Am liebsten würde ich das C-Wort nie mehr in den Mund nehmen, an dieser Stelle lässt es sich aber nicht vermeiden. Denn Corona, also die Pandemie, die vielen von uns noch in den Knochen sitzt, hat auch dafür gesorgt, dass sich die Arbeitswelt maßgeblich verändert hat. Auf einmal gab es Homeoffice – und damit entstand das Konzept des flexiblen Arbeitens, das mehr als eine vorübergehende Reaktion war, sondern inzwischen zu einem festen Bestandteil unserer Job-Welt geworden ist. Immerhin 87 Prozent der Mitarbeitenden nehmen diese Möglichkeit wahr, wenn sie diese Flexibilität bekommen.1 Wenn es darum geht, was sich Mitarbeitende am ehesten von ihrem Arbeitgeber erhoffen, dann wollen die meisten selbst entscheiden können, wie und wo sie ihren Job erledigen. Das ergab eine US-amerikanische Umfrage mit mehr als 1.200 Teilnehmer:innen.2 Auch in Deutschland wünschen sich 95 Prozent, ihre Arbeitszeit frei einzuteilen.3
Meine Gespräche mit verschiedenen HR-Verantwortlichen zeigen mir, dass diese Freiheit beim Arbeiten die Lösung für zukünftige Herausforderung sein könnte: »Das Thema Flexibilität ist für mich das Geheimrezept für unseren Erfolg und die Zufriedenheit unserer Mitarbeitenden. Und das geht weit über die Arbeitszeit und den Arbeitsort hinaus. In internen Umfragen konnten wir feststellen, dass Flexibilität gender- und altersübergreifend das verbindendste Element ist. Deswegen haben wir uns darauf fokussiert, alles darauf zu setzen«, sagt mir Cawa Younosi bei einem Besuch in Düsseldorf. Er ist ehemaliger Personalchef von SAP in Deutschland, war Head of Global Employee Experience und ist einer der gefragtesten HR-Vordenker.*
In diesem Kapitel gehe ich darauf ein, was Flexibilität im Unternehmenskontext überhaupt bedeutet. Ich erläutere die Möglichkeiten und Herausforderungen, die durch das hybride und flexible Arbeiten für die Mitarbeitenden entstehen, sich aber auch für Führungskräfte und Unternehmen bieten – und wie wir alle bei diesem Thema am besten abgeholt werden.
Ich weiß meine Selbstständigkeit wirklich sehr zu schätzen und bin dabei vor allem für einen Aspekt sehr dankbar: Ich kann mir meine Arbeitszeit weitestgehend frei einteilen, ohne schlechtes Gewissen.
Das war mal anders. Noch immer kann ich mich gut an das Gefühl erinnern, das ich als Angestellter hatte, wenn ich abends mit meiner Arbeit fertig war, den Rechner eigentlich runterfahren wollte – und dann gemerkt habe, dass die versammelte Mannschaft noch am Schreibtisch saß. Also bin ich online geblieben und habe mir Aufgaben geschnappt, die ich eigentlich erst am nächsten Morgen erledigen musste. Obwohl mein Akku schon zu sehr runtergefahren war, um mit Zahlen zu jonglieren, bin ich Kalkulationen durchgegangen – wofür ich am Ende viel länger gebraucht habe. Statt meines Rechners wurde nämlich meine Arbeitsleistung runtergefahren.
An solchen Abenden, und die gab es oft, kam ich später nach Hause als geplant. Dann war ich zu kaputt, um noch zum Sport zu gehen oder mir etwas zu kochen. Also lag ich beim Netflixen auf dem Sofa mit einer bestellten Pizza (mit doppelt Käse) und einem Softdrink mit Strohhalm – damit ich beim Trinken nicht aus Versehen einen Sit-up machte. Am nächsten Morgen ging ich natürlich auch nicht zum Sport, weil ich nicht der Letzte sein wollte, der ins Büro kommt (noch früher aufstehen war einfach nicht drin). Also saß ich wie die anderen Lemminge pünktlich um acht Uhr an meinem Schreibtisch, um nur da zu sein. So richtig losgelegt habe ich meist erst ab neun, weil ich dann erst wirklich wach war, also mit dem Kopf.
Irgendwann, ich weiß es noch genau, saß ich morgens bei der Arbeit auf dem Klo und dort ging mir ein Licht auf – und zwar genau in dem Moment, als es im Raum ausging, weil ich mich eine längere Zeit nicht bewegt hatte und sich die Lampen automatisch ausschalteten. Ich saß also im Dunkeln und dachte: Was, wenn es die anderen genauso machen wie ich? Wenn alle nur deshalb länger bleiben und früher kommen, weil auch sie ein schlechtes Gewissen haben – und dabei genauso unproduktiv sind? Wenn sie weder früh am Morgen noch spät am Abend wirklich ihren Job machen, sondern sich auf YouTube Katzen-, Promi- und Sportvideos reinziehen? An diesem Abend bin ich das erste Mal früher gegangen, als ich nämlich meine Arbeit erledigt hatte. Am nächsten Tag musste ich dafür bei meinem Vorgesetzten Rechenschaft ablegen. Wenig später habe ich mich dann selbstständig gemacht.
Wir alle wissen: Manche Menschen schaffen viel in einer Stunde, manche wenig. Und einige auch gar nichts. Das gilt zwar sicher nicht für »Blue-Collar-Mitarbeitende«, also für Leute mit Jobs am Fließband, im Handwerk oder in der Pflege. Sehr wohl aber für Menschen, die im Büro arbeiten (»White-Collar-Mitarbeitende«). Wenn wir das wissen, ist es dann noch zeitgemäß, die zuletzt genannte Gruppe nach ihrer Präsenzzeit zu bewerten? Sind Menschen denn wertvoller, die viele Termine in der Woche haben, die mehr Stunden arbeiten, weniger Pausen machen oder sogar in ihrer Freizeit ins Büro kommen? Die Antwort darauf sollte klar sein: Nein, sind sie nicht. Denn es ist uns doch allen klar: Die reine Arbeitszeit sagt rein gar nichts über die erbrachte Leistung aus – erst recht nicht im Zeitalter der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz. Eine solche Betrachtung wird niemandem gerecht. Der Zukunftsforscher Tristan Horx, der sich in seinem Buch »Sinnmaximierung: Wie wir in Zukunft arbeiten« mit der Arbeitswelt beschäftigt, erzählt mir bei einem Treffen in Dortmund: »Im Moment bestrafen wir effizient arbeitende Menschen mit mehr Arbeit, während die Schlausten jene sind, die es perfektioniert haben, so zu tun, als wären sie hart am Schuften – während sie Katzenvideos schauen.«
Wir kennen bestimmt alle den ein oder anderen dieser Perfektionisten, die uns in Rage bringen können. Schöner wäre es für alle von uns, wenn wir stattdessen eine Ergebniskultur etablieren würden. Wir sollten den Fokus stärker auf Inhalte und Lösungen legen. Dann zählt es auch nicht, wie hoch jemand die Karriereleiter emporgeklettert ist oder wer die ausgefallensten Flipcharts bemalt, sondern wer wirklich Mehrwert schafft – beispielsweise durch neue Produkte und Servicefunktionen oder durch Potenzialentfaltung bei anderen Kolleg:innen.
Wie solch eine Ergebniskultur in der Praxis aussehen kann, davon hat Marcus Diekmann, Unternehmer und einer der bekanntesten Digitalexperten Deutschlands, eine klare Vorstellung. Der ehemalige ROSE-Bikes-CEO erklärt mir im persönlichen Gespräch: »Führungskräfte entscheiden über das strategische Was. Denn das ist kein demokratischer Prozess.« Team und Mitarbeitende dürfen gerne Impulse geben, aber am Ende entscheidet eben die Führungskraft. Sie gibt die Leitplanken vor und definiert gemeinsam mit den Mitarbeitenden die zu erreichenden Ziele. Die Mitarbeiter:innen wiederum entscheiden dann über das operative und taktische Wie. Dies fördert Vertrauen, Freiheit und Eigenverantwortung. Damit dabei nichts aus dem Ruder läuft, wird nach sechs Wochen geschaut, ob die Ziele erreicht wurden. In dieser Zeit stehen Führungskräfte selbstverständlich als Sparringspartner und Coaches zur Verfügung, um ihr Team zu inspirieren und motivieren. In diesem Konstrukt dürfen Mitarbeitende dann auch mal selbst entscheiden, ob sie eine oder zwei Stunden Mittagspause machen, ob sie zu Hause, im Büro oder im Rahmen einer Workation arbeiten, ob sie das lieber direkt vormittags nach dem Aufstehen tun oder abends, wenn die Kinder schlafen. Der Führungskraft kann es am Ende egal sein, wie Ziele erreicht werden – entscheidend ist, dass sie erreicht werden. Ich rede hier aber nicht von einem »Freifahrtschein« – die Vorgesetzten bzw. das Team können natürlich entscheiden, wann es wichtig ist, z. B. Präsenz-Termine anzusetzen.
Wir sollten uns alle einmal die Frage stellen, wann wir wirklich kreativ und produktiv sind. Ist es, wenn wir acht Stunden am Schreibtisch im Büro sitzen und durcharbeiten? Oder wenn wir zwischendurch auch einmal Sport treiben, spazieren gehen oder Mikro-Pausen machen? Wissenschaftliche Studien zeigen, dass es förderlich für die Kreativität und Produktivität ist, wenn wir z. B. regelmäßig Pausen machen, Sport treiben und in der Natur sind.4 Auch Mario Konrad, Gründer von Ryzon, einer der führenden Brands im Triathlon-Bereich, stellt das täglich bei seiner Arbeit fest: »Ich hatte noch nie wirklich eine gute Idee am Schreibtisch. Die kommen in Interaktion oder wenn das Gehirn entspannt ist, wenn das Handy aus ist und weit weg liegt.« Deshalb ermöglicht Ryzon seinen Mitarbeitenden z. B. während der Arbeitszeit, Sport zu treiben. Viele gute Ideen kommen im Alltag, beim Einkaufen auf dem Weg von der Fleisch- zur Käsetheke, im Stau oder beim Duschen, so wie bei Jonathan Badeen, dem Gründer der Dating-App Tinder, der unter der Dusche den Einfall zum Swipen hatte, was Tinder letztlich an die Spitze gebracht hat.5
Ist es nicht verrückt, dass wir immer noch darauf vertrauen, dass physische Anwesenheit positiven Einfluss auf unsere Produktivität und Loyalität hat, mehr noch als unsere Freiheitsräume und damit verbunden unsere Zufriedenheit? Ich finde, bei der Diskussion um Arbeitszeitmodelle fokussieren wir uns auf das Falsche. Am Ende geht es nicht um die Anzahl der Stunden, die jemand abreißt, sondern darum, wie Menschen ihre Arbeit erleben. Es geht darum, welche Rahmenbedingungen vorhanden sind und welche Möglichkeiten es gibt, die Arbeit so auszuführen, dass sie sich mit privaten Interessen und Bedürfnissen vereinbaren lässt. Pa Sinyan, Managing Partner beim Beratungsunternehmen Gallup, erzählt mir beim Podcastgespräch in Köln: »Viele erleben Arbeit als negativ, als einen Energiekiller. Die Arbeit macht viele Menschen krank. Wir reden aber nicht darüber, warum das so ist und wie wir das verändern können, sondern wir reden über die Vier-Tage-Woche. Darüber, dass wir die Arbeitszeit reduzieren sollten. In anderen Ländern haben wir es untersucht, aber noch keinen Effekt gesehen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass wir nur über dieses Thema sprechen, weil so viele Menschen nicht gerne zur Arbeit gehen. Aber es liegt nicht an der Arbeit. Weltweit zeigen unsere Umfragen, dass knapp 80 Prozent der Mitarbeitenden ihre Arbeit gut finden und Spaß dabei haben. Menschen lieben es also, zu arbeiten.«
Es ist also nicht die Arbeit selbst, die wir als schrecklich erleben und die uns unglücklich macht, es sind die Erfahrungen und die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz. Das ist ein wenig so wie unser Umgang mit Stress, den alle verteufeln und am liebsten abschaffen wollen. Der Stress an sich ist aber überhaupt nicht das Problem, weiß Jacob Drachenberg, einer der führenden Stress-Experten. Der Autor vergleicht Stress gern mit Feuer: Damit kannst du deinen Kamin anzünden und romantisch auf einem Bärenfell liegen – oder dein komplettes Haus abfackeln, wenn du nicht richtig damit umgehst. Genauso ist es auch mit unserem Job. Arbeit ist grundsätzlich erst mal etwas, das uns allen einen Sinn gibt, ein Ort, an dem wir positive Momente erleben und aufblühen können. Aber wenn wir falsch mit ihr umgehen, kann sie uns ausbrennen und krank machen.
Wir müssen die Rahmenbedingungen so gestalten, dass Menschen nicht erst in Teilzeit gehen müssen, um Familie und Beruf zu vereinbaren. Einen guten Ansatz hat meiner Meinung nach zum Beispiel das Softwareunternehmen SAP gefunden. Der ehemalige Deutschland-Personalchef Cawa Younosi sagt mir im persönlichen Gespräch: »Durch Flexibilität geht die Teilzeitquote bei uns kontinuierlich runter. Was für mich ein gutes Zeichen ist, dass Mitarbeitende nicht in Teilzeit gehen müssen, um Vereinbarkeit hinzubekommen. Sie können weiter Vollzeit arbeiten.«
Natürlich gibt es aber auch Menschen, die gerne zwischenzeitlich in Teilzeit arbeiten möchten, um intensiver ihren Hobbys nachzugehen, noch mehr Zeit mit der Familie zu haben oder andere Wünsche umsetzen zu können. Und hier erlebt Anja Karlshaus, Professorin für BWL und Personalmanagement an der CBS International Business School und Herausgeberin des Buches »Teilzeitführung«, in den letzten Jahren einen deutlichen Wandel in der Unternehmensmentalität: »Unternehmen experimentieren heutzutage vermehrt mit verschiedenen Arbeitszeitmodellen. Zum Beispiel gewinnt das Konzept ›Top-Sharing‹ an Popularität, sodass Unternehmen Teilzeitführung nicht mehr ausschließlich als Instrument zur Förderung von Frauen betrachten, sondern es zunehmend als Instrument zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben verstehen, das auch die Perspektive der Väter einschließt.« Obwohl Teilzeitführung noch immer teilweise stigmatisiert ist und mit Nachteilen, wie geringerer Arbeitszeitverdichtung, begrenzter Akzeptanz oder beschränkteren Karrieremöglichkeiten einhergeht, bemerkt sie eine wachsende Offenheit gegenüber diesem Thema: »Ich beobachte immer mehr Beispiele, in denen es positiv und strategisch angegangen wird.«
Einer dieser Arbeitgeber ist zum Beispiel der größte deutsche Onlineshop OTTO, der seit Sommer 2023 grundsätzlich alle Führungspositionen optional in Teilzeit (ab 80 Prozent) ausschreibt. Für Katy Roewer, Bereichsvorständin Service & HR, die selbst zu 80 Prozent arbeitet, ist klar: »Eine erfolgreiche Führung im Unternehmen schließt einen Teilzeitvertrag nicht aus.«
Gerade frisch gebackene Mütter und Väter können und wollen in bestimmten Lebensphasen nicht in Vollzeit arbeiten. »Sie deswegen zu verlieren, wäre betriebswirtschaftlicher Unsinn«, erklärt mir Prof. Dr. Karlshaus. Vielmehr braucht es eine stärkere Flexibilität in der Festlegung der Arbeitszeiten, die möglichst bürokratielos anzupassen sind – in die Teilzeit hinein und wieder heraus.
»Es ist immer besser, das Talent in einer 80-Prozent-Führung zu fördern, als es zu verlieren, weil es an alternativen Arbeitsmodellen fehlt. Die am besten zur Rolle passende Person soll den Job machen – unter den bestmöglichen Voraussetzungen«, erklärt mir Katy Roewer. Damit macht sie die Verantwortung von Unternehmen klar, auf die individuellen Entscheidungen und Bedürfnisse von Mitarbeitenden flexibel zu reagieren. Wichtig dabei ist aber vor allem, dass der Aufgabenzuschnitt sich an der Arbeitszeit orientiert, damit eine Teilzeitarbeitskraft nicht plötzlich 120 Prozent leisten muss. Falls Führungskräfte weniger als 80 Prozent arbeiten möchten, gibt es bei OTTO sogar die Möglichkeit des Jobsharings: Hierbei wird die Position von zwei Personen in einem Tandem besetzt. Laut einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa bieten immer mehr Unternehmen solche Modelle an. Bei Mercedes-Benz arbeiten beispielsweise bereits 420 Führungskräfte in Tandem-Lösungen, bei Daimler Truck existieren 100, bei Porsche 20 Tandems bis zur zweiten Führungsebene.6
Ob diese Modelle positive Auswirkungen auf die Produktivität und Umsätze haben, kann bislang noch nicht ausreichend wissenschaftlich belegt werden. Was sich aber klar zeigt, ist, dass solche flexiblen Arbeitszeitmodelle sich unter anderem positiv auf die Verbundenheit zum Unternehmen und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden auswirken. Auch bei OTTO: Katy Roewer erzählt von einer Kollegin, für die die neue Teilzeitoption entscheidend war, überhaupt im Unternehmen zu bleiben und eine neue Führungsverantwortung zu übernehmen. Damit schafft das Unternehmen ganz nebenbei auch die Rahmenbedingungen, um die Geschlechterparität in der Führungsebene zu verbessern. Denn leider ist es immer noch so, dass in Deutschland knapp 73 Prozent der erwerbstätigen Mütter und lediglich sieben Prozent der erwerbstätigen Väter in Teilzeit arbeiten.7
Sollten sich die Unternehmen also nicht darum bemühen, die Mitarbeitenden durch flexible Angebote zufriedenzustellen, um dann bestmögliche Leistungen zu erwarten, anstatt Menschen zu Aktivitäten zu zwingen, die sie nicht wollen und die sie deshalb unzufrieden machen?
Eine ergebnisorientierte Kultur würde übrigens dazu führen, dass Mitarbeitende endlich realistisch erreichbare Ziele erhielten, an denen sie gemessen und beurteilt werden würden. Denn seien wir doch mal ehrlich: Bisher ist es eher so, dass es entweder gar keine konkreten Ziele gibt oder die Ziele unrealistisch sind. Anstatt also irgendwelche Aufgaben zu erledigen, um einfach nur beschäftigt zu sein, würde die Arbeitszeit schließlich genutzt werden, um wirklich sinnstiftende Tätigkeiten zu erledigen, die einen echten Mehrwert für das Unternehmen haben.
Mehr als die Hälfte der Angestellten verbringen nämlich fast 60 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Tätigkeiten, für die sie nicht eingestellt wurden. Das ergab eine weltweite Umfrage von Asana, einer Plattform für Arbeitsmanagement. Damit sind an dieser Stelle keine Katzenvideos gemeint, sondern beispielsweise nicht zielführende Meetings, Software-Updates, Verwaltung von Prioritäten und To-do-Listen sowie die Kommunikation über ihre Arbeit.8
Die Präsenzkultur fördert in meinen Augen lediglich die Haltung, dass Stress, ein voller Terminkalender und sogar die reine sinnfreie Beschäftigung als Statussymbole wahrgenommen werden. Bei Angestellten genauso wie bei Selbstständigen. Ich kenne das aus meinem Alltag. Wenn ich erzähle, dass ich in den letzten zwei Wochen in fünf verschiedenen Städten war, nur noch vier Stunden geschlafen habe, weil so viel zu tun war, und ich regelmäßig meine Mittagspause auslasse, dann bekomme ich Anerkennung, bin plötzlich wichtig und bedeutsam. Weniger beeindruckend bin ich offenbar, wenn ich jeden Morgen meditiere, anderthalb Stunden Mittagspause mache und abends Zeit für meine Hobbys und Freundschaften habe. Menschen, die beschäftigt sind oder auch nur Geräte nutzen, die darauf hindeuten, beschäftigt zu sein, wie etwa Kopfhörer, Laptop, Handy, werden als wichtig und beeindruckend wahrgenommen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Marketingprofessorin der Columbia Business School, Silvia Bellezza.9 Die aktuelle Forschung zeigt, dass Anstrengung grundsätzlich als moralisch bewundernswert angesehen wird, unabhängig davon, ob die Leistung zu einem gewünschten Ergebnis oder einer besseren Qualität führt.10
Dahinter stecken verschiedene Gründe und Faktoren. Um diese zu verstehen, müssen wir uns einen Begriff aus der Sozialpsychologie einmal genauer anschauen: Effort Justification. Studien haben gezeigt: Je härter Menschen arbeiten und sich anstrengen, desto positiver bewerten sie diese Arbeit – unabhängig davon, ob die Aufgabe sinnvoll oder sinnlos erscheint. Heißt: Die Bewertung eines Ergebnisses wird also durch den Input und nicht durch den Output bewertet.11
Wir rechtfertigen unseren Aufwand, unseren Stress, unsere Arbeit mit allerlei Gründen, ohne dabei zu erkennen, dass wir ausbrennen. Wen wundert es noch, dass Menschen auf die Frage, wie es ihnen geht, meistens so etwas sagen wie: »Ist gerade viel los« – »Bin busy« – »Hab ordentlich Stress«. Viele Stunden abzuklopfen, bringt Anerkennung, Wertschätzung und erhöht das eigene Ansehen. Ob dabei am Ende etwas herumkommt, hinterfragen wir erst mal nicht. Die Folgen sind gravierend: Unzufriedenheit und Erschöpfung steigen, ebenso wie die Anzahl der Menschen, die unter Burn-out oder Depressionen leiden. Wir machen zwar kein Harakiri, aber Karoshi – wie in Japan ein berufsbezogener plötzlicher Tod bezeichnet wird. Das musst du dir mal vorstellen. Dafür gibt es inzwischen sogar einen eigenen Begriff! Eine Studie der japanischen Regierung kam 2016 zu dem Ergebnis, dass bei 23 Prozent der Unternehmen Mitarbeitende über 80 Überstunden pro Monat arbeiten.12 Weltweit starben im Jahr 2016 laut einer UN-Studie 745.000 Menschen durch Überarbeitung an einem Schlaganfall oder an einer Herzerkrankung.13 Sieht so die Arbeit der Zukunft aus?
Es ist auch mal okay, nichts zu tun. Durchatmen, aus dem Fenster gucken und dabei zuschauen, wie sich die Blätter im Wind bewegen oder Hundebesitzer:innen mit einem Plastikbeutel in die Knie gehen. Viele Menschen haben inzwischen ein Problem damit, auch mal nichts zu tun – sogar in der Freizeit. So sehr, dass sie sich lieber selbst mit Elektroschocks drangsalieren, als zu entspannen. Klingt verrückt? Ist es auch! Aber genau das zeigt ein Experiment des Sozialpsychologen Timothy Wilson aus den USA. In diesem Versuch sollten sich Menschen 15 Minuten in einen tristen Raum setzen und einfach nichts tun, absolut gar nichts. Sie durften nicht schlafen, sich nicht bewegen. Einfach nur auf einem Stuhl vor einem Tisch mit einem Gerät sitzen. Wenn sie wollten, konnten sie auf einen Knopf des Geräts drücken und erhielten einen unangenehmen Elektroschock. Dieser war so schmerzhaft, dass sie in einem vorherigen Versuch angaben, Geld zu bezahlen, um diesen ein zweites Mal zu vermeiden. Und genau diesen Knopf drückten schließlich 67 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen, um sich selbst Schmerzen zuzufügen, weil sie die Langeweile nicht aushielten. Ein Teilnehmer fügte sich unfassbare 190 Elektroschocks in 15 Minuten zu. Einhundertneunzig!14
Mit der Etablierung einer Ergebniskultur und damit einhergehend der Möglichkeit, die Arbeit flexibel zu gestalten, würde sich meines Erachtens viel zum Besseren verändern. Mitarbeitende würden sich auf einmal Gedanken darüber machen, wie sie ihre Arbeit produktiver und effizienter gestalten können, sie würden sich mit Flow-Arbeit, Produktivität und Zeitmanagement auseinandersetzen.
Wir können nicht auf der einen Seite mehr Selbstverantwortung und Initiative von Mitarbeitenden einfordern und sie gleichzeitig weiterhin bis ins kleinste Detail kontrollieren. Immerhin ein Viertel der digital arbeitenden Mitarbeiter:innen haben das Gefühl, ihr Arbeitgeber sei misstrauisch und würde mehr kontrollieren als vertrauen. Das ist das Ergebnis einer Bitkom-Umfrage.15
Aus Misstrauen und Kontrolle entsteht am Ende die Angst, Fehler zu machen, worunter das kreative und das innovative Denken leiden. Wir basteln uns damit immer mehr Ja-Sager:innen, die sich nicht mehr trauen, ihre eigene Meinung mitzuteilen und Dinge zu hinterfragen. Statt sich auf den Arbeitsplatz zu freuen, wird er zu einem Ort, der mit Vorsicht genossen wird. Und um das zu vermeiden, brauchen wir Vertrauen. Ich glaube, wenn man einem Mitarbeitenden Vertrauen entgegenbringt, will auch dieser, dass es klappt – für sich und für die Kolleg:innen.
In Firmen mit einer hohen Vertrauenskultur arbeiten Mitarbeitende immerhin um 50 Prozent produktiver, haben 13 Prozent weniger Krankheitstage, sind um 76 Prozent engagierter und um 29 Prozent zufriedener. 74 Prozent sind weniger gestresst und 40 Prozent weniger Leute erleiden einen Burn-out.16 Erfolg lässt sich eben einfach nicht durch Kontrolle herstellen.
Die Grundlage für ein gutes Vertrauensverhältnis ist erst einmal ein positives Menschenbild – also davon auszugehen, dass die Kolleg:innen schon das Beste für andere und das Unternehmen wollen. Der häufigste Grund, warum wir uns gegenseitig kontrollieren, ist Misstrauen – die Annahme zum Beispiel, dass andere egoistisch sind und jede Situation zum eigenen Vorteil wenden wollen.
Der Historiker und Autor Rutger Bregman ist da anderer Meinung und widerlegt diese Annahme in seinem Buch durch fundierte Forschung. Er schreibt: »Dass Menschen von Natur aus egoistisch, panisch und aggressiv sind, ist ein hartnäckiger Mythos.«17 Das Problem ist aber, wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen um uns herum grundsätzlich nicht gut sind und jede Situation bei der Arbeit ausnutzen, um sich zu entspannen oder faul zu sein, dann behandeln wir sie auch genau so, als würden sie das wirklich tun. Wenn wir also nur an das Negativste eines Menschen denken und Schlechtes erwarten, werden wir es auch bekommen – allein schon deshalb, weil wir uns diesem Menschen gegenüber auch so verhalten. Wir gehen in eine grundsätzliche Abwehrhaltung, ziehen uns zurück, vermeiden die Zusammenarbeit, sind nicht ehrlich, öffnen uns nicht, geben kein Feedback. Egal, ob ich mit meiner Einschätzung über die andere Person recht habe – die Arbeitsbeziehung wird leiden. Gehen wir aber von einem positiven Menschenbild aus, indem wir beispielsweise denken, dass die Kollegin alles in ihrer Macht Stehende tut, um das Unternehmen und das Team nach vorne zu bringen, dann werden wir uns ihr gegenüber positiv verhalten und die Beziehung zu ihr fördern. Weil wir vertrauen.
Ein leuchtendes Vorbild ist für mich der nachhaltige Outdoor-Ausrüster VAUDE, der bereits mehrfach für seine einzigartige Vertrauenskultur ausgezeichnet worden ist. CEO Antje von Dewitz erzählt mir persönlich: »Wir gehen mit einem positiven Menschenbild ran. Also der Überzeugung, dass die Menschen gerne für uns arbeiten. Es ist nicht die Aufgabe des Unternehmens und der Führungskräfte, Kontrolleure zu sein, zu schauen: Seid ihr bei der Arbeit, arbeitet ihr genug? Es geht vielmehr darum, einen guten Rahmen zu schaffen, in dem jede:r Einzelne optimal gefördert und gefordert wird und sein Potenzial entfalten kann. So bleibt auch die Motivation erhalten.« Das Ergebnis ist, dass die Mitarbeitenden bei VAUDE aufblühen, viel Energie in das Unternehmen einbringen und mit Körper, Seele und Geist dabei sind. Dennoch gibt es auch hier ein gewisses Maß an Kontrolle. »Vertrauen heißt nicht, wir haben uns alle lieb, äußern kein Feedback und kontrollieren nichts. Wir vertrauen darauf, dass die Einzelnen die beste Leistung erbringen wollen. Doch natürlich gibt es auch Zielvorgaben, die sich an unserer Strategie ausrichten und deren Erfüllung auch gemessen wird«, sagt von Dewitz.
Und klar, es kann auch mal dazu kommen, dass Vertrauen ausgenutzt wird. Dass wir auch mal danebenliegen und verletzt werden. Davon sollten wir sogar zwingend ausgehen. Das ist der Preis, der bezahlt werden muss. Aber ist es nicht genau das, was uns flexibel macht und weiterbringt? Sind es nicht genau die Situationen, aus denen wir lernen? Auch bei VAUDE wurde das Vertrauen bereits an der einen oder anderen Stelle missbraucht. So hat zum Beispiel ein Mitarbeiter über Jahre Produkte heimlich im Internet verkauft. Die Forderung, deshalb sofort das komplette Konzept über Bord zu werfen, blieb aber überraschenderweise aus. Vielmehr war die Rückmeldung der Kolleg:innen: »Das darf uns jetzt aber nicht unsere Vertrauenskultur zerstören.« Antje von Dewitz sieht es so: »Der Mehrwert durch unser vertrauensvolles Miteinander erträgt auch, wenn das Vertrauen von einigen wenigen mal ausgenutzt wird. Zudem können bei einem offenen Umgang mit solchen Problemen auch Vorkehrungen getroffen werden, um Wiederholungen zu vermeiden.«
Aber wie kann jetzt Vertrauen aufgebaut oder auch gefördert werden? Nach Professorin Frances Frei von der Harvard Business School und Anne Morris gibt es drei Faktoren (Vertrauensdreieck), die dafür entscheidend sind: Authentizität, Logik und Empathie.18 Werden alle drei Faktoren erfüllt, entsteht großes Vertrauen. Ist jedoch auch nur einer der Eckpfeiler am wackeln, wird die Vertrauensbeziehung bedroht.
Vertrauen aufzubauen ist Arbeit und kein Zufall. Es geht nicht darum, Vertrauen zu gewinnen, sondern aufzubauen. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen, es geht hierbei um eine kontinuierliche Arbeit. Der amerikanische Neurowissenschaftler Paul J. Zak konnte durch seine weltweiten Untersuchungen insgesamt sieben Faktoren ausmachen, die das Vertrauen in Unternehmen fördern19 – die ich weiterführend auch noch in anderen Kapiteln aufgreife:
Wer aber glaubt, dass allein ein Angebot an flexiblen Arbeitszeiten zu gesünderen und produktiveren Menschen führt, der liegt falsch. Denn eine renommierte Studie der Krankenkasse Barmer und der Universität St. Gallen, die 8.000 Erwerbstätige über einen dreijährigen Zeitraum im halbjährlichen Rhythmus untersucht hat, zeigte, dass auch ein klares Grenzmanagement zu einer besseren Arbeitsfähigkeit führt und die Gesundheit der Mitarbeitenden verbessert.20
Demnach haben Mitarbeitende, die räumliche, zeitliche und kommunikative Grenzmanagement-Taktiken anwenden, knapp 15 Prozent weniger Stress, über zehn Prozent weniger Schlafprobleme und eine über zehn Prozent höhere physische und psychische Arbeitsfähigkeit. Flexibles Arbeiten bedeutet, nicht völlig unstrukturiert in den Tag, die Woche, den Monat zu starten. Es braucht stattdessen gute Voraussetzungen, um zum Beispiel im Homeoffice gut performen zu können, etwa durch einen räumlich abgetrennten Platz. Darüber hinaus braucht es klare zeitliche Strukturen, wann gearbeitet wird und wann Freizeit, Pausen und Erholung anstehen. Wer im Homeoffice sogar seine Freizeit im hohen Maß aktiv gestaltet, kann aufkommenden Stress erheblich reduzieren.
Das Wichtigste dabei ist, dass diese Strukturen transparent und klar mit Kolleg:innen und Partner:innen, aber auch mit den eigenen Kindern kommuniziert werden, um eine ständige Erreichbarkeit zu vermeiden. Dabei wird es auch immer stärker auf die Fähigkeit des Selbstmanagements und die digitalen Kompetenzen der Mitarbeitenden und Führungskräfte ankommen. Denn wenn Letztere die entsprechende Technikkompetenz mitbringen, zeigen deren Mitarbeitende eine um 50 Prozent höhere Arbeitszufriedenheit und eine um zehn Prozent höhere Produktivität. Außerdem wollen 40 Prozent weniger Mitarbeitende kündigen und 15 Prozent haben weniger Stress. Verfügen Mitarbeitende über starke digitale Kompetenzen, haben sie knapp 20 Prozent weniger Schlafprobleme und sechs Prozent weniger Stress, sind knapp 14 Prozent produktiver und verfügen über eine circa 15 Prozent höhere physische sowie psychische Arbeitsfähigkeit als Menschen mit einer gering ausgeprägten Kompetenz. Diese Ergebnisse zeigen, dass den Mitarbeitenden und Führungskräften nicht allein damit geholfen ist, wenn sie flexibel arbeiten können, sondern dass es einerseits Strukturen, Regeln und Teamabsprachen braucht und andererseits Schulungsangebote, die Kompetenzen weiterentwickeln. Besonders wichtig ist es hierbei, im Team Regeln, Vereinbarungen und Leitlinien zur hybriden Zusammenarbeit festzuhalten. Denn würden wir alle autonom unsere Arbeitszeiten und -orte planen, würde sich die Zusammenarbeit im Team verkomplizieren, weil es keine Überschneidungen mehr geben könnte. Während die einen Kolleg:innen zum Beispiel vormittags gerne Brainstorming-Meetings im Büro haben, bleiben andere in diesem Zeitfenster lieber zu Hause. Eine Voraussetzung ist also auch, dass wir bereit sind, unsere individuelle Souveränität mal aufzugeben und Kompromisse einzugehen.
Auch der Automobilkonzern Audi hat die Notwendigkeit einer Änderung erkannt und seit Oktober 2022 die Betriebsvereinbarung »Hybrides Arbeiten« an den Standorten Ingolstadt und Neckarsulm ausgerufen. Geregelt sind darin, dass es keine allgemein vorgeschriebene Anzahl an Anwesenheitstagen gibt, sondern die Teams individuell und selbstbestimmt ihre Präsenztage definieren und damit ihren Arbeitsort frei wählen können. So kann jeder entscheiden, ob er Teil der »Desk-Sharing-Policy« sein möchte oder einen festen Arbeitsplatz bevorzugt. Wer sich für die Teilnahme am Desk-Sharing entscheidet, wird mit einem IT-Paket technisch für das mobile Arbeiten ausgestattet. Für eine ergonomische Büroausstattung erhalten diese Mitarbeitenden darüber hinaus einen Gutschein im Wert von 500 Euro. Mitarbeitende, zum Beispiel aus der Produktion, für die kein Homeoffice möglich ist, sollen auch von Fortschritten profitieren: etwa durch flexiblere Arbeitsmodelle für den Schichtdienst, neue Raumkonzepte, eine vielfältigere Gastronomie oder einen besseren Zugang zur digitalen Welt von Audi.
Im Unternehmen wollte man aber nicht nur auf das Bauchgefühl hören. Deshalb hat Audi, unter der Leitung von Prof. Dr. Stephan Böhm von der Universität St. Gallen, eine Studie zum hybriden Arbeiten durchführen lassen. Dazu wurden knapp 1.500 Mitarbeitende in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe begann ihren Arbeitstag ohne Absprachen und Einflussnahme von außen. Die zweite nahm an moderierten Workshops zum hybriden Arbeiten teil und sprach sich innerhalb des Teams über Bedürfnisse, Wünsche und hybride Vereinbarungen ab. Ergebnis: Die Absprache beziehungsweise das Regelwerk für die Zusammenarbeit stärkte das gegenseitige Vertrauen, steigerte das Zugehörigkeitsgefühl und die einzelnen Teammitglieder zeigten sich verbindlicher. Dabei war es vor allem wichtig, dass die Regeln gemeinsam festgelegt wurden und zum Team passen. Zudem konnte bei den Gruppenmitgliedern, die an den Workshops teilnahmen, im Vorfeld Stress reduziert und die Zufriedenheit sowie das Engagement gesteigert werden. Sogar die Kündigungsabsicht sank bei dieser Gruppe um knapp 50 Prozent.
Im Kern gilt es, die richtige Balance von hybrider Arbeit gemeinsam im Team zu bewerten. Dabei geht es auch um die Offenlegung einzelner Bedürfnisse, zum Beispiel wann sich Mitarbeitende um Angehörige kümmern. Auf Basis dieser Offenheit und Transparenz können dann gemeinsame Regelungen getroffen werden, die eine optimale hybride Zusammenarbeit ermöglichen – z. B. in welchem Zeitfenster Meetings stattfinden können, welche Kommunikationskanäle benutzt werden oder wie Reaktionszeiten auf E-Mails außerhalb der Arbeitszeit geregelt sind. Wenn dies alles einmal festgehalten worden ist, ist der Job aber noch nicht erledigt. Um den sozialen Zusammenhalt eines Teams aufrechtzuerhalten, muss die Balance zwischen Homeoffice und Präsenzarbeit immer wieder durch das Abwägen von Aufgabe, Unternehmenssituation, privater Situation der Mitarbeitenden sowie Teamkonstellation justiert und ausgeglichen werden. Xavier Ros, Personalvorstand von Audi, fasst zum Ende unseres Gesprächs noch einmal zusammen: »Netzwerke, Teamgeist und Innovationen entstehen im regelmäßigen persönlichen Austausch. Das stärkt unseren Audi-Spirit und macht uns als Marke erfolgreich. Dennoch nutzen wir die Vorteile der digitalen Zusammenarbeit. Mobiles Arbeiten ist und bleibt wichtiger Bestandteil unserer Arbeitskultur.«
Ein anderes Unternehmen, das sich an den Ergebnissen seiner Mitarbeitenden orientiert, ist einer der weltweit führenden Touristik-Konzerne: die TUI Group. Die Personalvorständin Sybille Reiß sagt mir bei meinem Besuch am Hauptsitz in Hannover: »Arbeit ist das, was wir tun, und nicht, wohin wir gehen.« Auch Sybille Reiß ist der Meinung, dass es hierfür Vertrauen braucht, das sich aber eben nicht verordnen lässt, sondern verdient werden muss. Durch Kommunikation, Transparenz und Verlässlichkeit. Aber auch durch das eigene Vorleben und dadurch, Fehler zu akzeptieren, die einem auf dem Weg zum Erfolg unterlaufen. Dadurch, dass auf Mitarbeitende eingegangen wird, können sich eigenständige Projekte entwickeln. Eines dieser Projekte ist das »TUI WORKWIDE-Programm«, das aus internen Umfragen entstanden ist, in denen der Wunsch geäußert wurde, auch im Ausland arbeiten zu wollen. »Von der Idee bis zur Umsetzung 2021 sind gerade einmal acht Wochen vergangen«, erzählt Sybille Reiß. Ihr ist es wichtig, auch mal pragmatisch zu sein. Der Prozess wurde so schlank gehalten, dass sich Mitarbeitende nur mit der Führungskraft abstimmen müssen und dann mit gerade mal zwei Klicks z. B. am Stephansplatz in Wien arbeiten können. Dieses Angebot haben direkt am Anfang knapp 4.000 Mitarbeitende genutzt. Bis zu 30 Tage können sie vom Ausland aus arbeiten. Denn für Reiß definiert sich ein Team nicht dadurch, »dass man in einem Büro sitzt und an einer Idee arbeitet, sondern dass man das gleiche Ziel miteinander verfolgt, und das unabhängig von der Anwesenheit in Büros und über Ländergrenzen hinweg«.
»Wir können sehr starke Ergebnisse erzielen, ohne eine solche Präsenz im Büro zeigen zu müssen«, sagt Sybille Reiß. »Ich vertraue so lange, bis mir jemand zeigt, dass es so nicht geht.« Bis dahin wird das »WORKWIDE-Programm« weiter ausgebaut, indem es Mitarbeitenden ermöglicht wird, in TUI-Hotels und -Ressorts arbeiten zu können. Davon profitieren letztlich nicht nur Mitarbeitende, sondern auch das Unternehmen, weil die eigenen Leute das Produkt und die Kunden noch besser kennenlernen. Gleichzeitig wurde ein neuer Campus in Hannover eröffnet, wo zudem mehr Interaktion in Präsenz stattfinden kann.
TUI möchte auch den Mitarbeitenden etwas anbieten, die durch ihren Job eingeschränkter sind, wie zum Beispiel Piloten, Hotel- oder Reisebüromitarbeitenden. Hier werden andere Flexibilitätsmodelle angeboten. Das sieht dann so aus, dass etwa Piloten Weiterbildungen oder die Vorbereitungen auf einen Flug von zu Hause aus erledigen können.
Auch beim Familienunternehmen VAUDE vom Bodensee mit knapp über 650 Mitarbeitenden wurde entschieden, Leistung nicht nach Anwesenheit, sondern nach Ergebnissen zu messen. Als Antje von Dewitz 2009 die Geschäftsführung von ihrem Vater übernahm, war es üblich, dass manche Führungskräfte zwischen 60 und 70 Stunden pro Woche gearbeitet haben. »Da, wo am längsten Licht brannte, saß der Held der Arbeit«, sagt von Dewitz. Durch Gespräche mit ihren Mitarbeiterinnen kam heraus, dass sich Frauen bei VAUDE oftmals von Führungspositionen abschrecken ließen, da sie sich nicht vorstellen konnten, wie Beruf und Familie bzw. Privatleben vereinbart werden konnten. Antje von Dewitz, selbst Mutter von vier Kindern, wurde klar, dass neue Rahmenbedingungen geschaffen werden mussten. Und dafür hat sie gesorgt, indem sie flexible Arbeitszeitmodelle, Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit einführte und VAUDE vom Audit »Beruf und Familie« zertifizieren ließ. Dabei ist sie selbst als Vorbild vorangegangen und hat z. B. konsequent abendliche Meetings vermieden, was auch Überwindung gekostet hat: »Anfangs hatte ich Sorge, dass die Leute denken, ich wäre faul. Aber so war es nicht«, erzählt von Dewitz.
Aber nicht nur das Vorleben ist wichtig, sondern insbesondere auch das Aufbauen von Vertrauen. Was VAUDE sehr dabei hilft, sind Coachings: Selbstwirksamkeitstraining, Selbstreflexion, viel offene Kommunikation auf Augenhöhe und Beziehungsmanagement. Dabei lernen sich Mitarbeitende selbst besser kennen, aber auch die unterschiedlichen Menschentypen in der Organisation. Sie erfahren etwas über die Stärken und Schwächen der Kolleg:innen und erarbeiten eigene Bedürfnisse und Werte. Das Ziel ist, gute Beziehungsmanager:innen zu werden, um dann den Fokus auf Inhalte und die Sachebene zu lenken.
»Denn Konflikte bei der Arbeit haben nur zu einem Bruchteil mit inhaltlichen Themen zu tun und basieren zu 95 Prozent auf der Beziehungsebene, weil Menschen sich mit Aussagen oder Verhaltensweisen triggern oder sich missverstehen«, erzählt Antje von Dewitz. Und es wirkt: Durch die veränderten Rahmenbedingungen bei VAUDE sind mehr Frauen bereit, eine Führungsposition zu übernehmen. Und das Unternehmen ist dank seiner nachhaltigen Ausrichtung und Kultur sehr dynamisch und erfolgreich: »Wir stemmen heute eine sehr hohe Komplexität und sind in der Lage, neue Lösungen schnell umzusetzen«, sagt von Dewitz. 2009 erwirtschafte VAUDE 50 Millionen Euro Umsatz, mittlerweile sind es über 150 Millionen. Damit zeigt das Unternehmen eindrücklich, dass ein partnerschaftliches und vertrauensvolles Miteinander die Grundlage des Erfolgs sein kann.
Mein Fazit: Je flexibler und freier Mitarbeitende und Teams agieren und traditionelle Strukturen aufgebrochen werden, desto eher wächst leider auch die Gefahr, dass die zentralen Bedürfnisse im Arbeitsumfeld vernachlässigt werden und diese eher unter Risiken wie Ausgrenzung, Konflikten und Überforderung leiden – anstatt von der Autonomie und Flexibilität zu profitieren. Das nennt sich Autonomie-Paradoxon. Während einerseits Mitarbeitende Autonomie und Flexibilität schätzen und genießen, vermissen sie psychologische Sicherheit, klare Strukturen, Verbundenheits- und Gemeinschaftsgefühl. Deshalb sollten unbedingt klare Regeln für die Zusammenarbeit und Kommunikation erarbeitet werden. »Ohne gemeinsames Verständnis ist in hybriden Teams keine effektive Arbeit möglich,« sagt Stefan Böhm, Professor an der Universität St. Gallen.21 Zudem sollten Mitarbeitende und Führungskräfte Weiterbildungsmöglichkeiten erhalten, um digitale Kompetenzen und die Fähigkeit zu einem besseren Selbstmanagement zu stärken.
Der Wandel zu flexiblen Arbeitsmodellen braucht auf allen Ebenen eine aktive Gestaltung bei den Mitarbeitenden, Führungskräften und dem Unternehmen an sich. Dann gehen alle auch gern wieder ins Büro.
QUICK WINS
Für Mitarbeitende
Für Führungskräfte
Für Unternehmen
Wann immer ich bei technischen Dingen Probleme habe, und das passiert öfter, als mir lieb ist, rufe ich eine Bekannte von mir an: Dörthe. Diese Frau ist technisch so versiert, dass sie mit einem Taschenrechner das Pentagon hacken könnte. Als IT-Developer ist sie einfach brillant, eine Magierin, um die sich große Konzerne reißen, wenn es ums Coden geht. Mit ihren Fachkenntnissen fuhr sie dem letzten Unternehmen, in dem sie arbeitete, siebenstellige Gewinne ein. Sie war eine absolute Überfliegerin und es dauerte nicht lange, da stand ihr Chef bei ihr auf der Matte mit einer Beförderung zur Führungskraft. Das bedeutete mehr Gehalt, ein größeres Büro, vor allem aber auch Personalverantwortlichkeit. Was im ersten Moment verlockend klang, entpuppte sich bald als grandiose Fehlentscheidung. Denn was der neue Job außerdem bedeutete, war, dass Dörthe weniger Zeit dafür blieb, die Dinge zu machen, die sie liebte. Sehr viel weniger Zeit. Stattdessen schlug sie sich nun mit Aufgaben herum, mit denen sie wenig bis gar nichts anfangen konnte. Denn so gut Dörthe mit Einsen und Nullen umgehen kann, so sehr fehlen ihr die Skills im Umgang mit Menschen, jedenfalls im beruflichen Kontext. Die Folgen waren verheerend: ein unglückliches Team, das plötzlich mehr Arbeit hatte als zuvor, eine unglückliche Führungskraft, also Dörthe, und eine unglückliche Unternehmensleitung, weil nämlich auch die geschäftlichen Ergebnisse immer schlechter wurden. Am Ende kündigten erst einige Mitglieder in Dörthes Team und schließlich auch Dörthe selbst. Was ist da bloß falsch gelaufen? Was hätte besser gemacht werden können? Genau darum soll es im Folgenden gehen.
Die meisten Menschen wollen erfolgreich sein. Sie wollen sich weiterentwickeln, mehr Geld verdienen und mehr Anerkennung bekommen. Der Wunsch nach Anerkennung hat erst einmal nichts mit dem Wunsch nach einem höheren Gehalt zu tun. Leider ist der Wunsch nach Anerkennung in vielen Unternehmen immer noch zwangsweise an mehr Personalverantwortung gekoppelt. Das bedeutet, die Karriereleiter immer höher zu klettern, bis man eine Führungskraft wird. Doch nach welchen Kriterien wird in den Unternehmen entschieden, welche Mitarbeitende Führungskraft werden? Zum einen durch die fachlich beste Leistung. Zum anderen durch die Betriebszugehörigkeit: Je länger jemand schon da ist, je tiefer die Konturen des eigenen Hinterns im Bürostuhl, desto besser. Das ergibt eine Befragung, die das Beratungsunternehmen Gallup mit 300.000 Führungskräften durchgeführt hat.22 Wen überrascht es da, dass bei diesen Kriterien nur 25 Prozent der Mitarbeitenden mit ihrer Führungskraft zufrieden sind?23 Mich jedenfalls nicht.
Das Problem ist, dass Führungskräfte maßgeblich für die Produktivität und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden verantwortlich sind. Und zwar zu 70 Prozent, laut Gallup.24 Bestimmt kennst du den Spruch, dass Mitarbeitende keine Unternehmen verlassen, sondern sie verlassen ihre Vorgesetzten. Wenn nun also unser Engagement, unsere Zufriedenheit, Emotionen und Gefühle zu 70 Prozent von der Führungskraft abhängen, der wir tagtäglich quasi ausgeliefert sind, dann sollte diese Führungskraft doch bitte mehr auf dem Kasten haben als fachliche Kompetenz und diverse Firmenjubiläen. Dann braucht es meiner Meinung nach andere Kriterien, wie zum Beispiel emotionale Intelligenz, soziale Kompetenzen oder auch Kompetenzen für kritische Situationen wie einer Restrukturierung oder Transformation.
Solange sich hier aber nichts ändert, werden weiterhin Leute zu Führungskräften, die dafür an entscheidenden Stellen ungeeignet sind – weil sie sich entweder gezwungen fühlen, diese Rolle auszuführen, oder schlichtweg kein Talent dafür haben. Und noch mal: Diese Menschen sind zu 70 Prozent dafür verantwortlich, ob der Rest des Teams zufrieden ist oder nicht.
Gallup hat noch etwas anderes herausgefunden: Die Auswertung von Millionen Datensätzen zum »Manager-Talent« ergab, dass lediglich 18 Prozent der weltweiten Führungskräfte Führungstalent haben und dieser Rolle auch gerecht werden.25 Pa Sinyan, Managing Partner bei Gallup, bringt es im persönlichen Gespräch auf den Punkt: »Führen ist kein Titel, sondern eine Tätigkeit. Es ist eine Kompetenz. Ein Skill, den du lernen musst.«
Menschen werden so lange befördert, bis sie in eine Position kommen, in der sie inkompetent sind. Dieses Phänomen entdeckte der Psychologe Laurance J. Peter gemeinsam mit dem Schriftsteller Raymond Hull bereits in den 1960er-Jahren. Sie nannten es das »Peter-Prinzip«.26 Diese Menschen besitzen zwar exzellente Fähigkeiten, die sie auf bisherigen Ebenen erfolgreich gemacht haben, die sich jedoch nicht auf die nächste Ebene übertragen lassen. Anstatt dass diese Menschen wieder degradiert werden, bleiben und verharren sie in ihrer neuen Position, obwohl sie inkompetent sind. Ist das nicht verrückt!?
Der Wissenschaftler Alan Benson hat mit den beiden Forscherinnen Danielle Li und Kelly Shue untersucht, welche Auswirkungen solche Beförderungen auf die Performance eines Teams haben. Dazu haben sie sich den Vertriebsbereich von 214 Unternehmen angeschaut.27 Sie konnten bestätigen: Je fachlich erfolgreicher die Vertriebler:innen waren, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, eine Führungsposition zu bekommen. Wurde dann eine gute Verkäuferin befördert, führte dies jedoch zu einem Leistungsrückgang von 7,5 Prozent bei den Untergebenen. Daraus schlossen die Forscher:innen, dass »[…] Unternehmen dazu neigen, die besten Vertriebsmitarbeiter:innen ins Management zu befördern, obwohl sie die schlechtesten Manager:innen sind«.28
Das Interessante dabei ist zudem, dass es zu einer großen Abweichung des eigenen Selbstbilds und des Fremdbilds kommt. Das zeigt zum Beispiel wieder eine Umfrage von Gallup: Sagenhafte 97 Prozent der Führungskräfte sagen, sie würden einen echt guten Job machen. Sie gehen davon aus, von ihren Mitarbeitenden auch so gesehen zu werden. Die Realität sieht jedoch anders aus: 69 Prozent der Mitarbeitenden sagen hingegen, dass ihre Führungskräfte keinen guten Job ausüben.29
Wir erleben hier den sogenannten »Dunning-Kruger-Effekt«, der auf mehrere Untersuchungen der amerikanischen Psychologen David Dunning und Justin Kruger zurückzuführen ist.30 Sie haben gezeigt, dass Menschen ihre Fähigkeiten oftmals nicht realistisch einschätzen können und davon ausgehen, kompetent zu sein, obwohl sie eben genau das Gegenteil sind. Besonders interessant hierbei: Je weniger ausgeprägt die eigenen Kompetenzen sind, desto mehr sind diese Personen von ihnen überzeugt. Sie treffen selbstbewusster Fehlentscheidungen, unterschätzen überlegene Fähigkeiten anderer, ohne das Ausmaß ihrer Inkompetenzen zu erkennen.
Kein Wunder, findet Dunning und unterstellt dabei weder einen bösen Willen noch Selbstbetrug. Denn die Fähigkeiten, die zu einer Kompetenz in einem bestimmten Bereich führen, sind oft genau die gleichen Fähigkeiten, die notwendig sind, um die Kompetenz in diesem Bereich zu bewerten – und zwar die eigene und die der anderen. Anders ausgedrückt: Wer keinen grammatikalisch korrekten Satz formulieren kann, wird auch keine grammatikalischen Fehler erkennen. Natürlich lässt sich so nicht nur die verzerrte Selbst- und Fremdeinschätzung der Führungskräfte erklären, sondern auch die Einschätzung von Mitarbeitenden. Laut Jobplattform Stepstone ist fast jeder zweite Mitarbeitende davon überzeugt, die Tätigkeit als Führungskraft besser zu machen als der Chef.31
Aber an dieser Stelle möchte ich klar sagen, dass dieser Effekt in der Psychologie nicht ganz unumstritten ist und die Methodik von Dunning und Kruger auch kritisiert wird.32 Dennoch thematisiere ich ihn in diesem Kapitel, weil er seit 20 Jahren immer wieder von Psycholog:innen und renommierten Medien aufgriffen wird und der Effekt meiner Meinung nach die Ergebnisse von Gallup stützt. Andere Psycholog:innen kommen im Rahmen ihrer Forschung zu einem ähnlichen Ergebnis wie Dunning und Kruger. So konnten zum Beispiel Ethan Zell und Zlatan Krizan in ihren Untersuchungen feststellen, dass die Mehrheit der Probanden nicht in der Lage war, die eigene Intelligenz, akademische Kompetenz und andere Fähigkeiten korrekt einzuschätzen – es kam zu einer besseren oder sogar zu einer schlechteren Selbstbeurteilung.33
Es gibt also nicht nur eine verzerrte Selbstwahrnehmung nach oben, sondern auch nach unten. In den letzten Jahren gewinnt das sogenannte Impostor-Syndrom in der Wirtschaftswelt immer mehr an Bedeutung. Dabei werden Menschen von extremen Selbstzweifeln geplagt und unterschätzen ihre Fähigkeiten und Leistungen. Anstatt Erfolge auf die eigenen Fähigkeiten zurückzuführen, glauben sie, dass alles, was sie im Leben erreicht haben, nur dem Zufall geschuldet sei. »Diese verzerrte Realitätswahrnehmung gibt den Betroffenen das Gefühl, alles Positive, was ihnen widerfährt, nicht wirklich verdient zu haben«, erklärt mir die Fachärztin für Psychosomatik und Verhaltenstherapeutin Dr. Michaela Muthig. Diese Menschen fühlen sich dann in ihrer Rolle oft fehl am Platz und leiden unter anhaltenden Versagensängsten. Das negative Selbstkonzept erschwert den Menschen, sich über Erfolge zu freuen und Komplimente anzunehmen. Es hindert sie stark in der persönlichen Entwicklung.
Die verzerrte Selbstwahrnehmung ist nicht nur abhängig von Kultur, Persönlichkeit und eigenem Selbstvertrauen, sondern auch vom Geschlecht. Hier lässt sich klar sagen: Männer schätzen ihre eigenen kognitiven Fähigkeiten oft besser ein, als sie tatsächlich sind. Für Frauen gilt genau das Gegenteil.34 In der Psychologie hat sich dafür der Begriff »hubris humility effect« eingebürgert, der Überheblichkeit-Bescheidenheit-Effekt. In seiner wissenschaftlichen Untersuchung konnte Prof. Dr. Matthias Sutter, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn, feststellen, dass Männer anfälliger sind, ihre Fähigkeiten zu überschätzen, und sich damit deutlich wettbewerbsorientierter im Berufsalltag verhalten als Frauen.35
In diesem Kontext wird auch vom »Paula-Prinzip« gesprochen, das sich beobachten lässt, wenn gut ausgebildete und kompetente Frauen immer wieder in niedrigeren Hierarchieebenen feststecken und Jobs machen, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Diesen Begriff hat der Autor Tom Schuller in seinem Buch »The Paula Principle: Why women lose out at work – and what needs to be done about it« geprägt. Demnach führen strukturelle Diskriminierung und unbewusste Vorurteile dazu, dass Frauen seltener befördert werden. Aber auch fehlende Ambitionen für eine steile Karriere beziehungsweise weniger ausgeprägte Wettbewerbsbereitschaft und mangelnde Betreuungsmöglichkeiten für Kinder sowie eine verzerrte Selbsteinschätzung gehören zu den vielschichtigen Ursachen für das »Paula-Prinzip«.
Um die Wahrscheinlichkeit dieser Phänomene zu reduzieren und Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Mitarbeitende sich wohlfühlen, gut performen können und gerne in Unternehmen bleiben, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten.
Sich selbst korrekt einzuschätzen, ist nicht ganz einfach, wenn nicht sogar unmöglich. »Wer versucht, sich durch Introspektion – also den Blick nach innen – selbst zu analysieren, stolpert unweigerlich darüber, gleichzeitig der Leser und das Buch zu sein«, sagt Hans-Peter Erb, Professor für Sozialpsychologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg in einem Interview mit dem Wissensmagazin Quarks.36 Bei eigener Überschätzung muss es aber nicht zwangsweise zu negativen Konsequenzen kommen. Wer von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt ist, bringt nämlich überhaupt erst mal den Mut auf, mehr zu riskieren, Grenzen auszutesten und einfach mal Dinge auszuprobieren. Es kommt auf das Maß an. Es ist ein Unterschied, ob man sich für klug genug hält, um sich in viele Dinge einzuarbeiten – oder ob man denkt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.
Am Ende kommt es dann aber schon auf eine realistische Selbsteinschätzung an, wenn wir erfolgreich zusammenarbeiten wollen und sich die Frage stellt, welche Mitarbeiter:innen zur Führungskraft gemacht werden sollen. Um das zu schaffen, brauchen wir im Arbeitskontext mehr Möglichkeiten und vor allem auch mehr Zeit. Zum Beispiel für Achtsamkeitsübungen, Journaling, eine gute Einstellung zum lebenslangen Lernen und Gespräche mit Vertrauenspersonen. Dabei kann auch ein regelmäßig stattfindendes konstruktives Feedback in Form von Umfragen helfen, das vor allem ehrlich sein sollte – und zwar in alle Richtungen. Denn hier gelten die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie zum Beispiel an Weihnachten mit der Familie: Wer so tut, als freue er sich über Socken, der bekommt im nächsten Jahr eben wieder welche. Hierbei ist es zudem wichtig, auf die Formulierung zu achten: Dies ist mir so wichtig, dass ich diesem Thema ein komplettes Kapitel (Radical Honesty) gewidmet habe. Apropos Ehrlichkeit: Sich selbst einzugestehen, etwas nicht zu können oder nicht zu wissen, ist keine Niederlage. Es ist ein Erfolg.
Für Jörg Staff, Chief Human Resource Officer (CHRO) of the Year 2021, muss es aber noch einen Schritt weiter gehen. »Es braucht mehr Professionalisierung«, sagt er mir im Gespräch. »Wir haben so viele technologische Tools zur Verfügung, aber setzen diese viel zu selten in der Praxis ein, um eine valide Einschätzung eigener Fähigkeiten nach objektiven Kriterien zu erhalten.«
Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel die Künstliche Intelligenz, die in Zukunft eine große Rolle einnehmen kann und wird. Bereits jetzt ist es mit dieser Technik möglich, allein auf Basis schriftlicher Antworten Introversion bzw. Extroversion, emotionale Stabilität, Resilienz, Optimismus, Gewissenhaftigkeit, narzisstische Verhaltenseigenschaften, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und viele weitere Faktoren zu messen. Das erzählt mir Prof. Dr. Florian Feltes, Co-Gründer von Zortify, einem People-Analytics-Unternehmen, bei einem Interview in Köln. Der Vorteil von Künstlicher Intelligenz ist nach Florian Feltes, dass mit ihr bei der Entscheidungsfindung eine objektive Perspektive hinzugezogen werden kann, die wir unter Menschen nicht hinbekommen. Wenn wir miteinander sprechen, wirken auf uns unbewusst bis zu 80 sogenannte Verzerrungseffekte, die es bei der KI nicht gibt. Wichtig ist vor allem, dass wir, wenn Künstliche Intelligenz hinzugezogen wird, den Ergebnissen nicht blind vertrauen, sondern sie eher nutzen, um bei Gesprächen mit Mitarbeitenden über Abweichungen und Erkenntnisse zu sprechen. So kann zukünftig die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass Mitarbeitende ein realistisches Selbstbild erhalten.
Die Entwicklung zur Führungskraft bringt viele Herausforderungen mit sich. Denn während sich Mitarbeitende im Team ausschließlich um ihre To-dos kümmern, heißt es auf der Führungsebene vor allem auch, die Kontrolle abzugeben und andere in ihrem Handeln zu unterstützen. »Es geht nicht mehr darum, Dinge selbst besser zu wissen als der Rest der Kolleg:innen. Auf einmal heißt es, Potenzialentfalter:in zu sein, Fragen zu stellen, Strukturen zu schaffen. Das heißt, Menschen ausfindig zu machen, die es wirklich besser wissen, und sie zu fördern, damit sie ihren Job bestmöglich erledigen können«, führt Laura Bornmann, eine der führenden Stimmen in Deutschland bei Themen rund um New Work und Unternehmenskultur, in unseren Telefongesprächen aus.
Das hybride Arbeiten hat diese Aufgaben nochmals erschwert, da nun zusätzlich auf Distanz geführt werden muss. Zu oft werden Mitarbeitende ins kalte Wasser geworfen und nicht ausreichend auf die neuen Herausforderungen als Führungskraft vorbereitet. So ist aus einer Stepstone-Umfrage zu entnehmen, dass mehr als jede dritte Führungskraft erst nach Antritt der neuen Rolle oder sogar erst ein Jahr danach ein Führungskräftetraining oder eine entsprechende Fortbildung erhalten hat.37 »Angehende Führungskräfte müssen frühzeitig von Arbeitgebern unterstützt werden, da nur die wenigsten die nötigen Kompetenzen von Beginn an mitbringen«, stellt Laura Bornmann aus Erfahrung fest. Durch frühzeitiges Coaching kann die Wahrscheinlichkeit reduziert werden, dass zukünftige Führungskräfte sich unsicher fühlen oder sogar den Schritt zur Führungskraft bereuen. Dies ist übrigens gar nicht so selten, wie die Stepstone-Umfrage zeigt: Jede vierte Führungskraft möchte zurücktreten.38
Wir wissen also, dass nicht jeder für die Rolle der Führungskraft gemacht ist. Und wir wissen auch, dass diese Position immer noch das Mittel der Wahl ist, wenn es darum geht, eine Beförderung, Wertschätzung oder Anerkennung auszusprechen. Was wir also dringend brauchen, ist eine Möglichkeit für Mitarbeitende, sich auch in fachlicher Richtung als Expert:in im Unternehmen weiterzuentwickeln. Auch das ist einerseits keine brandneue Erkenntnis. Anderseits sehen Expert:innen wie Jörg Staff sowie Pa Sinyan von Gallup und Laura Bornmann, dass in der Praxis kaum Unternehmen eine gleichwertige Alternativlaufbahn zur Führungskraft anbieten – weder was den Gestaltungsraum angeht noch in Bezug auf Sichtbarkeit sowie der Stellung im Unternehmen. Dies gilt auch bei der finanziellen Entlohnung. Dabei liegt der Vorteil einer gleichwertigen Beförderung doch auf der Hand: Mitarbeitende könnten sich aufgrund ihrer Interessen, Fähigkeiten und Kompetenzen weiterentwickeln und würden nicht gezwungen werden, dafür bestimmte Rollen zu übernehmen. Die Folge wäre zudem, dass wirklich nur die Personen im Unternehmen zu Führungskräften werden, die dies auch wollen, die ehrliches Interesse am Menschen haben und in ihrer Führungsposition aufgehen.
Unternehmen, die eine gleichwertige Laufbahn ermöglichen, schaffen damit auch ein neues Verständnis bei Mitarbeitenden: Die Karriereleiter endet nicht auf der Sprosse, auf der eine Führungsposition mit Personalverantwortung steht. Nicht jede:r Junior Controller:in muss am Ende CFO werden, sondern kann auch in einer Expert:innen-Rolle oder einer anderen Position im Team aufgehen.
Damit müssen berufliche Veränderungen nicht immer nur nach vorn gehen. Ein Schritt zur Seite verbessert manchmal die Sicht auf die Dinge. Und ein Schritt zurück ist womöglich genau dies nicht – sondern ein Anlaufnehmen. Vergessen wir doch das klassische Bild einer Leiter nach oben. Betrachten wir die Karriere doch besser als einen Lauf durch den Wald, wo wir uns immer wieder entscheiden können, welcher Pfad für uns (und das Unternehmen) der beste ist. Gerade bei Führungskräften kann es vorkommen, dass sie am liebsten wieder zurück in ihre Expert:innen-Rolle gehen möchten, weil sie dort ihr Potenzial am besten ausschöpfen (allein schon, weil sie einfach mehr Freude an ihrer Tätigkeit haben). Wieso sollten diese Menschen für diese wertvolle Erkenntnis bestraft werden, indem man sie degradiert? Meiner Meinung nach sollte eine Beförderung auch auf horizontaler Ebene möglich sein. Dafür braucht es eine entsprechende Kultur. Laut einer Studie der Jobplattform LinkedIn ist es übrigens für die Zufriedenheit und die Mitarbeitenden-Retention vollkommen egal, ob Angestellte befördert werden oder nur eine andere Position im Unternehmen bekommen.39
Menschen möchten das Gefühl haben, dass ihr Unternehmen daran interessiert ist, sie entsprechend ihren Bedürfnissen und Kompetenzen zu fördern und weiterzuentwickeln. Allerdings haben nur etwa 15 Prozent der Angestellten das Gefühl, dass ihr Unternehmen bemüht ist, sie auf eine neue Rolle vorzubereiten.40 Das Problem dabei ist: Wer dieses Gefühl bei seinem Arbeitgeber nicht hat, ist eher bereit, zu kündigen.41
Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es nicht nur um die Wünsche und Bedürfnisse von Mitarbeitenden geht, sondern natürlich auch um die Anforderungen der Unternehmen. Denn schließlich ist es wichtig, wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Die Kunst ist, das perfekte Match zwischen den Bedürfnissen der Mitarbeitenden und denen des Unternehmens zu finden. Dabei helfen können diverse Karriere-Experimente, die einerseits klarmachen, dass echtes Interesse besteht, Mitarbeitende in Unternehmen zu entwickeln und auch dort halten zu wollen, und andererseits das Potenzial aus Mitarbeitenden herausholen – basierend auf deren Stärken.
Diese drei Beispiele für Karriere-Experimente gefallen mir persönlich besonders gut:
Je mehr Möglichkeiten an Entwicklungsperspektiven es in Unternehmen gibt, desto eher besteht die Möglichkeit, Mitarbeitende zu halten. Aber natürlich hat das seine Grenzen. Zu viel interne Mobilität kann auch dazu führen, dass keine tiefgreifenden Kompetenzen aufgebaut werden und sie stattdessen von Kolleg:innen als störend empfunden wird. Hier gilt es, sich heranzutasten. Ein vielfältiges Angebot für verschiedene Karrierepfade ist aber nicht das Allheilmittel. Denn Führungskräfte, die nur nach individuellen Leistungen im Team bewertet und gemessen werden, haben kein Interesse, ihre besten Leute an andere Abteilungen abzugeben. So zeigt eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Gartner, dass über 80 Prozent der befragten Personen angeben, bei einer internen Bewerbung nicht unterstützt zu werden, und zwar weder von Führungskräften noch von anderen Kolleg:innen.42
In der Folge ist es für Mitarbeitende also einfacher, direkt das Unternehmen zu verlassen und sich weiterzuentwickeln, als zu bleiben und sich dabei zu verzweigen. Demnach brauchen Führungskräfte ein Verständnis dafür, dass es nicht nur um den Erfolg ihres Teams geht, sondern um den Erfolg für das gesamte Unternehmen. Daraus folgt, dass Führungskräfte zukünftig dafür belohnt werden sollten, Mitarbeitende nicht nur in ihrem Team zu halten, sondern im Unternehmen, weil sie sich grundsätzlich aktiv um die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden bemühen. Eine Idee wäre zum Beispiel, neue Bewertungskriterien einzuführen, für deren Erfüllung Führungskräfte entsprechende Boni erhalten – etwa dafür, dass eine bestimmte Prozentzahl von neuen Stellen von Personen besetzt wird, die aus dem eigenen Team kommen. Damit kann auch gewährleistet werden, dass Führungskräfte Mitarbeitende auf interne offene Stellen aufmerksam machen, die zu ihnen und ihrem Karrierepfad passen könnten. Denn laut der bereits genannten Gartner-Umfrage weiß nur jede zweite Person, die sich auf eine neue Stelle bewerben möchte, dass es auch intern offene Stellenangebote gibt.43
Das hört sich alles nach viel Arbeit an – weil es auch viel Arbeit ist. Nicht umsonst klagen viele Führungskräfte in persönlichen Gesprächen über die Herausforderung, ihre fachlichen To-dos und ihre personalbezogene Führung unter einen Hut zu bekommen. Das Führen von Mitarbeitenden ist in den letzten Jahrzehnten nicht gerade einfacher geworden, da immer mehr individuelle Aspekte dazugekommen sind. Dennoch verbringen Führungskräfte lediglich sieben Prozent ihrer Arbeitszeit mit Tätigkeiten, die in ihrer Rolle zwingend nötig sind: Coachings, Feedbackgespräche und Maßnahmen, die das Team zusammenhalten.44 Ist das womöglich der Grund, warum Mitarbeitende so unzufrieden sind und sich nicht verbunden fühlen – weil die dringlichen Business-Themen mehr im Fokus stehen als die wichtigen People-Themen? An dieser Stelle möchte ich Führungskräfte in Schutz nehmen. Denn Zeit und Mühe in die Entwicklung von Mitarbeitenden zu stecken, steht häufig im Widerspruch zu den Bewertungskriterien, an denen sie selbst gemessen werden.
Was aber wäre, wenn sich Führungskräfte zukünftig nur noch auf Business- oder People-Themen fokussieren müssten und nicht auf beides gleichzeitig? Dieses Modell nennt sich »Shared Leadership« und wird bereits in der Praxis von einigen Unternehmen getestet. Dabei geht es nicht allein darum, dass sich zwei Leute den Chef:innen-Sessel teilen. Vielmehr geht es um die Aufteilung der klassischen Aufgaben und eine verteilte Verantwortung für eine bessere Fokussierung. Denn: »Führung besteht aus vielen Dimensionen und es gibt vermutlich keine Person, die allen Dimensionen gleichwertig gerecht werden kann«, sagt mir Dr. Stefan Gladbach, Führungskraft beim Energieunternehmen Yello. Während die eine Führungskraft die fachliche Gesamtverantwortung trägt, indem sie sich zum Beispiel auf die Umsetzung der Geschäftsstrategie und die Einhaltung des Budgets fokussiert, trägt die andere ausschließlich die Personalverantwortung, indem sie etwa Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Zusammenarbeiten schafft, coacht, Feedbackgespräche führt und Räume entwickelt, um größtmögliche Wirksamkeit zu ermöglichen. Das Ganze nennt sich dann »People Lead« und »Business Lead« – oder wie bei Yello »Product Cluster Lead«. Damit sind beide Personen gleichberechtigt und es wird ermöglicht, dass die richtigen Menschen, abhängig von ihren Kompetenzen und Präferenzen, in den richtigen Positionen arbeiten. Ziel dieses Konzepts ist es, dass die Mitarbeitenden in den Fokus der Unternehmung rücken, ohne dass das Business darunter leidet. Gerade in Krisenzeiten oder Transformationsprozessen gibt es damit immer eine Person, die bei allen Entscheidungen einen fokussierten Blick auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden beziehungsweise der einzelnen Teams hat.
Diese Zerrissenheit zwischen operativem Business und Personalverantwortung haben auch die Führungskräfte bei Yello erlebt. Personalbelange mussten immer wieder den Business-Entscheidungen weichen und sind ins Hintertreffen geraten. Das merkten die Mitarbeitenden auch in internen Umfragen an. Daraufhin ging das Kölner Energieunternehmen 2022 neue Wege und führte mit knapp 100 Mitarbeitenden das Modell »Shared Leadership« ein.
»Wir sind aber keine Happiness- oder Feelgood-Manager. Auch kein Kummerkasten oder Durchlauferhitzer für Feedbacks«, sagt mir im virtuellen Gespräch Katja Petry, eine der People Leads. »Vielmehr sind wir Faciliator und Moderatoren, die einen Raum für eine individuelle, ganzheitliche Weiterentwicklung schaffen.« Es geht also darum, sicherzustellen, dass Mitarbeitende und Teams über erforderliche Fähigkeiten verfügen, um das Unternehmen voranzubringen. Katja Petry und Stefan Gladbach unterstützen Mitarbeitende darin, ihr volles Potenzial zu entfalten, sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln, gefordert und gefördert zu werden, zwischenmenschliche Konflikte zu lösen, Gehaltsverhandlungen zu führen, Mitarbeitende zu befördern und Teams mit den richtigen Mitarbeitenden zu besetzen – und damit viel mehr in individuellen Karrierepfaden von Mitarbeitenden zu denken als in klassischen Karriereleitern.
Damit ist der People Lead für die gesamte Mitarbeitenden-Entwicklung im Unternehmen – vom Start bis zum Exit – verantwortlich. Wichtig für Katja Petry und Stefan Gladbach ist, dass diese Entwicklung und ihre Arbeit immer auch die Business-Ziele verfolgen. Gemeinsam sind sie jeweils für fünf Teams mit knapp fünf bis sechs Mitarbeitenden verantwortlich. Dadurch werden die persönlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Mitarbeitenden gesehen. Denn im Vergleich zu HR-Abteilungen können durch die verteilte Führung Gespräche mit Mitarbeitenden regelmäßiger durchgeführt werden. So entsteht eine größere Nähe zu den Mitarbeitenden und die Führungskräfte bekommen die Atmosphäre im Team persönlicher mit. Die daraus wahrgenommenen Wünsche, Bedürfnisse und Belange können dann so entweder direkt umgesetzt oder bei der richtigen Stelle adressiert werden. So konnten zum Beispiel durch die intensiven Gespräche mit Mitarbeitenden strategische Aufgaben effektiver auf unterschiedliche Teams aufgeteilt werden. Ohne den direkten Zugang zu den Mitarbeitenden wäre dieser Veränderungsbedarf vermutlich nicht so frühzeitig erkannt worden. Dennoch: Es gibt auch hier noch Luft nach oben. »Wenn es hart auf hart kommt, haben wir als People Leads noch mehr zu kämpfen als Business Leads, da ihre Belange oftmals als dringender wahrgenommen werden«, sagt Katja Petry. Das Konkurrenzdenken mit den Business Leads konnten Petry und Gladbach mit der Zeit immer stärker ablegen.
Erfolgsfaktoren für eine gute Zusammenarbeit und damit für ein erfolgreiches Duo sind:
»Was besonders hilft, ist eine gemeinsame Vision, die für alle eindeutig ist. Gemeinsam zu wissen, worauf wir alle hinarbeiten«, meint Stefan Gladbach. Hier zeigt sich klar der Vorteil von verteilter Führung: Das Modell fördert das Kooperationsverhalten, das abteilungsübergreifende Denken und die Haltung, gemeinsam für den Erfolg einzustehen, statt egoistisches Denken und individuelle Ziele.
Nach nunmehr zwei Jahren ziehen die Führungskräfte und die Unternehmensführung eine positive Bilanz, auch wenn das Unternehmen stetig dazulernt und das Konzept weiterentwickelt. Insgesamt fördert Shared Leadership die Resilienz in der Belegschaft, sorgt für positive Rückmeldung der Mitarbeitenden und führt durch die verteilte Verantwortung dazu, dass sie sich auch bei Veränderungen stets sicher und gut informiert fühlten. Das Business litt darunter nicht. Im Gegenteil: »Wir verzeichnen sehr gute, stabile Werte bei der Kunden-Loyalität. Darüber hinaus erleben wir die Yellos als außergewöhnlich engagiert und teamorientiert«, stellt Katja Petry als Zwischenfazit fest.
Um die richtigen Menschen in Führungspositionen zu entwickeln, führte das Softwareunternehmen SAP bereits 2012 eine wirklich in jeder Hinsicht gelebte gleichwertige Expert:innen- und Führungskräftelaufbahn ein. Neben identischen Gehaltsbändern, welche die Bandbreite des Grundgehalts über weitere Gehaltsbestandteile wie Prämien und sonstige monetäre Leistungen definieren, genießen Expert:innen aufgrund ihrer langjährige Expertise hohes Ansehen im Unternehmen und den gleichen Status wie Führungskräfte.
»Damit wollte das Unternehmen frühzeitig Mitarbeitende wertschätzen, die keine Management-Karriere einschlagen möchten«, erklärt mir der ehemalige Deutschland-Personalchef Cawa Younosi. Vielmehr geht es dem Unternehmen bei diesem Angebot auch darum, Mitarbeitenden und Führungskräften die volle Flexibilität zu geben, zwischen den einzelnen Rollen zu wechseln. »Du bist eine Führungskraft und möchtest wieder in deine Experten-Rolle zurück, weil du merkst, dass dir die People-Themen nicht liegen? Kein Problem! Oder willst du als Experte etwas Neues wagen und siehst deine Chance als Führungskraft? Why not!? Die Möglichkeit besteht bei uns immer, weil die Fallhöhe nicht so hoch ist«, sagt Cawa Younosi.
Ziel des Unternehmens ist es, dass Mitarbeitende sich ständig ihren eigenen Lebensphasen anpassen können, um auf einen Großteil ihrer Bedürfnisse eingehen zu können. Denn bereits seit der Gründung des Unternehmens liegt es in der SAP-DNA, dass Menschen im Mittelpunkt stehen. Erst danach kommen Umsatz und Gewinn. »Es müssen nie Umsätze zulasten der Mitarbeitenden gemacht werden«, erzählt mir Cawa Younosi.
Damit nur diejenigen zur Führungskraft werden, die das auch wirklich wollen, bietet das Unternehmen Mitarbeitenden zum Beispiel das Programm »Leaders Fellowship« an. Hier können interessierte Mitarbeitende über einen bestimmten Zeitraum ausprobieren, ob ihnen die Personalverantwortung liegt oder nicht. Die Warteliste für dieses Programm ist lang.
Darüber hinaus bekommen Führungskräfte zwei Mal im Jahr ihre Skills gespiegelt. Im Rahmen des »NPS« (Net Promoter Score) können Mitarbeitende ihre Führungskräfte anhand einer strengen Skala bewerten. »Wenn hier etwas nicht stimmt, schauen wir natürlich sofort genauer hin«, sagt Cawa Younosi. Durch diese regelmäßige Bewertung werden die Führungskräfte auch dazu angehalten, immer den Dreiklang aus Mitarbeitendenzufriedenheit, Kundenzufriedenheit und Unternehmenserfolg sicherzustellen.
Des Weiteren sind auch Karriere-Experimente eine Möglichkeit, um einen individuellen Karrierepfad mit verschiedenen Abzweigungen für sich herauszufinden. So können Mitarbeitende mit einem »Fellowship« eine Art Praktikum in anderen Abteilungen machen und dabei weiter ihr bisheriges Gehalt beziehen.
SAP macht aus meiner Sicht eine Menge richtig. Das zeigt die überaus hohe interne Fluktuationsquote von zehn Prozent mit einer durchschnittlichen Betriebszugehörigkeit von 13 Jahren und einer niedrigen externen Fluktuationsquote von nur zwei Prozent. Zudem werden 91 Prozent glückliche Mitarbeitende beschäftigt und auf der Bewertungs-Plattform kununu kommt das Unternehmen auf eine Weiterempfehlungsrate von 97 Prozent. Das sind Spitzenwerte. Dazu kommen noch mal 75 globale Auszeichnungen allein im Jahr 2022.
Mein Fazit: Zukünftig wird es aufgrund der Komplexität und der kurzfristigen Dynamiken nicht mehr möglich sein, dass eine einzelne Person das gesamte Wissen über einen Fachbereich und die Fähigkeiten zur Führung in sich vereint. Wer daran weiter festhält, wird mehr Führungskräfte erleben, die überfordert sind und kündigen.
Shared Leadership ist nur eine Möglichkeit, um zukünftige Herausforderung zu lösen. Vielmehr geht es darum, Möglichkeiten und Angebote zu schaffen, damit sich Mitarbeitende zu Expert:innen und Führungskräften weiterentwickeln können – und zwar abhängig von ihren persönlichen Bedürfnissen. Unternehmen, die diese Flexibilität für sich am schnellsten bewältigen können, werden erfolgreich, die besten Mitarbeitenden in ihren Unternehmen halten.
QUICK WINS
Für Mitarbeitende
Für Führungskräfte
Für Unternehmen
Ich gebe es zu, körperlich bin ich so beweglich wie eine Litfaßsäule. Ansonsten würde ich mich dagegen aber als recht flexibel beschreiben. Mir tut das gut, vor allem im Jobkontext. Denn flexibles Arbeiten ermöglicht es mir, der Arbeit meine bestmögliche Zeit zu widmen, nämlich die Phasen, in denen die meiste Energie da ist. Das kann im Grunde jede:r, wie du hier erfahren wirst. Dabei dürfen und sollten wir unbedingt unsere Hormone nicht außer Acht lassen. Denn wir alle haben einen 24-stündigen Schlaf-Wach-Rhythmus, auch zirkadianer Rhythmus genannt, der durch die Hormone Cortisol, Melatonin und Serotonin geregelt wird und einen Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit und Müdigkeit hat. Frauen* werden zudem noch von ihrem Menstruationszyklus beeinflusst, der einen großen Einfluss auf ihr Wohlbefinden und ihre Leistungsfähigkeit hat.
Die meisten Menschen ignorieren aber diese biologischen Rhythmen und orientieren sich im Job immer noch lieber an ihrem Outlook-Kalender anstatt an ihrer inneren Uhr. Dabei liegt enormes Potenzial darin, unser Arbeitsleben mit unserem zirkadianen Rhythmus beziehungsweise dem Menstruationszyklus zu synchronisieren. Darum soll es in diesem Kapitel gehen.
Worum es hier allerdings nicht gehen wird, ist der Testosteronzyklus der Männer. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, nachdem ich mich ausführlich mit Prof. Dr. Lars Penke, Professor für Persönlichkeitsbiologie an der Universität Göttingen, ausgetauscht habe. Demnach ist der Testosteronzyklus so schwach, dass daraus, entgegen vieler populärwissenschaftlichen Meinungen, keine praktischen Empfehlungen für den Arbeitsalltag abzuleiten sind. Etwas, das häufig mit diesem Hormon in Verbindung gebracht wird, ist das Thema Aggressivität. Noch immer glauben viele Menschen an den Mythos, dass Testosteron unmittelbar aggressiver macht. Dies kann jedoch wissenschaftlich nicht fundiert bestätigt werden. »Ja, es gibt kleine Effekte, aber es ist nicht so simpel, dass ein höherer Testosteronspiegel direkt aggressiver macht. Andere Spezies, denen eine hohe Dosis Testosteron gespritzt wird, zum Beispiel Mäusen oder Ratten, werden in der Regel aggressiver oder entwickeln einen stärken Sexualtrieb. Aber die menschliche Verhaltenssteuerung läuft deutlich komplexer ab«, erklärt mir Lars Penke. Was jedoch an dieser Stelle festgehalten werden kann, ist, dass ein hoher Testosteronspiegel die Wahrscheinlichkeit für ein wettbewerbsorientiertes und führungsstärkeres Verhalten erhöht – und bei einem niedrigen Spiegel die Tendenz zu einem empathischeren und fürsorglicheren Verhalten steigt. Da Männer durchschnittlich einen siebenfach höheren Testosteronspiegel haben als Frauen, kann dies unter anderem eine Erklärung dafür sein, warum Männer sich häufiger wettbewerbsorientierter verhalten.45
Sie hat mich wahnsinnig gemacht. Jedes Mal, wenn ich bei meiner Kollegin morgens im Büro stand, weil ich etwas mit ihr besprechen wollte, zuckten meine Halsschlagader und mein rechtes Augenlid um die Wette. Weil sie beim Gehen so langsam war, dass man ihr dabei die Schuhe besohlen konnte. Weil sie gähnte, gefühlt bei jedem Einatmen. Und weil sie diese Tasse hatte, auf der stand: »Mutig, mich vor meinem ersten Kaffee anzusprechen!« Ich tat es. Wieder und wieder und wieder. Ich konnte sie einfach nicht verstehen. Unter der Woche klingelt mein Wecker morgens um sechs Uhr. Nach einer kurzen Meditation oder Sporteinheit und einem ausgiebigen Frühstück geht es dann um neun Uhr an den Schreibtisch und ich fange so langsam damit an, produktiv zu werden. Zwischen zehn und elf Uhr bin ich dann auf dem Höhepunkt meiner Leistungsfähigkeit, die dann erst Richtung Mittagspause langsam abflacht. Nach dem Essen kann ich zwar immer noch ganz gut Dinge abarbeiten, aber nicht mehr so effektiv wie noch am Vormittag. Etwa gegen 17 Uhr wird mein Blick glasig, mein Hirn gleitet aus seiner Form und wird zu einer Portion Haferschleim. Mein toter Punkt ist erreicht. Und genau dann stand meine Kollegin auf der Matte, um voller Enthusiasmus die Dinge zu besprechen, die morgens für sie nicht möglich waren. Das war dann der Moment, in der ich am liebsten auch meine Kaffeetasse demonstrativ auf den Tisch gestellt hätte: »Ich habe das schon verstanden. Es ist mir nur egal.«
Ehrlich gesagt, wusste ich es damals einfach noch nicht besser. Wir beide nicht. Wir hatten keine Ahnung davon, dass wir einfach einen unterschiedlichen biologischen Rhythmus hatten. Ich als Morgenmensch konnte die Miesepetrigkeit meiner Kollegin nicht verstehen. Und sie konnte nicht nachvollziehen, dass ich am Nachmittag keine Energie mehr zum Brainstorming hatte, wo sie offenbar ihre Hochphase erreicht hatte. Heute weiß ich Bescheid und deswegen darf dieses Kapitel in diesem Buch auf keinen Fall fehlen. Lies es dir gern frühmorgens durch oder am späten Abend. Ganz so, wie es für dich am besten ist.
Es wäre wirklich einfacher, wenn der Schlaf-Wach-Rhythmus aller Menschen weltweit identisch wäre. Aber das Energieniveau ist nun mal nicht bei allen zur selben Zeit auf dem gleichen Stand. Die chronobiologische Forschung zeigt, dass wir alle eine individuelle innere Uhr besitzen, die regelt, wann wir müde sind und wann wir Bäume ausreißen könnten. Entscheidend ist hierbei der Chronotyp, der uns quasi mit in die Wiege gelegt wurde, da er genetisch verankert ist. Obwohl sich Tendenzen mit dem Alter verändern können.
»Wir wissen mittlerweile, dass unsere Gene darüber entscheiden, wie unsere Vorlieben für den Morgen bzw. den Abend gelagert sind«, sagt mir Dr. Fabian Krapf, einer der führenden Schlafexperten Deutschlands. Wenn du also um neun Uhr morgens nicht bereit bist für ein Meeting, dann ist es nicht deine Schuld – wenn du nicht gerade bis drei Uhr früh im Club warst oder genetflixt hast. Denn du hast dir deinen Schlaf- beziehungsweise Chronotyp nicht ausgesucht und kannst ihn auch nicht verändern.
In der Wissenschaft werden drei unterschiedliche Typen unterschieden:
Lerchen und Eulen sind zwei Extremformen. Alles dazwischen kann als Normaltyp bezeichnet werden und zeigt starke individuelle Abweichungen: zum Beispiel gibt es Tauben mit Tendenz zur Lerche, die problemlos um sieben Uhr aufstehen können. Und es gibt Tauben mit Tendenz zur Eule, die sich um sieben Uhr noch mitten in ihrer biologischen Nacht befinden.
Diese starken Abweichungen sind die Folge der Erfindung der Elektrizität, die es uns ermöglicht hat, nicht mehr ausschließlich im Freien zu arbeiten, sondern in geschlossenen Räumen und auch bis weit nach Sonnenuntergang. Damit haben wir einerseits die Lichtverhältnisse am Tag auf ein Minimum reduziert und andererseits am Abend erhöht. Wir erleben also dunkle Tage und helle Nächte. Das bringt unseren zirkadianen Rhythmus völlig durcheinander, sodass sich unsere innere Uhr später einstellen musste, um überhaupt noch in einem 24-Stunden-Rhythmus zu schwingen – mit Folgen. Während früher die durchschnittliche Mitternacht für uns um ein Uhr nachts lag, liegt sie heute zwischen vier und fünf Uhr morgens.47
Völlig logisch also, dass circa 80 Prozent der Menschen einen Wecker brauchen: »Das Problem ist, dass Wecker uns zwar aus dem Bett bringen, aber unsere innere Uhr trotzdem noch auf Nacht steht«, erklärt mir Dr. Fabian Krapf. Wenn unsere inneren Uhren also alle unterschiedlich ticken, sollten wir dann nicht unseren Arbeitsbeginn flexibel gestalten? Und damit aufhören, Menschen dafür zu verurteilen, wenn sie erst später im Tag leistungsfähig sind? Professor Thomas Kantermann, Leiter der Forschungsgruppe »Chronobiologie und Arbeitsgestaltung« an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management in Essen, hat ein interessantes Gedankenbeispiel bei der Wissenssendung Quarks gebracht: »Wenn man sich mal vorstellt, es gäbe einen Betrieb, bei dem es Voraussetzung wäre, für die Arbeit Gummistiefel zu tragen. Und jetzt entscheidet die Firmenleitung, alle kriegen Gummistiefel in der gleichen Größe – das würde nicht passen. Vielen würde der Schuh vielleicht passen, manchen wäre er zu groß, anderen zu klein.«48 Anders ausgedrückt: Die meisten stünden im Regen. Genauso verhält es sich auch mit starren Arbeitszeiten und teilweise auch mit den Uhrzeiten für angesetzte Meetings: Es passt einfach nicht für alle Mitarbeitenden. Gerade Menschen, die eher eine Tendenz zur Eule haben, leiden unter starren Vorgaben des Arbeitgebers. Die Forschung zeigt sogar, dass Führungskräfte diese Mitarbeitenden mit größerer Wahrscheinlichkeit als weniger gewissenhaft und leistungsfähig einstufen als die Frühaufsteher. Diese werden oftmals als bessere Mitarbeitende wahrgenommen, obwohl es objektiv gar nicht zutrifft.49
Diese soziale Erwartungshaltung und das fehlende Bewusstsein für die innere Uhr und damit auch für den eigenen Chronotyp führen dazu, dass wir am Ende sogar körperliche und psychische Bedürfnisse ignorieren. »Wenn ich ständig gezwungen werde, anders zu leben, als meine innere Uhr es vorgibt, nennen wir das sozialen Jetlag«, erklärt mir Till Roenneberg, Professor Emeritus an der Medizinischen Fakultät der LMU München. Wie sich ein Jetlag anfühlt, das weiß jeder, der schon mal über den großen Teich geflogen ist. Durch die Zeitverschiebung gibt es eine Dissonanz zwischen der Uhrzeit vor Ort und unserer inneren Körperuhr, die alle Abläufe im menschlichen Körper steuert.
In der Folge spielen alle Prozesse im Körper verrückt und wir fühlen uns erschöpft und müde. Das ist bei Ausnahmen auf das Jahr betrachtet auch überhaupt kein Problem. Aber auf Dauer kann uns dieser soziale Jetlag, der sich eben auch aus unflexiblen Arbeitszeiten ergeben kann, stark belasten uns sogar krank machen: Schlafprobleme, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Müdigkeit am Tag, leichtere Reizbarkeit und Konzentrationsprobleme. Es besteht sogar eine höhere Wahrscheinlichkeit, depressiv zu werden.50 Üben wir also Tätigkeiten zu einem für uns falschen Zeitpunkt aus, kann das zu einer geringeren Leistungsfähigkeit führen.
Gerade bei Schüler:innen ist dieser Leistungsabfall deutlich zu erkennen. So zeigen Studien, dass der Chronotyp Auswirkungen auf die Noten hat. »Eulen-Kinder« erzielten systematisch schlechtere Noten als ihre Schulkamerad:innnen, wenn in den frühen Stunden eine Klassenarbeit geschrieben worden ist.51 Auch im Sport zeigen Studien eindeutig, dass der Chronotyp-Einfluss einerseits auf die Anstrengung und andererseits auf die sportliche Leistung zu bestimmten Uhrzeiten hat. So müssen sich Lerchen weniger bei sportlichen Wettkämpfen am Morgen anstrengen als die anderen Chronotypen, zudem erzielen sie zu dieser Zeit bessere Wettkampfzeiten.52
Damit zeigt sich, dass nicht nur zu wenig Schlaf eine Bedrohung für die Leistungsfähigkeit und Gesundheit darstellt, sondern auch Social Jetlag. Wer entgegen seiner inneren Uhr zu früh oder zu spät einschläft und aufsteht, durchläuft wichtige Regenerationsprozesse nicht oder nicht richtig, was zu einer verminderten Leistungsfähigkeit und weniger Energie am Tag führt. Aber auch wichtige Reinigungs- und Aufräumprozesse von toxischen Proteinen im Gehirn werden nicht vollständig abgeleistet. Das kann zu Verstimmung, Konzentrationsproblemen sowie einer generellen Unausgeglichenheit führen.* »Diese ganzen Funktionen unseres Schlafs können nur stattfinden, wenn wir genügend REM- und Tiefschlafphasen bekommen. Ein zu spätes oder zu frühes Einschlafen und ein zu früh klingelnder Wecker kann das alles verhindern«, erklärt Experte Fabian Krapf. REM steht dabei übrigens für »rapid eye movement« und bezeichnet die Schlafphasen, in denen sich die Augen bewegen. Währenddessen finden unsere emotionale Regulation und Erholung statt.
Auch wenn unser Chronotyp genetisch bestimmt ist, gibt es, wie zahlreiche Studien zeigen, viele Möglichkeiten, um in einem gewissen Rahmen unseren zirkadianen Rhythmus positiv beeinflussen zu können – um so mit mehr Energie in den Tag zu starten, über den Tag das Energielevel zu halten und abends besser einschlafen zu können. Was können wir also tun, wenn sich die äußeren Umstände nicht so flexibel ändern lassen? Weil zum Beispiel deine Kinder um sechs Uhr morgens auf der Matte stehen oder draußen die Müllabfuhr laut mit den Tonnen scheppert.
Drei Tipps möchte ich mit dir teilen:
Erstens: Bevor du dich auf Proteine und Kohlenhydrate stürzt, iss vorher lieber einen Salat oder Gemüse. Zweitens: Wenn du gerne Süßes isst, solltest du das direkt nach der Mahlzeit tun und nicht zwischendurch am Nachmittag. Drittens: Wenn du dich dann noch zehn Minuten nach dem Essen an der frischen Luft bewegst, wird sich nicht nur dein Blutzuckerspiegel bedanken, sondern auch der Teil in deinem Hirn, der dich mit Energie versorgt.*
Natürlich gibt es eine Reihe von Unternehmen, die durch Gleit- oder Vertrauenszeit den Mitarbeitenden bereits flexible Arbeitszeiten anbieten. Aber nur wenige berücksichtigen gezielt den zirkadianen Rhythmus ihrer Mitarbeitenden. Die Klinik Wartenberg in Oberbayern macht es vor: Mitarbeitende haben die Möglichkeit, den Dienstplan nach dem individuellen biologischen Rhythmus anzupassen. Das Unternehmen startete 2019 das einzigartige Pionierprojekt »Chronobiologie«, nachdem im Rahmen einer Befragung der Mitarbeitenden Schlafprobleme und damit verbundene körperliche Auswirkungen wie Müdigkeit und Mattheit bei den Mitarbeitenden erkannt worden waren. In Kooperation mit verschiedenen Partner:innen unter der Leitung von Prof. Dr. habil. Thomas Kantermann (FOM Hochschule Neuss) wurde die Studie »Chronotyp-orientierte Personaleinsatzplanung« (COPEP) durchgeführt. Mithilfe von Bluttests, mittlerweile auch durch Haarproben, wurde der Chronotyp der Mitarbeitenden bestimmt – natürlich kostenfrei und auf rein freiwilliger Basis. Ein Jahr später bereits nutzt die Klinik die Erkenntnisse aus der Studie und bietet seit 2020 als eines der ersten Unternehmen deutschlandweit den teilnehmenden Mitarbeitenden die Möglichkeit, ihre jeweiligen Chronotypen bei der Dienstplanung zu berücksichtigen. Ob Lerche, Eule oder Taube – die Mitarbeitenden haben nun die Möglichkeit, in ihrer effizientesten Zeit zu arbeiten. Dazu hat das Unternehmen sogar die Betriebsvereinbarungen »Arbeitszeit« und »BGM« ergänzt. »Derjenige, der sich testen lässt, hat einen Anspruch, so gut es geht gemäß seinem Ergebnis eingesetzt zu werden«, sagt mir im Telefoninterview Norman Daßler, Klinikcontroller und BGM-Verantwortlicher. Durch den chronobiologischen Arbeitseinsatz klagten von den 120 Studienteilnehmer:innen 42 Prozent weniger über Schlafstörungen, bei 26 Prozent ist sogar die Tagesmüdigkeit weg und 20 Prozent verspüren größeren Enthusiasmus im täglichen Leben. »Seitdem ich in meiner Position bin und meine Zeiten an meinen Chronotyp anpassen kann, brauche ich auch tendenziell keinen Wecker mehr. Ich stehe ohne Wecker auf und komme ausgeruht zur Arbeit und bin leistungsfähig«, sagt Florian Dittrich, Pflegedienstleistung bei der Klinik Wartenberg.56 Während Krankenschwester Janine Heise als Lerche morgens konzentriert und voller Energie arbeitet, startet Stationsleiterin Steffi Hunger als Eule später in den Arbeitstag. »Wenn ich Frühdienst mache, dann merke ich, dass ich mittags abbaue, also meine Konzentration nachlässt. Und andersherum, wenn ich zum Spätdienst komme, baut sich die Konzentration erst auf«, sagt Steffi Hunger.57
Natürlich bleibt es nicht aus, dass Mitarbeitende auch mal gegen den eigenen Chronotyp arbeiten müssen. Aber: »Ein einziger Dienst nach Chronotyp ist besser als gar kein Dienst nach Chronotyp«, sagt mir Norman Daßler. Er sieht es auch als ein Zeichen der Wertschätzung für das Engagement der Mitarbeitenden und die Bereitschaft, den Bedürfnissen der Mitarbeitenden entgegenzukommen und Lösungen zu bieten: »Ein System kann nicht perfektioniert werden. Aber wir können es optimieren«, hält Daßler fest.
Mein Fazit: Oft wünschen wir uns, einfach nur eine Pille zu schlucken, die unseren Körper und unser Gehirn zu Höchstleistungen bringt und Krankheiten vorbeugt. Die gute Nachricht ist, dass wir diese Pille gar nicht brauchen. Weil alles, was unsere Organe und Zellen zu Höchstleistungen bringt, bereits in unseren Genen existiert. Wir haben uns nur in den letzten Jahrzehnten eine Welt geschaffen, die uns nicht im Einklang mit unserem inneren zirkadianen Rhythmus leben lässt. Statt die Arbeit auf unseren Körper abzustimmen, passen wir unseren Körper der Arbeit an. Wenn wir es aber schaffen, unsere Arbeitszeiten und unser persönliches Verhalten vor dem Schlafengehen und nach dem Aufstehen so anzupassen, dass sie optimal zum zirkadianen Rhythmus passen, dann erhalten wir die Power, die wir für einen erfolgreichen Tag brauchen. Statt Energie zu rauben, wird die bestmögliche Energie zur Verfügung gestellt. Natürlich ist mir bewusst, dass das nicht in allen Branchen, in allen Berufen oder für alle Lebensumstände zu 100 Prozent möglich ist. Wenn uns aber der Einfluss unserer inneren Uhr auf die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden bekannt ist, sollte es doch einen Versuch wert sein, die Übereinstimmung der biologischen und sozialen Uhr zu optimieren. Jede minimale Verbesserung ist ein Anfang und würde für alle Beteiligten eine Win-win-Situation bedeuten.
Zum Ende dieses Kapitels möchte ich noch einmal Till Roenneberg aus unserem Gespräch zitieren, in dem er fordert: »Wir brauchen flexible Arbeitszeiten, wir müssen uns unseren biologischen Rhythmen anpassen. Dann würden wir sehen, dass die Gesellschaft nicht zusammenbricht, sondern viel gesünder und netter wird.«
QUICK WINS
Für Mitarbeitende
Für Führungskräfte
Für Unternehmen
Ärger stieg in mir auf, wie Quecksilber in einem Thermometer. Hatte er das eben wirklich zu mir gesagt? Die letzten Tage waren für mich fordernd, überfordernd sogar, wenn ich ehrlich bin. Beruflich, aber auch privat. Ich kam gerade erst aus Berlin zurück von einer Aufnahme zu meinem Podcast und ging vom Bahnhof direkt zu einem Treffen mit einem Kumpel. Das war mein erster Fehler. Ich war einfach nur müde, aber nun saß ich eben doch an dieser Bar auf einem Hocker zwischen ihm und meinem Rollkoffer. Ich erzählte von meiner Woche, dem Stress, den Niederlagen, die ich hinnehmen musste, und davon, wie unglaublich ausgelaugt ich war. Daraufhin schlug mir mein Kumpel auf die Schulter und sagte: »Stell dich nicht so an oder hast du etwa deine Periode?« Ich schwieg. Das war mein zweiter Fehler. Natürlich hätte ich ihm sagen müssen, wie daneben dieser Kommentar gewesen war. Aber ich schwieg.
Männer haben keine Ahnung von der Periode. Mein Kumpel genauso wenig wie ich. Wir mögen theoretisches Wissen haben, bestenfalls, aber wie es sich anfühlt mit den Schmerzen, der Niedergeschlagenheit, dem Unwohlsein, das wissen wir nicht. Manche Männer tun die Periode ab als etwas, das sich leicht ertragen lässt. Aber das Erstaunliche, was mir nach diesem Treffen auffiel, ist: Manche Frauen tun dies offenbar auch. Eines Morgens stand ich an einer Ampel neben zwei Frauen in Business-Outfits, die offenbar auf dem Weg ins Büro waren, und hörte ihre Unterhaltung mit. »Du siehst blass aus, geht es dir nicht gut?«, fragte eine der beiden. »Alles gut!«, antwortete die andere, »ich habe nur meine Tage, aber ich habe schon eine Ibuprofen genommen, dann geht das meistens.« Die andere Frau nickte verständnisvoll. Sie kannte es wohl selbst.
In meinem privaten und kollegialen Umfeld ist es nicht anders. Überall gibt es Frauen, die während ihrer Periode oft ziehende Schmerzen im Rücken und starke Krämpfe im Bauch haben – und sich trotzdem ganz selbstverständlich zur Arbeit quälen. Eine niederländische Umfrage hat herausgefunden, dass 80 Prozent der über 33.000 befragten Frauen zwischen 15 und 45 Jahren trotz Unterleibsschmerzen zur Arbeit, Schule oder Universität gehen.58
Wie kann es sein, dass in einer Gesellschaft, in der immer häufiger über Gesundheit gesprochen wird, es anscheinend die Norm ist, dass Frauen trotz Schmerzen arbeiten gehen? Die Antwort von Lara Owen, einer der führenden Menstruationsforscherinnen aus Australien, lautet im Interview mit der Frankfurter Rundschau: »[…] wir (leben) immer noch in einer Welt, die den männlichen Körper und die männliche Erfahrung bevorzugt. Frauen fühlen sich dazu angehalten, sich an männliche Codes anzupassen und das Weibliche zu unterdrücken, um erfolgreich zu sein.«59 Und Gabrielle Golding, Dozentin an der South Australia’s Adelaide Law School, kommentiert einen Vorfall in New York City aus dem Jahr 2020, bei dem eine Frau ohnmächtig geworden war, weil sie trotz Menstruationsbeschwerden bei der Arbeit ein Video für Social Media drehen musste, mit folgenden Worten: »Frauen scheuen sich oft, ihren Vorgesetzten menstruationsbedingte Symptome mitzuteilen, weil sie fürchten, als schwach oder unfähig angesehen zu werden, ihre Arbeit zu erledigen.«60
Soll die Zukunft der Arbeit wirklich so aussehen, dass Frauen entweder unter Schmerzen arbeiten, die als Folge ihres natürlichen Zyklus hervorgerufen werden – oder Angst haben, über ihre Beschwerden zu sprechen? Was eigentlich allen klar sein dürfte, unterstreichen Forschung und zahlreiche Umfragen noch mal sehr deutlich: Dieser Zustand hat fatale Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit von Frauen, ebenso auf die Zufriedenheit, zwischenmenschliche Beziehungen und auf die Produktivität und Wirtschaftlichkeit von Unternehmen.61 Wenn eine Frau mit Periodenschmerzen zur Arbeit geht, führt dies im Schnitt zu neun Tagen Produktivitätsverlust im Jahr. Das ist in der Europäischen Union ein jährlicher wirtschaftlicher Schaden von mehr als 107 Milliarden Euro.62 Und das nur, weil die Menstruation immer noch ein Tabuthema ist und Frauen zu wenig Unterstützung und Wertschätzung in der Arbeitswelt erfahren.
Gesellschaftliche Trends deuten allerdings darauf hin, dass die Menstruation ihren historisch stigmatisierten Status immer weiter verliert. Dass die sogenannte Menstruationsgerechtigkeit und das zyklische Bewusstsein zunehmend an Aufmerksamkeit gewinnen und gerade junge Frauen immer mehr über das Thema offen sprechen. So wurde 2020 in Deutschland durch zwei erfolgreiche Petitionen mit über 270.000 Stimmen die Mehrwertsteuer für Periodenprodukte von 19 Prozent auf sieben Prozent gesenkt. In Schulen werden zunehmend Tampons ausgegeben und ein Zuwachs an Periodenunterwäsche und eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Thema auf Social-Media-Kanälen ist auch erkennbar.
Während der weibliche Zyklus in der gesellschaftlichen Diskussion um Gleichberechtigung so langsam anzukommen scheint, ist in der Arbeitswelt dagegen bislang nur vereinzelt eine Änderung zu spüren. Das zeigt eine britische Studie, bei der nur sieben Prozent der befragten Arbeitgeber angaben, sich aktiv mit dem Thema Menstruation zu beschäftigen.63 Die Bedürfnisse und Wünsche von Mitarbeiterinnen sehen hingegen anders aus: Knapp 70 Prozent der befragten Frauen wünschen sich größere Flexibilität bei ihren Aufgaben und Arbeitszeiten am Arbeitsplatz.64
Zyklusorientiertes Arbeiten bedeutet aber weitaus mehr, als Rücksicht auf die Menstruation von Frauen zu nehmen. Es bedeutet, die Arbeit mehr an den biologischen Rhythmus anzupassen, um so einerseits das Wohlbefinden von Frauen zu steigern und andererseits die Produktivität in Unternehmen zu erhöhen.
Aber der Reihe nach. Im Gegensatz zu Männern gibt es bei Frauen einen Hormonzyklus, der ihre Leistungsfähigkeit, aber auch ihre Stimmung und ihr Verhalten beeinflusst. Dieser wird maßgeblich durch die Hormone Östradiol, Progesteron und Testosteron beeinflusst und lässt sich in vier Phasen einteilen, in denen einerseits verschiedene Bedürfnisse hervorgerufen werden, die sich, wenn sie ignoriert werden, negativ auf die Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit auswirken. Andererseits werden aber auch so etwas wie Superkräfte freigesetzt, die sich auch im Arbeitskontext ideal nutzen lassen. Es lohnt sich also, einen detaillierten Blick auf die einzelnen Phasen zu werfen, die mir Wirtschaftspsychologin und Zyklus-Expertin Dr. Miriam Stark in vielen intensiven Gesprächen erklärte:
Der Anstieg des Hormons Östradiol sorgt für einen regelrechten Energieschub und fördert dadurch den Entdeckergeist. Frauen können sich in dieser Phase sehr gut in neue Themen reindenken und sind kognitiv in der Lage, Höchstleistung zu bringen. Eine Gefahr kann es allerdings sein, dass die eigenen Grenzen überschritten werden und vor lauter Tatendrang der Kalender viel zu vollgepackt wird.
Ist der Östradiol-Spiegel am höchsten, fühlen Frauen sich besonders attraktiv und unbesiegbar. Beruflich gesehen eignet sich diese Phase hervorragend zum Netzwerken und für Situationen, in denen Diplomatie gefragt ist. Jetzt ist also die perfekte Zeit für schwierige Gespräche. Diese Power kann genauso gut für Vorträge, Meetings oder Sales-Gespräche genutzt werden.
Diese ersten zwei Phasen entsprechen den externen Erwartungen, also dem klassischen Rollenbild in unserer Gesellschaft, das nach Leistungsfähigkeit, sozialer Aktivität und Produktivität verlangt. In diesen Phasen sind Frauen nach außen gekehrt und am Außen interessiert. Die nächsten beiden Phasen sind dagegen für das klassische Arbeitsverständnis eher wenig hilfreich, werden daher von Frauen oft übergangen und von der Gesellschaft auch nicht verstanden.
Nach dem Eisprung beginnt das Östradiol-Level zu sinken und der Körper produziert Progesteron – ein Hormon, das beruhigend wirkt, schneller müde macht und die kognitive Leistungsfähigkeit beeinflusst. Jetzt ist die Zeit für Kreativität und Intuition gekommen, also zum Beispiel für Brainstormings. Gleichzeitig wächst auch das Bedürfnis nach Selbstfürsorge, Innenschau und Rückzug. »Frauen, die jetzt nicht schwanger sind und diese Bedürfnisse ignorieren, begünstigen damit negative Auswirkungen auf Stimmung und insbesondere PMS-Symptome«, sagt Miriam Stark.
Während der Blutung haben Frauen den Drang, sich noch stärker zurückzuziehen, nach innen zu schauen, und wünschen sich mehr Pausen und Regeneration. Im Arbeitskontext bedeutet dies aber nicht, dass Frauen nun nicht mehr arbeitsfähig wären, sondern dass durch den Tiefstand der Hormone sogar verstärkt Weisheit und Klarheit entstehen. Diese Phase ist perfekt dafür geeignet, Altbewährtes kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls loszulassen. Es ist die Zeit, sich auf anstehende Aufgaben zu fokussieren und fundierte Entscheidungen treffen zu können.
So individuell, wie wir als Menschen sind, so individuell können auch diese vier Phasen ausgeprägt sein. Daher können Frauen sich in diesen Stadien so fühlen wie beschrieben, müssen es aber nicht. Expertin Miriam Stark setzt sich dafür ein, dass kein Druck entsteht, irgendwas konkret fühlen zu müssen. »Es gibt Momente, in denen wir Zugriff auf diese Superkräfte haben. Wenn wir aber ein bestimmtes Thema in dieser Zeit haben, kann es auch sein, dass wir keinen Zugriff auf diese Kräfte haben. Dann können diese Themen auf psychologischer Ebene angeschaut werden«, erklärt sie. Grundsätzlich soll das Modell des zyklusorientierten Arbeitens weder ein Versuch eines Optimierungswahns sein, noch soll es Frauen als weniger leistungsfähig darstellen. Es geht auch nicht darum, den eigenen Zyklus mit dem Terminkalender zu synchronisieren. »Vielmehr ist es erst mal wichtig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, um sich selbst besser zu verstehen«, meint Miriam Stark. »Statt gegen den eigenen Körper zu handeln, sollten Frauen mit dem Körper arbeiten.«
Bislang galt in wissenschaftlichen Studien der Zyklus von Frauen sowohl in der Arbeitswelt als auch im Sportbereich als ein Störfaktor, der unbedingt unterdrückt werden sollte. Neue Erkenntnisse und Studien legen aber nahe, dass gerade die Berücksichtigung des Zyklus die Leistungsfähigkeit verbessert. So richten beispielsweise immer mehr Sportlerinnen das Training nach ihrem Zyklus aus und sind dadurch weniger verletzungsanfällig und gleichzeitig leistungsfähiger – unter anderem Leichtathletin Malaika Mihambo und Triathletin Laura Philipp. Wenn der weibliche Zyklus nun also immer öfter in der Gesellschaft zum Thema wird, dann, finde ich, sollte endlich auch in der Arbeitswelt genauer hingeschaut werden. In einigen Ländern nimmt sogar die Politik Einfluss auf den Umgang mit dem weiblichen Zyklus im Arbeitskontext. So ist beispielsweise in Japan, Indonesien, Südkorea und seit 2022 auch in Spanien das Recht auf Menstruationsurlaub gesetzlich verankert. Demnach ist es Frauen in Spanien möglich, bei Menstruationsbeschwerden bis zu drei Urlaubstage pro Monat einzureichen. Was auf den ersten Blick positiv klingen mag, wirft kritische Fragen auf, wenn man genauer hinschaut. Allein der Begriff »Menstruationsurlaub« ist, nun ja, unglücklich gewählt. Mit Urlaub haben die Schmerzen sicher nichts zu tun – circa zehn Prozent der Frauen leiden sogar an Endometriose*. Menstruationsforscherin Lara Owen sieht zudem die Gefahr, dass dieses Recht von Frauen gar nicht erst in Anspruch genommen wird, wenn diese in Konkurrenz mit einem Mann um einen Job buhlen, weil sie nicht schlechter und schwächer dastehen wollen.65 So nehmen beispielsweise viele Frauen in Taiwan ihr Recht auf Menstruationsurlaub nicht in Anspruch, weil die Beschaffung ärztlicher Atteste zu umständlich ist. Außerdem befürchten sie, als weniger nützlich angesehen zu werden als Männer und ihren Status oder sogar ihren Arbeitsplatz zu verlieren.66
In Deutschland kommt ein solches Gesetz aus drei Gründen leider nicht infrage:
Das allein reicht aber noch längst nicht. Finde nicht nur ich, sondern sagen auch Menstruationsforscher:innen und Zyklus-Expert:innen. Die Einschätzung ist eindeutig: Es braucht freiwillige Maßnahmen der Unternehmen, um das Thema Zyklus zu enttabuisieren und Rücksicht auf die Bedürfnisse von Mitarbeiterinnen zu nehmen. Wie genau das aussehen kann, zeigen bereits einige fortschrittliche Unternehmen. Das ehemalige britische Unternehmen CoExist aus Bristol hatte 2016 gemeinsam mit der Menstruationsforscherin Owen eine menstruationsbezogene Arbeitsplatzpolitik ins Leben gerufen, die es den Mitarbeiterinnen ermöglichte, sich während der Periode ohne Angabe von Gründen frei zu nehmen – pro Monat gab es einen bezahlten freien Tag. Alles darüber hinaus wurde als Krankheitstage verrechnet. Die damalige Personalentwicklerin Bex Baxter sagte zum Konzept: »Frauen haben das Gefühl, trotz Schmerzen bei ihrer Periode, nicht nach Hause gehen zu können, weil sie sich selbst nicht als krank einstufen. Und das ist ungerecht. Bei CoExist sind wir verständnisvoll. Wer Schmerzen hat, egal welcher Art, wird ermutigt, nach Hause zu gehen. Wir wollten eine Regelung, die es Frauen erlaubt, sich Zeit für den natürlichen Zyklus ihres Körpers zu nehmen, ohne dass dies als Krankheit abgestempelt wird.«67
Im Joballtag konnten die Kolleginnen darüber hinaus die Arbeit flexibel an ihre körperlichen Bedürfnisse anpassen. Dabei zeigte sich, dass Mitarbeiterinnen im Back-Office und in der Verwaltung ihre Tätigkeiten an ihren körperlichen Bedürfnissen ausrichten konnten, ohne viel Auszeit zu nehmen und ohne die Erwartungen des Arbeitgebers zu enttäuschen. Mitarbeiterinnen dagegen, die das Unternehmen in der Öffentlichkeit vertraten, fiel dies allerdings schwerer, weshalb sie sich mehr Auszeiten und Pausen während ihrer Menstruation wünschten. Für diese Kolleginnen stellte das Unternehmen deshalb wöchentlich einen Art Notfallplan auf, der es ermöglichte, sich zurückzuziehen, während andere Mitarbeiter:innen als Vertretung einsprangen. Nur so konnte sichergestellt werden, dass sich Frauen diese Ruhepausen gönnen.68 Bereits während der Zusammenarbeit konnte Menstruationsforscherin Owen feststellen, dass dieses Konzept nicht nur positive Auswirkungen auf die Frauen hatte, sondern sogar auf die männlichen Kollegen. Denn auch sie fühlten sich dadurch ermächtigt, ihren Arbeitstag bei Bedarf an ihren Körper anzupassen. Mit der Zeit sprachen auch Männer darüber, wie sie sich körperlich und emotional fühlten. »Ich habe in meinem Berufsleben schon an so vielen Organisationstreffen teilgenommen, aber selten waren Teilnehmer:innen so entspannt, freundlich, akzeptierend und frei – selbst dann, wenn die Leute sich über andere Dinge uneinig waren«, erzählt Lara Owen.69 In Deutschland haben bereits Firmen, wie das Nachhaltigkeitsunternehmen everdrop und The Female Company, ein Label, das sich auf Bio-Periodenprodukte konzentriert, sogenannte »Power Days« eingeführt. »Das sind Tage, die Mitarbeiterinnen kommentarlos freinehmen können, wenn sie Schmerzen oder andere Perioden-Beschwerden haben, ohne dass sie dafür einen Krankheitstag einreichen müssen«, erklärt mir Lilly Janoschka, Head of People & Culture bei everdrop. Dabei geht es nicht darum, und das muss ich dieser Stelle sicher hervorheben, männliche Mitarbeiter zu benachteiligen. Das Ziel ist vielmehr, die Achtsamkeit füreinander zu fördern. »Unsere Power Days kosten zwar Geld, aber das wird sich langfristig auszahlen. Die Mitarbeiterinnen haben das Gefühl, gut behandelt zu werden, sind motivierter und resilienter, da offen persönliche Belange thematisiert werden können, ohne sich abgelehnt zu fühlen«, stellt Janoschka nach über drei Jahren fest. Demnach haben die Power Days auch positive Auswirkungen auf die männlichen Mitarbeiter, da grundsätzlich vielmehr Sensibilität und Offenheit gegenüber gesundheitlichen Belangen geschaffen worden ist, gerade im Mental-Health-Bereich. Dadurch ist eine noch stärkere Kultur des Vertrauens und der Rücksicht entstanden.
Diese Beispiele zeigen eindeutig die positiven Auswirkungen solcher menstruationsfreundlichen Rahmenbedingungen: Die Frauen empfehlen ihren Arbeitgeber eher weiter und bleiben länger, da sie sich zutiefst respektiert fühlen. Sie fühlen sich nicht nur als ein paar Arme und Beine, sondern als eine ganze Person. Das ist aber noch nicht alles. Denn auch gesundheitlich können Frauen davon profitieren, wenn sie Rücksicht auf ihre Menstruation nehmen, das konnte Wirtschaftspsychologin Miriam Stark bei ihren zahlreichen Coachings feststellen: »Wenn wir uns bewusst auf unseren Zyklus einlassen und auf unsere Bedürfnisse in den verschiedenen Phasen eingehen, reduzieren sich die Schmerzen und andere Symptome, und gleichzeitig gewinnen wir an Kreativität, Intuition, Produktivität und unglaublich viel Energie im nächsten Monat.« Für Unternehmen geht es also um eine kurzfristige Investition, die sich langfristig auszahlt, da es zu weniger Krankheitstagen, zu einer steigenden Zufriedenheit und zu mehr Produktivität kommt. »Und auf der zwischenmenschlichen Ebene kommt es bei der Arbeit zu weniger Missverständnissen und Konflikten, wenn im Team Verständnis und Transparenz für die jeweilige Zyklusphase herrschen«, sagt Miriam Stark. Für Miriam Stark ist die Möglichkeit, sich aufgrund von Menstruationsbeschwerden freizunehmen, allerdings nur der erste Schritt beim zyklusorientierten Arbeiten.
Wer noch einen Schritt weitergehen möchte, der kann im Arbeitsalltag versuchen, die Aufgaben an die einzelnen Stärken der Zyklusphasen anzupassen, indem beispielsweise schwierigere Gespräche in die zweite Phase und kreative Aufgaben eher in die dritte Phase gelegt werden. Grundsätzlich bietet der Zyklus die Möglichkeit, physische und psychische Symptome in den einzelnen Phasen als Warnsignale zu nehmen, um langfristig resiliente und in sich gestärkte Mitarbeitende zu formen.
Mein Fazit: Es ist meiner Meinung nach längst an der Zeit, dass sich noch mehr Unternehmen mit diesem Thema intensiv beschäftigen. So, wie es die Gesellschaft und auch immer mehr Frauen tun. Jetzt ist die Chance, sich mehr auf weibliche Arbeitskräfte zu fokussieren und dieses Potenzial zu nutzen. Denn eines ist klar: Firmen, die den weiblichen Zyklus ernst nehmen, werden in Zukunft die Arbeitgeber sein, die sich nicht nur die besten weiblichen Arbeitskräfte aussuchen können, sondern auch diejenigen, bei denen die Mitarbeiterinnen gerne bleiben und gut performen können: eine Win-win-win-Situation.
QUICK WINS
Für Mitarbeitende
Für Führungskräfte
Für Unternehmen
* Die in diesem Buch oft zitierten persönlichen Gespräche mit Cawa Younosi fanden zu einem Zeitpunkt statt, als er noch aktiv in seinen Rollen bei SAP tätig war. Nach 14 Jahren im Unternehmen hat er SAP im Oktober 2023 verlassen.
* Als Frau werden in diesem Kapitel Menschen bezeichnet, die mit einer Gebärmutter geboren sind.
* Für mehr Informationen zum Thema Schlaf und Verbesserung der Schlafqualität kann ich das Buch »Why We Sleep« von Schlafexperte Matthew Walker, Penguin, 2018, empfehlen.
* Wer mehr über das Thema Blutzuckerspiegel und Glukose-Hacks wissen möchte, dem sei das Buch »Der Glukose-Trick« von Jessie Inchauspé empfohlen, Heyne Verlag, 2023.
* Gutartige, meist schmerzhafte Wucherungen aus gebärmutterschleimhautartigem Gewebe, das außerhalb der Gebärmutterhöhle meist in benachbarten Organen und Geweben wächst; versprengte Endometriose-Herde wachsen während des Monatszyklus wie die Gebärmutterschleimhaut, damit verbunden sind krampfartige Schmerzen sowie oft chronische Bauch- und Rückenschmerzen.