Innerhalb der psychologischen Forschung gab es am Ende des vergangenen Jahrhunderts zwei große Therapieströmungen: Die Einen glaubten daran, dass man die Gedanken verändern muss, um psychische Probleme zu beheben (allen voran die Therapieform »kognitive Verhaltenstherapie«); die Anderen vertraten die Ansicht, man müsse sich voll und ganz seinem Körper hingeben und Emotionen ungefiltert herauslassen (hierzu gehören beispielsweise die Gestalttherapie oder Grundsätze, wie etwa »Wut tut gut«). Beide Ansätze haben nicht Unrecht, in beiden steckt Wahrheit: Wir können mit unseren Gedanken unsere Gefühle beeinflussen, und es ist wichtig, Gefühle zuzulassen. Weiter vorne, als ich über die emotionsfokussierte Therapie geschrieben habe, haben wir bereits ein paar Grundpfeiler der Achtsamkeitstheorie kennengelernt, denn die beiden Zweige haben viel gemeinsam.
In der modernen Achtsamkeitstherapie geht man davon aus, dass wir Gefühle annehmen und akzeptieren sollten. Wie auch in der emotionsfokussierten Therapie schreiben Therapeuten Gefühlen eine »Weckerfunktion« zu: Wenn wir sie hören, werden sie ruhiger; wenn wir sie nicht hören, werden sie lauter. So wie die Töne des Weckers lauter oder schneller werden, wenn man nicht auf ihn reagiert, so stauen sich unsere (negativen) Gefühle an und verstärken sich, wenn wir sie auf Dauer unterdrücken.
Wie bereits erwähnt, ist Stress ein Risiko für positive Gefühle und ein Verstärker für negative Gefühle. In unserer Gesellschaft ist aber Stress der Normalfall – unsere Tage sind durchgetaktet bis zur letzten Minute, wir fliegen durch Deutschland, um ein Meeting wahrzunehmen, und wenn wir abends spät nach Hause kommen, müssen wir noch eine Abendrunde joggen. Das Handy ist selbstverständlich ständig an, und wir schreiben Nachrichten an Kollegen, während wir aus einem Buch in der anderen Hand halbherzig unserem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen.
Wie soll da kein Stress aufkommen? Da hilft selbst der grünste Smoothie am Morgen nichts.
Achtsamkeit ist eine Methode, die helfen kann, Stress abzubauen. Dabei handelt es sich um eine spezielle Form der Aufmerksamkeitslenkung. Man richtet dabei absichtlich seine Aufmerksamkeit auf Erfahrungen des gegenwärtigen Augenblicks, ohne diese zu bewerten. Befindet man sich in diesem Bewusstseinszustand, lässt man sich nicht von Emotionen fortreißen oder überrollen; man nimmt sie wahr, aber reagiert nicht über, so dass destruktive Verstärkungen (wie sie häufig bei negativen Emotionen eintreten) ausbleiben. So kann es gelingen, selbst in turbulenten Situationen die Selbstreflexion und Gelassenheit zu bewahren.
Zu einer achtsamen Einstellung gehört auch das sogenannte »Im Hier und Jetzt«-Leben. Der Wunsch, mehr im Moment verweilen zu können, sich nicht ständig mit dem, was morgen kommt, oder dem, was gestern war, zu beschäftigen, ist groß. Aber seien Sie ehrlich: Wenn Sie mit Ihrer Begleitung im Restaurant sind und Ihr Freund/Freundin geht zur Toilette – was machen Sie? Sitzen Sie am Tisch und lassen Ihren Blick schweifen oder werfen Sie nicht doch schnell einen Blick in Ihr Handy? Ablenkung, darauf komme ich später noch genauer zu sprechen, ist einer der großen Feinde der Achtsamkeit. Aber wir lenken uns ständig ab, ohne es zu merken.
Jede Art von Bewusstseinsinhalt können wir achtsam wahrnehmen, eben das, was gerade in Erscheinung tritt: ob es sich um Sinneseindrücke handelt oder psychische Erscheinungen wie Gedanken, Gefühle, Wünsche etc.
Achtsamkeit im Umgang mit den eigenen Gefühlen wirkt sich positiv auf unsere emotionale Kompetenz aus, denn sie ist wie das Fundament, auf dem alle weiteren emotionalen Kompetenzen aufbauen. Menschen, die achtsam sind, können ihre eigenen Grenzen besser wahren und haben eine positivere Lebenseinstellung.[1] Forscher konnten zeigen, dass Menschen die eine 15-minütige Achtsamkeitsübung praktiziert hatten, positive Reize positiver wahrnahmen als die Gruppe, die keine Achtsamkeitsübung gemacht hatte. Außerdem schätzte die Gruppe, die die Übung vorgenommen hatte, auch neutrale Reize als leicht positiv ein und negative Reize als weniger negativ als die Kontrollgruppe. Hier zeigt sich: Achtsamkeitsübungen wirken ein bisschen wie eine rosa Brille. Aber nicht nur kurzfristig, sondern sogar auf längere Sicht, denn sie haben eine Art Präventionscharakter. Offenbar lassen sich durch regelmäßig ausgeführte Achtsamkeitsübungen Gehirnstrukturen verändern, und so führen Achtsamkeitsroutinen dazu, Reize bereits anders wahrzunehmen. Wir können also durch das Achtsamkeitstraining nicht nur gelassener mit negativen Gefühlen umgehen, sondern wir empfinden gar nicht erst so viele negative Gefühle.
Ob man es nun Achtsamkeit nennt oder Hineinhorchen in sich selbst – es zielt darauf ab, die eigenen Gefühle bewusster wahrzunehmen. Und das ist das erste der fünf Prinzipien im Umgang mit Emotionen.
Bevor ich meine Gefühle benennen kann, muss ich überhaupt erst einmal etwas fühlen – ja, das stimmt, allerdings hängt das Benennen so eng mit dem Fühlen zusammen, dass diese beiden Schritte kaum voneinander zu trennen sind.
Das erste Ziel ist, sich seiner Gefühle bewusst zu werden. Hiermit sind in erster Linie die primären adaptiven Gefühle gemeint. Die Gefühle zu benennen, ist dabei häufig der erste Schritt. Wichtig ist der Versuch, das Gefühl zu benennen, wenn man es fühlt, nicht, wenn man daran denkt. Wir sollten das Gefühl fühlen, nicht darüber nachdenken, woher es kommt, welche Ursache in der Vergangenheit verantwortlich sein könnte, warum es gerade jetzt aufkommt usw. Wenn wir uns fragen: »Warum fühle ich mich gerade so?«, steckt dahinter häufig der Wunsch, das Gefühl möge jetzt aufhören. Wir sollten es aber einfach erst einmal nur fühlen.
Häufig verlaufen klassische Gesprächstherapiestunden so, dass der Therapeut die biographischen Hintergründe des Patienten aufdröselt – was auch tatsächlich nötig und wichtig ist für die Bewältigung von negativen Gefühlen – aber das Fühlen an sich wird dabei vernachlässigt. So hat der Betroffene zwar den Eindruck, sich mit seinen Gefühlen zu beschäftigen und »alles richtig zu machen«, aber innerlich kommt er nicht weiter. Es ist zwar unabdingbar, die Gründe für Empfindungen zu verstehen, erst einmal müssen wir jedoch ein Gefühl wirklich fühlen, um es zu verändern.
In vielen Therapieformen wird dieser kognitive Aspekt – also das Verstehen des Problems – in den Vordergrund gestellt und der emotionale Aspekt vernachlässigt. Was für den einen Patienten gut funktionieren kann, aber für andere nicht, denn manchmal ist es nicht ausreichend, das Problem verstanden zu haben. Manchmal muss man lernen, einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden und sie erst einmal wahrzunehmen und anzunehmen – das gilt nicht nur für den therapeutischen Bereich, sondern auch für Menschen ohne Krankheitssymptome. Denn wir alle neigen dazu, biographische Probleme zu sehr mit dem Verstand anzugehen, und lassen die Gefühle dabei oft etwas unter den Tisch fallen. Und so ist es nicht selten, dass ganze Therapien von 60 oder mehr Stunden ohne eine einzige Träne auskommen, obwohl der Patient ständig von seinen negativen Gefühlen spricht! Gerade Menschen, die hoch angepasst sind und viel Reflexionsvermögen mitbringen, neigen dazu, zwar scheinbar offen über ihre Angst/Trauer/Einsamkeit/Verzweiflung, oder was auch immer es ist, zu sprechen, aber das thematisierte Gefühle dabei dennoch in keiner Faser tatsächlich zu empfinden. Dadurch mag der Patient vielleicht Auslöser, Konsequenzen usw. noch besser verstehen lernen, aber der Schmerz bleibt tief in ihm sitzen. Eine Verletzung, die man erlebt hat, fühlt sich nicht weniger schlimm an, nur weil man verstanden hat, warum sie einem widerfahren ist.
Stellen Sie sich folgendes Extrembeispiel vor: Eine Frau ist in ihrer Kindheit von ihrem Onkel regelmäßig sexuell missbraucht worden. Sie hat sehr gut umrissen, wie es zu diesem Missbrauch kommen konnte: Der Onkel hatte eine pädophile Neigung, war zudem alkoholabhängig und einsam. Ist doch also gar nicht so schlimm, oder?!
Natürlich kann dieses Verstehen der Begleitumstände ihres Missbrauchs ihren Schmerz nicht lindern. Der Schmerz kann nur schwächer werden, wenn er oft gefühlt worden ist. Nach und nach wird sich die Frau idealerweise – mithilfe eines Experten – von dem unerfüllten Bedürfnis in ihrer Kindheit verabschieden können und dabei alle Stufen des emotionalen Heilungsprozesses, die dafür nötig sind (Verzweiflung, Einsamkeit, Wut, Vergebung etc.) durchlaufen.
Gefühle und Kognition müssen letztlich Hand in Hand gehen.
Allerdings ist es natürlich enorm schwierig, sich für Gefühle, die unangenehm sind und die man womöglich über Jahre verdrängt hat, zu öffnen. Wir müssen, um einen achtsamen Umgang mit unseren Gefühlen zu pflegen, bereit sein, sie wahrzunehmen und anzunehmen. Dabei ist es hilfreich, auf die körperlichen Signale zu achten, diese zu benennen und genau zu erwägen, bis man das passende Emotionswort gefunden hat (hierfür kann man die Liste weiter unten in diesem Kapitel nutzen). Wenn ich weiß, ob ich mich gerade beklommen, verschüchtert oder zermürbt fühle, dann festigt und intensiviert das mein emotionales Erleben. Das exakte Wort oder auch mehrere exakte Wörter helfen dabei, dass die Welle des Gefühls sich ausbreiten, ihren Höhepunkt erlangen und schließlich auch wieder abflachen kann.
Nachdem wir also ein Gefühl wahrgenommen haben, müssen wir es gleichzeitig auch (wirklich) annehmen. Das ist viel verlangt, denn wir sind überhaupt nicht darauf ausgerichtet, negative Gefühle zu akzeptieren. Schließlich flieht unser gesamter Organismus quasi vor negativen Empfindungen, um sein Überleben zu sichern.
In einer meiner ersten Schwangerschaftsyogastunden hat die Yogalehrerin genau das mit uns geübt. Denn: Zu einer Geburt sollte man besser eine gewisse Akzeptanz gegenüber negativen Gefühlen mitbringen. Die Lehrerin forderte uns auf, im Stehen die Knie zu beugen und die Arme zu beiden Seiten hin gerade und auf Schulterhöhe auszustrecken. Das war es schon. Klingt nicht besonders schwierig, war es auch nicht, aber nun sollten wir in genau dieser Position verharren, über Minuten hinweg. Wenn uns die Arme schwer wurden, sollten wir tiefer atmen, vielleicht die Beine etwas beugen und wieder strecken, aber die Armposition durften wir nicht verändern. Schnell entstand ein Brennen in der Oberarmmuskulatur, und ich wollte so gern die Arme einfach hängen lassen, nur ganz kurz!
Bei diesem Brennen handelte es sich lediglich um einen leichten körperlichen Schmerz, jedem von uns war klar, dass die Übung in einigen wenigen Minuten enden würde, und trotzdem fiel es mir so schwer, den Schmerz auszuhalten.
Diese Situation zeigt: Wir sind gewohnt, negative Gefühle zu vermeiden. Ist ja auch oft sinnvoll! Aber Gefühlen, die nun mal in uns sind, können wir nicht mehr aus dem Weg gehen, denn sie sind bereits da. Wir können sie nur verändern, indem wir sie wahrnehmen, fühlen, annehmen und verstehen.
Wenn wir also versuchen, unsere Gefühle anzunehmen, werden wir bei den ersten Anläufen vermutlich daran scheitern. Vor allem, sobald es darum geht, sie ohne Urteil anzunehmen. Das ist, insofern man es nicht gewohnt ist, nahezu unmöglich. Wir sollten uns nun aber nicht verurteilen, Gefühle nicht annehmen zu können, denn dadurch verstricken wir uns nur weiter in kognitiven Manipulationen von Gefühlen, vielmehr gilt auch hier, es anzunehmen: Wenn wir spüren, dass wir negative Gefühle bekämpfen, Ausreden finden, beschwichtigen, Emotionen unterdrücken, sie weginterpretieren oder was auch immer, dann müssen wir erst einmal auch das annehmen. Und es ist okay, denn wir üben, wir lernen, wir werden besser.
Der Umgang mit den eigenen Gefühlen lässt sich nicht über Nacht ändern, hierfür braucht man mitunter sehr viel Zeit – wie für alles, was neu ist und man lernen will – wie alles, was man bisher immer auf diese eine Weise getan hat und man nun verändern will,
Eine meiner Freundinnen hat vor einigen Jahren ihren Vater verloren. Wenn sie von seinem Tod erzählte, hat sie immer sehr gefasst gewirkt, hat von Überlebensraten bei Krebs gesprochen, ihr Vater sei mit allem im Reinen gewesen, und es sei schon in Ordnung, dass er jetzt gestorben sei. Es verhalte sich ebenso, wie es sei, sagte sie und zog ihr Leben mit derselben Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit durch wie zuvor. Ich habe sie mit einer Ausnahme nie wirklich traurig erlebt, obwohl sie oft von ihrem Vater gesprochen hat. Kürzlich war sie bei mir zu Besuch, und ich habe eine CD von Schubert eingelegt, woraufhin sie weinen musste. Sie weinte heftig und lange und konnte erst gar nicht sagen wieso. Schließlich meinte sie, diese Musik habe ihr Vater immer gehört.
Sie wollte jedoch nicht, dass ich die Musik ausmache. Sie hat noch eine Weile lang geweint, dann hörte sie irgendwann auf und sagte, es gehe ihr jetzt besser.
Wir müssen uns klar machen: Ein negatives Gefühl ist auch »nur« ein Gefühl. Emotionen kommen und gehen (wenn wir sorgsam, achtsam mit ihnen umgehen). Sie nehmen nicht Überhand und werden nicht immer schlimmer, so wie viele Menschen befürchten. Wenn wir also traurig sind, weil ein Angehöriger gestorben ist, dann heißt das in erster Linie, dass dieser Mensch uns wohl etwas bedeutet hat. Nehmen wir die Traurigkeit an und fühlen sie, dann wird die Traurigkeit dadurch nicht zu einem angenehmen Gefühl, aber es lässt sich ertragen. Akzeptieren wir, nun einmal traurig zu sein, fühlt es sich schon halb so schlimm an. Was wirklich zermürbend ist, ist der Kampf gegen das negative Gefühl.[2]
Denn erst durch den Kampf gewinnt das Gefühl an Macht – je mehr wir es zulassen, desto kleiner wird seine Bedeutung.
Der Psychologe Andreas Knuf nennt den annehmenden Umgang mit Gefühlen »bejahendes Fühlen«. Damit ist gemeint, Gefühlen nicht mit einem »Oh Gott, jetzt auch das noch« zu begegnen, sondern auch die negativen Gefühle zu akzeptieren. Kommt beispielsweise eine Angst in einem hoch, wird niemand vor Freude in die Luft springen und die Angst umarmen, jedoch kann man der Angst ihre Berechtigung geben, sie annehmen und fühlen und dann erleben, dass sie auch wieder schwächer wird. Und schließlich kann man die Schritte, die in der emotionsfokussierten Therapie zur Emotionsanalyse gehören, machen, nämlich das Gefühl und seine Ursachen verstehen, um es gegebenenfalls zu verändern.
Knuf stellt den Prozess des bejahenden Fühlens in seinem Buch Ruhe, ihr Quälgeister anhand des Beispiels Weinen wie folgt vor: »Im ersten Schritt der Wahrnehmung wird die Traurigkeit als solche erkannt und beim Namen genannt. Im zweiten Schritt – der Annahme – geht es darum, dass Traurigkeit und Tränen sein dürfen, und dabei hilft eine offene und nicht wertende Haltung. Beim dritten Schritt – dem Fühlen – bleibt man mit dem Gefühl verbunden, solange es anhält. Wir unternehmen nichts, um das Gefühl zum Verschwinden zu bringen.«[3]
Menschen, die Achtsamkeit praktizieren (ob in Form von Meditation, Atemübungen oder achtsamen Pausen im Alltag) berichten, sie fühlten sich lebendiger, mehr in sich ruhend und gelassener.
Kinder, die noch keine Strategien der Ablenkung oder Vermeidung kennen, sind im Normalfall gut mit ihren Gefühlen verbunden. Sie haben keinen inneren Zensor, der es ihnen verbietet, Angst zu zeigen oder Wut auszudrücken. Kinder wirken auf uns deshalb so lebendig, so im Hier und Jetzt! Natürlich sollen wir nicht auf das Stadium eines Kindes zurückgehen, aber in mancherlei Hinsicht sind die Lektionen, die uns in Bezug auf Emotionen erteilt worden sind, schlicht falsch und schädlich, und wir müssen sie uns wieder abtrainieren. Die ganze Energie, die wir nämlich dafür benötigen, unerwünschte Gefühle in Schach zu halten, gewinnen wir, wenn wir lernen, Gefühle einfach erst einmal zuzulassen (um dann zu sehen, wie wir mit ihnen umgehen wollen). Einen inneren Groll, den man über Monate oder Jahre mit sich herumträgt, nicht ausbrechen zu lassen, kostet enorme Kraft; viel Energie ist vonnöten, Ungerechtigkeit zu erdulden, ohne wütend aufzustampfen – all diese Energie geht uns verloren.
Menschen, die einen achtsamen Umgang mit ihren Gefühlen pflegen, fühlen sich vermutlich auch deshalb so lebendig, weil sie keine Kraft mehr zum Unterdrücken aufwenden müssen.
Ein Beispiel: Karsten hatte über viele Jahre hinweg Angstzustände. Meistens entstanden diese Zustände, die er im Nachhinein eher als eine Art Unwohlsein beschreibt, in der Öffentlichkeit, also auf der Straße oder im Supermarkt. Er bekam einen steifen Nacken, die Geräusche wurden ihm zu laut, es wurde ihm auf einmal warm oder kalt. Diese körperlichen Eindrücke versuchte er zu bekämpfen – er neigte seinen Kopf zur Seite, zog seine Jacke an bzw. aus, je nachdem, ob es gerade zu kalt oder zu warm war, verließ den Supermarkt und suchte einen leiseren Platz auf. Aber die Beklemmung ging nicht weg, und er analysierte ständig, wie sich der Körper gerade anfühlt und warum. Warum habe ich das Gefühl, dass gerade alles so laut ist? Sind die Straßengeräusche heute lauter als sonst? Warum ist es auf einmal so kalt, eben habe ich doch noch gar nicht gefroren. Und zu all diesen Gedanken mischten sich auf einmal weitere Beobachtungen des Körpers: Warte mal, schlägt mein Herz eigentlich normal? Ich glaube, mein Herz schlägt schneller als sonst! Mit einem Mal entwickelte sich aus der Beklemmung und dem Unwohlsein eine Angst vor einem Herzinfarkt – Schweißausbruch, Herzrasen, zittrige Hände.
Diese Zustände verschlimmerten sich immer mehr, so dass Karsten recht schnell eine Therapie aufsuchte und bald lernte, mit diesen Situationen anders umzugehen. Statt die unangenehmen Gefühle (Nackenverspannung, Hitze oder Kälte, Geräuschempfindlichkeit) zu bekämpfen und sich vor ihnen zu fürchten oder zu viel in seine Zustände hineinzudeuten, hat Karsten in der Therapie gelernt, diese Momente einfach hinzunehmen. Angenehm sind sie noch immer nicht für ihn, aber nachdem er sich klargemacht hat, dass es kein Herzinfarkt ist und er also nicht daran sterben wird, kann er die negativen Gefühle kommen lassen und akzeptieren. Er denkt dann einfach »Oh, ich habe jetzt gerade wieder so einen Moment des Unwohlseins, der vergeht auch gleich wieder. Mir ist jetzt kalt (aber das heißt nicht, ich sei krank). Ich finde die Geräusche gerade sehr laut (aber das bedeutet nicht, verrückt zu werden).« Nach einigen Wochen konnte Karsten erleben, dass die Situationen zwischenzeitlich seltener und vor allem weniger beängstigend für ihn geworden sind. Statt vor dem Angst- und Beklemmungsgefühl davon zu laufen, akzeptiert er es jetzt, und schon ist es deutlich weniger intensiv.
Die meisten Menschen würden wahrscheinlich behaupten, in der Lage zu sein, die Frage »Wie fühlen Sie sich gerade?« beantworten zu können. Tatsächlich ist es aber so, dass sich Gefühle, Gedanken und Körperwahrnehmungen vermischen und viele beispielsweise auf diese Frage »Ich bin müde« antworten. Müdigkeit ist eine körperliche Empfindung, kein Gefühl, aber es kann ein Gefühl von Niedergeschlagenheit oder Traurigkeit verursachen.
Um seine eigenen Gefühle besser wahrnehmen und zuordnen zu können, gibt es Listen, auf denen Emotionswörter abgedruckt sind. Hier ein paar Beispiele zu den Gefühlen »Freude«, »Angst«, »Traurigkeit« und »Ärger« (siehe unten, übernommen aus Knuf (2013)).
Freude:
zufrieden, beruhigt, sorgenfrei, sorglos, ausgeglichen, gelassen, vetraut, geborgen, friedvoll, freundlich, erleichter, entlastet, befreit, dankbar, zugeneigt, zugewandt, zutraulich, bezaubert, erfüllt, berührt, wohlwollend, mitfühlend, bewegt, gerührt, gütig, liebevoll, herzlich, warmherzig, zärtlich, ergriffen, beseelt, vertrauensvoll, respektvoll, unbekümmert, voller Vorfreude, verspeilt, eifrig, entschlossen, vergnügt, unbeschwert, amüsiert, heiter, erheitert, belustigt, lustig, großartig, begeistert, lebendig, keck, lebensfroh, lebenslustig, frohlockend, erfreut, freudig, froh, fröhlich, gut gelaunt, mutig, engagiert, tatkräftig, verliebt, beglückt, ausgelassen, beflügelt, hocherfreut, glücklich, wie neu geboren, hingerissen, selig, glückselig, beschwingt, entzückt, verzückt, überglücklich, überwältigt, strahelnd, sprühend, spritzig, triumphierend, leidenschaftlich, überschwänglich, übermütig, überschäumend, trunken, euphorisch, jubelnd, enthusiastisch, berauscht, ekstatisch
Angst:
empfindlich, empfindsam, verletzlich, vorsichtig, zaghaft, zögerlich, unentschlossen, befangen, beklommen, unbehaglich, unwohl, unsicher, verunsichert, verlegen, scheu, zurückhaltend, kühl, schüchtern, eingeschüchtert, zurückgezogen, gebremst, gehemmt, gefasst, verschlossen, besorgt, sorgenvoll, skeptisch, ratlos, irritiert, verwirrt, argwöhnisch, verklemmt, ehrfürchtig, bestürzt, bange, beunruhigt, aufgeregt, verschreckt, schreckhaft, erschrocken, furchtsam, ängstlich, verängstigt, misstrauisch, verfolgt, entsetzt, hilflos, ohnmächtig, alarmiert, schockiert, bedroht, panisch, in Panik, voller Grauen, zu Tode verängstigt
Traurigkeit:
bedauernd, voller Bedauern, reumütig, voller Reue, ernüchtert, unerfüllt, berührt, betroffen, voller Mitleid, gerührt, einsam, sentimental, verstimmt, geknickt, freudlos, düster, bedrückt, weinerlich, beklommen, betrübt, trübsinnig, aufgewühlt, bekümmert, belastet, verletzt, voller Schmerz, schmerzerfüllt, traurig, missgestimmt, verstimmt, missmutig, lustlos, melancholisch, niedergeschlagen, unglücklich, deprimiert, verlassen, allein, verzagt, jämmerlich, miserabel, zermürbt, zerknirscht, resigniert, entmutigt, mutlos, schwermütig, pessimistisch, gramerfüllt, trostlos, elend, gebrochen, sehnsüchtig, wehmütig, bitter, verbittert, fassungslos, erschüttert, verzweifelt, flehend
Ärger:
frech, ungeduldig, quengelig, bockig, unzufrieden, genervt, frustriert, unlustig, missmutig, schmollend, unwillig, muffig, mürrisch, brummig, verdrossen, überdrüssig, beleidigt, grimmig, gereizt, reizbar, widerwillig, vorwurfsvoll, sauer, trotzig, rebellisch, streitlustig, angriffslustig, kampflustig, ungehalten, spöttisch, verbittert, unversöhnlich, sarkastisch, zynisch, vergrämt, verächtlich, ärgerlich, verärgert, wütend, wutentbrannt, wutschnaubend, aufgebracht, aufbrausend, geladen, erzürnt, erbost, empört, entrüstet, zornig, siedend, aggressiv, bösartig, hitzig, rasend, explosiv, voller Groll, feindselig, giftig, kalt, hart, niederträchtig, höhnisch, grausam, gehässig, hasserfüllt, sadistisch, mordlustig.
Um meine Trauer bei primärer Wut idealerweise auszudrücken, hätte ich also damals in der Arztpraxis sagen können: »Ich empfinde außerordentlichen Widerwillen gepaart mit einer leichten Irritation.« Zwar spricht so natürlich niemand, aber das Ausdifferenzieren und genaue Hinfühlen helfen enorm, wenn man Schwierigkeiten hat im Umgang mit eigenen Gefühlen und denen anderer Menschen.
Wenn wir die Gefühle aber fühlen sollen, um zu lernen, sie richtig zu benennen, schließt das ein, unsere eigenen Gefühle erst einmal wahrnehmen und annehmen zu lernen. Wir müssen lernen, dass unsere eigenen Gefühle vorhanden sind und wirklich existieren. Unsere eigenen, tiefsten Gefühle können und dürfen wir nicht ignorieren, nicht leugnen, nicht ausblenden oder vertuschen.
Ein problematisches Gefühl bzw. ein Gefühl, das Probleme verursacht und an dem wir arbeiten wollen, muss also in einem ersten Schritt akzeptiert und toleriert werden, um es in einem zweiten Schritt bewusst wahrzunehmen und zu benennen. Häufig ist es bei für uns kritischen Gefühlen so, dass wir sie durch Ablenkung vermeiden, sobald sie sich ankündigen. Belassen wir es dabei, wird sich das Gefühl aber nicht verändern. Im Gegenteil: Es wird über die Zeit an Intensität zunehmen. Der erste Schritt ist also, das aufkommende Gefühl zuzulassen und seine Existenz zu akzeptieren, ohne es zu beurteilen oder zu versuchen es wegzuschieben.
Nun ist das aber sehr viel leichter gesagt, als getan! Jemand, der ein bestimmtes Gefühl über Jahre hinweg vermeidet, es gedanklich klein redet, sich dagegen betäubt u. a., der wird wohl kaum dieses Gefühl mit einem Mal zulassen, nur weil er gesagt bekommt, er solle dies tun.
Vielleicht haben Sie gewisse Überzeugungen (unbewusst) verinnerlicht, die es Ihnen erschweren, die problematischen Gefühle zuzulassen – hier eine Reihe von typischen Sätzen, wie sie viele von uns mit sich herumtragen:
Was sollen die Leute denken, wenn ich so jämmerlich bin?
Wenn ich das Gefühl zulasse, werde ich total überrollt davon, und es hört nie wieder auf.
Traurigkeit oder Angst öffentlich zu zeigen, bedeutet, dass etwas mit einem nicht stimmt.
Bei der Vermeidung von (schmerzhaften) Gefühlen kommen häufig solche kognitiven Mechanismen zum Tragen, die den emotionalen Prozess beenden sollen.
Hier ist eine Reihe dieser typischen Fehlannahmen über Emotionen:[4]
Emotionen sind eigentlich überflüssig
Diese Fehlannahme beruht auf der Überzeugung, Gefühle stünden rationalen Entscheidungen im Wege. Tatsächlich ist es aber so, dass Ratio und Emotionen sich keineswegs gegenseitig ausschließen, sondern einander ergänzen. Außerdem sichern Emotionen unser Überleben. Wenn wir Emotionen eine zu geringe Bedeutung in unserem Leben einräumen, werden wir unglücklich und krank.
Entweder hat man sehr starke Gefühle oder gar keine
Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen, glauben häufig, sie hätten eben gar keine. Tatsächlich sind aber die meisten Emotionen von mittlerer oder geringer Intensität – nur selten erleben wir emotionale Ausbrüche! Wir können aber lernen, diese subtileren Schwankungen wahrzunehmen und auszudrücken.
Vermeiden und Unterdrücken von Emotionen ist hilfreich
»Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, »sich zusammenreißen« und »die Zähne zusammenbeißen« – all diese Formulierungen zielen in dieselbe Richtung: Negative Emotionen dürfen nicht sein. Oft steckt dahinter die Angst, negative Gefühle seien überwältigend und nicht mehr zu kontrollieren.
Natürlich kann es hilfreich sein, seine Tapferkeitsressourcen anzuzapfen und sich nicht in Selbstmitleid zu suhlen – allerdings führt das langanhaltende, starke Unterdrücken von negativen Gefühlen eher zu einem gegensätzlichen Effekt: Sie halten dadurch länger an, und man reduziert die Möglichkeit, positive Gefühle zu empfinden. Denn das Unterdrücken von Emotionen raubt uns Kraft: Unser Herzschlag ist erhöht, unbewusst müssen wir mentale Energie darauf verwenden, dieses Gefühl nicht aufkommen zu lassen. Und so wie man, wenn einem jemand sagt: »Denk jetzt nicht an einen rosa Elefanten!«, unwillkürlich auf jeden Fall an einen rosa Elefanten denkt, wirkt die negative Emotion, die wir unterdrücken wollen, fort. In einem solchen Zustand haben positive Gefühle kaum eine Chance.
Außerdem sind Gefühle normalerweise (es sei denn man ist psychisch erkrankt und bestimmte negative Emotionen sind chronisch anhaltend) nicht von Dauer – wenn wir uns für sie öffnen, sie wahrnehmen, dann gehen sie auch wieder vorbei (deshalb die sogenannte, weiter oben angesprochene Weckerfunktion). Wir alle haben vermutlich Erfahrung mit dem Gefühl Ärger: Fünf Minuten später ist er oft bereits verraucht.
Was man fühlt, ist immer angemessen
Diese Überzeugung ist ebenfalls verbreitet: »Was du fühlst, ist wahr und richtig.« Das stimmt leider so nicht. Es gibt Emotionen, die wir aus der Vergangenheit (sowohl aus der eigenen als aus der menschheitsgeschichtlichen), als sie uns möglicherweise nützlich (adaptiv) waren, in die heutige Zeit übernommen haben, in der sie nicht mehr angemessen sind (erinnern Sie sich an das Beispiel der Xenophobie). Diese und andere Gefühle und vor allem unsere emotional motivierten Handlungen können wir jedoch steuern. Und bei der Entscheidung, was wahr und richtig ist, greifen zudem noch andere Faktoren.
Ärger und Wut müsse man rauslassen, dann wird man die Emotion los
Diese Idee der Katharsis steht ganz im Gegensatz zu der Vermeidungs- und Unterdrückungsannahme. Zwar ist es falsch, negative Emotionen zu unterdrücken; genauso falsch ist es aber auch, negative Emotionen ungebremst rauszulassen. Denn man kann sich erwiesenermaßen auch in negative Gefühle hineinsteigern, das heißt, sie nehmen zu, je mehr ich sie ungebremst auslebe. Ziel ist hingegen, negative Emotionen anzunehmen und zu deuten. Dazu gehört, dass ich die Ursache erkenne und den Grund verstehe, die Emotion dadurch reguliere und auf eine angemessene Art ausdrücke, ohne dadurch bei mir selbst und bei anderen Schaden anzurichten.
Wir müssen also erst einmal auf dem gedanklichen Weg unser falsches Denken über Gefühle vollkommen überwinden. Erst wenn unser Verstand überhaupt Gefühle als zulässig anerkennt, können wir uns darin schulen, unsere Emotionen bewusster wahrzunehmen und auszudrücken. Die oben aufgelisteten typischen Fehlannahmen stammen meist aus der Kindheit. Am besten gelingt es uns, sie zu überwinden, wenn wir verstehen, woher sie überhaupt kommen. Versuchen Sie einmal, sich an Ihre eigene Kindheit und den Umgang mit Emotionen in Ihrer Familie zu erinnern, indem Sie die folgenden Fragen beantworten:
Welche Gefühle waren »erlaubt«, welche eher nicht?
Wie wurde mit Krisen, beispielsweise einem Todesfall, umgegangen?
Haben Sie Ihre Eltern weinen sehen? Haben Sie Ihre Eltern ausgelassen und fröhlich gesehen?
Gab es typische Kommentare, mit denen Ihre Eltern Ihren Gefühlen begegnet sind?
Vielleicht hilft es Ihnen, Fehlannahmen über Bord zu werfen und im Anschluss daran Gefühle besser zuzulassen und bewusst wahrzunehmen.
Wenn wir Achtsamkeit auf einfache Weise in unser Leben einbauen wollen, hilft es, schlichtweg auf Ruhepausen zu achten. In diesen Pausen sollten wir weder Musik hören, lesen oder sprechen, sondern uns einfach nur auf unser Inneres konzentrieren. Alles, was in uns aufkommt, sollten wir annehmen und zulassen, ohne es (soweit es eben geht) zu beurteilen oder zu bekämpfen. Gedanken, die kommen, sollen einfach weiterziehen können, als sei der Kopf ein Sieb, durch das alles ungehemmt rein- und herausströmen kann. Körperliche Empfindungen sollen dabei wahrgenommen und jegliche emotionale Reaktion zugelassen werden. Was man dabei erlebt, ist, dass Gefühle kommen und auch wieder gehen.
Man landet nicht in der Psychiatrie, wenn man mal weinen muss; andere gucken einen nicht schräg an, nur weil man sich hilflos und ängstlich fühlt.
In einem letzten Schritt können Sie dann versuchen, den »Sinn« des Gefühls zu erkennen: Was will Ihnen das Gefühl sagen? Was ist der Nutzen des Gefühls? Worauf will das Gefühl Sie aufmerksam machen? Hierbei wird man feststellen können, ob die Emotion adaptiv oder maladaptiv ist. Emotionen, die situativ angemessen sind und ein individuell angemessenes Bedürfnis ausdrücken, nennt man adaptiv. Maladaptive Emotionen sind solche Emotionen, die vielleicht früher einmal angemessen waren, aber im aktuellen Leben keine Funktion mehr haben, sondern schädlich sind. Je nachdem, ob es sich um eine nützliche oder schädigende Emotion handelt, folgt nun entweder die Arbeit an der Einsicht in die Bedeutung der Emotion (adaptive Emotion) oder die Arbeit an der Korrektur (maladaptive Emotion).
Um besser wahrnehmen zu können, was man gerade fühlt – beispielsweise in einer Situation, die überfordernd und belastend ist –, kann man folgende Übung machen. Setzen Sie sich bequem auf einen Stuhl. Versuchen Sie, den Rücken gerade zu halten, ohne ihn zu sehr anzuspannen, nehmen Sie die Kraft dafür aus Ihrem Zentrum, nicht aus den Schultern.
Nun fragen Sie sich, was Sie gerade fühlen. Wahrscheinlich beginnen Sie im Kopf Antworten zu suchen, Gedanken fallen Ihnen ein, Sätze schwirren durch den Kopf. Um dieses Chaos zu beheben, stellen Sie sich vor, Sie würden vor einem leeren Regal sitzen und jeden einzelnen Gedanken, der Ihnen kommt, nach und nach in das leere Regal vor Ihnen stellen. Dieses Bild hilft dabei, die Gedanken kommen und gehen zu lassen, denn sie sind ja noch immer da. Sie haben sie nicht weggeworfen, sondern in das Regal gestellt, so dass Sie später noch auf sie zurückgreifen können. Jetzt aber geht es darum, die Aufmerksamkeit auf Ihren Körper zu richten.
Dabei fragen Sie sich nun: »Was steht meinem Wohlbefinden gerade im Weg?« Versuchen Sie, die körperlichen Signale wahrzunehmen. Wenn wieder Gedanken und Begründungen eintreten, versuchen Sie, diese weiterziehen zu lassen, und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit erneut auf Ihren Körper. Soweit Sie ein körperliches Signal spüren, versuchen Sie nun, es genauer zu beschreiben: Wo im Körper befindet es sich? Wie fühlt es sich an? Wenn es ein Objekt wäre, welche Form würde es haben? Ist es hart, weich – groß oder klein –, welche Farbe hat es? Anfangs kann dies schwerfallen und kommt Ihnen vielleicht auch komisch vor, aber nach ein paar Übungen werden Sie besser darin. Menschen beschreiben beispielsweise Gefühle manchmal wie einen großen schweren Stein im Magen; oder ein Vakuum, das alles in sich einsaugt wie ein schwarzes Loch. Keine Beschreibung, kein Bild, ist falsch oder unpassend – es geht um Ihre persönlichen Empfindungen. Sollten Sie nun ein Bild oder eine Beschreibung gefunden haben, testen Sie, ob dies wirklich passt, indem Sie es laut aussprechen. Wenn es passend ist, führt das häufig dazu, dass sich das Gefühl intensiviert und klarer greifbar wird. Spüren Sie aber, dass das Bild doch nicht richtig passt, suchen Sie weiter nach Beschreibungen, bis Sie die passende gefunden haben.
Grundsätzlich sollten Sie bei dieser Übung eine neugierige, offene und zugewandte Haltung Ihren Gefühlen gegenüber haben. Wenn wir mit der Haltung »Ich fühle mich schlecht, das muss sich jetzt schnell ändern« an die Übung herangehen, werden wir nicht weit kommen. Nehmen Sie selbst bei negativen Gefühlen, die Sie versuchen wahrzunehmen, die Haltung eines interessierten Wissenschaftlers ein, der vor seinem Forschungsobjekt steht und es durch die Lupe hindurch betrachtet.
Nun können Sie Ihrer Emotion einige Fragen stellen: »Was ist das zentrale Thema dieser Emotion?« »Worum geht es bei dieser Emotion im Kern?« Stellen Sie sich vor, Ihre Emotion ist ein ängstliches kleines Kind, das auf dem Boden kauert – gehen Sie auf Augenhöhe und schenken Sie Ihrer Emotion Zuwendung und Zuspruch, indem Sie fragen, was los ist. Warten Sie bis Ihr Körper eine Antwort findet. Das muss nicht sofort passieren, oft herrscht auch einfach nur Stille. Bleiben Sie geduldig und fragen Sie erneut. Jetzt können Sie die Frage stellen, was so schlimm an dieser Emotion sei. »Was macht diese Emotion so schwer erträglich?« Geben Sie sich auch hier wieder Zeit und versuchen Sie, das körperliche Feedback zu hören. Haben Sie gefunden, um was es genau bei diesem Gefühl geht, dann fragen Sie sich: »Was brauche ich, wenn ich mich so fühle?« Wenn Sie glauben, eine Antwort gefunden zu haben, prüfen Sie erneut, ob diese sich richtig anfühlt. Manchmal kann es so etwas sein wie Stärke, Wärme, Sicherheit, Schutz; manchmal kann es sich aber auch um etwas Konkretes handeln, beispielsweise um Hilfe bitten, Klarheit in einer schwierigen Situation finden oder Ähnliches.
Den abschließenden Schritt dieser Übung kann jeder frei gestalten, er sollte etwa eine Minute dauern: Entweder Sie gehen in Ihren Gedanken noch einmal alle Schritte ab, die Sie gegangen sind, und rekapitulieren so die gesamte Übung. Sie können aber auch einfach nur sitzen bleiben und entspannen, oder aber sich strecken, dehnen, den Kopf kreisen lassen. Einigen Menschen hilft es, eine Hand auf den Bereich des Körpers zu legen, in dem sie das emotionale Signal gespürt haben, und sich so ganz bewusst zu vergegenwärtigen, was gerade passiert ist.
Wenn Sie diese Übung einige Male praktiziert haben, wird Ihnen der Zugang immer leichter fallen. Im Idealfall führen solche Achtsamkeitsübungen dazu, dass wir den Kontakt zu unseren Gefühlen auch außerhalb solcher bewussten Momente verbessern und generell sensibler und hellhöriger unseren emotionalen Signalen gegenüber werden.
Vor allem Gefühle, die wir lange Zeit unterdrückt und nicht gezeigt haben, sollten gefühlt und ausgedrückt werden. Das ist extrem schwierig, nicht nur für jeden individuell, sondern für unsere Gesellschaft insgesamt, denn Emotionsunterdrückung gilt als ein hoher Wert.
Für diesen Schritt ist es extrem hilfreich, ein Gegenüber zu haben, dem man vertraut – gleichwohl ob das ein Therapeut/eine Therapeutin ist, Freunde oder Partner. Wenn es sich bei den Gefühlen um solche handelt, die beispielsweise aus einem traumatischen Erlebnis stammen, empfiehlt es sich, professionelle Hilfe aufzusuchen. Studien zu Therapieerfolgen bei Menschen mit Depressionen kamen zu folgendem Ergebnis: Je mehr die Patienten Gefühle zeigen, desto höher ist der Erfolg der Therapie der Wahrscheinlichkeit nach.[5] Und dabei geht es ausdrücklich darum, die Gefühle auszudrücken, sie zu zeigen, und nicht nur um die Empfindung von Gefühlen.
Es ist vollkommen verständlich, dass diese Vorstellung – eine schmerzhafte Emotion willentlich bewusst wahrzunehmen und auszudrücken – beängstigend ist. Gehen wir davon aus, es handele sich um den Schmerz, die Wut und die Trauer, die jemand empfindet in Gedanken an einen Missbrauch in seiner Kindheit! In diesem Zusammenhang konnte man tatsächlich nachweisen, dass ein Wiedererleben – vorausgesetzt die therapeutischen Bedingungen sind gut und helfen dem Patienten/der Patientin dabei, das traumatische Gefühl zu bearbeiten und zu verändern – selbst in einem solchen Extremfall für den Betroffenen hilfreich ist, auch wenn es brutal scheinen mag.[6]
Eine andere Möglichkeit ist das sich vorsichtige Herantasten an den Ausdruck von problematischen Gefühlen: Nehmen wir an, Sie haben Schwierigkeiten, Wut auszudrücken. Vermutlich liegt das an der Angst, das Gegenüber zu vergraulen, unhöflich zu wirken oder gar nicht mehr geliebt zu werden. Da solche Ängste sehr tief sitzen, oftmals über das ganze Leben hinweg einstudiert worden sind, lassen sie sich selten im Schnelldurchgang überwinden. In solchen Fällen hilft es, sich langsam heranzutasten – entweder
durch mildere Versionen des Gefühlsausdrucks: also beispielsweise statt seine Wut herauszuschreien und mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, einfach den Raum verlassen oder
durch Stellvertretersituationen: Wenn Sie also beispielsweise befürchten, Ihr Gegenüber durch Ihre Wut zu verschrecken, dann trainieren Sie ihre Fähigkeit zum Wutausdrücken in »anonymen« Situationen – Seien Sie wütend auf die Ampel, die im falschen Moment rot wird, seien Sie wütend auf die Kante, an der Sie sich stoßen. Nach und nach wird es Ihnen in problematischen Situationen leichter fallen, auch Menschen gegenüber Ihre Wut zu zeigen.
Wenn wir von Emotionsregulation sprechen, geht es natürlich nicht darum, generell seine Gefühle zu regulieren – sondern es geht um problematische Gefühle.
Das können zum einen unterregulierte sekundäre Gefühle sein oder maladaptive primäre Gefühle.
Im ersten Fall sollten wir die sekundäre Emotion regulieren und im Laufe dieses Prozesses herausfinden, welche primäre Emotion dahintersteckt. Für den zweiten Fall ist es notwendig zu erkennen, dass das Gefühl (nicht mehr) angemessen oder hilfreich ist, und es zu regulieren, damit es einem keine Probleme mehr macht.
Wie Emotionsregulation genau vonstattengeht, habe ich weiter oben (Kapitel 2) bereits ausführlich beschrieben. Die Frage ist: Kann ich, wenn ich problematische Gefühle habe und sie einfach nicht loswerde, sie im Alleingang durch dieses theoretische Wissen bearbeiten? Ich denke: bis zu einem gewissen Grad ja. Allerdings kommt es natürlich auf den konkreten Fall an, auf den »Schweregrad«, das heißt, wie stark Gefühle den Alltag und die gesamte psychische Situation des Betroffenen beeinträchtigen.
Einem Menschen beispielsweise, der unter seiner extremen Eifersucht leidet, weil diese seine Beziehung erschwert und vollkommen grundlos ist, ist möglicherweise durch das in diesem Buch vermittelte Wissen geholfen, und er kann im Idealfall im Alleingang die tatsächliche Ursache seiner Eifersucht ergründen und regulieren.
Ein anderer Mensch aber, der unter gewaltigen Stimmungsschwankungen leidet und auf der einen Seite die Einsamkeit fürchtet, aber auf der anderen Seite auch Schwierigkeiten hat, Nähe zuzulassen, und deshalb keine Beziehung führen kann, dem ist sicherlich besser geraten, professionelle Hilfe aufzusuchen und in Zusammenarbeit mit einem Therapeuten/einer Therapeutin an seinen Gefühlen zu arbeiten.
Zum Beispiel konnten Wissenschaftler gerade im Zusammenhang mit Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen, dass ein emotional sicheres Setting, also ein Therapeut-Patient-Verhältnis, in dem der Therapeut beruhigend auf den Patienten wirkt, wichtig ist für den Therapieerfolg.
Auch wenn es keine professionelle Person ist – ein Gegenüber, das die Emotionen des Betroffenen ernst nimmt und verständnisvoll und beruhigend reagiert, scheint eine Voraussetzung zu sein für das Erlernen von Strategien, sich selbst zu beruhigen.[7]
Letztlich ist es genauso wie beim emotionalen Lernen in der Kindheit: Wir brauchen ein Gegenüber, zu dem wir eine vertrauensvolle und verlässliche Bindung haben, um emotionales Verhalten »richtig« zu erlernen. Wenn es aber in der Kindheit nur unzulässig funktioniert hat oder aber ein traumatisches Erlebnis dazu geführt hat, dass wir emotionales Wissen gewissermaßen wieder »verlernt« haben, dann können wir als Erwachsene das emotionale Lernen nachholen. Aber auch als Erwachsene brauchen wir dafür eine »Bindungsperson«, nicht mehr Vater oder Mutter, aber Therapeut(in), Freund(in) oder Partner(in).
Erst an dem Beispiel, wie sich die vertraute Person liebevoll um die Gefühle des Betroffenen kümmert, kann der Betroffene lernen, sich selbst auf diese liebevolle Weise zu begegnen.
Ein Beispiel: Kathrin hat Anorexie und wurde mit 16 Jahren in eine psychosomatische Klinik eingewiesen, weil ihr Gesundheitszustand wegen ihres Untergewichts lebensbedrohlich war. Da es auch dort mit dem Essen anfangs nicht sofort klappen wollte, kam drei Mal täglich eine Krankenschwester in Kathrins Zimmer. Die Krankenschwester hat nicht mit Kathrin über ihre Probleme gesprochen, denn sie war ja keine Psychologin oder Therapeutin, ihre Aufgabe war lediglich das Füttern. Mit kleinsten Portionen auf dem Teller kam die Krankenschwester zu Kathrin und behandelte sie so, als sei sie an einer schlimmen Lebensmittelvergiftung oder Magen-Darm-Grippe erkrankt und müsse jetzt Löffel für Löffel wieder zu Kräften kommen. Die Krankenschwester war dabei so herzlich, aber auch pragmatisch und entschlossen, dass Kathrin nicht auf die Idee kam, das Essen zu verweigern. Der Prozess, die Anorexie hinter sich zu lassen, hat noch Jahre angehalten und Katrin extreme psychische Anstrengung abverlangt, aber sie hat keinen einzigen Tag mehr NICHTS gegessen. Als Kathrin wieder entlassen worden war, hatte sie gelernt, sich selbst eine gute Krankenschwester zu sein, und auch wenn die Abneigung dem Essen gegenüber manchmal noch spürbar war, hat sie sich an die Schwester aus der Klinik erinnert und gewissermaßen sich selbst gefüttert.
Um Gefühle, die eine zu große Macht haben, zu regulieren, ist die Distanznahme ein zentraler Schritt innerhalb der Emotionsregulation; manche Emotionsforscher und Therapeuten sprechen auch von »Emotionsanalyse«. Erst unter der Voraussetzung, dass ich mich und meine Gefühle von außen betrachten kann, ohne zu stark involviert zu sein, kann ich das Gefühl verstehen. Aber gerade bei machtvollen, intensiven Gefühlen ist das natürlich sehr schwer. Meditations- und Atemtechniken oder Achtsamkeitsübungen können helfen. Hier muss jede und jeder die beste Methode für sich finden (mehr dazu im Schlusskapitel dieses Buches).
In Emotionscoachings ist die Methode vom sogenannten »inneren Beobachter« gängig. Hiermit ist eine Instanz gemeint, die von einem neutralen Punkt aus einfach nur zusieht.
Hat man es geschafft, eine gewisse Distanz zu den eigenen Gefühlen aufzubauen, kann man versuchen, mit den folgenden Fragestellungen das Gefühl zu analysieren:
Intensität des Gefühls
sprachliche Ausdifferenzierung des Gefühls
auslösendes Ereignis für das Gefühl (wer, was, wann, wo?)
Mit welchen Gedanken habe ich das Gefühl hervorgerufen bzw. beeinflusst?
Körperwahrnehmung und körperliche Veränderung?
Was habe ich in der Situation getan bzw. was für einen Handlungsimpuls hatte ich?
Was für ein Bedürfnis drückt sich durch die Emotion aus?
Was wäre ein angemessener Umgang mit dieser Emotion?
Die Beschäftigung mit diesen Fragen wirkt allein schon stark emotionsregulierend, weil man Abstand zu sich selbst nehmen muss, um die Fragen zu beantworten.
Ein Beispiel: Aaron ist 36 Jahre alt und wegen Angstgefühlen in Behandlung. In den vergangenen Jahren hat er einen immer stärker werdenden Drang nach Kontrolle und Perfektionismus verspürt. Vor allem bei seiner Arbeit will er alles immer korrekt machen, lehnt keinen Auftrag ab und arbeitet bis zur Erschöpfung. Nur wenn er den Eindruck hat, 100 Prozent abgeliefert zu haben, kann er durchatmen. Hat er aber das Gefühl, seine Arbeit weise Schwächen auf, die sein Chef entdecken könnte, dann verfolgt ihn die Angst vor Kritik bis in seine Träume. Sein Perfektionismus hat sich auch auf sein Privatleben ausgeweitet: Seine Wohnung sieht aus wie aus dem Katalog, fast unbenutzt. Mit diesem Perfektionismus konnte Aaron viele Jahre gut leben – schließlich ist es nie dazu gekommen, dass sein Chef sich beschwert hätte. Aber seit einiger Zeit plagen ihn Angstgefühle, die seiner Ansicht nach vollkommen aus dem Nichts entstehen und die er nicht deuten oder zuordnen kann. So hat sich mit einem Mal die Angst eingeschlichen, in der Tram zu fahren, weil diese entgleisen könnte; er hat Angst, der Toaster oder andere elektrische Geräte in seiner Küche könnten durch einen Funkenschlag explodieren, oder er hat Angst, es werde in seine Wohnung eingebrochen, weshalb er sich eine Alarmanlage zugelegt hat. Da die Angst dennoch bleibt, hat er nun professionelle Hilfe aufgesucht. Aaron ist ein Beispiel für einen Menschen, der von seinen negativen Emotionen verfolgt wird und deshalb in seinem Alltag eingeschränkt ist.
Um die negativen Gefühle loszuwerden, müssen wir sie erst einmal anerkennen. In Aarons Fall steht hinter dem Drang zum Perfektionismus sein Vater, der ihm stets mit einer hohen Anspruchshaltung, Kritik und Ablehnung gegenübergetreten ist. Sobald Aaron den Ansprüchen seines Vaters nicht genügte, wenn er beispielsweise eine Drei nach Hause brachte, erteilte der Vater ihm Hausarrest. Aaron hat während seiner Kindheit den Glauben entwickelt, nur in Ordnung zu sein, wenn seine Leistung perfekt ist. Durch seinen Perfektionismus im Erwachsenenleben konnte er die Gefühle, die die Ablehnung seines Vaters in ihm auslösen, über viele Jahre hinweg gut vermeiden. Der Perfektionismus ist also seine Vermeidungsstrategie. Solange er perfekt ist, kann er das Gefühl von Ärger und Wut seinem Vater gegenüber unterdrücken. Nach einigen Jahren funktioniert die Vermeidungsstrategie aber nicht mehr. Es gesellt sich die Angst hinzu, nicht immer perfekt sein zu können.
Aaron konnte mithilfe seiner Therapeutin nach einigen Sitzungen die Zusammenhänge zwischen seiner Angst, seinem Perfektionsdrang und der Rolle seines Vaters verstehen. So wusste er, dass sein Vater diese Probleme mit verursacht hat. Nun muss er einsehen, dass die Art, wie er seine Wut und sein Gefühl der Zurückweisung bewältigt hat, problematisch ist und beendet werden muss. Aaron muss auf der einen Seite anerkennen, wie gut ihm seine Strategie über Jahre hinweg gedient hat, aber auf der anderen Seite auch verstehen, dass der Preis inzwischen zu hoch ist. Statt einem Gefühl von Sicherheit verschafft sein Perfektionismusdrang ihm nur noch Leiden. Aaron muss die Gefühle seiner Bewältigungsstrategie gegenüber (z. B. die Scham, immer alles perfekt machen zu müssen; die Traurigkeit darüber, wie sehr ihn der Perfektionismus in den vergangenen Jahren vom echten Leben abgehalten hat; die Angst davor, wie es werden wird, wenn er sich traut, nicht mehr alles perfekt zu machen) zulassen und bearbeiten, um die Strategie über Bord werfen zu können. Sobald die Bewältigungsstrategie nicht mehr gebraucht wird, kann die eigentlich ursächliche Emotion genauer in den Blick genommen werden: in Aarons Fall die problematischen Gefühle seinem Vater gegenüber. Letztendlich wird Aaron am Ende des gesamten Prozesses seinen Perfektionismus aufgeben können und die Ursache für diesen Drang erkannt und verarbeitet haben. Versuchen wir das Beispiel von Aaron in die Strategien der Emotionsregulation, die ich bereits vorgestellt habe, einzuordnen.
Wir erinnern uns: Es gibt die Gruppe der »antecedent-focused«-Strategien, also die Strategien, die auf die Vorläufer des Gefühls gerichtet sind, und die »response-focused«-Strategien, also die Strategien, die auf das Ergebnis, das Gefühl und die Art, wie es sich zeigt, abzielen. Zu den Vorläuferstrategien gehören die:
Reizkontrolle (das Vermeiden des Reizes)
Reizmodifikation (innerhalb der Situation aktiv zur Verbesserung beitragen)
Aufmerksamkeitsmodifikation (die Aufmerksamkeit auf Aspekte lenken, die die negative Emotion nicht triggern)
kognitive Bearbeitung (bewusstes Umdeuten, andere Perspektive übernehmen)
Die »response-focused«-Strategie zielt auf die Modifikation der Reaktion (Strategie Nummer 5).
Aarons negative Gefühle seinem Vater gegenüber stammen aus seiner Kindheit. Dadurch, dass die Situationen in der Vergangenheit liegen, kann Aaron den Reiz weder kontrollieren (Strategie 1), noch modifizieren (Strategie 2), noch seine Aufmerksamkeit weglenken (Strategie 3). Der Kontakt zwischen Aaron und seinem Vater muss inzwischen gar nicht mehr von Druck und Erwartungshaltung geprägt sein, so wie es in Aarons Kindheit der Fall war – auch wenn das heutige Verhältnis ohne diese Dynamik auskommt, sind die Minderwertigkeitsgefühle bei Aaron immer noch da. Die Situationen bzw. Reize, die diese ausgelöst haben, lassen sich nicht mehr verändern. Es bleibt also Strategie 4: die kognitive Bearbeitung.
Nun kann Aaron stunden- und tagelang in seinem stillen Kämmerlein sitzen und versuchen, das Verhalten seines Vaters umzudeuten. Er kann versuchen, die Perspektive seines Vaters zu übernehmen, in dem Versuch zu verstehen, warum der Vater seine Zuwendung nur zeigte, wenn Aaron seinen Leistungsansprüchen genügte. Vermutlich wird das nicht weit führen. Aaron wird immer wieder an sein Gefühl von Verletzung und Wut stoßen. Was Aaron fehlt sind Informationen!
Wir brauchen, um eine emotional schwierige Situation kognitiv zu bearbeiten (im Sinne der Emotionsregulation), Informationen. Das klingt nach Datenverarbeitung oder Polizeibericht, aber es ist tatsächlich unbedingt notwendig.
Angenommen Aaron erfährt, idealerweise sogar in einem direkten Gespräch mit seinem Vater selbst, oder aber auch durch andere Familienangehörige, Aarons Vater sei der Erste in seiner Familie gewesen, der das Gymnasium besucht hat. Die Familie von Aarons Vater war stets arm und bäuerlich gewesen, und für Aarons Vater war der Besuch des Gymnasiums verknüpft mit einem neuen Lebensentwurf, fern von Armut. Dadurch, dass Bildung für Aarons Vater die Erlösung war, ist schulische Leistung für ihn zu seinem Wert geworden, der für Aarons Leben ebenso erstrebenswert sein sollte. In den Augen des Vaters war die Drei Minus in Mathe eine Bedrohung seiner Wertvorstellung.
Angenommen Aaron erfährt von dieser Verknüpfung zwischen schulischer Leistung und gesellschaftlichem Aufstieg – diese Information könnte Aaron dabei helfen, das problematische Verhältnis zu seinem Vater zu bearbeiten.
Es sei ein weiteres Beispiel dafür angeführt, wie hilfreich Informationen für die kognitive Bearbeitung sind: Tabeas Eltern haben sich getrennt, als sie fünf Jahre alt war. Ihr Vater lebt in einem anderen Land, sie hat kaum Kontakt zu ihm. Als Erwachsene schleppt sie jahrzehntelang ein Gefühl von Minderwertigkeit mit sich herum; sie wird depressiv und leidet an Essstörungen. Während ihrer Therapie kommt sie an den Punkt, das Nicht-Verhältnis zu ihrem Vater könnte eine entscheidende Rolle spielen. Sie ist enttäuscht, dass der Vater nicht mehr Interesse an ihr gezeigt und nicht versucht hat, Kontakt zu ihr zu halten. Sie fühlt sich aufgrund dessen nicht liebenswert.
Tabea verfügt über keine Strategien, die Situation zu entspannen, weil die Situation in der Vergangenheit liegt. Auch hier ist es ratsam, ihr Minderwertigkeitsgefühl kognitiv zu bearbeiten. Was aber könnte bei Tabeas Versuch, sich in ihren Vater hineinzuversetzen, um zu verstehen, warum dieser sich nicht gemeldet hat, herauskommen? Genau das, was Tabeas Depressionen und Essstörungen verursacht hat, nämlich die Antwort: Mein Vater liebt mich nicht. Er liebt mich nicht, weil ich nicht liebenswert bin.
Nach einer ihrer Therapiesitzungen spricht Tabea ihre Mutter auf ihren Vater an (das direkte Gespräch mit ihrem Vater traut sich Tabea – noch – nicht zu). Ihre Mutter erwähnt in einem Nebensatz Briefe, die der Vater an Tabea geschrieben hat, als Tabea klein war. Während des Gesprächs stellt sich heraus, der Vater habe nicht nur regelmäßig Briefe an Tabea geschrieben, sondern auch um das Sorgerecht für Tabea gekämpft. Beides sind Informationen, die Tabea nicht hatte! Die Briefe hat die Mutter offenbar vor Tabea ferngehalten (sie bestreitet dies zwar, tatsächlich aber hat Tabea keinen einzigen Brief zu lesen bekommen). Auch von dem Sorgerechtsstreit, den die Mutter gewonnen hatte, erfuhr Tabea zum ersten Mal durch die Briefe. Die ihr völlig neuen Aspekte tragen dazu bei, dass vor Tabeas innerer Anschauung sich eine ganz andere Geschichte abzeichnet. Dies ermutigt sie, ihren Vater direkt auf die Vergangenheit anzusprechen. Ihr Vater bestätigt, er habe ihr Briefe geschrieben und versucht, das Sorgerecht für Tabea zu bekommen.
Allein, ohne neue Informationen, hätte Tabea das Gefühl von Minderwertigkeit und Nicht-Geliebtwerden nicht kognitiv bearbeiten können. Die neuen Erkundigungen, die sie durch die Gespräche mit ihrer Mutter und ihrem Vater gewinnt, helfen ihr dabei, das Verhalten des Vaters anders einzuordnen, es anders zu deuten als: Er liebt mich nicht. Schließlich kann Tabea beginnen zu glauben und zu verinnerlichen, in der Tat und wirklich liebenswert zu sein.
Mit diesen Beispielen will ich Folgendes veranschaulichen: Um problematische Gefühle zu bearbeiten und zu verändern, sind wir auf Mitteilungen, Nachrichten und Auskünfte angewiesen. In einem Gespräch über Gefühle mit Menschen, die nah an der Situation dran sind, lassen sich viele neue Erkenntnisse gewinnen. Ein Therapeut/eine Therapeutin kann Sie zwar auf den richtigen Weg führen, aber er/sie kann Ihnen letztlich nichts aus Ihrer eigenen Vergangenheit erzählen.
Allerdings gibt es auch häufig den entgegengesetzten Fall: dass nämlich die ganzen Informationen das Aufkommen schmerzhafter Emotionen verhindern. Bei schwierigen Erfahrungen mit den eigenen Eltern stehen vielen Menschen die Empathie und das Verständnis für die eigenen Eltern im Weg.
Norbert beispielsweise: Er ist ein erwachsener Mann mit Beruf und Familie. Wenn er von seiner Kindheit erzählt, spricht er zwar darüber, dass er geschlagen worden ist, aber die Rechtfertigung dafür lässt nicht lange auf sich warten. Ja, seine Mutter habe ihn mit Kochlöffel, Gürtel, und was sich eben sonst noch so hervorragend eignet, geschlagen, als er im Kindergartenalter war, aber man müsse sich erst mal vorstellen, wie SIE in IHRER Kindheit verdroschen worden sei. Und dann sei sie auch noch als junge Mutter vollkommen auf sich allein gestellt und dadurch extrem überfordert gewesen. Wenn man Norbert fragt, wie das für ihn gewesen sei, von seiner Mutter verprügelt zu werden, dann merkt man gleich, dass dort ein tiefer Schmerz vergraben liegt, der aber sofort mit einem Satz weggedrückt wird, mit dem er wiederum Verständnis für die schwierige Situation, in der seine Mutter gewesen sein musste, aufbringt. Die Verletzung und auch die Wut, die in Norbert schlummern, können nicht aufkommen, weil ihm die Empathie für die eigene Mutter in die Quere kommt.
Das ist ja auch nur allzu verständlich. In uns allen wohnt ein kindlicher Anteil, der nichts mehr fürchtet als den Verlust der Eltern bzw. frühen Bezugspersonen.
Aber um den Schmerz zu überwinden und die Verletzung ertragbar zu machen, muss Norbert zuerst den Schritt wagen, das Unrecht zu erkennen, das ihm widerfahren ist. Er muss die Stärke entwickeln, sich seiner tatsächlichen Gefühle bewusst zu werden. Mithilfe der Wut, die bei der Entwicklung von Selbstbehauptung und Abgrenzung unterstützt, kann er schließlich anerkennen, dass gewisse Bedürfnisse in seiner Kindheit nicht erfüllt worden sind; dass ihm gewisse Verletzungen widerfahren sind. Erst wenn er zu diesem Eingeständnis gelangt ist, kann er die schmerzhaften Erfahrungen aus der Kindheit tatsächlich als verarbeitet betrachten. Erkennen könnte man dies beispielsweise an folgender Antwort auf die Frage, wie es für ihn gewesen sei, von seiner Mutter verprügelt zu werden: »Meine Mutter hat mir eine der schlimmsten Sachen angetan, die ich je erlebt habe. Es war unglaublich schmerzhaft und sie hat mir Unrecht getan damit. Sie hat mein Vertrauen erschüttert und das werfe ich ihr vor. Inzwischen kann ich allerdings ohne die Geborgenheit meiner Mutter leben und bin nicht mehr auf sie angewiesen. Ich weiß über ihre eigenen Lebensumstände und hege keinen Groll mehr gegen sie.«
Auch im Beispiel von Norbert sind die Informationen, die er über die Lebensgeschichte seiner Mutter hat, wichtig und hilfreich. Allerdings darf all dieses Rationalisieren nicht dem Aufkommen von negativen Gefühlen im Weg stehen.
Über Gefühle zu reflektieren hängt eng mit dem ersten Schritt – sich seiner Gefühle bewusstwerden – zusammen. Mit Schritt 4, der sich der Gefühlsregulation anschließt, ist aber gemeint, eine persönliche Geschichte zu den eigenen emotionalen Erfahrungen aufzubauen, er beinhaltet also mehr, als sich nur seiner Gefühle bewusst zu werden. Um an Gefühlen erfolgreich zu arbeiten und damit belastende Gefühle umzuwandeln, bedarf es nicht nur einer Veränderung des Empfindens, sondern parallel dazu auch einer Veränderung des Narrativs, das wir zu diesen Gefühlen erzählen (uns selbst oder anderen). Eine erfolgversprechende Methode hierfür ist das Schreiben über emotionale Erlebnisse. Studien konnten zeigen, dass dies positive Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem, Immunsystem und das emotionale Wohlbefinden hat.[8]
Während man in der (kognitiven) Verhaltenstherapie davon ausgeht, die Annäherung an die konfliktreiche Emotion, das Erleben der konfliktreichen Emotion und schließlich das Akzeptieren und Tolerieren dieser Emotion würden zu Veränderungen führen, setzt man in der emotionsfokussierten Therapie (EFT) voraus, ein weiterer Schritt sei notwendig, um Gefühle erfolgreich zu verändern: Kognition und Affekt müssen integriert werden; es muss eine neue Geschichte mit einer neuen Sichtweise und einer neuen Sinngebung der emotionsauslösenden Erfahrung entstehen.[9]
Wenn wir Gefühle umwandeln wollen, dann bezieht sich das meist auf primäre maladaptive Gefühle (vgl. dazu »Die vier Typen emotionaler Reaktionen«, Kapitel 5). Diese alten, wohlvertrauten Gefühle begleiten uns mitunter seit Ewigkeiten, sie sind oftmals längst hinfällig, bereiten uns aber immer noch Probleme, die wir aber nicht loswerden. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, primäre maladaptive Gefühle zu überwinden: zum Beispiel Konfrontation, Ausdrücken oder bewusstes über sie Nachdenken. Eine andere Methode hat sich aber als hilfreicher herausgestellt: Gefühle durch Gefühle verändern.[10]
Gerade im Fall von primären maladaptiven Gefühlen, also solchen, die in direkter Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis auftreten, ist es leicht nachvollziehbar, dass ein »darüber Nachdenken« nicht weiterhelfen kann. Es müssen andere, neue, positive Gefühle an die Stelle treten.
Damit ist allerdings mehr gemeint als ein stupides »Look on the bright side« – »Sieh das Positive«! Es geht darum, bedeutungsvolle positive Alternativemotionen zu aktivieren, die in der entsprechenden Situation die primäre maladaptive Emotion überlagern können.
Es ist nämlich erwiesen, dass positive Gefühle durch die Art und Weise, wie sie unseren Körper und unseren Geist beeinflussen, wie eine Art direkter Impfstoff oder Abwehrmittel gegen negative Emotionen wirken.[11] Menschen, die einen nahen Angehörigen verloren haben, leiden häufig unter langanhaltender Trauer. Während Trauer für eine gewisse Zeit vollkommen angebracht und wichtig ist, also heilend sein kann, wird Trauer, wenn sie mehrere Jahre intensiv anhält, für den Betroffenen problematisch.
Lässt sich das Gefühl von Traurigkeit durch eine andere positive Emotion verändern? Im Fall von Trauer ist es häufig die Empfindung von Dankbarkeit und Freude. Beide Gefühle können die Trauer nach und nach überlagern. Dankbarkeit dafür, die verstorbene Person gekannt und erlebt haben zu dürfen; Freude in Erinnerung an die gemeinsam verbrachte Zeit. Die verstorbene Person lebendig in Erinnerung zu rufen, hilft ganz entscheidend. Also beispielsweise an die Zeit zu denken, in der die Person noch nicht erkrankt war (wenn der oder die Tote an der Krankheit gestorben ist). Nach und nach gelingt es auf diese Weise, die eigene Traurigkeit abzuschwächen und gegen das neue Empfinden zu tauschen. Trauer schwächt sich zwar (meistens) sowieso durch das Verstreichen der Zeit ab – positive Gefühle aber beschleunigen diesen Prozess enorm. Das neue Gefühl, zusammen mit dem alten maladaptiven Gefühl, lässt schließlich einen neuen Gefühlszustand entstehen.
Hierzu wird häufig folgendes Bild genannt, das diesen Prozess verdeutlichen soll: Vergleichbar mit dem Laufenlernen eines Kindes, bei dem das Konzept »Stehen« zusammen mit dem Konzept »Hinfallen« das neue Konzept »Laufen« ergibt,[12] entstehen durch zwei entgegengesetzte Gefühle (das maladaptive alte und das positive neue) eine völlig neue Vorstellung und ein ganz anderes Gefühl.[13] Das heißt: Das Kind beherrscht und kennt das Stehen sowie das aus dem Stand Hinfallen. Das Laufen erlernt es durch die Kombination genau dieser entgegengesetzten Bewegungen: sich hinstellen, wieder hinfallen, hinstellen, hinfallen. Die ersten Schritte, die sich nach langem Üben entwickeln, sind etwas komplett Neues. Auf ähnliche Weise kann aus dem Prozess, sich von einem alten maladaptiven Gefühl zu lösen, ein komplett neues Gefühl entstehen.