Schluss

Vielleicht fragen Sie sich noch immer: Ein Sachbuch über Gefühle? Kann das funktionieren? Gefühle sind doch genau das Gegenteil von sachlich, sondern komplett persönlich, individuell und impulsiv. Wie soll man ein solches Thema sachlich behandeln?

Viele Menschen (häufig esoterisch oder religiös geprägt) sind der Ansicht, dass Gefühle mit Worten kaum zu greifen sind. Sie glauben, Gefühle seien eine Art höhere Macht, die wir gar nicht wirklich verstehen können und auch nicht unbedingt verstehen sollten. Denn, wenn wir sie zu sehr mit unserem Verstand angehen, dann verderben wir uns unseren innersten Kern: unsere echten Gefühle. Wenn wir sie zu sehr hinterfragen und analysieren, dann können wir nicht mehr echt sein, nicht mehr authentische Gefühle empfinden. Ein Sachbuch über Gefühle würde daher dem echten Fühlen im Weg stehen.

Es ist ziemlich offensichtlich, dass ich dieser These nicht anhänge. Ich erkläre Ihnen auch wieso: In einem Sachbuch (Story von Robert McKee) über die Technik des Geschichtenerzählens[1] bin ich über eine Fabel des antiken griechischen Dichters Äsop gestolpert, die Fabel vom Frosch und dem Tausendfüßler. Ein Frosch beobachtet einen Tausendfüßler beim Spazierengehen. Der Tausendfüßler hat Hunderte Beine, und der Frosch kann seinen Augen nicht trauen. Er staunt und fragt sich, wie es dem Tausendfüßler nur gelingen kann zu wissen, welches Bein er als erstes bewegen muss und welches als zweites, als drittes usw.? Wie kann er nur eine solche Menge von Beinen in einer Art organisieren, die es ihm ermöglicht voranzukommen? Der Frosch geht zum Tausendfüßler und fragt: »Entschuldige die Störung, aber ich habe eine Frage: Wie schaffst du es zu gehen? Wie kannst du wissen, in welcher Reihenfolge du deine vielen Beine heben musst? Warum verhedderst du dich nicht und fällst ständig hin?« Der Tausendfüßler antwortet: »Darüber habe ich nicht nachgedacht. Ich bin einfach gelaufen. Aber ich werde nun mal darauf achten.«

Und nun geht der Tausendfüßler los, seinen Blick nach unten auf seine Beine gerichtet, und versucht, bewusst zu gehen. Und was passiert natürlich? Er fällt hin. Er hat das Gehen verlernt. Wütend wendet er sich an den Frosch und sagt: »Warum hast du mich das nur gefragt? Nie war bisher Gehen ein Problem für mich, aber jetzt werde ich diese Frage in meinem Kopf nicht mehr los: »Welches Bein hebe ich als erstes? Welches als zweites? Hunderte Beine habe ich, wie setze ich nur jedes von ihnen an den richtigen Platz?«

Was war dem Tausendfüßler passiert? Etwas Einfaches, das er intuitiv ausführen konnte, wurde durch Fragen und Nachdenken problematisch. Viele Menschen nutzen diese Fabel, um gegen das Nachdenken, gegen das »Verkopfen« zu argumentieren und stattdessen der Intuition und dem Bauchgefühl zu folgen. Die Lehre der Fabel lautet folglich, es schade dem Menschen, wenn er Dinge zu sehr oder übertrieben hinterfragt. Der Mensch sollte lieber einfach machen und nicht so viel darüber nachdenken, denn wenn wir darüber nachdenken, dann kommen wir aus dem Fluss, geraten ins Stocken und scheitern höchstwahrscheinlich.

Diese Fabel wurde in Story aufgenommen, weil viele Autoren, deren Beruf es ist, Geschichten zu erzählen, ebenfalls an die Botschaft vom Tausendfüßler glauben: Wenn ich zu sehr über das WIE beim Geschichtenerzählen nachdenke, dann kann ich nicht mehr gut Geschichten erzählen, dann wirkt es nicht mehr echt, sondern gekünstelt.

Gerade im kreativen Bereich steht der Wert vom authentischen künstlerischen »Flow« weit oben – der Künstler muss einfach rauspreschen mit dem, was in ihm ist, ohne nachzudenken, ohne sich an Regeln und vor allem ohne sich dabei an Lehrbücher zu halten.

Kunst nach Regeln? Das kann nur schiefgehen. So der tief verwurzelte Glaube von vielen Menschen. Denn bei der Kunst nach Regeln zu verfahren, das klingt zunächst abwegig, schließlich sind Künstler ja bekannt dafür Grenzen und Regeln zu überschreiten.

Aber McKee ist genau der entgegengesetzten Meinung: In der Kunst des Geschichtenerzählens gebe es sehr wohl Techniken, die dabei helfen, eine Geschichte gut zu erzählen. Es sei ein Irrglaube, Authentizität gehe verloren, nur weil man sein Handwerk beherrsche.

Und ich bin sicher, vielen Menschen geht es mit dem Thema Gefühle ähnlich. »Wie soll ich denn authentisch meine Gefühle zeigen, wenn ich sie in dem Moment, in dem sie aufkommen, analysiere, mein Handeln beobachte und nachdenke, was ich als nächstes tue?« Genauso wie McKee, bei dem ich die Fabel von Äsop gefunden habe, bin ich überzeugt, dass das Gegenteil von der Aussage des Tausendfüßlers wahr ist. Zumindest in Bezug auf Gefühle.

Unser Verstand und unser Wissen stehen unserem Fühlen keineswegs im Weg. Wenn wir über unsere Gefühle nachdenken und sie analysieren, dann führt das durchaus nicht dazu, nicht mehr »echt« fühlen zu können – so wie es dem Tausendfüßler mit dem Laufen erging. Im Gegenteil! Je mehr wir unsere Gefühle verstehen und je mehr wir darüber wissen, wie Gefühle funktionieren, desto besser können wir unsere Gefühle spüren und zeigen.

Denn unser Bauchgefühl ist nicht immer der beste Ratgeber – unser Bauchgefühl oder die Art, wie wir mit Gefühlen umgehen, stammt zu einem großen Teil aus unserem Heranwachsen und dem, was uns vorgelebt wurde. Aber Eltern sind auch nur Menschen, die Erwachsensein spielen.

Und nicht immer haben wir das Glück gehabt, einen gesunden, annehmenden und souveränen Umgang mit Gefühlen beigebracht bekommen zu haben. Deshalb ist unser intuitiver Umgang mit Gefühlen, der Umgang, den wir pflegen ohne nachzudenken, ohne Bücher gelesen zu haben, nicht unbedingt der beste. Er kann geprägt sein von falschen Überzeugungen, von Ängsten und von Vorbildern, die selbst keinen gesunden Kontakt zu ihren Gefühlen hatten.

Je mehr Wissen wir über uns sammeln, über unsere Gefühle ›aufheben‹, darüber wie wir individuell mit Gefühlen umgehen, umso hellhöriger können wir auf körperliche Signale achten und umso besser können wir uns anderen mitteilen. Wenn wir von anderen verstanden werden wollen, müssen wir erst einmal uns selbst verstehen. Und das geht nur mit dem Kopf. Kopf und Bauch – Verstand und Gefühl – sie stehen nicht in Opposition, sie gehen Hand in Hand.

Ähnlich wie im Bereich Gefühle haben Menschen auch in puncto Erziehung oft Bedenken, ihr Verhalten allzu sehr zu »verkopfen«. Sie glauben, es sei als Eltern das Beste, aus dem Bauch heraus zu agieren, sonst sei man seinem Kind kein authentisches Gegenüber mehr. Das Lesen von Erziehungsratgebern oder pädagogischer/psychologischer Fachliteratur führe nur dazu, dass man den Kontakt zu seinem Kind verliere und zu einem Eltern-Roboter verkomme, der sich nach einem gewissen Regelkatalog verhalte, statt »echt« aufzutreten.

Auch dieser Glaube stimmt nicht. Auch im Bereich Kindererziehung hat der Tausendfüßler nicht recht. Je mehr wir über Kinder wissen, über Entwicklungspsychologie und Ähnliches, desto besser können wir ihr Verhalten verstehen und dementsprechend unser Verhalten anpassen. Umso mehr wir darüber wissen, weshalb wir als Eltern zu diesem oder jenem Verhalten neigen, desto eher können wir problematische Situationen auflösen.

Dasselbe Muster lässt sich auch in anderen Lebensbereichen finden und immer gilt: Wissen steht Authentizität nicht im Weg! Man kann (und sollte sogar!) sich auch authentisch ändern und weiterentwickeln. Wenn wir stets auf unserem Bauchgefühl, unseren Gewohnheiten und Prägungen beharren, dann stagnieren wir und können die Welt nicht zum Positiven verändern.

Statt also blind entweder Muster zu reproduzieren, mit denen wir selbst als Kind aufgewachsen sind, oder – das Gegenteil – blind diese Muster zu konterkarieren, wäre es hilfreich, besser zu verstehen, warum wir uns auf diese oder jene Art verhalten.

Statt wie der Tausendfüßler ins Stolpern zu geraten, weil er zum ersten Mal über das Gehen nachdenkt, können wir uns zum Experten für uns selbst entwickeln, vorausgesetzt, wir verstehen unsere Gefühle besser. Wenn es ein Thema wert ist, dass man sich mit ihm beschäftigt, dann sind es Gefühle. Gefühle sind letztlich der Grund, am Leben zu bleiben.

Stellen Sie sich ein Leben ohne Gefühle vor! Oder Gefühle zu haben, sie aber nicht zuzulassen? Könnten wir ein Leben ohne Gefühle, Stolz über Erreichtes, Sehnsucht nach etwas oder jemandem, ohne Vorfreude auf den nächsten Frühling wirklich genießen? Wie wäre unser Leben, wenn wir uns nirgends geborgen, sicher und geliebt fühlen? Wo bliebe der Reiz, nicht einmal auch wütend zu werden, um für unsere Belange einzustehen; Angst um jemanden zu haben, weil wir ihn nicht verlieren wollen; traurig zu sein, wenn wir jemanden verloren haben und die Trauer mit anderen teilen können? Dann würden wir zwar leben, aber ein großer Unterschied zum Nicht-Leben wäre es eigentlich nicht.

Wir sollten also froh sein, Gefühle zu haben. Ob es sich dabei bei dem Einen um ein zartes Pflänzchen handelt, das man hegen und pflegen muss, damit es wächst und stärker wird, oder bei dem Anderen um eine tobende Welle, die geglättet werden muss – welche Erscheinungsform Ihre Gefühle auch immer haben, seien Sie froh, dass sie da sind und schenken Sie ihnen Beachtung. Hören Sie hin: Was wollen sie Ihnen sagen?

Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Gefühle und für die Gefühle der Menschen in Ihrer Umgebung. Der Kontakt zu den eigenen Gefühlen ist zwar stark dadurch geprägt, wie wir aufgewachsen sind und wie Gefühle innerhalb unserer Ursprungsfamilie gehandhabt worden sind, aber wir können ihn dennoch ändern: Wir können einen gesunden Umgang mit Gefühlen erlernen, egal wie alt wir sind. Und wir können mit den Gefühlen unserer Mitmenschen bewusster umgehen: Für den Anfang reicht schon ein ernst gemeintes »Wie geht es dir?«, statt einer Begrüßungsfloskel.

Was glauben Sie, wie dankbar die allermeisten Menschen sind, wenn sie den Eindruck haben, ihr Gegenüber will wirklich wissen, wie es Ihnen gerade geht. Ermutigen Sie Ihr Gegenüber über Gefühle zu sprechen, indem Sie selbst es tun. Zeigen Sie sich selbst und offenbaren Sie auch Ihre negativen Gefühle dabei, dann werden Sie sehen, dass sich Ihr Gesprächspartner sich Ihnen gegenüber ebenso öffnen wird. Verstecken Sie nicht mehr länger Ihre Schwächen – es hilft oft schon, wenn man merkt, nicht der Einzige mit einem Problem zu sein.

Durch einen besseren Zugang zu unseren eigenen Gefühlen fällt der Zugang zu anderen Menschen und deren Gefühlen auch leichter. Wenn schon viel zu viele von uns in ihrer Kindheit nicht genügend emotionale Stabilität erfahren haben, so dass sie viel zu früh selbständig sein mussten – was letztlich nur eine Beschönigung für Vereinsamung ist –, dann ist es jetzt allerhöchste Zeit, die Mauern zwischen den Menschen einzuschlagen und den Kontakt zueinander zu suchen. Und echter Kontakt geschieht nur über Emotionen.

Wenn Sie eher zu der Sorte Mensch gehören, die von Gefühlen überrollt wird, dann seien auch Sie in erster Linie froh, diese Gefühle überhaupt spüren zu können. Vielleicht brauchen Sie, um mehr Klarheit in Ihre Gefühlswelt zu bringen, Hilfe von einer anderen Person. Sie können lernen, Ihre Gefühle besser zu verstehen und ihnen dadurch den Raum zu geben, der ihnen zusteht, nicht mehr und nicht weniger. Durch schrittweises Lernen haben Sie die Möglichkeit, ihre Gefühle zu regulieren, so dass Sie ihnen nicht mehr länger ausgeliefert sind. Indem Sie die wahre Bedeutung dieser Gefühle herausfinden, können Sie sich in die Lage versetzen, sehr intensive negative Gefühle loszuwerden. Als erster, einfachster Schritt reicht schon der Vorsatz, vor dem nächsten emotionalen Ausbruch innerlich bis drei zu zählen (gut, seien wir realistisch bis 1½ geht auch). Auch wenn Ihre Gefühle sehr stark sind und Ihnen vielleicht oft im Weg stehen: Freunden Sie sich mit der Tatsache an, so zu sein, wie sie sind. Auch diese intensiven Gefühlswellen wollen Ihnen etwas mitteilen – um hören zu können, was es ist, brauchen Sie aber Ruhe. Und um diese Ruhe zu finden, nutzen Sie Übungen und Hilfestellungen und/oder die Unterstützung eines Experten.

Wenn Sie Kinder haben, dann haben Sie wahrscheinlich schon im Verlauf dieses Buches gemerkt, dass der Kontakt mit Kindern perfekt dafür geeignet ist, die eigenen emotionalen Kompetenzen zu stärken. Kinder kommen mit einem vollkommen unverstellten und feinfühligen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen zur Welt. Zwar interessiert es ein Baby zu Beginn seines Lebens noch nicht, was Sie gerade so empfinden, aber seine eigenen Gefühle vermag es zu spüren und auszudrücken. Nehmen Sie sich ein Beispiel daran! (Nein, Sie sollen sich nicht im Supermarkt schreiend auf den Boden werfen!) Ihr Kind kann nur seine eigenen Grenzen und Ihre Grenzen verstehen, wenn auch Sie Ihre Gefühle ausdrücken. Und zwar deutlich, denn für Subtilitäten haben Kinder keine Zeit.

Überhäufen Sie Ihr Kind mit Liebe – ehe Sie sich umschauen, wird es ausgezogen sein, und bis dahin müssen Sie es satt machen. Es muss liebessatt sein, um hinaus in die Welt zu gehen und sich dort behaupten zu können.

Und gleichzeitig: Geben Sie Ihrem Kind liebevoll und klar zu verstehen, wenn Sie gerade keine Lust oder Kraft haben, seine Wünsche zu erfüllen. Sagen Sie: »Ich will jetzt nicht Lego mit dir spielen, ich will hier einfach nur sitzen und Kaffee trinken.« Ihr Kind wird Sie – vielleicht nicht beim ersten oder zweiten Versuch – verstehen, denn wenn Ihr Kind eines kennt, dann ist es: zu etwas keine Lust haben. Wenn Ihr Kind dann aber wiederum am Abend deutlich macht, dass es keine Lust hat, ins Bett zu gehen, sich die Zähne zu putzen oder aufzuräumen: Zeigen Sie Verständnis. Zeigen Sie: Wir sind aus demselben Holz geschnitzt! Wir alle haben Gefühle und müssen den Umgang mit ihnen lernen. Und im Idealfall können Sie Ihrem Kind ein bisschen dabei helfen.

Es gibt Hoffnung, dass unsere Gesellschaft auf einem ganz guten Weg ist – auch wenn der Fokus zu stark auf den positiven Gefühlen liegt, so sind Gefühle immerhin überhaupt ein Thema. Die Sensibilität und die Aufmerksamkeit für psychische Leiden sind gestiegen in den vergangenen Jahren – nun müssen wir als Gesellschaft nur noch begreifen, dass Gefühle auch jenseits von Krankheiten eine Rolle spielen. Wir müssen Wissen sammeln darüber, wie Gefühle funktionieren, und wir müssen den Mut finden, zu unseren negativen Gefühlen zu stehen.

Damit meine ich aber kein Zurschaustellen der eigenen negativen Gefühle – denn genau aus dieser Selbstdarstellungsmaschinerie müssen wir heraus. Ich rate also nicht dazu, statt Bilder von Speisen oder Cappuccino zu posten, nun Bilder der eigenen Tränen auf Facebook zu teilen – nein, es kann nicht darum gehen, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Das Ziel der Bemühungen ist, sich zu kennen, sich zu verstehen, sich zu zeigen und sich anzunehmen. Den Kontakt zu suchen: zu den eigenen Gefühlen und zu den Menschen um sich herum, allein darum geht es. Denn das ist es, was Gefühle sind: die Verbindung zwischen den Menschen.