bei dem Gespräch, glaube ich oder ich denke mal, das ist auch eine gewisse Professionalität beim Arzt. Ich kann das nicht beschreiben, aber wahrscheinlich wird er sich genauso unwohl fühlen wie ein Polizist, der vor der Tür klingelt oder an der Tür klingelt und kommt und sagt: ›Ja, Familienmitglied ist beim Verkehrsunfall verstorben.‹ Also genauso wird er sich fühlen, denke ich mal. Aber ich weiß nicht, wie, also ich würde, ich bin der Meinung, dass er sich nicht wohl fühlt und dass es keine schöne Sache ist, aber es gehört halt zur Arbeit dazu. Und ich würde, wenn ich das erfahren würde, würde ich erst mal ein bisschen schlucken, würde darüber nachdenken – also je nachdem, wie es ihr ging, wenn es jetzt, ich sage mal, plötzlich, also von jetzt auf hier, wäre ich schon auf jeden Fall geschockt. Wenn es jetzt aber so ist wie bei einer, nach einer langen Krankheit, wo man sagt, das ist abzusehen, dass es heute oder morgen oder nächste Woche passieren kann, wäre ich sicherlich genauso betroffen, aber es käme nicht mehr so unerwartet von jetzt auf hier. Also ich würde mich nicht freuen, das ist Blödsinn, aber das ist so, wie soll ich das sagen? Bisschen treffen würde mich das schon. Aber ja, ich glaube, im Nachhinein würde ein bisschen Trauer dazukommen, dass sie nicht mehr da ist, aber sonst? Weiß ich nicht.«
Auf eine andere Frage der LEAS antwortete derselbe Proband wie folgt:
»Sie bekommen ein Kompliment von jemandem, der Ihnen in der Vergangenheit kritisch gegenübergestanden hat. Wie würden Sie sich fühlen? Wie würde sich der Andere fühlen?«
»Um Gottes willen! Muss ich überlegen. (Proband fragt, in welchem Umfeld die Szene spielt, Interviewerin antwortet.) Ja, ich bin der Meinung, dass die Person, die mir irgendwie ein Loblied auf einmal anfängt zu singen, würde ich sagen, dass ist nicht ganz ernst gemeint, aber auch nicht wirklich heuchlerisch, sondern vielleicht schon, also so ein bisschen würde ich denken: Weißt du, was du willst? Erst so und dann so. Also ich würde der Person unterstellen, dass das nicht ganz ernst gemeint ist. Auch wenn es vielleicht doch wirklich ernst gemeint ist, weil erst so und dann so, das ist mir ein bisschen komisch. Und ich selber würde mich nicht drüber freuen. Weil, weiß ich nicht. Ja. Kann ich nicht beschreiben, ist irgendwie komisch, kenne ich nicht, gab es, glaube ich, noch nicht. Kann mich da auch nicht so wirklich reinversetzen. (Proband fragt, ob er etwas vergessen hat.) Wie würde der Andere sich fühlen. Ja. Also ich gehe jetzt mal von mir aus, wenn ich das machen müsste, dass ich auf der einen Seite eine Person kritisiere und dann im Nachhinein feststelle, das war ja doch nicht so schlimm, der kann es ja doch besser. Ich glaube, ich wäre ein bisschen, wie in so einem Zwiespalt, so irgendwie, kann ich nicht beschreiben. Wie würde der sich fühlen? Also, ich habe dafür keinen Ausdruck, ich kann das nicht beschreiben, wie ich das sagen soll. Gibt es hier ein Wörterbuch? Nein. Ich überlege, wie man das, ob man dafür ein Wort nehmen kann. (Pause) Weiß ich echt nicht. (lange Pause) Mir fällt kein Wort ein, wie man das sagen kann, weiß ich nicht. Ich überlege … (sehr lange Pause) Ich weiß es nicht, ich kann es nicht beschreiben, also mir fällt kein Wort ein.«
In den Antworten dieses Probanden wird deutlich, dass er häufig Schwierigkeiten hat, Gefühle in Worte zu fassen (»ich kann es nicht beschreiben, also mir fällt kein Wort ein«). Auch scheint an manchen Stellen die emotionale Reaktion von der Norm abzuweichen (»Also ich würde mich nicht freuen, das ist Blödsinn, aber das ist so, wie soll ich das sagen? Bisschen treffen würde mich das schon.« – in Reaktion auf die Nachricht, die Mutter sei gestorben).
Neben der TAS, dem BVAQ und der LEAS, die allesamt der Erfassung eines Messwerts dienen, haben wir im Rahmen unseres psycholinguistischen Projekts auch noch weitere Interviews geführt. Bei einem Interview ging es darum zu erfassen, wie komplex das Wissen über Gefühle bei Gefühlsblinden ausgeformt ist. In der Linguistik spricht man hierbei von Konzepten – das heißt von allem, was im Gehirn unter einem gewissen Begriff abgespeichert ist. Um das herauszufinden, haben wir die Probanden zu Beginn des Interviews ganz einfache Fragen beantworten lassen – zumindest auf den ersten Blick scheinen sie einfach. Zu sechs verschiedenen Emotionen haben wir die folgenden drei Fragen gestellt: »Was ist für Sie Emotion X?«, »Wie erkennen Sie Emotion X bei sich oder bei anderen?« und »In welchen Situationen oder Momenten empfinden Sie Emotion X?«
Eine alexithyme Probandin mit einem TAS-Wert von 77,5 gab beispielsweise folgende Antworten:
»Was ist für Sie Freude?«
»Schwer. Freude. (Pause) Irgendwie kann ich das schwer beschreiben, weiß ich jetzt nicht. Vielleicht eine schöne Sache angucken.«
»Wie erkennen Sie Freude bei sich oder bei anderen?«
»Vielleicht Gesichtsausdruck, bei anderen Gesichtsausdruck, ja, dass die Augen von denen vielleicht glänzen oder, weiß ich nicht, er guckt nicht griesgrämig. Ja, bei mir: einen gelassenen Gesichtsausdruck oder ja.«
»In welchen Situationen oder Momenten empfinden Sie Freude?«
»Vielleicht wenn mir etwas gelungen ist.«
Die Probandin beschreibt den Gesichtsausdruck bei Freude als »nicht griesgrämig« bzw. als »gelassen«. Ihr scheint es schwerzufallen, neben der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Emotion weitere Differenzierungen über den Gesichtsausdruck zu treffen.
Am Beispiel der Emotionen Stolz und Eifersucht wird ihre Unsicherheit nochmals deutlicher:
»Was ist für Sie Stolz?«
»Das empfinde ich meistens auch so richtig nicht. Wenn ich so gefragt werde, warum bist du denn nicht stolz darüber, was weiß ich, dass du in der Schule eine gute Arbeit geschrieben hast oder früher und dann, weiß ich nicht, ja, Abitur geschafft, Studium geschafft, irgend so etwas, aber ist eigentlich selbstverständlich für mich gewesen. Also fällt mir auch schwer nachzuempfinden, Stolz.«
»Wie erkennen Sie Stolz bei sich und bei anderen?«
»Also bei mir selber irgendwo, denke ich, so richtig nicht. Manchmal bin ich echt erstaunt, dass da jemand dann meint, er müsste da das als toll empfinden. Ja und bei manchen anderen, die dann eben sagen: ›Oh, da habe ich ja etwas Tolles gemacht!‹ So, dass die das dann so verbal äußern.«
»In welchen Situationen oder Momenten empfinden Sie Stolz?«
»Naja, wird auch schwierig zu beantworten.«
Die Empfindung des Gefühls Stolz ist ihr also offenbar fremd. Dementsprechend schwer scheint es ihr zu fallen, Stolz bei anderen zu erkennen, es sei denn, sie äußern explizit, dass sie stolz sind.
Ähnlich schwierig ist es mit dem Gefühl Eifersucht:
»Was ist für Sie Eifersucht?«
»(Pause) Mh, nein, so richtig auch nicht. Also ich kann es erklären, Eifersucht, das Wort. Wenn, weiß ich, wenn ein Mensch, dass man von dem irgendwas will, der einem das nicht gibt oder so. Das, ja.«
»Wie erkennen Sie Eifersucht bei sich und bei anderen?«
»Dass der wütend auf das Verhalten von dem Anderen ist oder über das Verhalten des Anderen ist. Ja, irgendwie.«
»In welchen Situationen oder Momenten empfinden Sie Eifersucht?«
»Also eigentlich gibt es das nicht, also kann ich so nicht sagen.«
Das Sprechen über Gefühle scheint diese beiden Beispielprobanden zu überfordern. Sie machen den Eindruck, als hätten sie nicht viel Übung in dem Bereich und als würden sie andere Themen bevorzugen. Viele Gefühle sind ihnen einfach fremd und den Ausdruck dieser Gefühle können sie nicht richtig deuten.
Man kann sich vorstellen, dass Menschen, die große Schwierigkeiten im emotionalen Bereich haben, häufig auch in anderen Bereichen mit Problemen konfrontiert sind. Die bereits erwähnten Begleiterkrankungen (fachsprachlich Komorbidität) von Alexithymie und psychischen sowie körperlichen Erkrankungen machen es schwierig, das Phänomen Alexithymie zu erforschen, denn um tatsächlich zu verstehen, wie Gefühlsblindheit aussieht, benötigen Forscher Probanden, die gefühlsblind sind, aber ansonsten psychisch unauffällig. Nur wenige große experimentelle Studien konnten dies bislang sicherstellen, denn die Auswahl der Probanden ist extrem schwierig, wenn man jede Person, die aktuell oder in ihrer Vergangenheit psychische Auffälligkeiten aufweist, ausschließen will.
In den Studien, an denen ich in den vergangenen Jahren gearbeitet habe, konnten wir dies jedoch gewährleisten. Alle Probanden hatten sich auf unsere Anzeige mit dem Text »Sprechen Sie nicht gern über Ihre Gefühle?«, die in den Berliner U-Bahnen aushing, gemeldet. Durch umfangreiche psychologische Interviews und Testverfahren haben wir schließlich rund hundert »reine« gefühlsblinde Menschen herausgefiltert.
Alexander gehört zu dieser Gruppe, er hatte einen TAS-Wert von 83. Zwischen den Testsitzungen hat er mir manchmal aus seinem Leben erzählt. Eines Tages rief seine Frau bei mir an und bat mich um Hilfe. Aus all diesen Gesprächen habe ich mir ein Bild von Alexanders Privatleben machen können. Alexander soll in diesem Buch als prototypischer gefühlsblinder Mensch dienen, und seine Geschichte soll zeigen, wie sehr emotionale Defizite ein Leben einschränken können.
Eine, wenn nicht die zentrale Frage innerhalb der Alexithymieforschung lautet: Fühlen gefühlsblinde Menschen nichts oder weniger oder fühlen sie genauso wie nicht-gefühlsblinde Menschen, können diese Gefühle jedoch nur nicht verstehen und ausdrücken?
Auch wenn wir inzwischen über hochentwickelte Forschungsmethoden in der Neurowissenschaft verfügen, lässt sich diese Frage zurzeit noch nicht abschließend beantworten. Sind Menschen mit emotionaler Einschränkung in Wirklichkeit emotionale Vulkane, in denen es unter der Oberfläche brodelt, die aber die emotionalen Prozesse nicht deuten und kanalisieren können? Oder geht in ihnen schlichtweg nicht viel vor?
Manche Forscher, die erstere Hypothese vertreten, sind der Ansicht, Menschen mit eingeschränktem Affektleben würden zwar eine Emotion fühlen, sich seien aber nicht sicher, welche Emotion es ist. Hierzu zählt das Fallbeispiel, das der Psychiater Peter Sifneos beschreibt: Eine Frau war, nachdem sie einen Film gesehen hatte, in dem eine Mutter an Krebs stirbt, dermaßen aufgewühlt, dass sie sich in den Schlaf weinte. Als Sifneos sie fragte, wie sie sich fühle, sagte sie »schrecklich«, aber sie konnte darüber hinaus nicht beschreiben, was in ihr vorging. Sie würde manchmal weinen, aber sie wisse nicht, wieso. Diese Frau konnte nicht nachvollziehen, aufgrund des Filmes möglicherweise deshalb so traurig geworden zu sein, weil ihre eigene Mutter an Krebs erkrankt war. Die emotionalen Regungen ihres Körpers verwirrten und erschreckten sie.
Das ist für diese Gruppe von Alexithymen typisch: Die eigenen Gefühle kommen ihnen wie eine riesige, verwirrende Qual vor. Sie können kein geistiges Abbild ihrer Gefühle erstellen, was ihnen das Verständnis und erst recht die Versprachlichung erschwert bzw. unmöglich macht.
Nun ist es fraglich, inwieweit man ein Gefühl empfinden kann, ohne es zu verstehen oder verbalisieren zu können, aber dieser Theorie zufolge besteht ein klaffender Abgrund zwischen dem, was in gefühlsblinden Menschen vorgeht, und ihren geistig-emotionalen Fähigkeiten, das verarbeiten zu können, was sie bewegt.
Man stelle sich vor, man fühle in einem vollkommen »normalen« Maß (was immer das ist), hätte aber kaum jemals eine Ahnung davon, was man da genau fühlt und warum. Über Jahre hinweg kann das nur krank machen. Insofern wäre diese Theorie eine gute Erklärung dafür, dass so viele gefühlsblinde Menschen psychisch erkranken. Denn wenn man seine Gefühle nicht mitteilen kann, bleibt man mit ihnen allein, und das macht uns Menschen anfällig für Krankheiten.
Es gibt jedoch auch Wissenschaftler, die der zweiten These anhängen und Alexithymie als emotionale Stumpfheit betrachten.[16] Auch hierfür sprechen zahlreiche Befunde, was schließlich dazu geführt hat, in der aktuellen Forschung davon auszugehen, es gebe unterschiedliche Typen von Alexithymie. Der eine Typus entspricht dem Vulkan – er fühlt wie ein durchschnittlich emotional intelligenter Mensch, kann seine Gefühle aber nicht in Worte fassen; der andere Typus entspricht dem Roboter – in seinem Inneren gibt es kaum Schwankungen, deshalb redet er auch nicht viel darüber.
Die Forschung hat lange Zeit versucht herauszufinden, ob gefühlsblinde Menschen sich bereits auf der Wahrnehmungsebene – also dem, was sie empfinden – von nicht-alexithymen Menschen unterscheiden oder ob die Unterschiede erst an späterer Stelle auftreten, wenn es darum geht, Gefühle auszudrücken und zu verstehen. Jahrzehntelang waren Wissenschaftler uneinig und frustriert wegen der uneinheitlichen Ergebnisse. Inzwischen ist man sich allerdings einig, dass diese Unterschiedlichkeit zu einem großen Teil in der Annahme begründet ist, Alexithymie sei ein einheitliches Phänomen. Davon hat man Abstand genommen und geht nun davon aus, es gebe unterschiedliche Subtypen, die mit den unterschiedlichen Ebenen zusammenhängen, und eben diese Ebenen sind bei der Emotionsverarbeitung beteiligt. Denn, wie bereits erwähnt, die Verarbeitung von Emotionen ist kein rein emotionaler Prozess, sondern ebenso ein geistiger. Die eigenen Gefühle verstehen zu können, sie also auf einer geistigen Ebene einordnen und regulieren zu können, ist ein mindestens genauso wichtiger Teil der Emotionsverarbeitung wie der früher stattfindende, rein empfindende Part. Diese beiden Komponenten, die affektive und die kognitive, sind Grundlage der beiden Subtypen.[17]
Personen des Typs 1 haben einen Mangel an emotionalem Empfinden und emotionalem Ausdruck, sie sind die »Roboter«. Ihre Fantasie ist eingeschränkt und ebenso ihr Wissen über Gefühle. Alexithyme des Typs 1 sind emotional unterkühlt und distanziert, was zu Problemen in sozialen Beziehungen führen kann.
Personen des Typs 2 hingegen empfinden Emotionen ähnlich oder sogar in stärkerem Maße als nicht-alexithyme Personen, haben jedoch nur unzureichend entwickelte Fähigkeiten, ihre Gefühle geistig zu regulieren und sprachlich auszudrücken – sie sind die »Vulkane«. Ihr mimischer Ausdruck ist stark eingeschränkt, sie sind emotional sehr instabil und haben ein gesteigertes Risiko, an Angststörungen, Depression oder dissoziativen Störungen zu erkranken.
Was sich in dieser Unterteilung in die beiden Typen erkennen lässt, ist: Emotionsverarbeitung hat – wie wir im Kapitel zu Emotionen gesehen haben – sowohl affektive als auch kognitive Komponenten. Der weiter oben vorgestellte »Bermond-Vorst-Alexithymie-Questionnaire« (BVAQ) integriert diese beiden Komponenten und ermöglicht es, eine Person nicht nur als »gefühlsblind oder nicht« (bzw. hoch oder niedrig alexithym) einzustufen, sondern zugleich eine Einordnung in Typ 1 oder Typ 2 vorzunehmen. Personen, die auf allen Skalen (insgesamt verfügt der BVAQ über fünf Skalen, siehe oben) eine vergleichsweise hohe Punktzahl erreichen, entsprechen dem Typ 1. Personen, die auf den kognitiven Skalen (Identifizieren, Verbalisieren und Analysieren) eine hohe Punktzahl, auf den affektiven Skalen (Fantasieren und Emotionalisieren) aber wenige Punkte erzielen, werden als Typ 2 eingestuft.
Alexander ist – genauso wie der eingangs erwähnte Chirurg Gary – gefühlsblind und gehört zum ersten Subtyp.
Wie wir inzwischen gesehen haben, ist Selbstwahrnehmung, das heißt die Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu beobachten und zu erkennen, die wichtigste Grundlage, um die Gefühle anderer einschätzen zu können. Menschen wie Alexander, die allerdings keinen blassen Schimmer von dem haben, was in ihnen selbst vor sich geht, stehen den Gefühlen ihrer Mitmenschen ratlos gegenüber. Sie können nicht nur die versteckten emotionalen Hinweise nicht deuten – wie etwa die nonverbalen emotionalen Signale, die sich durch Sprachmelodie, Körperhaltung oder Mimik vermitteln; sie sind auch irritiert, wenn ihr Gegenüber seine Gefühle direkt und konkret ausdrückt. Denn für Menschen mit eingeschränktem Affektleben sind Gefühle nicht mit Handlungen verbunden; sie wissen eben nicht sofort, wie sie reagieren sollen, wenn ihr Gegenüber ihnen sagt, dass er oder sie traurig ist. Dabei gibt es – wie ich später noch ausführlicher darlegen werde – einen Weg, die Defizite zu überwinden und emotionales Verhalten zu trainieren.
Die allermeisten emotionalen Signale drücken wir nicht unmissverständlich und wörtlich aus – mehr als 90 Prozent der emotionalen Mitteilungen innerhalb der menschlichen Kommunikation werden auf nonverbalen Ebenen gesendet. Das ist für alexithyme Menschen natürlich fatal. Und auch wenn wir auf sprachlich eindeutige Weise eine Emotion vermitteln, ist sie gepaart mit einem nonverbalen emotionalen Ausdruck, und so gilt: der nonverbale Kanal spricht die Wahrheit. Nicht was wir sagen, sondern wie wir es sagen, ist zentral.
Meistens fühlt Alexander gar nichts. Wenn dann mal eine Spur von Gefühl aufflackert, weiß er nicht, was er fühlt. Dann sucht er nach körperlichen Anzeichen und versucht, diese zu deuten. In extremen emotionalen Situationen kann das passieren, so zum Beispiel am Tag seiner Hochzeit. Den ganzen Vormittag, während die Vorbereitungen liefen, spürte er einen Druck im Darm und er hatte feuchte Hände. Als er gefragt wurde, wie es ihm gehe, jetzt, so kurz vor dem großen Moment, dann antwortete er so etwas wie »ganz normal« oder »okay«. Die körperlichen Anzeichen haben auf seine Aufregung hingewiesen, das hat er aber erst deutlich später, am Tag danach, verstanden. So eine zeitliche Verzögerung ist sicher vielen Menschen bekannt. Oft versteht man beispielsweise erst im Nachhinein, wieso man in einem Streit mit dem Partner plötzlich anfangen musste zu weinen, den Raum verlassen hat oder laut geworden ist. In der Situation selbst sind die Gefühle so ungeordnet und gleichzeitig so intensiv, dass man sie nicht reflektieren kann. Die verschiedenen Stränge – denn häufig sind ja gerade bei Streitigkeiten innerhalb einer Beziehung mehrere Aspekte miteinander verwoben – lassen sich erst in der Retrospektive ordnen, verstehen und angemessen ausdrücken.
Bei Gefühlsblinden dauert dieses Übersetzen länger als bei nicht-gefühlsblinden Menschen, es kann Minuten, Stunden oder sogar Tage in Anspruch nehmen. Und es ist auch in Situationen nötig, in denen nicht-gefühlsblinden Menschen die eigenen Gefühle oder die anderer Personen vollkommen klar sind.
Man darf sich aber dennoch diese Menschen nicht wie Mister Spock vorstellen. Gefühlsblinde Menschen wissen natürlich, dass ein Mensch sich freut, wenn er lächelt, und dass er traurig ist, wenn er weint. Genauso empfinden gefühlsblinde Menschen auch nicht nichts. Es scheint eher so zu sein, als läge ein dicker Schleier über ihrem Gefühlsleben, der alles abdämpft.
Als Alexanders Vater an Krebs erkrankte, wachte Alexander immer öfter mit Herzrasen auf. Er bemerkte seinen beschleunigten Herzschlag, aber er konnte dieses Signal nicht deuten. Der Herzschlag fühlte sich für ihn nicht wie Angst an. Nach einigen Wochen besuchte Alexander aufgrund seiner Beschwerden sogar einen Arzt, aber dieser attestierte ihm nur, mit seinem Herzen sei alles in Ordnung. Körperliche Empfindungen wie Puls, Übelkeit, Zittern, Erröten, Hitzewallungen usw. zu deuten, fällt gefühlsblinden Menschen schwer. Als Alexanders Ehefrau ihn fragte, ob sein Herzrasen vielleicht mit der Erkrankung seines Vaters zu tun haben könnte, wies er diese Vermutung von sich. »Naja, vielleicht hast du einfach Sorgen oder Angst um deinen Vater?«, fragte sie, aber er antwortete: »Nein, mein Herz macht das einfach, ich habe keine Angst.«
Dass Gefühlsblinde, wenn man sie nach ihren Gefühlen fragt, mit Beschreibungen über körperliche Zustände antworten, ist ein bekanntes und früh beobachtetes Phänomen.
Alexander fiel es schwer zu beschreiben, was er fühlte, nachdem sein Vater schließlich an der Krebserkrankung gestorben war. Immer wieder sprach seine Frau ihn darauf an und bot ihm ihren Trost an. Kollegen fragten ihn, wie es ihm gehe. Aber auch wenn er versuchte, richtig in sich hineinzuhören, kam meist kaum mehr als ein: »Ja, er ist jetzt weg. Er hatte halt Krebs und es war ja klar, dass er nicht 100 werden würde.« Sein Umfeld sprach nun oft von Alexanders dickem Fell oder dem Panzer, den er sich offenbar zugelegt habe. In Alexander war tatsächlich eher eine große Leere als wirklich tiefe, langanhaltende Trauer. Er wollte nicht reden, ihm war danach weiterzumachen.
Niemand käme auf die Idee, Alexander zum Arzt zu schicken – Bekannte, Nachbarn oder Kollegen würden Alexander vermutlich als »Kopfmenschen« beschreiben und sich nichts weiter dabei denken. Schließlich können gefühlsblinde Menschen zwischenmenschliche Konventionen gut beherrschen – sie lächeln beispielsweise, wenn der Chef sie begrüßt, auch wenn sie vielleicht keinen inneren Impuls dazu verspüren. Alexanders Arbeitsumfeld weiß nicht von seiner Gefühlsblindheit, denn Alexander ist ein guter Schauspieler.
Viele Menschen mit emotionaler Einschränkung sind äußert anpassungsfähig. So beschreibt ein betroffener Nutzer in einem Forum zum Thema Gefühlsblindheit, wie er emotionales Verhalten imitiert:
»Ich erinnere mich auch an den Moment, als mir meine Mutter von dem Tod meiner Oma erzählte: Damals drehte ich mein Gesicht weg und täuschte Weinen vor. Dann hatte mir neulich ein Freund erzählt, wie an einer Tankstelle seiner Frau das Auto samt Kind auf eine viel befahrene Straße gerollt ist. Wenn ich ehrlich bin, habe ich kein Entsetzen oder Schrecken gefühlt, sondern ganz bewusst so was wie ›das find ich schrecklich‹ gesagt. Auch in anderen Situationen spüre ich ganz deutlich, wie ich meine Gefühlsworte entsprechend der Situation (egal ob Freude, Trauer, Ärger) sozial kompatibel wähle, ohne wirklich etwas dergleichen zu fühlen. (…) Wenn ich Geschenke bekomme, täusche ich Freude vor. Wirkliche Freude ist da nicht wirklich, sondern ich weiß den Aufwand wertzuschätzen.«
Die Nachahmung von Verhaltensweisen ist bei Gefühlsblinden, aber auch bei nicht-gefühlsblinden Menschen häufig anzutreffen. Wenn wir zu einer Gruppe Menschen dazugehören wollen, beobachten wir – meist unbewusst – ihr Verhalten und ahmen es nach. Gefühlsblinde Menschen fallen dadurch häufig im erweiterten Bekanntenkreis gar nicht als irgendwie »anders« auf. Je enger aber die Beziehung ist, desto weniger können antrainierte Verhaltensweisen über die emotionalen Defizite hinwegtäuschen: Für eine Paarbeziehung – wenn denn überhaupt eine Beziehung entstehen kann – ist Gefühlsblindheit eine extreme Belastung.
Die Liebe ist die größte Hürde für gefühlsblinde Menschen. Wie kann sie funktionieren, wenn man sie gar nicht fühlt? Wie lebt es sich mit einem Menschen zusammen, der einem keine Liebe zeigt? Vor allem die nicht-gefühlsblinden Partner von Gefühlsblinden leiden stark unter emotionaler Vernachlässigung und dem Gefühl, vollkommen allein für die Beziehung verantwortlich zu sein. Auf Dauer kann ein solcher Entzug an emotionaler Zuwendung ebenfalls krank machen.
In einem Internetforum schreibt eine Nutzerin über ihren alexithymen Partner:
»Unter der Woche schreibt er manchmal ›Ich küsse und umarme dich‹.
Doch er tut es nicht, wenn wir beieinander sind.
Wenn ich ihn umarme, scheint er es zu ›dulden‹, einen Moment.
Manchmal bitte ich ihn, mich einfach in den Arm zu nehmen.
Er fragt mich dann, warum ich das jetzt brauche. Die Frage finde ich so seltsam.
Versuche, es zu erklären, dass mir einfach nach seinen Armen ist und ein wenig Geborgenheit. (Eben einfach so nach einer anstrengenden Arbeitswoche …) Und auch hier wird wieder nachgefragt, woher das kommt, dieser Wunsch. Irgendwann verzweifle ich an den Fragen, weine, zürne, bettle regelrecht. ›Ich spüre dich nicht‹ ist seine Antwort … und beginnt, sich mit dem Rechner zu beschäftigen oder die Zeitung zu lesen. (…)
Wenn ich mich spontan freue, scheint ihn das zu überraschen, wenn ich sentimental bin, soll ich Gründe benennen. Er schaut mich dann fragend an, als sei ich irgendwie seltsam. Doch meistens zeigt sein Gesicht nichts. Es ist immer gleich, irgendwie teilnahmslos. Zärtlichkeiten (Küssen, Umarmen) sind offenbar irgendwie unangenehm,
Sex eher …. rational … und dann schnell duschen.«
Die Forennutzerin fühlt sich nicht gesehen, sie vermisst emotionale Unterstützung und Zuwendung. Sie fühlt sich nicht geliebt. Ihr Partner hat gelernt, dass man seinem Partner Dinge wie »Ich küsse und umarme dich« schreibt, als Abschiedsformel sozusagen. Aber ein tatsächliches Bedürfnis nach Küssen und Umarmen empfindet er einfach nicht. Nie, bei niemandem.
Das Leiden, das dabei entsteht, nennen Psychologen »affective deprivation disorder« (AfDD; übersetzt: Affektentzugsstörung), es ist ein Syndrom, unter dem Partner von gefühlsgestörten Personen leiden können. Ursprünglich wurde dieser Begriff für die Partner von autistischen Menschen eingeführt, man wendet ihn aber auch auf die Partner gefühlsblinder Personen an.
Es gibt allerdings nicht nur Nachteile daran, mit einem gefühlsblinden Menschen zusammen zu sein, das sagt zumindest Alexanders Frau. Sie habe nie Zweifel an seiner Treue gehabt, er sei immer zuverlässig für sie da und die Bindungsunfähigkeit, unter der angeblich vor allem viele junge Männer leiden würden, sei bei Alexander auch überhaupt kein Thema.
Für Alexander ist es eher so: Er hat geheiratet, weil er eine Frau haben wollte. Nun hat er eine Frau an seiner Seite und die gehört so fest und verbindlich zu ihm, wie sein linkes Bein. Alexander gehört nicht zu der Sorte Menschen, die sich, wenn etwa ein Beziehungsproblem auftaucht, ein alternatives Leben vorstellen, mit einer anderen Frau, einem anderen Job. Für ihn sind Beziehungen wie unkündbare Verträge – einmal eingegangen, halten sie für das gesamte Leben. Genauso wenig wie er sich vorstellt, er hätte Raumfahrttechnik studieren können und würde nun beruflich ins All fliegen, genauso wenig fantasiert er von anderen Frauen an seiner Seite. Egal was passiert, seine Frau bleibt seine Frau.
Aber auch wenn alexithyme Menschen häufig zuverlässige und treue Partner sein können – an ihrer Seite fühlen sich viele schlichtweg allein.
Eine andere Forennutzerin ist ebenfalls mit einem gefühlsblinden Mann zusammen und vermisst emotionale Unterstützung in ihrer Beziehung:
»Ich hatte auch mal schlechte Tage, in denen ich Trost gebraucht hätte, z. B. saß ich mal weinend neben ihm und er nahm es zwar wahr, reagierte aber absolut nicht darauf, er ignorierte mein Weinen und Schluchzen einfach … Wenn ich ihn darauf ansprach, wie er sich verhält, sagte er, ich würde übertreiben und er verhalte sich ganz normal. Seine platonische Art und Weise mir gegenüber fand er normal, und wenn ich ihn auf Emotionalität ansprach, redete er es weg (z. B. sagte ich: ›Warum nimmst du mich nie in den Arm? Warum darf ich deine Hand nicht halten? Warum habe ich immer das Gefühl, dass du mich eher als Kumpel denn als Partnerin siehst?‹), worauf er nur vorbrachte ›Ich hab dich doch hierhin/dorthin gefahren. Ich habe dir doch letztens im Haushalt geholfen. Ich bin doch letztens mit dir zu diesem Termin gegangen.‹ Und er meinte, das wäre doch wohl emotional genug.«[18]
Beim Lesen dieser Berichte fragt man sich als nicht-gefühlsblinder Mensch, wie man überhaupt eine Beziehung mit einer so kalten, emotional abgestumpften Person eingehen kann. Allerdings fällt die Gefühlsblindheit zu Beginn der Beziehung nicht auf. Da Männer etwas häufiger betroffen sind als Frauen, tun die meisten gefühlsblindes Verhalten am Anfang der Beziehung mit einem »typisch Mann« ab. Wie tiefliegend die emotionalen Defizite aber reichen, kann der Partner – der in den allermeisten Fällen von dem Phänomen Alexithymie noch nie gehört hat – nicht erahnen. Viele Männerklischees – »Männer reden nicht über ihre Gefühle«, »Männer interessieren sich nur für Autos«, »Männer wollen nicht kuscheln« – zielen in eine ähnliche Richtung und verdecken das eigentliche Problem. Nach einer gewissen Zeit tragen diese Klischees nicht mehr, und der nicht-gefühlsblinde Partner beginnt zu klagen. Zumeist kennen beide das Phänomen Gefühlsblindheit nicht, so dass sie den Empathiemangel als persönliche Vernachlässigung empfinden, was dann tagtäglich zu Konflikten führt. Für den Gefühlsblinden beginnt die Phase der Rechtfertigungen und der andauernden Angriffe auf die eigene Persönlichkeit.
Alexander freut sich schon nicht mehr auf das Wochenende, weil er weiß, seine Frau wird sich dann wieder beschweren. Abgesehen davon bringen Wochenenden sowieso nur Unruhe in die Routinen des Alltags. Aber die Streitereien sind zusätzlich anstrengend. Alexanders Frau wirft ihm vor, nie einen originellen Vorschlag für eine Unternehmung zu machen. Immer müsse sie die Initiative ergreifen. Sie müsse allein die ganze Beziehungsarbeit leisten, von ihm komme nichts. Alexander versteht das nicht. Warum Beziehungsarbeit? Warum etwas Originelles unternehmen? Dass hinter diesen Begriffen der Wunsch seiner Frau steht, gesehen zu werden, kann Alexander nicht begreifen. Was bei ihm ankommt, sind ausschließlich Vorwürfe. Dabei wäre ein gelungenes Wochenende für ihn, wenn man tagsüber etwas liest oder fernsieht und am Abend zusammen isst. Alexanders Frau würde gern romantisch verführt werden, doch sie hat den Eindruck, Alexander habe kaum sexuelles Interesse an ihr. Dabei sei er doch der Mann! Hinter den Klagen von Alexanders Frau steht etwas viel Einfacheres und zugleich Schwierigeres: Alexanders Frau wünscht sich, er würde spüren, was sie sich wünscht. Und das kann Alexander nicht.
Ohne konkrete Handlungsanweisung verhalten sich Gefühlsblinde ihrem Partner gegenüber häufig verletzend – ohne es zu wollen, sie merken es überhaupt nicht.
Solche Schwierigkeiten tauchen natürlich auch beim Sex auf. So beschreibt ein alexithymer Forennutzer:
»Sex finde ich toll, aber gerate nicht in Ekstase – meine Partnerin hat sich anfangs beschwert, dass ich keinen Laut von mir gebe und mechanisch wirke. Inzwischen habe ich gelernt, zu bestimmten Zeiten passende Geräusche von mir zu geben.«
Manche gefühlsblinden Menschen können auf die Bitten des Partners eingehen und ihr Verhalten bis zu einem gewissen Grad ändern. Sie nehmen sich dann bewusst vor, den Partner zu umarmen oder ihn nach seinem Befinden zu fragen. Häufig erscheint dieses Verhalten dann zwar als »steif« oder »roboterhaft«, aber für die Stabilität der Beziehung ist es dennoch wichtig.
Für Gefühlsblinde sind die emotionalen Ansprüche an eine gut funktionierende Paarbeziehung jedoch einfach unüberbrückbar. Wenn man also als nicht-gefühlsblinder Mensch mit einem alexithymen Menschen zusammen ist, lautet der Rat meist: Akzeptiere deinen Partner, wie er ist. Beide Partner müssen sich mit ihren Differenzen akzeptieren lernen und eine Kommunikationsweise finden, die beide annehmen können. Ein gefühlsblinder Mensch wird nie einfühlsam, empathisch oder einem die Wünsche von den Lippen ablesen. Er kann allerdings versuchen, auf konkrete Handlungsvorschläge in konkreten Situationen einzugehen. So lernen gefühlsblinde Menschen häufig im Laufe einer Beziehung, ihren Partner in den Arm zu nehmen oder abends zu fragen, wie denn der Tag war. Akzeptanz ist nicht nur für den nicht-gefühlsblinden Partner der Schlüssel, sondern auch für die Betroffenen selbst. Denn die Gefühlsblindheit ist Teil ihrer Persönlichkeit, und diese wird sich nicht fundamental ändern (mehr zu Therapieansätzen in Kapitel 5).
Warum suchen Gefühlsblinde überhaupt Beziehungen, wenn sie doch enge emotionale Bindungen gar nicht eingehen können?
Wie bereits ausgeführt, gibt es zahlreiche Fälle, in denen Personen mit eingeschränktem Affektleben sehr stabile Beziehungen führen – zumindest aus ihrer eigenen Sicht ist die Partnerschaft unerschütterlich. Viele andere gefühlsblinde Menschen aber haben so große Schwierigkeiten mit einer Paarbeziehung, dass sie Single sind und es auch bleiben möchten. Bei manchen Gefühlsblinden geht ihre emotionale Disposition mit einem geringen Interesse an einer Partnerschaft einher. Bei anderen Gefühlsblinden hingegen besteht sehr wohl der Wunsch nach einer Beziehung. Oftmals ist dieser Wunsch allerdings eher von der Sehnsucht nach einem geordneten Leben getrieben. Da gehört eben ein Partner genauso dazu wie ein Beruf. Es sind also eher rationale Beweggründe als ein tiefer innerer Wunsch nach einem Menschen, der einem das Gefühl gibt, nicht alleine durchs Leben zu gehen.
Aus den Ausführungen des Nutzers, der oben sein Erleben von Sex geschildert hat, liest man heraus, welchen – vergleichsweise niedrigen – Stellenwert seine Beziehung für ihn hat:
»Bestes Beispiel ist wohl, dass es mich ›kalt‹ lässt, wenn meine Partnerin zu mir sagt, dass ich ausziehen soll oder sie mich nicht mehr sehen will. Es ist dann eben so – eine Trennung fände ich sehr schade und ich würde meine Partnerin sehr vermissen.«
Eine Trennung von seiner Partnerin würde Peter in die Situation versetzen, sein Leben neu strukturieren zu müssen, was unangenehm ist, und er würde sein geordnetes Leben vermissen. Wenn seine Freundin ihm sagt, er solle ausziehen und sie wolle ihn nicht mehr sehen, dann ist das für Peter wie in Stein gemeißelt. Er hat keine Möglichkeiten, diesen »Entschluss«, der ja unter Umständen nur ein Hilferuf ist, anzugreifen. »Es ist dann eben so«.
Viele Verbindungen zerbrechen nach einiger Zeit an dem emotionalen Ungleichgewicht. Und viele Gefühlsblinde sind gar nicht erst in der Lage, eine feste Beziehung aufzubauen.
In dem amerikanischen Forum »Reddit.com«, eines der bekanntesten und größten Foren zu allen möglichen Themen, gibt es die Kategorie »Ask Me Anything« – »Frag mich alles«. Häufig sind es Menschen mit außergewöhnlichen Berufen oder seltenen Krankheiten, die hier Rede und Antwort stehen. Aufgrund seiner extrem hohen Reichweite und der Tatsache, dass Reddit eine Leserschaft hat, die relativ liberal und gebildet ist, liefert das Forum häufig interessante Einblicke in Spartenthemen, die im Mainstream kaum vertreten sind. Wie zum Beispiel Alexithymie.
Hier antwortet ein amerikanischer gefühlsblinder Mann auf die Fragen der Leser:
Hattest du bereits länger andauernde feste Beziehungen?
Ja, hatte ich. Alle drei dauerten etwa 2 Jahre. Ich habe nicht so sehr Schwierigkeiten, eine Beziehung zu beginnen, allerdings enden sie nach der ersten aufregenden Phase, auf die Commitment und Alltag folgen, für mich immer in Schinderei. Es ist nicht so, dass ich mich nicht dazu bekennen könnte, vielmehr ist es so, dass mir nichts in meinem eigenen Leben oder dem Leben meiner Partnerin wirklich wichtig ist. Daher rede ich eigentlich nie – nicht über meine Arbeit, nicht über persönliche Probleme (weil ich die nicht habe), ich vertraue meiner Partnerin nichts an (weil es nichts gibt). Und wenn meine Partnerin persönliche Themen an mich heranträgt, sind meine Reaktionen darauf komplett rational. Ich denke, es ist für Leute schwer, mit jemandem zusammen zu sein, der null Empathie hat für das, was in ihrem Leben los ist.
Was ist deine sexuelle Orientierung? Was hältst du von Sex im Allgemeinen?
Meine sexuelle Orientierung ist etwas schwer zu fassen. Sex interessiert mich generell nicht so sehr, abgesehen vom körperlichen Vergnügen kann ich Sex wenig abgewinnen. Mein Trieb ist also eher nicht so stark ausgeprägt.
Wie kommt es dann überhaupt dazu, dass du eine Beziehung eingehst? Wenn du keine üblichen Gefühle von Verliebtheit empfindest, schwärmst du dann zumindest für andere Menschen?
In 95 Prozent meiner Beziehungen war nicht ich derjenige, der die Sache initiiert hat. Nein, so etwas wie Schwärmen oder Verknalltsein kommt bei mir auch nicht vor.
Hast du manchmal das Gefühl von Einsamkeit? Machst du dir Sorgen, dass du niemals jemanden finden wirst, der an deiner Seite bleibt?
Ich fühle mich nicht einsam. Und es beunruhigt mich nicht, niemanden an meiner Seite zu haben. Ich kann problemlos unbegrenzt viel Zeit alleine verbringen, solange ich beschäftigt bin mit irgendwas – Fark, Slashdot, einem Buch, The Economist, oder was auch immer.
Würdest du gerne Emotionen empfinden können so wie andere?
Ich bin nicht sicher. Es mag sich komisch anhören, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ein Teil von mir fehlt. Würde ich Gefühle haben, würden wahrscheinlich meine Beziehungen länger halten können, aber eigentlich wäre es mir sowieso lieber, eine Beziehung auf Basis von rein intellektueller Kompatibilität zu führen, ohne dass Gefühle da überhaupt reinspielen.
Wenn du von Sachen sprichst, die du magst, wie zum Beispiel ein Buch lesen, was bedeutet dieses »mögen« dann für dich? Hat das nicht doch eine emotionale Komponente?
Das ist für mich eher intellektuell befriedigend. Ich arbeite als Programmierer, und wir hatten ein Problem mit unserem Computersystem, von dem selbst die Experten sagten, es sei unmöglich zu lösen. Es hat mich dann 300 Zeilen in Perl (Programmiersprache) gekostet, um das herzustellen, was der Chef wollte. Das ist ein Beispiel für intellektuelle Befriedigung.
Was ist deine Motivation, Dinge zu tun, beispielsweise an diesem Interview teilzunehmen?
Meine Motivation, Dinge zu tun, besteht eigentlich nur darin, die Eintönigkeit zu durchbrechen. Ohne Ziele zu haben oder mich auf etwas zu freuen. Mein Leben schleppt sich eher so dahin.
Was wäre deine Reaktion, wenn dich jemand sprachlich angreifen würde? Würde es dir etwas ausmachen, wenn jemand versuchen würde, sich über dich lustig zu machen, oder wäre so etwas dir ganz egal?
Meine Reaktion darauf, dass mich jemand verletzen will, ist meist Verwirrung. Ich kann nicht nachvollziehen, warum manche Menschen sich rächen wollen oder jemand anderem eins reinwürgen. Ich würde auf die Fehler in ihrer Argumentation (die gibt es nämlich immer) hinweisen, das funktioniert ziemlich gut, genauso wie weggehen und sie einfach ignorieren.
Bist du durch deine Gefühlsblindheit komplett objektiv in deiner Entscheidungsfindung?
Ja, schon. Ohne Hoffnungen, Träume oder Ängste kann ich leicht alles auf eine Liste von logisch-rationalen Pros und Contras runterbrechen. Ich bin nie aufgeregt über etwas, freue mich nie auf etwas, bin aber auch nie enttäuscht. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber der Spruch »Es ist, wie es ist« ist sozusagen mein Mantra.
Tust du manchmal so, als hättest du Gefühle, um mit Leuten besser zurechtzukommen?
Nein, interessanterweise ist das offenbar nicht nötig. Solange man gesprächig und nicht griesgrämig ist – und es ist schwierig, schlecht gelaunt zu wirken, wenn man nicht traurig/deprimiert/aufgebracht/wütend sein kann – dann kommt man gut klar mit seinen Mitmenschen.
Wie würdest du dich beschreiben? Was glaubst du, wie andere dich beschreiben würden?
Ich empfinde mich natürlich als normal, weil ich nichts anderes kenne … Ich finde es manchmal ermüdend, mit anderen Menschen umzugehen, weil ich ihre Entscheidungen nicht nachvollziehen kann. Ich bin eher ungesellig, wirke so, als sei ich immer in guter Stimmung (besser gesagt, ich bin nie in überhaupt irgendeiner Stimmung, also nehmen die Leute an, ich sei immer gut gelaunt) und ich habe keine Probleme mit sozialen Kontakten (Dating oder bei der Arbeit). Es hilft aber wahrscheinlich, dass ich UNIX-Administrator bin und meine Kollegin auch alles Programmierer sind und entsprechend sozial wahrscheinlich leicht inkompetent.
Ich bin nicht sicher, wie andere mich beschreiben würden. Mitarbeiter denken vermutlich, dass es in meinem Leben nichts gibt außer Arbeit und trivia-Spiele. Andere Menschen glauben vielleicht, dass ich eine sehr private Person bin, die mit niemandem über Persönliches spricht. Meine Ex-Freundinnen würden mich als abgestumpft und gleichgültig beschreiben. Vielleicht auch als unmoralisch, weil ich Promiskuität nicht schlimm finde und auch nie versprechen könnte, dass ich jemanden so sehr liebe, dass ich ihn nicht betrüge.
Was sind deine Hobbies? Welche Filme und Bücher magst du?
Ich mag Dinge mit komplexen Systemen und Regeln, wie zum Beispiel Rollenspiele. Die meisten Bücher, die ich lese, sind Sachbücher – über Geschichte, Mathematik, Philosophie oder Politik. Es ist nicht so, dass ich es wahnsinnig genieße, solche Bücher zu lesen, sondern eher so, dass ich niemals in irgendetwas so richtig vertieft sein kann. Ich bin nicht in der Lage, stellvertretend für Figuren aus Filmen oder Romanen Dinge zu empfinden oder mit einer Charakterentwicklung mitzufühlen, und deshalb bevorzuge ich eben einfache Faktenauflistungen oder Denksportaufgaben. Filme wirken auf mich häufig kitschig oder nicht nachvollziehbar.
Weinst du manchmal?
Nein, nie. Ich erinnere mich auch nicht, dass ich jemals geweint hätte.
Ziehst du Freude aus Sex?
Sex ist im besten Fall körperlich angenehm und das war’s. In vielerlei Hinsicht ist Sex nicht besser oder schlechter als Masturbation.
Wenn es nicht zu privat ist: Wie häufig masturbierst du?
Mir ist nichts zu privat. Es kommt drauf an, ob ich in einer Beziehung bin oder nicht. Wenn ja, dann masturbiere ich gar nicht und ansonsten circa einmal in der Woche.
Bist du zurzeit in einer festen Beziehung? Wie sehen deine Erfahrungen mit Frauen bisher aus?
Im Moment bin ich nicht in einer festen Beziehung, allerdings ist Daten für mich kein Problem, überraschenderweise. Insgesamt würde ich drei Beziehungen als ernst und fest bezeichnen, sie hielten circa drei Jahre. Die erste Beziehung basierte hauptsächlich darauf, dass wir nah beieinander wohnten. Als ich dann wegzog, endete die Beziehung.
Bei der zweiten Beziehung wurde es irgendwann zum Problem, dass ich ein reges Sozialleben hatte, das sie aber nicht immer mit einschloss. Nachdem wir eineinhalb Jahre zusammen waren, begann sie, übers Heiraten und Kinder zu sprechen. Ich sagte ihr, dass ich sie nicht liebe und dass wir keine gemeinsame Zukunft hätten, wenn sie eine Familie will. Man muss allerdings hinzufügen, dass ich ihr NIE gesagt hatte, dass ich sie liebe, aber sie nahm es wohl einfach an nach einer gewissen Zeit. Nach dem Gespräch schien zuerst einige Wochen lang alles in Ordnung zu sein, aber dann begann sie, Streitigkeiten anzustacheln. Anscheinend dachte sie, dass, wenn sie mich verärgert, dadurch zumindest irgendeine Art von Gefühlen in mir ausbricht. Hat nicht funktioniert.
Die letzte Beziehung endete vor vier Monaten. Nachdem wir ein Jahr lang gedatet hatten, hat sie meine Mutter davon überzeugt, einen Besuch beim Psychologen für mich zu bezahlen, weil ich »emotional tot« sei. Der Psychologe überwies mich zu einem Psychiater, der mir eine antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. Dann hieß es, ich hätte Asperger, und erst in einem PET-Scan stellte sich Alexithymie raus. Dann probierte ich mehrere Medikamente aus, die aber alle nicht halfen. Und in der Zwischenzeit wählte meine Freundin dieselbe Strategie wie die davor und begann, ständig zu streiten, was schließlich ebenfalls zum Ende der Beziehung führte. Ich verstehe sowieso nicht, wie man glauben kann, dass Streiten mit anschließendem Versöhnungssex zu einer engeren Beziehung führen soll.
Und nun date ich also wieder. Dieses Mal werde ich direkt zu Beginn ziemlich klar geradeaus sagen, was ich suche in einer Beziehung und warum.
Warum datest du überhaupt? Was bringt dir das Zusammensein mit anderen?
Ich suche jemanden zum Reden und um Langeweile zu vermeiden. Idealerweise jemand intelligentes, der auf dem Laufenden ist oder viel liest, so dass man immer neue Gesprächsthemen hat. Ich habe zwar einen Zwillingsbruder, aber er hat Frau und Kinder, und inzwischen bin ich in dem Alter, in dem all meine Freunde nach und nach Familien gründen. Ich hingegen mache immer mehr Überstunden, und eine Beziehung bewahrt mich davor, noch isolierter von der Welt zu werden.
Was bedeutet Liebe für dich?
Liebe bedeutet nichts für mich. Es ist ein Wort. Es ist Serotonin, Oxytocin, Dopamin und ein paar weitere Stoffe, die zusammenspielen, um Leute lange genug zusammenbleiben zu lassen, so dass sie sich erfolgreich fortpflanzen und Kinder aufziehen können. Das klingt vielleicht abstrakt, aber erlebt habe ich es nie.
Wie reagierst du auf Komplimente? Findest du sie manchmal sinnvoll?
Ich kann Komplimente wohl eher schlecht annehmen. Sie sind meiner Ansicht nach komplett überflüssig. Ein Kompliment ist das Aussprechen eines Fakts, subjektiv oder nicht, dessen ich mir normalerweise bewusst bin. Auf der anderen Seite verteile ich auch keine Komplimente, weil ich annehme, dass Menschen ihre positiven Eigenschaften selbst kennen und ich muss mich dann manchmal daran erinnern, dass Menschen manchmal Bestätigung brauchen.
Wenn du nur noch einen Tag zu leben hättest, was würdest du tun?
Dasselbe wie an jedem anderen Tag (und das ist: versuchen, nicht die Welt zu erobern).
Wenn du eine Sache an dir verändern könntest, was wäre das? Oder bist du zufrieden so, wie du bist?
Das klingt vielleicht merkwürdig, aber aus meiner Sicht bin ich normal. Also, ja, ich bin zufrieden, wie ich bin. Wenn ich allerdings eine Sache verändern würde, dann wäre es nicht die Alexithymie. Vielleicht würde ich mir wünschen, größer zu sein oder mehr Bartwuchs zu haben. Ich denke, dass ein plötzliches Aufkommen von Gefühlen eher lähmend wäre, wenn man nicht sein Leben lang Zeit hatte zu lernen, mit Gefühlen umzugehen.[19]
Interessant daran ist, wie zufrieden dieser gefühlsblinde Mann mit seiner Disposition zu sein scheint. Wer würde schon von sich behaupten, den nächsten Tag genauso zu verbringen, wie alle anderen, selbst wenn er wüsste, dass dieser der letzte Tag seines Lebens sein würde?
Dieser Mann gestaltet sein Leben exakt so, wie es für ihn passt. Es ist eine Abfolge von Tagen, die man irgendwie füllen muss. Er ist überzeugt, das sei halt so »normal«, es lasse sich eh nicht ändern, weil er ja nun mal so ist, wie er ist. Und so hat er sich eingerichtet in einem Hamsterrad de luxe – einem Hamsterrad, in dem er zwar viel Zeit für sich und seine Bücher und Rollenspiele hat, das aber letztlich ein Hamsterrad bleibt. Der Alltag besteht dann aus Essen, Schlafen, Arbeiten und einem Kreuzworträtsel für Fortgeschrittene.
Aber es scheint Augenblicke zu geben, in denen auch ihm die Fadheit seines Lebens aufstößt: Wenn er beispielsweise sagt, dass die einzige Motivation, die er empfindet, darin besteht, »die Eintönigkeit zu durchbrechen«. Er findet sein Leben zwar öde, aber er sucht die Lösung für dieses Problem eher in einem intellektuell anspruchsvollen Buch als darin, sich Gefühlen anzunähern. Gefühle sind und bleiben für ihn überflüssig, nervig und bedrohlich.
Dieser Mann ist ein Beispiel für mindestens zehn Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft – was entgeht diesen Menschen alles?! Kein Triumph, keine Sehnsucht, kein Rausch, keine Ekstase, keine Liebe! Niemals ein Mit-der-Faust-auf-den-Tisch-Hauen; niemals ein vor Freude in die Luft springen; niemals jemanden mit Küssen überhäufen; niemals bei einem Abschied weinen.
Ein solches Leben ist eher durch Vermeiden von Negativem gekennzeichnet als von einem Streben nach Positivem. Erinnert Sie das an etwas?
In der Einleitung zu diesem Buch hatte ich darüber geschrieben, Eltern hielten es überzeugtermaßen für ausreichend, wenn sie ihr Kind vor negativen Erfahrungen bewahren. Dass es also für ein psychisch gesundes Aufwachsen ausreiche, wenn sie ihr Kind nicht psychisch oder physisch misshandeln; ihm Nahrung, Kleidung, Pflege und Obhut geben. Aber das ist nicht der Fall. Damit das Kind ein gesundes Gefühl von sich selbst entwickeln kann, braucht es mehr als die Vermeidung von Negativem; es braucht jede Menge positive Erfahrungen in der frühen Kindheit; es braucht einen Überfluss an Liebe, Sicherheit, Aufmerksamkeit und Zuwendung. Um die Stärke entwickeln zu können, die es braucht, um gesund durchs Leben zu gehen, muss es so viele, so starke positive Bilder in sich aufnehmen wie möglich.
Aber viele Eltern fokussieren sich darauf, ihr Kind von Negativem abzuschirmen, sie zu beschützen. Wenn nichts Schlechtes passiert, dann ist alles gut. Genauso wie der alexithyme Mann im Interview.
Aber ist das wirklich so? Ist wirklich alles gut, solange nichts Schlechtes geschieht? Ist das nicht eine etwas zu bescheidene, wenn nicht gar leicht depressive Weltanschauung?
Beim Lesen dieses Interviews kann man sich vorstellen, dass a) alexithyme Menschen oft kein Bedürfnis haben, selbst etwas zu verändern, und dass b) ihr Umfeld häufig Schwierigkeiten hat im Umgang mit ihnen. Eben aus dem Kontakt mit dem sozialen Umfeld entspringt meist die Motivation, doch etwas an der eigenen emotionalen Verfasstheit zu ändern.
Das obige Interview und vor allem die Stelle, in der der Mann von der Eintönigkeit seines Lebens spricht und davon, sein Leben würde »sich eher so dahinschleppen«, zeigt einen Ansatzpunkt, den man nutzen könnte. Denn irgendwo, tief verborgen, gibt es vielleicht doch eine Hoffnung, das Leben könnte auch anders sein.
Alexithymen Menschen würde es sicherlich helfen zu wissen, dass man emotionale Schwächen unter Umständen auch außerhalb eines psychotherapeutischen Settings angehen kann. Menschen mit einer solchen emotionalen Schwäche sind nicht krank, sie fühlen sich nicht krank und deshalb wollen sie, zurecht, auch nicht als krank eingestuft werden.
Gerade wenn kein krankhafter Leidensdruck besteht, können emotionale Probleme auch durch Selbstreflexion, Lektüre und Übungen angegangen werden. Die folgenden Kapitel sollen dafür einige Ansatzpunkte liefern. Diese sind genauso für alexithyme Menschen geeignet wie für Menschen, die emotionale Probleme anderer Art haben – ob zu starke Gefühle, die nicht mehr kontrollierbar sind, oder zu schwache Gefühle, die nie zum Ausdruck kommen – das folgende Kapitel bietet eine Übersicht zu emotionalen Schwierigkeiten, gepaart mit den entsprechenden Hilfestellungen.