Wenn du über deine Gesundheit nachdenkst, welche Faktoren spielen dann bei dir eine Rolle? Bestimmt hast du sofort deinen mentalen Zustand im Kopf und ebenso deinen körperlichen. Was aber die wenigsten sofort auf dem Zettel haben, obwohl dieser Aspekt laut Wissenschaft einerseits die wichtigste Zutat für unsere Gesundheit und unser Glück ist und andererseits einen erheblichen Einfluss auf unsere Arbeitsproduktivität und -zufriedenheit hat, ist die soziale Gesundheit. Während es bei der mentalen Gesundheit um unseren Geist geht und bei der physischen Gesundheit um unseren Körper, nimmt die soziale Gesundheit auf das Wohlbefinden Bezug, das sich aus sozialen Beziehungen speist: also die Interaktion mit Gemeinschaften aus Familie und Freund:innen, aber auch mit sozialen Netzwerken und Kolleg:innen.
Daher untersuche ich in diesem Kapitel diesen bisher stark vernachlässigten Faktor, insbesondere im Hinblick auf unseren Arbeitsalltag: Warum sollten zwischenmenschliche Beziehungen auch bei der Arbeit gepflegt und gefördert werden? Wieso sind beste Freund:innen im Job so wichtig? Zum Abschluss des Kapitels erfährst du dann, welche Erfolgsfaktoren es braucht, damit Mitarbeitende in Teams erfolgreich zusammenarbeiten und wie wir in Unternehmen ein Kooperations- statt ein Wettbewerbsumfeld schaffen, um beispielsweise narzisstische Verhaltensweisen im Arbeitsalltag zu vermeiden.
Ich hatte die gesamte Nacht kaum geschlafen und sah um die Augen aus wie ein Panda. Was mit mir los sei, wollte Benni wissen. Wir kannten uns jetzt schon einige Monate und zu diesem Zeitpunkt war er für mich schon nicht mehr lediglich ein Kollege, der mir von Anfang an sympathisch war, sondern bereits ein Freund. Wir gingen jeden Morgen ein Stück zur Arbeit gemeinsam und aßen jeden Tag zusammen zu Mittag. Die ein oder andere feuchtfröhliche Verabredung am Abend hatten wir auch schon hinter uns. Es war so gegen zehn Uhr und wir tranken einen Kaffee im Gemeinschaftsraum. Ich erzählte ihm von meinem Wochenende, davon, dass ich die komplette Zeit an einer PowerPoint-Präsentation für die Chefin gesessen hatte, die ich am nächsten Morgen zu halten hatte und die aktuell ungefähr so spannend anzusehen war wie eine Raufasertapete. Benni hatte seinen Kaffee noch nicht ausgetrunken, da saß er auch schon vor meinem Rechner und schüttelte den Kopf. »Die ist wirklich – mies«, sagte er und zwinkerte mir zu. Ich nickte und hätte am liebsten meinen Kopf auf die Schreibtischplatte gedonnert. »Aber ich hätte da so ein paar Ideen«, fügte er an. Am Abend stand er plötzlich mit zwei Pizzakartons vor meiner Bürotür und kündigte eine Spätschicht an. Wir waren längst die Einzigen im Büro und Benni half mir dabei, die Präsentation nicht nur zu verbessern, sondern in etwas Peter-Jackson-Ähnliches zu verwandeln. Er wusste genau, worauf unsere Chefin Wert legte, und schaffte es sogar, mich so sehr zu motivieren, dass auch ich gute Ideen beisteuern konnte und plötzlich keine Angst mehr davor hatte, am nächsten Morgen zu performen. Genau das tat ich auch. Ich hielt die Präsentation meines Lebens.
Was macht ein glückliches und erfülltes Leben aus? Die Antwort darauf fanden Forscher:innen der Harvard Universität, die 724 Männer aus Boston mit weiblichen und männlichen Nachkommen über drei Generationen seit 1938 untersuchen – mittlerweile also über 85 Jahre und 2.000 Menschen. Grundlage sind Interviews, Fragebögen und medizinische Daten der jeweiligen Ärtz:innen. Das Ergebnis: Für unser Glück sind funktionierende Liebesbeziehungen, ein gutes Verhältnis zur Familie, stabile Freundschaften sowie gute Beziehungen im beruflichen Kontext verantwortlich.1
Karriere, Reichtum, Macht, Status, gesunde Ernährung und Sport machen übrigens nur bedingt glücklich. Primär ist es die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen, die unsere Gesundheit, Lebenserwartung und langfristige Zufriedenheit am meisten beeinflussen: »Persönliche Beziehungen schaffen mentale und emotionale Stimulation, die automatisch die Stimmung hebt. Während Isolation die Stimmung eher verdirbt«, erklärt der derzeitige Studienleiter Dr. Robert Waldinger gegenüber dem Harvard Health Blog.2
Es ist also naheliegend, dass auch im Arbeitskontext gute zwischenmenschliche Beziehungen, also das Gefühl der Zugehörigkeit und Verbundenheit, ein entscheidender positiver Faktor sind: Mit einem starken Zugehörigkeitsgefühl sind Mitarbeitende um 22 Prozent resilienter, 31 Prozent engagierter und 37 Prozent zufriedener. Zudem erleben sie um 33 Prozent mehr Sinn und Bedeutung, empfinden um 36 Prozent mehr Lebensfreude und erreichen ihre Ziele um 34 Prozent besser. Mitarbeitende mit einem niedrigen Bindungsniveau sind um 74 Prozent eher bereit, zu kündigen. Nicht verwunderlich, dass jeder zweite europäische Mitarbeitende sich bereit erklären würde, auf Gehalt zu verzichten, um mehr Verbundenheit zu spüren: In Deutschland wären die Arbeitnehmer:innen bereit, zehn Prozent ihres Einkommens für mehr Verbundenheit und Zugehörigkeit einzutauschen.3
Jetzt sollten wir also meinen, dass soziale Gesundheit eine große Rolle in unserem Joballtag spielt und wir alles dafür tun, um dort zwischenmenschliche Beziehungen zu fördern und pflegen. Aber die Realität sieht leider so aus, dass viele Berufstätige immer noch sehr skeptisch gegenüber emotionalen Bindungen zu Kolleg:innen sind und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen wider besseres Wissen vernachlässigen. »Das liegt daran, weil wir materialistische Ziele an erster Stelle setzen, wie Status, Unabhängigkeit, Sicherheit, Reichtum, Luxus, noch ein Auto und vielleicht noch ein größeres Haus«, erklärt mir der Philosoph und Autor Dr. Jörg Bernardy. »Und gleichzeitig wissen wir alle insgeheim, dass uns das letztendlich nicht erfüllt. Dass wir die schönsten und erfüllendsten Momente erleben, wenn wir Menschen um uns haben, bei denen wir nach drei Tagen so inspiriert sind und uns so wohlfühlen, wie wir es selbst in sechs Wochen mit oberflächlichen Kontakten auf einer Yacht niemals schaffen würden.«
Obwohl wir immer stärker durch Social-Media-Netzwerke und technologische Tools vernetzt sind, fühlen wir uns immer einsamer. Für mich sind die meisten Instagram-Freund:innen wie Kugelschreiber: Ich habe Hunderte, aber nur die wenigsten schreiben. Weltweit haben 330 Millionen Menschen über zwei Wochen hinweg keine einzige soziale Interaktion mit einer anderen Person.4 Fast die Hälfte fühlt sich in Amerika einsam. In Deutschland ist es jede:r Vierte.5 Die zunehmende Entwicklung der Einsamkeit erkannte Großbritannien bereits 2018 und rief als weltweit erstes Land das Ministerium für Einsamkeit ins Leben. Drei Jahre später folgte Japan mit einem Minister zur Bekämpfung der Einsamkeit.
Um an dieser Stelle Missverständnisse zu vermeiden: Sich einsam zu fühlen ist nicht dasselbe, wie allein zu sein. Denn wir können uns auch dann einsam fühlen, wenn sich zahlreiche Menschen mit im Raum befinden – weil wir uns nicht gesehen, wertgeschätzt, verstanden oder zugehörig fühlen. Dieses subjektive Gefühl der Einsamkeit hat für die Betroffenen laut den Forschungsergebnissen der US-amerikanischen Psychologieprofessorin Dr. Julianne Holt-Lunstad denselben gesundheitlichen Effekt, als würden sie pro Tag 15 Zigaretten rauchen. Es erhöht unser Risiko für Herzinfarkt, Blutdruck, Fettleibigkeit, Depression, Angstzustände, kognitive Beeinträchtigungen, Demenz und lässt sogar unser Sterberisiko um knapp 30 Prozent steigen.6
Über die Gründe für das zunehmende Gefühl der Einsamkeit lässt sich ausgiebig diskutieren. Im Arbeitskontext ist die abnehmende Verbundenheit zu Kolleg:innen und zum Unternehmen jedenfalls nicht mehr zu leugnen, sodass die Coachingplattform »BetterUp« in ihrem groß angelegten Bericht »Die europäische Krise der sozialen Verbundenheit« auf Basis verschiedener Studien sogar von einer Bindungskrise spricht. Demnach empfinden durchschnittlich 51 Prozent der Mitarbeitenden aus Großbritannien, Deutschland und Frankreich kein Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer Arbeit. 44 Prozent fühlen sich nicht mit den Kolleg:innen verbunden, und 27 Prozent haben noch nicht einmal einen einzigen Freund bei der Arbeit – obwohl 96 Prozent der Manager:innen angeben, dass ihnen die Bedeutung von zwischenmenschlichen Beziehungen bewusst sei.7
Die zunehmende Einsamkeit ist also auch im Arbeitskontext angekommen. Immer wieder höre ich in Gesprächen mit Führungskräften und anderen Mitarbeiter:innen meiner Kund:innen, dass das Pflegen zwischenmenschlicher Beziehungen im Job nur von der Arbeit ablenke, die Produktivität senke und es erschwere, kritisches Feedback zu geben. Also wird lieber die To-do-Liste abgearbeitet, von einem Meeting zum nächsten gerannt und die Pausen mit dem Smartphone verbracht, anstatt einfach mal rüberzugehen zur Kollegin, von der man weiß, dass sie auch Tennis spielt, oder dem Kollegen, dessen Kind in derselben Kita betreut wird wie das eigene.
So bleiben wir alle Einzelkämpfer:innen und erleben womöglich Situationen, wie die Teilnehmer:innen einer persönlichen Befragung zum Thema Arbeitsbedingungen des Beratungsunternehmens Gallup. Auf die Frage, ob sie gestern gelächelt habe, antwortete eine Arbeitnehmerin in Vietnam erst mit einem leisen Schluchzen, dann mit einem Weinkrampf und schließlich mit den Worten: »Niemand fragt mich, ob ich glücklich oder gesund bin!«
Ein anderer Gallup-Mitarbeiter erlebte eine ähnlich traurige Situation mit einer Führungskraft aus Kanada, die er nach ihrem Alter fragte. Daraufhin musste der Mann bitter lachen und sagte: »Heute ist mein Geburtstag, und Sie sind die einzige Person, mit der ich bisher gesprochen habe.«8
Diese Erlebnisse machte auch Personal-Experte Jörg Staff persönlich bei einer weltweiten Führungskräftetagung mit rund 400 Top-Manager:innen: »Es wurde die Frage gestellt: Wie viel Zeit habt ihr eigentlich wirklich in den letzten sechs Monaten mit euren Mitarbeitenden direkt verbracht? Schweigen im Saal. Hier siehst du wunderbar, dass alle in ihren Rollen das Beste geben, aber eigentlich nicht miteinander sprechen.«
Statt menschlicher Werte, wie Vertrauen, Ehrlichkeit, Wertschätzung, Empathie, Kooperation und Respekt, finden wir im Arbeitsleben eher Egoismus, Gier, Geiz, Rücksichtslosigkeit und Neid. Laut dem amerikanischen Philosophen und Autoren Simon Sinek sind die Gründe dafür darin zu finden, dass viele Unternehmen noch an den Wirtschaftsmodellen und -theorien aus den 1980er- und 1990er-Jahren festhalten, die maßgeblich durch Konkurrenz, die Verfolgung des Eigeninteresses und Maximierung des Shareholder Values gekennzeichnet sind9: »Liebe, Mitgefühl und Zugehörigkeit – das, was für uns als Menschen so wichtig und nachweislich auch gesund ist, haben wir acht bis zehn Stunden aus unserem Arbeitsalltag ins Privatleben verbannt«, sagt mir die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Tania Singer.
Ohne Frage, in den letzten Jahrzehnten haben wir mit diesen Wirtschaftsmodellen und -theorien großen Wohlstand geschaffen, für den wir der älteren Generation sehr dankbar sein dürfen. Gleichzeitig wurde damit aber auch ein System geschaffen, in dem wir das Suchtpotenzial entwickelt haben, über unsere Grenzen zu gehen, um mit anderen mitzuhalten. Wir wollen um jeden Preis immer besser sein als andere und unseren Status sowie unsere Machtposition verteidigen. »Dadurch haben wir eine Höher-Schneller-Weiter-Mentalität entwickelt, die dazu führt, dass wir ständig in der Angst leben, nicht gut genug zu sein oder nicht genug abzukriegen«, sagt mir Prof. Dr. Tania Singer. Unser Körper ist permanent in Alarmbereitschaft, die Dauerangst mindert unsere Leistungskraft und ruiniert unsere Gesundheit. Eine weltweite Umfrage zu Mental Health von Qualtrics, SAP und Mind Share Partners hat herausgefunden, dass sich seit 2020 bei 42 Prozent der Befragten die psychische Gesundheit verschlechtert hat, 67 Prozent fühlen sich gestresster, 57 Prozent verspüren mehr Angst, 53 Prozent empfinden Traurigkeit, 28 Prozent haben Probleme mit ihrer Konzentrationsfähigkeit und 20 Prozent brauchen mehr Zeit, um Aufgaben zu erledigen.10 Fehlende soziale Motive verschlechtern also nicht nur unsere Leistungsfähigkeit und unsere Gesundheit, sondern sorgen außerdem dafür, dass Menschen sich emotional immer weniger untereinander und mit Unternehmen verbunden fühlen. Wenn wir uns dagegen verbunden und zugehörig fühlen und unseren Fokus mehr auf die Zusammenarbeit legen, sind wir nicht nur glücklicher und gesünder, sondern auch leistungsfähiger, resilienter, innovativer, kreativer und erleben unsere Arbeit als fast doppelt so wertvoll.11
Kurz zusammengefasst: Mitarbeitende performen besser und Unternehmen profitieren davon. Das zeigt die globale Befragung der Managementplattform Asana mit knapp 10.000 Personen. 55 Prozent der Mitarbeitenden in Unternehmen, die ihren Fokus auf die Zusammenarbeit legen, berichten in dieser Befragung sogar von einem Umsatzwachstum in den letzten drei Jahren: fast doppelt so viel wie in weniger kollaborativ ausgerichteten Unternehmen.12
»Viel zu viele Arbeitgeber überlassen gute Beziehungen aber dem Zufall. Das ist ein Fehler. Wenn wir uns die Daten darüber ansehen, warum Menschen Jahr für Jahr bei einem Arbeitgeber bleiben, dann ist der beste Indikator oft nicht die Höhe des Gehaltsschecks oder wie gut jemand mit seinem Vorgesetzten auskommt – es ist, wie verbunden sich Menschen in ihrem Team fühlen«, sagt der preisgekrönte Psychologe Ron Friedman.13
Und das ist auch keine Überraschung, wenn man sich mit der Selbstbestimmungstheorie der Motivation auseinandersetzt. Denn nach den Psychologen Richard M. Ryan und Edward L. Deci hat jeder Mensch grundsätzlich drei psychologische Grundbedürfnisse:
Hierbei handelt es sich um intrinsische Motivationsbedürfnisse, die maßgeblich die Motivation von Menschen für bestimmte Verhaltenshandlungen beeinflussen und bei Befriedigung das psychische Wohlbefinden steigern und damit schlussendlich auch die Motivation, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit. Die soziale Gesundheit hat also einen enormen Einfluss auf uns, weil zwischenmenschliche Beziehungen das Bedürfnis nach Verbundenheit befriedigen, das wir alle in uns tragen: den Wunsch danach, uns zugehörig zu fühlen, respektiert und geschätzt zu werden und einen Platz in der Gesellschaft zu finden.
Es wird also endlich Zeit, loszulegen, in Kontakt zu treten: an der Kaffeemaschine, im Fahrstuhl oder wo auch immer wir uns über den Weg laufen und die Möglichkeit haben, uns besser kennenzulernen. Dabei sollten wir uns nicht nur zwei oder drei Personen heraussuchen, sondern direkt fünf. Denn um uns verbunden zu fühlen, brauchen wir eine Handvoll Kolleg:innen – und sogar mehr als zehn, um uns stark zugehörig zu fühlen.15 Klar, nicht mit jeder wollen und können wir eine tiefgehende Beziehung oder Freundschaft eingehen. Manche Kolleg:innen behandeln wir vielleicht eher wie Bekannte, mit denen wir zwar unsere Gefühle in bestimmten Situationen teilen, dabei aber nicht allzu sehr in die Tiefe gehen. Aber bereits solche Beziehungsformen helfen uns, da sie sowohl instrumentelle als auch emotionale Unterstützung bieten und auch bei der Bewältigung von Work-Life- und Identitätsfragen helfen können.
Vielleicht können wir uns zukünftig darauf einigen, im ersten Schritt erst einmal respektvoll und wertschätzend miteinander umzugehen. Es aber dabei zu belassen, wäre aus wissenschaftlicher Sicht für Mitarbeitende und Unternehmen ein Nachteil. Denn »Freundschaft ist der am meisten übersehene Faktor, wenn es darum geht, einen außergewöhnlichen Arbeitsplatz zu schaffen«, sagt Ron Friedman.16
Wer echte Freund:innen am Arbeitsplatz findet, der profitiert gleich doppelt – privat und am Arbeitsplatz. Das zeigt eine Umfrage mit Teilnehmer:innen aus über 120 Unternehmen in Großbritannien: 57 Prozent der befragten Personen geben an, dass sich ihr Berufsalltag durch eine beste Freundin verbessert. Darüber hinaus sind 32 Prozent produktiver und 22 Prozent können kreativer arbeiten.17
Eine wissenschaftliche Erklärung dafür kann der Professor für Psychologie Dr. James Coan von der Universität von Virginia liefern. Der machte im Rahmen seiner Studie nämlich Folgendes: Coan schickte seine Probanden in einen Gehirnscanner und setzte sie unregelmäßigen kleineren Elektroschocks aus, um eine Gefahr bzw. eine Bedrohung für das Gehirn zu simulieren. Dabei gab es drei verschiedene Szenarien: Die Probanden hielten in dieser Zeit entweder die Hand eines vertrauten Menschen, einer fremden Person oder gar keine Hand. Das Überraschende und Spannende an dem Ergebnis war, dass die Gehirnaktivität der Versuchspersonen ohne Beistand am größten war. Durch den Beistand einer fremden Person verringerte sich die Gehirnaktivität dagegen ein wenig und in Gesellschaft eines vertrauten Menschen kam es sogar zu einer massiven Abnahme der Gehirnaktivität. Diese wurde insbesondere in der Region des präfrontalen Cortex gemessen, der einen großen Einfluss auf unsere innere Emotionsregulierung hat.18
Ist also eine Person wütend oder ängstlich, muss das Gehirn bei der Anwesenheit einer vertrauten Person weniger Energie aufwenden, um sich emotional zu regulieren und wieder zu beruhigen. Oder anders formuliert: Das Gehirn muss ohne eine vertraute Person in der Nähe intensiver arbeiten, um mit der herausfordernden Situation fertigzuwerden. Dabei hat eine vertraute Person im direkten Umfeld aber nicht nur Auswirkungen auf die positivere Emotionsregulierung bei Gefahren und Bedrohungen, sondern auch auf die Produktion von Stresshormonen. Denn die Gehirnregion Hypothalamus, die unter anderem für die Ausschüttung von Stresshormonen in den Blutkreislauf verantwortlich ist, wird nicht aktiviert beziehungsweise gehemmt. So wird einerseits insgesamt die mögliche Gefahr oder Bedrohung als weniger stress- und schmerzvoll wahrgenommen und bewertet, andererseits wird das Immunsystem durch die wenigen Stresshormone gestärkt: »Vertraute Personen scheinen unserem Gehirn den Eindruck zu vermitteln, dass wir uns weniger Sorgen um die Umwelt machen müssen und weniger für unseren Körper zu tun ist. Und das hilft uns, Energie zu sparen«, erklärt Coan.19
Aber auch schon im Vorfeld einer bevorstehende Herausforderung haben Freund:innen einen positiven Einfluss. So zeigt die Studie von Simone Schnall, einer Professorin für Sozialpsychologie an der Universität von Cambridge, Folgendes: Menschen, die vor einem Berg standen und dessen Neigung einschätzen mussten, empfanden den Berg als weniger steil, wenn eine vertraute Person bei ihnen war. Waren sie dagegen allein oder in Gegenwart einer fremden Person, wurde das Besteigen des Berges als anspruchsvoller eingeschätzt.20 Ein physisches Hindernis wird also durch die Anwesenheit von Freund:innen als eine kleinere Herausforderung wahrgenommen.
Die Ergebnisse seiner Forschung fasste Coan übrigens gemeinsam mit Lane Beckes, Professor an der Bradley Universität, unter dem Titel »The Social Baseline« zusammen. Tenor: Unser Gehirn ist grundsätzlich auf Freundschaften angewiesen und es ist für Menschen energetisch weniger anstrengend, Emotionen zu regulieren und in der Folge zu handeln, wenn vertraute Personen anwesend sind.21
Für unseren beruflichen Kontext lassen sich diese Erkenntnisse vereinfacht so zusammenfassen:
Aber nicht nur die Mitarbeitenden profitieren davon, sondern auch die Unternehmen. Denn Freundschaften am Arbeitsplatz machen den Arbeitsort zu einem sicheren Ort, besonders in der Fertigung. In Produktionsstätten, in denen Mitarbeitende viele Freundschaften pflegen, gibt es 36 Prozent weniger Arbeitsunfälle, weil Freund:innen mehr und besser aufeinander aufpassen.22
Auch die Beziehung zum Kunden intensiviert sich. So ist besonders im stationären Handel zu erkennen, dass Kund:innen häufiger in eine Filiale wiederkommen, mehr einkaufen und dort länger verweilen, wenn dort Verkäufer:innen arbeiten, die untereinander ein freundschaftliches Verhältnis pflegen. Positiver Nebeneffekt: Wo Freund:innen miteinander arbeiten, wird deutlich weniger geklaut.23
Gerade durch die Pandemie haben Freundschaften eine noch größere Bedeutung bekommen. So zeigt Gallup, dass die Wahrscheinlichkeit, den Arbeitsplatz und das Unternehmen weiterzuempfehlen, steigt, wenn Mitarbeitende Freund:innen auf der Arbeit haben. Gleichzeitig sinkt die Wahrscheinlichkeit, kündigen zu wollen.24 Zudem verzeichnen Unternehmen zwölf Prozent mehr Gewinn, wenn sechs von zehn Mitarbeitenden einen besten Freund am Arbeitsplatz haben.25
Der Mythos, dass Freundschaften am Arbeitsplatz dazu führen, dass mehr gequatscht und weniger gearbeitet wird, kann an dieser Stelle also entkräftet werden. Das Gegenteil ist der Fall: Menschen mit Job-Freund:innen sind bis zu sieben Mal motivierter und produktiver.26 In einigen Unternehmen, insbesondere in den USA, gehen Mitarbeitende sogar so weit, ihre engste Bezugsperson als »Working Husbands« und »Working Wifes« zu bezeichnen.
Bei diesen eheähnlichen Beziehungen handelt es sich um platonische Beziehungen, also ohne körperlichen Kontakt, die jedoch durch eine enge emotionale Bindung, ein hohes Maß an Offenheit und Unterstützung sowie gegenseitiges Vertrauen, Ehrlichkeit, Loyalität und Respekt gekennzeichnet ist. Hier geht es nicht um eine hierarchische Ordnung, aufgebaut nach traditioneller Rollenverteilung, sondern um eine gleichgestellte Beziehung auf Augenhöhe ohne Machtgefälle, die natürlich auch gleichgeschlechtlich sein kann.
Eine solche Beziehung führt auch mein Kumpel Fabian mit seiner Arbeitskollegin Sabine. Wenn Sabine das Bedürfnis hat zu lachen, geht sie zu Fabian. Und wenn Fabian einen Scheißtag hat, ist Sabine für ihn da. Sie erleben einander fröhlich, wütend, gestresst und aufgeregt, jubelnd und enttäuscht. Sie sind Verbündete. In guten wie in schlechten Zeiten. Keine Freundschaft plus, sondern eine Ehe minus. Man schläft nicht im selben Bett, hat keinen Sex, sondern teilt sich einen Arbeitsplatz. Millionen Menschen weltweit führen eine solche Büroehe, in Österreich z. B. jede siebte Person laut einer Xing-Umfrage.27 Dawn O. Braithwaite, Professorin für Kommunikation an der University of Nebraska-Lincoln, bringt es in ihren Untersuchungen auf den Punkt: »Ein Arbeits-Ehepartner ist ein seltenes Juwel, das dazu beitragen kann, einen schwierigen Arbeitsplatz erträglicher und eine positive Arbeitsumgebung außergewöhnlich zu machen.«28
Ich bin der Meinung, egal, wie man dieses Beziehungskonstrukt nun nennt, ob es einfach nur die beste Freundin ist, der Lieblingsmensch auf der Arbeit, der Working Husband oder sogar Bruder oder Schwester, am Ende ist es nur wichtig, dass wir auf der Arbeit eine vertraute Bezugsperson haben. Denn diese Person versteht uns, was den beruflichen Kontext angeht, wahrscheinlich besser als der Partner zu Hause. Der Arbeitsehepartner erfüllt eine Rolle, die die Ehepartnerin nicht spielen kann, weil sie die Organisationskultur und die Beziehungen nicht in der gleichen Weise versteht wie der Arbeitsehepartner. Und wenn wir begriffen haben, welchen Einfluss soziale Beziehungen haben, dann sollten wir es endlich zulassen, bei der Arbeit auch mal über private Probleme oder berufliche Konflikte sprechen zu können. Schließlich nehmen wir oftmals die Arbeit mit nach Hause und belasten damit die Familie. So können wir uns auf der Arbeit noch mehr stärken, noch besser mit Sorgen umgehen und uns auch vielleicht eine Art psychologischen Raum zur Verfügung stellen, der nachweislich die Erfolgskomponente dafür ist, warum Teams erfolgreich miteinander zusammenarbeiten.* Das findet auch Josée Rose, Journalistin von Business Insider: »Sie sind meine Rettung, wenn ich gestresst bin, wenn ich eine verrückte Idee habe, von der ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll, oder wenn ich während meines Mittagsspaziergangs schreien muss.«29 Wer also versucht, ein gewisses Maß an Distanz zu Kolleg:innen aufrechtzuerhalten, kämpft nicht nur gegen eigene natürliche Triebe, sondern verhindert zahlreiche positive Folgen für sich selbst, für Kolleg:innen und Arbeitgeber.
Es ist aber auch wichtig, bei »Job-Buddys« nicht nur die zahlreichen Vorteile im Blick zu haben, sondern auch auf den einen oder anderen Stolperstein zu achten. Zum Beispiel, wenn es einer von beiden in stressigen Zeiten nicht gut geht, und die andere Probleme damit bekommt, die Bedürfnisse der Freundin mit denen des Unternehmens unter einen Hut zu bekommen. Es könnten schnell Konflikte und Erschöpfung entstehen, wenn keine klare und beiderseitig funktionierende Erwartungshaltung definiert wurde. Hier sollten beide in einem regelmäßigen Austausch stehen und sich gegenseitig immer wieder abholen – vor allem dann, wenn eine die Vorgesetzte der anderen ist.
Ähnlich wie bei der körperlichen und mentalen Gesundheit kommt es auch bei der sozialen Gesundheit darauf an, dranzubleiben und Routinen regelmäßig zu wiederholen und damit zu trainieren. Wer nur einmal meditiert oder ein Workout macht, wird kaum Fortschritte erzielen. »Es wäre naiv, zu denken, dass, wenn man erst einmal eine Beziehung hat, man nichts mehr investieren muss«, sagt mir Lars Plenke, Professor für biologische Persönlichkeitspsychologie an der Universität Göttingen.
Für die Förderung einer guten, tiefgehenden zwischenmenschlichen Beziehung gibt es viele Möglichkeiten, die in diesem Buch an verschiedenen Stellen vorgestellt werden. Eine konkrete Methode, die du direkt bei deinen Kolleg:innen und Mitarbeitenden anwenden kannst, ist das Active-Constructive-Responding-Modell (ACR) nach Psychologieprofessorin Shelly Gable von der Universität von Kalifornien. Dies ist eine Reaktionsform positiver Kommunikation und wird genau dann angewendet, wenn dein Gesprächspartner von Erfolgen oder schönen Momenten erzählt.
Dieses Modell unterscheidet zwei Reaktionsdimensionen: die Beteiligung des Zuhörers (aktiv oder passiv) und die Reaktionsverstärkung der Sprecherin (konstruktiv oder destruktiv). Nehmen wir nun einmal an, jemand erzählt dir von seiner Beförderung, dann ergeben sich aus dem Modell insgesamt vier Möglichkeiten, wie du darauf reagieren kannst. Zum Beispiel diese:
Es wird schnell klar, dass du am besten nur die aktiv-konstruktive Reaktion wählen solltest. Studien belegen, dass sie zu einem erhöhten Zugehörigkeitsgefühl, Wohlbefinden und höherer Lebenszufriedenheit führt – und zwar für beide Seiten!30 Eine Win-win-Situation. Nach dem Motto: Die gute Nachricht ist: die gute Nachricht!
Das Softwareunternehmen SAP bietet einen bunten Blumenstrauß an kreativen und innovativen Aktionen, um seine Mitarbeitenden einzuladen, sich zu begegnen und auszutauschen. Eine komplette Aufzählung würde diesen Rahmen sprengen, deswegen möchte ich hier nur ein paar Highlights nennen: So gibt es zum Beispiel die Initiative »Lunch-Beat« im Headquarter in Walldorf, bei der die Mitarbeitenden einmal im Monat für eine Stunde zur Mittagspause die Gelegenheit haben, gemeinsam zu tanzen. Der ehemalige Personalchef Cawa Younosi, selbst aktiver Teilnehmer, sagt mir über die Initiative: »Tanzen fördert nicht nur unseren Stressabbau und macht den Kopf frei, sondern hat auch eine soziale Funktion. Tanzen verbindet, egal aus welchen Abteilungen wir kommen, wie alt wir sind oder welchen kulturellen Hintergrund wir haben.« Ob das eine direkte Auswirkung auf die Produktivität hat, kann Younosi zwar nicht belegen. Fest steht aber, so sagt er, dass es zu 100 Prozent auf die Loyalität und das Zusammengehörigkeitsgefühl einzahlt und die Motivation und das Engagement der Mitarbeitenden steigen.
Daneben sind auch die sogenannten »Blind-Lunches« sehr beliebt, bei denen Mitarbeitende per Zufall zusammengewürfelt werden und die Möglichkeit haben, gemeinsam essen zu gehen. So etwas Ähnliches macht auch der Touristik-Konzern TUI, der in der Kantine spezielle »Community-Tables« anbietet, die Mitarbeitende ohne Lunch-Verabredung zu einem gemeinsamen Essen und Austausch einladen. Dadurch werden Räume und Situationen geschaffen, um bewusst in den Austausch zu kommen, wenn Mitarbeitende daran interessiert sind.
Das Thema Essen spielt auch in Schweden eine entscheidende Rolle, um Beziehungen zu stärken. Beim traditionellen Fika (dt. Kaffee) handelt es sich um ein traditionsreiches soziales Ritual, das Menschen zwanglos zusammenkommen lässt, um eine gemeinschaftliche Auszeit abseits des Jobs zu nehmen. Es geht um den aktiven Austausch und um die Pflege von Beziehungen und Freundschaften. Es geht darum, sich informell mit anderen Menschen zu treffen, um sie kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. »Für Deutsche wirkt es erst einmal unproduktiv, dass man bei der Arbeit so oft zusammen Kaffee trinkt. Aber dabei werden viele wichtige Arbeitsthemen besprochen, Missverständnisse ausgeräumt, Informationen ausgetauscht«, sagt Ninni Löwgren Tischer von der Deutsch-Schwedischen Handelskammer.31 Diese »Kaffee-Pause« wird sogar vertraglich in einigen schwedischen Unternehmen zugesichert und ist Teil einer bezahlten Arbeitszeit: 20 Minuten am Vormittag. 20 Minuten am Nachmittag.
Vielleicht brauchen wir auch in Deutschland eine Initiative, die dazu einlädt, bewusst und aktiv eine kurze gemeinsam Pause zu machen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.
Auch beim Versicherungskonzern AXA geht das Miteinander durch den Magen. So können sich Mitarbeitende für ihren Jour fixe am Nachmittag eine Team-Pizza im internen Bistro bestellen, dessen extra dafür konstruierte Räumlichkeiten dazu einladen, ein Brainstorming beim Essen durchzuführen. Für eine gänzlich andere Atmosphäre sorgen Outdoor-Meetings in der angrenzenden Grünanlage, für die sich die Mitarbeiter:innen einen Picknick-Korb samt Decke zusammenstellen lassen können. In dieser Anlage finden außerdem regelmäßig Walk & Talk-Runden statt. Personalvorständin Sirka Laudon hat dabei gute Erfahrungen gemacht und ist ein großer Fan dieser Runden: »Manchmal spreche ich bei einem 40-minütigen Walk & Talk-Termin mit meinem Gegenüber erst einmal 20 Minuten über nicht arbeitsrelevante Themen und stelle persönliche Fragen, um ein tieferes Verständnis füreinander zu entwickeln. In den letzten 20 Minuten sprechen wir dann über konkrete arbeitsrelevante Themen. Ehrlich gesagt erreiche in diesen zwanzig Minuten dann viel mehr, als wenn ich in einem Konferenzraum über Excel-Tabellen gebeugt den Termin durchgeführt hätte.«
Eine andere Möglichkeit zur Förderung von Beziehungen im Arbeitskontext sind freiwillige »Helfer-Tage«. So z. B. bei der Volkswagen AG, die bereits zum zweiten Mal einen sogenannten »Freiwilligentag« durchgeführt hat: Bundesweit unterstützen zahlreiche Mitarbeitende an verschiedenen Standorten ehrenamtliche Organisationen, wie die Tafel oder die Obdachenlosenhilfe, um Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt zu übernehmen. »Es ist immer wieder schön zu sehen, wie unser Volkswagen Team gemeinsam etwas Gutes tut. Das verbindet«, sagt Gunnar Kilian, Arbeitsdirektor beim Volkswagen Konzern.
Mein Fazit: Der Schlüssel zur Förderung von Produktivität, Zufriedenheit, Unternehmenswachstum und insbesondere für eine hohe Loyalität sind also gute zwischenmenschliche Beziehungen und Freundschaften im Arbeitskontext. Dazu braucht es sowohl strukturierte Erfahrungen durch geplante Teambuilding-Maßnahmen als auch unstrukturierte Erfahrungen durch ungeplante Gelegenheiten zum Austausch. In Zukunft wird vieles in Unternehmen austauschbar sein: der Dienstwagen oder das Leasing-Dienstrad, verschiedenen Benefits, wie zum Beispiel ein internes Fitnessstudio, die technischen Ressourcen, die Aufgaben, das Gehalt und womöglich sogar der eigentlich Zweck des Unternehmens selbst – nur ein einziger Faktor wird niemals zu 100 Prozent austauschbar sein: die sozialen Beziehungen in Unternehmen. Genau dieser Aspekt wird meines Erachtens in Zukunft noch stärker der entscheidende Grund dafür sein, warum sich Menschen langfristig für einen Arbeitgeber entscheiden. Gute zwischenmenschliche Beziehungen im Arbeitsumfeld sind damit eine der wichtigsten Quellen des Wohlbefindens, der Zusammenarbeit und der Verbundenheit zum Unternehmen. Die besten Mitarbeitenden sind also nicht deshalb effektiver, weil sie die ganze Zeit durcharbeiten. Sie sind es, weil sie sich Zeit nehmen, echte Freundschaften aufzubauen – was eine wertvolle Ressource ist, um Belastungen weniger stressvoll zu empfinden.
QUICK WINS
Für Mitarbeitende
Für Führungskräfte
Für Unternehmen
Ich saß im Foyer eines großen Fashion-Labels und wartete auf meinen Termin, als mir ein Mann auffiel, ein Barista, der sich offenbar nicht nur ausgezeichnet mit der Espressomaschine auskannte, sondern vor allem mit seinen Kund:innen. Mir fällt leider nicht mehr ein, wie er hieß – so etwas wäre ihm nie passiert. Und da sind wir auch schon beim Thema, denn was ich an ihm so beeindruckend fand, war, dass er jede:n seiner Kund:innen mit Namen begrüßte. Und nicht nur das. Er wusste auch, was die Person vor ihm am liebsten trank, und erinnerte sich an persönliche Details. Eine Dame zum Beispiel, die einen Cappuccino mit Hafermilch bestellte, fragte er nach ihrem Urlaub und die beiden unterhielten sich, als würden sie sich seit Jahren kennen.
Als der Tresen leer war, wollte ich es genauer wissen und ging rüber. Ich bestellte eine Iced Latte und sprach den jungen Mann an. Ich fragte ihn, ob er seinen Job mag. Er lächelte und erzählte, dass er jeden Tag gerne zur Arbeit komme und sich auf die Menschen hier freue, ebenso auf die Kolleg:innen. Anders als bei seinem vorherigen Arbeitgeber: Dort ignorierten ihnen die anderen Mitarbeitenden und sein Vorgesetzter kontrollierte ihn. Bei Fehlern wurde er sofort zum Chef zitiert und musste Rede und Antwort stehen. Das führte dazu, dass er ängstlich zur Arbeit ging und sich schließlich gar nicht mehr traute, irgendwas zu sagen. Irgendwann machte er nur noch Dienst nach Vorschrift und versuchte, irgendwie durch den Tag zu kommen, nicht aufzufallen und zu überleben. Ich nippte an meinem Kaffee, der wirklich unverschämt gut schmeckte und beinahe noch besser aussah, und der Barrista erzählte fröhlich weiter. Hier in dieser Firma dagegen, sagte er, frage ihn sein Chef, was er brauche, um seinen Job besser machen zu können. Und wie es ihm gehe. Ihm! Das gäbe ihm das Gefühl – und dabei grinste er über beide Ohren –, er selbst sein zu können, sich so verhalten zu können, wie er es gerne möchte. Und dass er sich mit seinen Stärken einbringen könne – und das sei eben: mit Menschen zu reden und sich für sie zu interessieren.
Genau darum soll es in diesem Kapitel gehen. Darum, wie wir uns so wohl und sicher bei der Arbeit fühlen können, dass es sich am Ende für alle Beteiligten lohnt.
»Erfolg hängt nicht von einer Person ab. Er hängt davon ab, dass viele Menschen gut zusammenarbeiten.« Das ist mir in einem meiner Gespräche mit Antje von Dewitz, der Geschäftsführerin von VAUDE, gut in Erinnerung geblieben. Ich finde es sinnvoll, dass wir uns die Zusammenarbeit von Mitarbeitenden daher mal näher anschauen. Das hat das amerikanische Unternehmen Google bereits 2012 getan. Zusammen mit Expert:innen aus den Bereichen Psychologie, Statistik, Ingenieurwesen und Sozialforschung wurden in den folgenden zwei Jahren 180 Teams untersucht. Dabei sind sie der Frage nachgegangen, was ein Team bei Google effektiv macht. Millionen von Datensätzen wurden gesammelt und ausgewertet. Heraus kam, dass es weniger darauf ankommt, welche individuellen Persönlichkeiten in einem Team sind, als vielmehr darauf, wie in diesen Teams zusammengearbeitet wird. Bei der Bewertung der Effektivität orientierte sich Projektleiterin Julia Rozovsky an vier Kriterien: Bewertung des Teams durch die Führungskraft, Teamleiter, Mitglieder und Verkaufsleistung.32 Am Ende konnten schließlich fünf Erfolgsfaktoren identifiziert werden, die erfolgreiche Teams auszeichnen. Mit großem Abstand auf Platz eins landete dabei die psychologische Sicherheit.
Stell dir vor, du arbeitest in einem Team, in dem du Risiken eingehen kannst, ohne negative Konsequenzen für dein Selbstbild, deinen Status oder deine Karriere zu befürchten. In einem Team, das Fehler nicht gegen dich verwendet, sondern aus denen gelernt wird. Stell dir vor, du arbeitest in einem Team, in dem Herausforderungen und auch unangenehme Themen offen angesprochen werden können. Einem Team, das alle voll und ganz akzeptiert und sie für ihre Stärken und Talente wertschätzt. Niemand wird verurteilt oder als inkompetent abgestempelt. Stell dir vor, du könntest offen zugeben, dass du nicht weiterweißt und Hilfe brauchst. Wie fühlt sich das an?
Ist das nicht eine schöne, eine befreiende Vorstellung? Kein Wunder, denn Menschen, die in einem Team mit solchen Arbeitsbedingungen zusammenarbeiten, verfügen über eine hohe psychologische Sicherheit. Nach Amy Edmondson, Professorin an der Harvard Business School, die diesen Begriff am stärksten durch ihren TED-Talk in den 1990er-Jahren geprägt hat, handelt es sich dabei um ein Teamklima, in dem sich die Menschen sicher genug fühlen, um zwischenmenschliche Risiken einzugehen. Mit anderen Worten: Hier gibt es eine gefühlte Erlaubnis zur Offenheit.
Was aus meiner Sicht völlig selbstverständlich in der Zusammenarbeit sein sollte, ist bei vielen Unternehmen leider häufig keine Realität. Denn es herrscht oft Unsicherheit, da viele Führungskräfte noch immer mit stark hierarchischen Befehlen arbeiten und die Kontrolle übernehmen. Sie versuchen Mitarbeitende durch Angst und Einschüchterung zu motivieren. Verständnisfragen, Unsicherheiten, konstruktive Kritik oder gar Fehler werden in diesem Umfeld nicht geduldet und stattdessen verdrängt. So entsteht eine Kultur des Schweigens, die auch Pa Sinyan, Managing Partner bei Gallup, gut kennt. Er sagt mir: »Heute ist die Situation so, dass 20 Prozent der Mitarbeitenden häufig – also mindestens dreimal im letzten Jahr – Fehlentwicklungen in ihrem Arbeitsbereich feststellen, aber schweigen.«
Aber nicht nur Fehler werden verschwiegen, Mitarbeitende trauen sich erst gar nicht, Ideen und Meinungen auszusprechen. Hier spielt das Schamgefühl eine große Rolle, die Angst davor, etwas zu sagen, das dazu führen könnte, von anderen ausgegrenzt oder abgelehnt zu werden. Vor allem von Menschen, die eine größere Bedeutung für uns haben. Im Berufsalltag sind das Führungskräfte und direkte Kolleg:innen. Der Wunsch nach Verbundenheit ist ein psychologisches Grundbedürfnis. Ablehnung, Erniedrigung, Demütigungen – all das wird evolutionsbiologisch noch immer von unserem Gehirn als eine Bedrohung des Lebens bewertet. Und genauso fühlt sich das dann auch an. Wir arbeiten unter ständiger Angst, der Stresspegel und die Unzufriedenheit steigen, mit der Folge, dass keine Risiken mehr eingegangen werden, dass Innovationen ausbleiben, dass nicht um Hilfe gefragt wird, dass Ja-Sager:innen und Opportunist:innen durch die Flure rennen, dass Fehler vertuscht und schlichtweg keine eigenen Entscheidungen mehr getroffen werden. Statt aufzublühen, geht es um das nackte Überleben in Anzügen und Blaumännern. Und das ist für niemanden gut, weder für Mitarbeitende noch für Unternehmen.
Wenn wir aber ein Umfeld mit psychologischer Sicherheit schaffen, fühlen wir uns widerstandsfähiger, motivierter und ausdauernder. Menschen können so sein, wie sie sind. Mit allen Stärken, aber vor allem auch mit ihren Schwächen. Dafür werden sie nicht nur akzeptiert, sondern sogar geschätzt. Dann werden auch wieder Ideen eingebracht und die Kreativität kann fließen. Statt einfach nur zu überleben, schaffen Mitarbeitende Werte, weil sie nicht nur gern zusammenarbeiten, sondern sich gegenseitig vertrauen und zusammenhalten, um Gefahren von außen gemeinsam zu trotzen – und schlussendlich (fast) alles dafür tun, die Unternehmensziele zu erreichen. Das zahlt sich aus: Google konnte zeigen, dass zum Beispiel Teams im Vertrieb mit einer hohen psychologischen Sicherheit ihre Ziele um 19 Prozent übertreffen, wohingegen Teams, die eine niedrige psychologische Sicherheit aufweisen, ihre Ziele um 17 Prozent verfehlen.33 Auch andere Studien zeigen, welche Wirkung psychologische Sicherheit in Unternehmen haben kann: Es kommt nämlich zu einer 27 Prozent geringeren Fluktuation und zu 74 Prozent weniger Stress. Zudem sind 57 Prozent der Arbeitnehmer:innen eher bereit, zusammenzuarbeiten, und 26 Prozent zeigen mehr Bereitschaft zum Erwerb von neuen Fähigkeiten, da sie schneller lernen, wenn sie sich psychologisch sicher fühlen.34
Wir halten also fest: Psychologische Sicherheit ist nicht einfach nur ein Nice-to-have, um das sich gekümmert werden kann, wenn genug Zeit übrig ist (also nie). Es ist ein Must-have, damit Mitarbeitende überhaupt gerne im Unternehmen bleiben und performen können. Psychologische Sicherheit schafft eine vertraute und respektvolle Arbeitsumgebung.
Das Ziel von psychologischer Sicherheit ist es dabei aber nicht, ausschließlich freundlich zueinander zu sein. Wir können auch alle höflich miteinander umgehen und uns trotzdem unsicher fühlen. Expertin Edmondson sagt: »Leider ist ›nett‹ am Arbeitsplatz oft gleichbedeutend mit ›nicht offen sein‹.«35 Es geht gar nicht darum, im Team immer einer Meinung zu sein und Harmonie anzustreben oder dass sich jeder wohlfühlt. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem Probleme, Konflikte, unterschiedliche Meinungen und Fehler offen und ehrlich angesprochen werden können, ohne dabei ein persönliches Unbehagen auszulösen. Es kann und darf sich auch mal unangenehm anfühlen, ein Thema anzusprechen. Psychologische Sicherheit bedeutet, dass wir genau dieses Risiko eingehen, weil wir uns sicher fühlen, nicht abgelehnt zu werden, sondern auf offene Ohren stoßen. Edmondson bringt es auf den Punkt: »Offenheit ist hart, aber nicht offen zu sein, ist härter.«36
Wenn du checken möchtest, wie es mit der pyschologischen Sicherheit in deinem Team aussieht, dann hilft es dir womöglich, folgende Aussagen von Edmondson zu überprüfen37:
Edmonson weist allerdings darauf hin, dass deine Beurteilung dieser Aussagen aufgrund der Verzerrung durch die soziale Erwünschtheit nicht aussagekräftig ist. Das heißt nichts anderes, als dass du die einzelnen Aspekte womöglich so betrachtest, wie du sie gern hättest, und nicht so, wie sie sind. Letzteres ist also sehr wichtig. Sei ehrlich zu dir selbst!
Vielmehr können die Aussagen im Team genutzt werden, um die Erfahrungen der Mitarbeitenden zu besprechen und dann zu überlegen, wie psychologische Sicherheit im Team gefördert und gestärkt werden kann. Und das bringt uns zu der wichtigsten Frage in diesem Kapitel: Wie kann psychologische Sicherheit geschaffen werden?
Was schon mal nicht funktionieren wird, ist so etwas zu sagen wie: »Vertrau mir einfach.« Schließlich geht es nicht um Anweisungen, sondern um Empfindungen. Führungskräfte haben zwar den wohl größten Einfluss auf den Grad der psychologischen Sicherheit, aber sie sind nicht allein entscheidend. Denn es geht nicht um eine zwischenmenschliche Beziehung zwischen zwei Menschen oder Parteien. Sondern um den Zustand, den Raum, in dem sich das gesamte Team befindet. Du kannst einer Person vertrauen, einer anderen nicht. Es geht aber immer um das Vertrauen im gesamten Team. Was wiederum bedeutet, dass wir alle die psychologische Sicherheit steigern können. Wie genau, das möchte ich dir auf den folgenden Seiten zeigen. Darüber hinaus findest du weitere Impulse in anderen Kapiteln, zum Beispiel unter »Radical Honesty«.
Mitarbeitende brauchen das Gefühl, Fehler machen zu können. Nur dann werden sie auch offen über Fehlschläge sprechen und sie damit aufdecken. Unsere Arbeit darf nicht als Ausführungsproblem betrachtet werden, sondern vielmehr als Lernproblem. Welche Wirkung das Offenlegen von Fehlern hat, konnte Harvard-Professorin Edmondson im Rahmen ihrer Doktorarbeit feststellen, als sie den Zusammenhang zwischen Medikationsfehlern und Teamleistung in zwei Krankenhäusern untersuchte. Edmondson ging davon aus, dass fachlich bessere Teams weniger Fehler machen. Nach ihren Untersuchungen kam sie aber zu dem Ergebnis, dass genau das Gegenteil der Fall war. Die besseren Teams machten mehr Fehler – das war zumindest ihr erster Eindruck. Das konnte sie nicht so richtig glauben, also schauten sie und ihr Team noch mal genauer hin. Dabei stellte sich heraus, dass die besseren Teams doch nicht mehr Fehler machten – sie sprachen nur mehr darüber als die anderen Teams, weil sie sich sicher fühlten, und erweckten deshalb den Eindruck, mehr falsch zu machen.38
Aus Fehlern lernt man, diese Weisheit ist nicht neu. Dennoch finden sich nur sehr selten Unternehmen, die damit gut umgehen. Das zeigt der »Fehlerkultur Report« der Unternehmensberatung Ernst & Young: Demnach gaben 64 Prozent der befragten Führungskräfte an, eigene Fehler in der Vergangenheit nicht oder nur teilweise angesprochen zu haben.39 Wie dagegen eine richtige Fehlerkultur aussehen kann, habe ich in einem amerikanischen Football-Spiel gesehen.40 In dem Spiel kam es zu einem unsportlichen Verhalten des Seahawks-Spielers DeKaylin Zecharius Metcalf, der beim Feiern nach einem Touchdown an den Torpfosten gesprungen war. Da dies verboten ist, bekam sein Team eine Strafe von 15 Yards Raumverlust. Seahawks-Trainer Pete Carroll suchte daraufhin das Gespräch mit Metcalf, der ihm erklärte, dass er gar nicht wusste, dass es dieses Verbot überhaupt gab. Was machte Coach Carroll? Weder stauchte er Metcalf vor allen zusammen, noch setzte er ihn auf die Bank. Stattdessen sagte er: »Ich übernehme die volle Verantwortung. Das hätte ich dir mal sagen müssen.« Schließlich sei er der Trainer.
Genau das ist es, was eine gelebte Lernkultur auszeichnet. Es geht nicht darum, Einzelnen die Schuld zuzuweisen, sondern darum, herauszufinden, warum Fehler und Probleme überhaupt erst entstanden sind. Um dann gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die in der Zukunft Fehler minimieren oder sogar vermeiden. Bei den Seattle Seahawks jedenfalls wird jeder Spieler wissen, dass sich ihr Coach vor sie stellen wird. Ein gutes Gefühl, oder?
Dabei ist die Fehlertoleranz nach Edmondson aber abhängig vom Kontext:
In einer guten Lernkultur wird es erst einmal darum gehen, herauszustellen, um welchen Fehlertyp es sich handelt und wie es überhaupt zu diesem oder jenem Fehler gekommen ist. War es Vorsatz? Unachtsamkeit? Mangelndes Können? Immer wieder lese ich davon, dass Scheitern Spaß machen soll. Ich bin anderer Meinung. Ich habe vielmehr die Haltung, dass Fehler ein notwendiges Nebenprodukt sind, um erfolgreich zu sein. An dieser Stelle ist es wieder Edmondson, die es schön formuliert: »Der Mut, sich mit den eigenen Unzulänglichkeiten und denen anderer auseinanderzusetzen, ist entscheidend für die Lösung des scheinbaren Widerspruchs, dass man weder das Melden von Problemen unterbinden noch ein Umfeld schaffen will, in dem alles erlaubt ist. Das bedeutet, dass Führungskräfte ihre Mitarbeitenden auffordern müssen, mutig zu sein und ihre Meinung zu sagen – und nicht mit Wut oder starker Missbilligung auf das reagieren dürfen, was auf den ersten Blick als Inkompetenz erscheinen mag.«41
Wenn wir Offenheit, Transparenz, Verletzlichkeit und Ehrlichkeit von anderen einfordern, sollten wir diesen Anspruch auch an uns selbst haben. Mal ganz davon abgesehen, dass wir als Vorbild den größten Einfluss haben, wenn wir selbst unsere Fehler zugeben, unsere Herausforderungen oder unsere Sorgen vor der Zukunft teilen. Aber: »Verletzlichkeit bedeutet nicht nur, dass man seine Probleme mitteilt, sondern auch, dass man öffentlich und privat für seine Werte und Überzeugungen einsteht«, sagt Janice Omadeke, Autorin des erfolgreichen Buches »The Best Leaders Aren’t Afraid to Be Vulnerabe«.42 Gerade in schwierigen Momenten können an dieser Stelle Führungskräfte und Mitarbeitende eine Vorbildfunktion übernehmen, indem zum Beispiel Meetings im Bedarfsfall direkt unterbrochen werden, um für bestimmte Werte und Überzeugungen einzustehen. Wer sich verletzlich zeigt, schafft damit einen Raum, dass auch andere mehr von ihren Gefühlen preisgeben. Gerade eine Führungskraft kann damit die Tür für Menschen mit weniger formalen Befugnissen aufmachen, um das Verhalten in einem sicheren Setting nachzuahmen.
»Sich verletzlich zu zeigen, ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen verbinden und zugehörig fühlen«, sagt Psychologin Brené Brown in ihren TED-Talk über Verletzlichkeit.43 Das unterstreichen auch zahlreiche wissenschaftliche Studien.44 Die Herausforderung an Verletzlichkeit ist, dass sie »[…] der Kern von Scham und Angst sowie unserem Kampf um Anerkennung ist. Aber es scheint, dort entstehen auch Freude, Kreativität, Zugehörigkeit und Liebe«, stellt Brené Brown in ihrer Forschung über Verletzlichkeit fest.45
Wir wissen also, welche positiven Folgen Verletzlichkeit haben kann, und trotzdem spüren wir Angst und Scham. In der Wissenschaft hat dieses Paradoxon sogar einen Namen, den Forschende rund um die Psychologin Dr. Anna Bruk von der Universität Mannheim geprägt haben: »Beautiful Mess Effect«. Während es einige Menschen feiern, die ungeschminkte Wahrheit und Offenheit in anderen zu sehen, haben wir selbst Angst, sie in uns zu sehen bzw. sehen es als Schwäche. Es gibt also eine sehr starke Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung anderer und unserer eigenen Wahrnehmung über Verletzlichkeit: Andere Personen nehmen unsere Verletzlichkeit viel positiver wahr als wir selbst.46
Bruk erzählt mir, dass sie und ihr Team in weiterer Forschung aber zeigen konnten: »je stärker das Selbstmitgefühl ist, desto geringer ist die Tendenz, über die eigene Verletzlichkeit hart zu urteilen«. Ein liebevoller Umgang mit sich selbst und eine stärkere Achtsamkeit fördern also die Bereitschaft, sich im sozialen Umfeld verletzlich zu zeigen.47 Hierbei ist es wichtig, zu verstehen, dass es nicht nur darum geht, emotional transparent über Gefühle und Emotionen zu sprechen, sondern wirklich etwas in einer Situation zu teilen, in der wir ein Risiko eingehen und uns unwohl fühlen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn Bruk weist mich im Telefonat noch darauf hin, dass ein Risiko für Menschen in Randgruppen bestehen könnte, negativer bewertet zu werden, z. B. hinsichtlich ihrer Sympathie oder Kompetenz, wenn sie sich verletzlich zeigen. Wissenschaftlich ist das aber noch nicht belegt. Ein anderes Risikopotenzial betrifft Menschen, die ihre Kompetenz noch nicht unter Beweis gestellt haben. Denn Menschen, die im sozialen Umfeld als nicht kompetent oder sogar als schwach wahrgenommen werden, könnten beim Zeigen ihrer Verletzlichkeit noch inkompetenter wahrgenommen werden. Umso wichtiger ist es also, gut zu überlegen, wann wir unser authentisches Selbst zeigen, und das Chance-Risiko-Verhältnis abwägen. Gerade für unerfahrene Mitarbeitende wäre es ratsam, zunächst die eigene Kompetenz zu etablieren und erst im zweiten Schritt durch die Selbstoffenbarung oder das Zugeben von Fehlern auch die eigene Fehlbarkeit zu zeigen.48
Jede:r in einem Team kann deutlich machen, warum die Stimme der anderen wichtig ist. Viele halten ihre Gedanken und Ideen zurück, um sich vor Ablehnung zu schützen. Um diesen Instinkt zu überwinden, ist es wichtig, dass wir eine aktive Einladung erhalten. Indem wir beispielsweise aufgezeigt bekommen, warum es wichtig ist, genau jetzt zuzuhören, und wie sich das positiv auf das Ergebnis der Arbeit auswirken kann. Durch aktives Ansprechen, etwa durch konkrete und gezielte Fragen, kann eine neugierige Haltung erzeugt werden, die Raum schafft, der Meinung und Expertise anderer zuzuhören.
Was in diesen Momenten helfen kann, ist, diesen Satz im Kopf zu haben: »Danke, erzähl mir gerne mehr davon!« Auf diese Weise können wir die Wahrscheinlichkeit für Schuldzuweisungen und Kritik reduzieren und erst mal neugierig bleiben. Diese Haltung ermöglicht außerdem, dass wir eher bereit sind, negative Emotionen und Gefühle zu teilen. Denn gerade das zeichnet nach dem amerikanischen Sozialpsychologen Ron Friedman erfolgreiche Teams aus. In seinen Untersuchungen konnte er feststellen, dass Teams, die authentischer miteinander umgegangen sind und mehr Emotionen ausgetauscht haben, umso erfolgreicher und leistungsfähiger waren:49 »Was ich daran so interessant finde, ist, dass es die Vorstellung widerlegt, dass wir als Organisation und Führungskräfte die Menschen ständig glücklich machen müssen. Tatsächlich ist es besser, wenn wir Leistungsträger dazu ermutigen, ihr authentisches Selbst bei der Arbeit einzubringen, als jeden, der nicht ununterbrochen glücklich ist, zu verachten«, hält Friedman fest.50 So schaffen wir auch eine Arbeitsumgebung, die nicht automatisch Testosteron- oder Dopamin-dominierte Extrovertierte bevorzugt, sondern ein Umfeld, das die unterschiedlichen Arten des Denkens, Lernens und der Kommunikation honoriert.
Ist die psychologische Sicherheit erst mal aufgebaut, kann sie auch schnell wieder zusammenfallen. »Die meisten Menschen wissen, dass es Zeit braucht, um psychologische Sicherheit aufzubauen, aber nur Augenblicke, um sie zu zerstören«, sagt Edmondson.51 Das sollte uns dazu animieren, wachsam zu sein und psychologische Sicherheit immer weiter auszubauen. Denn es handelt sich viel mehr um eine Reise als um ein fest definiertes Ziel.
Neben der psychologischen Sicherheit konnte Google im Rahmen des Projektes »Aristotle« einen weiteren Erfolgsfaktor erkennen: Hohe Zuverlässigkeit heißt, die Mitarbeitenden leisten zuverlässig und pünktlich gute Arbeit. Alle halten sich an Regeln und Deadlines, und es wird inhaltlich das geliefert, was gemeinsam besprochen wurde. Jede Person übernimmt Verantwortung für ihre Rolle und ihren Aufgabenbereich, sodass sich die anderen stets auf deren Einhaltung verlassen können. Allen im Team stehen damit zu jedem Zeitpunkt alle notwendigen Informationen zum Projekt zur Verfügung. Zuverlässigkeit bedeutet aber auch, dass sich an Werte gehalten wird, die gemeinsam im Team vereinbart worden sind beziehungsweise mit denen das Unternehmen nach außen geht. Immer mehr Mitarbeitende möchten für Unternehmen arbeiten, deren Werte sie selbst teilen. Dafür wären zum Beispiel 71 Prozent der Mitarbeitenden bereit, eine Gehaltskürzung in Kauf zu nehmen.52
Gefährlich wird es, wenn sich Führungskräfte und Kolleg:innen nicht an die zuvor gemeinsam vereinbarten Werte halten. Darunter leiden deren Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit und Mitarbeitende werden entmutigt. Die Forscher Paul Ingram und Yoonjin Choi konnten in ihren Studien zeigen, dass ein gelebter Wertekompass, der mit den Werten der Mitarbeitenden matcht, zu einer höheren Arbeitszufriedenheit, geringeren Fluktuation, besseren Teamarbeit, effektiveren Kommunikation, größeren Beiträgen zum Unternehmen und zu mehr Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration führt.53 Allerdings werden die Werte eines Unternehmens nicht dadurch wirksam, dass sie auf der Homepage grafisch schön aufbereitet sind. Es erfordert sorgfältige Achtsamkeit und harte Arbeit, um die Werte, die kommuniziert werden, auch zu leben.
Was eigentlich in der Arbeitswelt selbstverständlich sein sollte, wird in vielen Unternehmen vermisst: Klarheit und Struktur. »Weltweit kommen 50 Prozent der Mitarbeitenden zur Arbeit und wissen nicht, was von ihnen erwartet wird«, sagt mir Gallup Managing Partner Pa Sinyan. Viele Unternehmen und Führungskräfte tun sich schwer damit, Mitarbeitenden Orientierungshilfe zu geben, um ihre Aufgaben zu erledigen. Oft fehlt es an klaren Vorgaben und Zielen.
Helfen können sogenannte OKRs (Objectives and Key Results), die bereits vor der Jahrtausendwende vom ehemaligen Intel-Geschäftsführer Andy Grove entwickelt und vom amerikanischen Manager John Doerr 1999 zum ersten Mal bei Google eingeführt wurden.
Das Grundprinzip ist einfach:
Grove sagt: »Das Ziel ist die Richtung. Die Schlüsselergebnisse muss man messen. Am Ende kannst du zweifelsfrei sagen: ›Habe ich das getan oder nicht?‹ Ja. Nein.«54 Damit herrschen Transparenz und Klarheit für alle Mitarbeitenden, woran gearbeitet wird, und es wird eine Struktur geschaffen, in der wunderbar Fortschritte gemessen werden können.
Und Klarheit zahlt sich aus: 80 Prozent der Arbeitnehmer:innen geben an, dass sie persönlich von mehr Klarheit profitieren würden. In Zahlen bedeutet das eine viereinhalb Mal höhere Wahrscheinlichkeit, dass Mitarbeitende sagen, sie seien in ihrem Unternehmen zufrieden.55 Nicht überraschend, dass mir Jörg Staff als Experte für Transformationen als ersten Erfolgsfaktor für erfolgreiche Transformationen »Case for Change« nennt: »Ist die nachhaltige Veränderung für alle klar nachvollziehbar und transparent? Können Mitarbeitende die Notwendigkeit nachvollziehen und verstehen? Menschen müssen nicht nur informiert werden, sondern brauchen Transparenz und Klarheit.«
Wenn wir von Struktur sprechen, dann bezieht sich das aber auch auf die alltägliche Arbeit. Wir kennen alle Meetings, die keine klare Agenda haben, kein erkennbares Ziel und schon gar keine Struktur. Meetings brauchen Vorarbeit, eine klare Tagesordnung, ein Check-in und ein Check-out. Auf diese Weise können Frustration und Ineffizienz vermieden werden. Genauso sollte jede:r für sich und den individuellen Arbeitsalltag eine Struktur schaffen. Gerade im Homeoffice tun sich Menschen noch schwer, einen Anfangszeitpunkt, eine Pause und einen Endzeitpunkt zu wählen. Aber genau das schafft nach Rafael Frenk, einem erfolgreichen E-Commerce-Unternehmer und Zeitmanagement-Experten, mehr Zeitqualität und bis zu fünf Mal bessere Ergebnisse bei weniger Stress in seinem Unternehmen.
Klarheit vermissen viele Menschen im Berufsalltag, wenn es um Entscheidungsfindung geht. Ich kenne es noch allzu gut von meinen bisherigen Stationen und auch von der Zusammenarbeit mit Kund:innen. Man muss nicht immer mit einer Entscheidung einverstanden sein. Aber es fördert die Akzeptanz und Motivation, wenn Transparenz und Klarheit darüber herrschen, warum diese oder jene Entscheidung so ausgefallen ist. Es geht um die Möglichkeit, die Entscheidung zu verstehen oder zumindest nachvollziehen zu können.
»Wer Menschen motivieren will und Leistung fordert, muss Sinnmöglichkeiten bieten.« Das erkannte der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Emil Frankl bereits vor der Jahrtausendwende. Zahlreiche Studien und Umfragen zeigen deutlich, dass die Mehrheit der Mitarbeitenden nicht nur bereit ist, auf ihr Gehalt zu verzichten, um mehr Sinn bei der Arbeit zu erleben56, sondern dass Sinnerleben das Engagement steigert, ebenso wie die Zufriedenheit und das emotionale Commitment.57 Grund genug für viele Unternehmen weltweit, nach einem Purpose zu suchen. Wichtig ist aber, diesen nicht mit dem Sinnerleben der Mitarbeitenden gleichzusetzen. Du kannst dir das in etwa so vorstellen wie bei einem Musikfestival. Was alle Besucher:innen auf dem Festival verbindet, ist die Liebe zur Live-Musik, das Erfreuen am Erlebnis und das Feiern mit Gleichgesinnten – und doch hat jeder einen individuellen Musikgeschmack, eine andere Vorliebe für Bands und eine andere Vorstellung davon, wie die Zeit auf Festivals verbracht werden sollte. Das Musikfestival ist in dieser Metapher der Zweck des Unternehmens und steuert damit die Kultur, die Entscheidungen und das Verhalten der Mitarbeitenden. Er ist die Daseinsberechtigung für das Unternehmen, die über die reine Gewinnerzielung hinausgeht und in der heutigen Zeit auch genau so von vielen Mitarbeitenden eingefordert wird. Die Vorliebe für eine bestimmte Melodie ist die persönliche Sinnwahrnehmung der Mitarbeitenden. Diese unterscheidet sich individuell im gesamten Unternehmen. Nehmen wir zum Beispiel die Personalabteilung. Hier ziehen die Menschen ihren Sinn vielleicht daraus, andere dazu zu befähigen, ihr volles Potenzial zu entfalten. Ihr Sinnerleben ist also ein anderes als bei Mitarbeitenden aus der Sales-Abteilung. Es kann auch Sinn darin bestehen, einfach nur mit Kolleg:innen Zeit zu verbringen, weil es netter und angenehmer ist als allein zu Hause. Oder darin, finanzielle Sicherheit zu schaffen, um in der Freizeit ein kostspieliges Hobby auszuführen. Daher wiederholt Psychologe und Autor Dr. Nico Rose immer wieder in unseren Gesprächen: »Du kannst Menschen keinen Sinn einimpfen. Du kannst Sinneinladungen aussprechen, aber es liegt am Ende beim Mitarbeitenden, ob er diese auch annimmt.«
Wie eine sinnstiftende Arbeit aussehen kann, habe ich in der Dokumentation »Die Stille Revolution« gesehen, in der es um das Unternehmen Upstalsboom geht, das Ferienwohnungen und Aparthotels an der Ost- und Nordsee anbietet (auf die spannende und beeindruckende Geschichte des Managers Bodo Janssen gehe ich im nächsten Kapitel detaillierter ein). In einer Szene macht ein Zimmermädchen das Bett und bekommt von einem Reporter die Frage gestellt: »Warum arbeiten Sie hier?« Ihre Antwort lautet: »Früher habe ich hier gearbeitet, um Geld zu verdienen – jetzt arbeite ich hier, weil wir von den Gewinnen Schulen in Ruanda bauen. Wir haben schon drei gebaut und bauen gerade die vierte. Deswegen gebe ich mir so viel Mühe mit den Betten, mit den Rosen und mit dem Handtuch hier auf dem Bett. Ich möchte nämlich, dass so viele Gäste hierhin kommen und sich so wohlfühlen, dass sie allen anderen von unserem Hotel erzählen, damit wir immer ausgebucht sind. Dann können wir noch weitere Schulen bauen.«
Das Zimmermädchen hat eine sinnstiftende Arbeit. Sie weiß, warum sie morgens aufsteht und warum sie sich extra viel Mühe gibt – sie wird sehr wahrscheinlich eigenständig gute Entscheidungen im Sinne des Unternehmens treffen, weil sie den Purpose des Unternehmens verinnerlicht hat. Deshalb wird sie auch mal bereit sein, stressigere Zeiten durchzuhalten oder die eine oder andere Überstunde zu machen. Zudem wird sie die Zusammenarbeit mit ihren Kolleg:innen positiver erleben. Viel zu oft aber haben die Verantwortlichen in Unternehmen eine Markenaussage im Sinn und möchten damit Absatz, Umsatz und Gewinn steigern. Aber: »Was nützt mir der Purpose, wenn der Chef bzw. die Chefin ein Arsch ist?«, fragt Psychologe Rose berechtigt.
Glaubt man den Verantwortlichen bei Google, dann entstehen Höchstleistungen im Team, wenn das Gefühl entsteht, mit der eigenen Tätigkeit etwas bewirken zu können. Für viele Mitarbeitende ist es aber durch die Wissensarbeit schwieriger geworden, sich die Wirkung ihrer Arbeit auf das Unternehmen oder sogar auf die Kund:innen bewusst zu machen. So geht es auch mir manchmal. Ich gehe aus dem Büro und frage mich, was ich heute eigentlich gemacht habe, außer E-Mails zu schreiben und zu telefonieren.
Einer Umfrage der Managementplattform Asana in Zusammenarbeit mit Statista zufolge kennen zwar über 80 Prozent der Befragten die Unternehmens- und Teamziele, aber 59 Prozent ist nicht klar, welchen Einfluss ihre Arbeit auf die Strategie hat. 42 Prozent sind sogar einmal im Monat völlig ratlos, weil sie nicht verstehen, inwiefern die zu erledigenden Aufgaben für das Unternehmen nützlich sind.58 Das Ziel sollte also sein, dass wir unsere Wirkung auf Unternehmen, Kolleg:innen oder Kund:innen erkennen. Denn dann sind wir engagierter, innovativer, zufriedener und produktiver.59 Und wenn wir ehrlich sind: Das ist weder ein Geheimnis noch eine Offenbarung. Das ist gesunder Menschenverstand.
Es ist egal, in welcher Branche wir arbeiten und welche Position wir innehaben. Wenn uns die Verbindung zwischen Unternehmenszielen und den eigenen Alltagsaufgaben viel bewusster wäre und wir aus erster Hand erführen, welche Wirkung unsere Tätigkeit auf andere Menschen hat, wären wir nicht nur produktiver und zielstrebiger, sondern würden auch mehr Sinn bei unserer Arbeit erleben. Wir wären sogar eher bereit, Informationen mit anderen Kolleg:innen zu teilen und diese auf dem Laufenden zu halten, weil wir ja wissen, welche Wirkung dies auf andere haben kann.
Bevor wir einen Blick auf die Umsetzung der Erfolgsfaktoren in der Praxis werfen, möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass es weitere Variablen geben kann, die explizit bei Google für die Zusammenarbeit keine Rolle gespielt haben, dafür aber sicherlich in anderen Unternehmen, wie zum Beispiel die Teamgröße, der Umfang des Workloads, die Persönlichkeiten der Teammitglieder.
Ein gutes Beispiel für die Umsetzung des Erfolgsfaktors psychologische Sicherheit ist der Versicherungskonzern AXA. Für die Personalvorständin Sirka Laudon ist es wichtig, ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen ihre bestmögliche Leistung erbringen und sich dabei so gut es geht entfalten können. Das Thema psychologische Sicherheit ist dabei aber kein Selbstzweck, sondern verfolgt das Ziel, dass Menschen sich mit ihren Fähigkeiten einbringen und selbstwirksam sowie eigenständig ihrer Tätigkeit nachgehen können. »Menschen sollen bei uns das Gefühl und die Haltung haben, dass sie etwas auf die Straße bringen können. Dass sie etwas bewirken. Dass sie etwas schaffen, was sie als sinnvoll erachten, und sich beim Schaffen selbst erleben«, führt Laudon aus. Empowerment heißt aber nicht, dass sich die Mitarbeitenden allein überlassen werden, sondern dass für klare Zuständigkeiten, Grenzen und Strukturen gesorgt wird. So gibt es für jeden Bereich des Unternehmens sehr dezidierte Strategiezyklen. Alle drei Jahre entwickelt AXA eine Strategie, die auf die verschiedenen Bereiche heruntergebrochen und mit Transparenz und Aufmerksamkeit kommuniziert wird. Alle Mitarbeitenden erhalten Klarheit und Transparenz über den Zielzustand, der in den folgenden drei Jahren erreicht werden soll. Dabei legt Laudon großen Wert darauf, dass das Ziel für die Mitarbeitenden so attraktiv ist, dass sie ihm mit großer Lust entgegenfiebern. »Nur so schaffen wir es, dass sich Menschen freiwillig und gerne verändern«, sagt sie. Aus dieser übergeordneten Strategie werden dann »Annual Business KPIs« abgeleitet, die dann wiederum in Aufgaben aufgeteilt werden. Hier arbeitet das Unternehmen sehr stark mit OKRs, die den Mitarbeitenden die entsprechende Klarheit vermitteln sollen. Denn anstatt dem Bauchgefühl zu vertrauen, geht es bei AXA um eine valide Messung.
»Ich habe selten ein Unternehmen erlebt, das einerseits performancegetrieben ist und anderseits mit einer solchen großen Begeisterung und Motivation die Zielerfüllung verfolgt«, sagt mir Laudon. Es geht bei AXA aber nicht darum, lediglich die eigenen Erwartungen mit den Mitarbeitenden abzustecken, sondern auch darum, ihnen ein Gefühl davon zu vermitteln, was sie konkret bewirken, für Kund:innen und das Unternehmen. Dafür führt das Unternehmen auch sogenannte Verantwortungsdialoge durch, bei denen nicht nur gemeinsam die Wirkung besprochen wird, sondern vielmehr auch noch der jeweilige Ermessens- und Handlungsspielraum des Einzelnen: Bei welchen Prozessen können die Mitarbeitenden allein entscheiden? Ab welcher Grenze wird das Team hinzugezogen? Ab wann wird die Führungskraft bei der Entscheidungsfindung einbezogen?
Für Laudon ist klar: »Wenn wir als Unternehmen geeignete Organisationsstrukturen und Prozesse schaffen, folgen das gewünschte Verhalten der Mitarbeitenden und die Kultur automatisch. Es muss einfach sein, das Richtige zu tun.«
Bei anstehenden Veränderungen versucht man bei AXA grundsätzlich auch immer zu berücksichtigen, wie die Mitarbeitenden davon persönlich profitieren könnten. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Einführung einer Masterclass zum Erlernen von Kompetenzen im Umgang mit Emotionen. Denn wer besser mit Emotionen umgehen und dadurch seine Gefühle offen mitteilen kann, verbessert nicht nur die Beziehungen zu anderen, sondern auch die Zusammenarbeit und den Grad der psychologischen Sicherheit. »Die Fähigkeiten, Emotionen zu regulieren, ist für mich einer der wichtigsten Super-Skills für die Zukunft«, sagt Laudon. Unser Alltag ist geprägt von Veränderungen, Ambiguität und Ungewissheit. Wer in diesem Umfeld mit seinen Emotionen und denen der anderen besser umgehen kann, der wird sein Engagement hochhalten und leidenschaftlich sowie optimistisch die Zukunft gestalten können. Auf diese Weise profitiert nicht nur das Unternehmen von der verbesserten Kompetenz, sondern auch die Mitarbeitenden im Rahmen ihrer privaten Beziehungen und Partnerschaften. Genau das zeichnet AXA aus. Denn dem Unternehmen ist es gelungen, die fünf Erfolgsfaktoren, die von Google geprägt worden sind, ganzheitlich zu erfüllen. Hier geht es eben nicht nur darum, die Performance im Unternehmen zu steigern, sondern vielmehr auch darum, den Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, etwas für sich als Mensch dabei herauszuziehen.
Ein anderes Beispiel für die Umsetzung von psychologischer Sicherheit im Unternehmenskontext ist das Unternehmen Primal State, eine der führenden Plattformen für gesunde Leistungsfähigkeit im deutschsprachigen Raum, das mit knapp 100 Mitarbeitenden einen achtstelligen Umsatz erwirtschaftet. »Wir sind mal weg«, hieß es am 15. August 2023 bei den Gründern und Geschäftsführern Rafael Frenk, Nicolas Martin und Janis Budde. Die drei entschieden sich acht Jahre nach Gründung, für insgesamt 33 Tage komplett von der Bildfläche zu verschwinden. Heißt: Die komplette oberste Führungsetage zog sich aus dem operativen und strategischen Business zurück, um eine Art Sabbatical zu machen, in dem sie für absolut niemandem im Unternehmen zu erreichen waren – mit dem Ziel, die Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit der Mitarbeitenden zu steigern.
Und was passierte ohne die Gründer? Anarchie? Chaos? Weder noch! Die Profitziele wurden um fünf Prozent übertroffen, neue Herausforderungen selbstständig gelöst und 18 neue Mitarbeitende eingestellt. Die Mitarbeitenden waren sogar so zufrieden, dass sie laut eigenen Angaben 30 Tage länger ohne die Gründer hätten arbeiten können.
Nach seiner Auszeit hatte ich die Gelegenheit, mit Rafael Frenk zu sprechen. Dabei fiel uns auf, dass das Unternehmen, ohne es zu wissen, die fünf Erfolgsfaktoren von Google berücksichtigt hatte, was unserer Meinung am Ende der Grund dafür war, dass das Experiment besser als erwartet funktioniert hatte. Die Geschäftsführer hatten eine Kultur aufgebaut, die insbesondere auf das Thema psychologische Sicherheit eingezahlt hat. »Das war aber keine geplante Managementstrategie von uns, sondern resultierte vielmehr aus unserem Anspruch an die Persönlichkeitsentfaltung«, sagt Frenk. So haben die Gründer von Anfang an zum Beispiel Wert auf ein wöchentliches Roundtable-Meeting gelegt, in dem ausschließlich über die Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Gefühle der Mitarbeitenden gesprochen wurde. »Als Gründer sind wir als Vorbild vorangegangen und haben uns selbst verletzlich gezeigt, indem wir über unsere Gesundheit und Stimmungen gesprochen haben«, erzählt Frenk.
Wenn Themen aufkommen, gehen die Gründer proaktiv auf die Personen zu und fragen, was sie dafür tun können, dass es ihnen besser geht. »Wir möchten den Mitarbeitenden das Gefühl geben, dass wir immer nur das Beste für sie im Blick haben«, sagt Frenk. Das hat sich schnell rumgesprochen. Die Mitarbeitenden können sich ihrer Arbeit widmen und dabei sogar Risiken eingehen, ohne dabei Angst vor negativen Folgen zu haben. »Wir haben ein emotionales Bonding geschaffen, ohne zu wissen, was psychologische Sicherheit überhaupt ist. Damit haben wir anscheinend einen Safety-Raum geschaffen.«
Der Erfolg ihres Experiments gibt Frenk Recht. Nachdem in der ersten Woche noch eine Aufbruchstimmung geherrscht hatte, machte sich in der zweiten Woche Verunsicherung breit. Aber anstatt in dieser Situation einen der Gründer anzurufen oder aufzugeben, sprachen die Mitarbeitenden miteinander und tauschten sich aus, um Probleme kooperativ gemeinsam zu lösen. Auf diese Weise stärkten sie von Tag zu Tag die Selbstwirksamkeit und das Selbstvertrauen in ihre eigenen Rollen. Ein ausschlaggebender Punkt für den Erfolg des Rückzuges war die sechsmonatige Planungszeit im Vorfeld, in der die Gründer Klarheit, Struktur und Transparenz für die Mitarbeitenden geschaffen haben. Die Mitarbeitenden erhielten klare Rollenzuteilungen. »Jedes Problem hat eine konkrete Anlaufstelle gehabt. Und durch klare Vorgabe an KPIs konnten die Mitarbeitenden innerhalb des Wirkungskreises eigenständig und kooperativ Maßnahmen ergreifen, um ihre Leistungskennzahlen zu optimieren«, sagt Frenk. Damit schafften die Gründer nicht nur eine klare Zuweisung der Zuständigkeiten, sondern auch Transparenz im Unternehmen. Falls es dabei Überschneidungen gab oder ein Puzzle-Teil nicht zugeteilt war, konnten die Mitarbeitenden eigenständig Lösungen finden.
Mein Fazit: Unternehmen und Mitarbeitende werden immer wieder neuen Veränderungen und Rahmenbedingungen ausgesetzt sein. Dabei sollten die fünf Erfolgsfaktoren von Google allerdings nie vergessen, sondern immer wieder herangezogen werden, um eine Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit im Unternehmen zu schaffen. Die Praxisbeispiele zeigen auch, dass dafür gar nicht viel Budget erforderlich ist. Es geht nicht immer um kreative und innovative Methoden und Strukturen. Vielmehr geht es um die Haltung und den Anspruch an die eigene Zusammenarbeit: Nicht nur das Unternehmen soll von seinen Mitarbeitenden profitieren, sondern auch die Mitarbeitenden vom Unternehmen.
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Manche Bewerbungsgespräche verlaufen vollkommen anders als geplant. Tanja, Ende zwanzig und mit einem fantastischen Lebenslauf – länger als der Abspann von Herr der Ringe – war die erste Kandidatin, die an diesem Tag vor mir saß. Sie hatte auf alles sofort eine passende Antwort, bis ich sie irgendwann im Verlaufe unseres Gespräches fragte, wieso sie bei ihrem vorherigen Arbeitgeber gekündigt hatte. Es wurde eine Zeitlang still, dann sagte sie leise: »Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, wie ich behandelt wurde. Alle haben es mitbekommen, aber niemand hat sich getraut, etwas zu sagen.« Dieser Satz vibrierte in der Luft. Tränen liefen ihr über die Wange, sie zitterte.
Im ersten Moment dachte ich, dass sie nun über ihren Vorgesetzten lästern würde, was mir ein ungutes Gefühl bereitete. Dann aber begriff ich, worum es eigentlich ging. Tanja erzählte von einer Führungskraft, die offenbar extrem narzisstische Züge besaß. Fehler wurden bestraft, Erfolge als die eigenen verbucht. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, trafen sie seine Blicke wie ein Schwarm Mücken, als säße sie auf dem Motorrad ohne Helm. Aber auch verbal teilte ihr Chef bei jeder Gelegenheit aus – und wenn auch nur die Tassen im Schrank nicht richtig geordnet waren. In der Folge nahm Tanjas Leistungsfähigkeit immer mehr ab, ihre Selbstzweifel dagegen zu. Täglich saß sie bei der Arbeit weinend auf der Toilette. Dann kam der Burnout und sie kündigte.
Um anderen solche Erfahrungen zu ersparen, wollte sie zu uns ins Team kommen. Ihr Anliegen war es, ein Bewusstsein für toxische Arbeitsumfelder zu schaffen, sie wollte narzisstischen und anderen toxisch ungesunden Verhaltensweisen entgegenwirken und einen Beitrag zu einer gesünderen Arbeitswelt leisten. Wenn ich ehrlich bin, dann war es Tanja, die mich an diesem Tag unbewusst davon überzeugt hatte, dem Thema Narzissmus im Rahmen dieses Buches mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Für Tanja und alle anderen Menschen, die eine bessere Arbeitskultur verdient haben.
Bis zu diesem Tag dachte ich, dass Narzissmus eher etwas ist, das für toxische Liebesbeziehungen sorgt. Erstmals aufmerksam gemacht wurde ich auf dieses Buzzword bereits 2013 durch einen Artikel im »Time Magazine« mit folgendem Titel: »Millenials – The Me Me Me Generation«. Seitdem geistert das Thema durch die Medien und Netzwerke. Aber bis ich Tanja kennenlernte, dachte ich, dass wir einfach nur etwas Geduld haben müssten, bis die alten weißen Männer mit Geltungsdrang vom Chefsessel in den Ruhestand fallen und ersetzt werden durch junge offene Work-Life-Balance-Generation-Z-Menschen, die Mental Health in ihrer DNA haben, ebenso wie gewaltfreie Kommunikation. Dann nämlich, so mein Gedanke, würde die Arbeitswelt gerechter, kollaborativer und sozialer sein. Damit lag ich leider falsch, wie eine der weltweit größten Studien zum Thema Narzissmus aus dem Jahr 2020 zeigt.60 Gerade die Generation U 30 stellt die meisten Narzisst:innen unter aller Altersgruppen. Gründe gibt es dafür genug: zum Beispiel der ständige Vergleich und die Bewertung auf Social Media, ebenso der Wettbewerbsdruck und der Fokus auf Leistung, Erfolg und Macht. Die gute Nachricht übrigens: Mit dem Alter nimmt der Narzissmus ab.
An dieser Stelle möchte ich allerdings festhalten, dass weder in der Studie noch in diesem Kapitel über die pathologische Persönlichkeitsstörung Narzissmus gesprochen wird, von der nur sehr wenige Menschen betroffen sind, sondern von der subklinischen Persönlichkeitseigenschaft Narzissmus, die mit Machiavellismus und Psychopathie in der Psychologie auch als »dunkle Triade« bezeichnet wird und in jedem Menschen von uns in unterschiedlicher Ausprägung stecken soll. Wir sprechen hier also von einer Charaktereigenschaft, die zu vergleichen ist mit Schüchternheit, Kreativität oder Hilfsbereitschaft.
Damit sind narzisstische Verhaltensweisen grundsätzlich nicht immer nur negativ zu bewerten. Denn gerade geringe Narzissmus-Werte resultieren aus einem geringen Selbstwertgefühl und drücken sich zum Beispiel in Willensschwäche und Passivität aus. Ein Mangel an Narzissmus führt also dazu, dass wir kein Durchhaltevermögen haben, wenn der Weg mal etwas steiniger wird, dass wir unfähig sind, uns abzugrenzen und uns Gehör zu verschaffen. Wir brauchen also eine gewisse Portion Narzissmus, um andere Menschen mitreißen zu können, um motiviert und leistungsfähig zu sein. Studien zeigen, dass Führungskräfte, die einen Narzissmuspegel haben, der mit den Durchschnittswerten der Normalbevölkerung übereinstimmt, den stabilsten Erfolg und die zufriedensten Mitarbeiter:innen haben.61 Das können wir uns wie eine umgekehrte U-Kurve vorstellen: »Eine minimale Ausprägung an narzisstischem Verhalten kann durchaus förderlich sein in Bezug auf Leadership Effectiveness, kippt aber sehr schnell ins Negative und wird dann wirklich eher hinderlich bis hin zu toxisch«, erklärt mir Florian Feltes, einer der Studienleiter der genannten Narzissmus-Studie und Professor für Digital Leadership und HR an der XU Exponential University in Potsdam. Solche eher toxischen Menschen weisen einen extremen Minderwertigkeitskomplex auf, sind stark abhängig von hoher Aufmerksamkeit und Bewertung von außen, haben eine sehr geringe Empathiefähigkeit, sind extrem kritikunfähig und so sehr von sich überzeugt, dass ihnen Macht und Anerkennung zustehen müssen. Wenn solche Menschen Führungskräfte im Unternehmen sind, hat das natürlich verheerende Auswirkungen auf Mitarbeitende und Kolleg:innen. Eine befragte Teilnehmerin der bereits genannten Studie hat es so ausgedrückt: »Der Narzisst ist wie die Sonne. (…) Wenn man der Sonne zu nah kommt, verbrennt man. Wenn man sich zu weit entfernt, erfriert man.«62 Narzisstische Führungskräfte weisen oftmals Erfolge anderer als ihre eigenen aus und schreiben Misserfolge ausnahmslos anderen Menschen zu. Statt die Ziele des Unternehmens oder des Teams zu verfolgen, konzentrieren sich diese Menschen oft auf ihre eigenen Ziele. Nicht selten behalten Narzissten ihr Wissen und ihre Erkenntnisse für sich, anstatt sie im Unternehmen oder im Team zu teilen. Narzisstische Menschen manipulieren andere so sehr, dass diese immer ängstlicher und nervöser werden. Zudem umgeben sie sich mit Ja-Sager:innen, was heterogene und diverse Teams verhindert.
Aus der eingangs genannten Studie geht hervor, dass jede befragte Person schon mal Erfahrung mit Narzist:innen im Unternehmenskontext gemacht hat. Die Studie zeigt übrigens auch: Je höher jemand auf der Karriereleiter geklettert ist, desto ausgeprägter sind die narzisstischen Verhaltensweisen. Unter solchen Arbeitsbedingungen möchte niemand arbeiten. Die einen kündigen, die anderen bleiben zwar, aber werfen innerlich die Brocken hin. Und das hat Folgen: Nach einem Bericht des Beratungsunternehmens Gallup kostet ein geringes Mitarbeitenden-Engagement die Weltwirtschaft 8,8 Billionen Dollar pro Jahr.63
Doch was ist die Lösung für mehr Verbundenheit und Zusammenarbeit im Unternehmenskontext? Der Versuch, viele narzisstische Menschen zu einem inneren Wandel zu bewegen, ist nicht nur schwierig, er ist aussichtslos. Denn für eine Veränderung braucht es vor allem eines: Einsicht. Und die gehört nicht unbedingt zu den Stärken von Narzisst:innen. Was bleibt, ist der eigene Wandel, und zwar dahingehend, dass wir selbst lernen, wie wir am besten mit Narzisst:innen im Arbeitskontext umgehen, um nicht auszubrennen. Dazu hat mir der Psychiater Dr. Pablo Hagemeyer und Bestseller-Autor des Buches »Gestatten, ich bin ein Arschloch« in unserem Telefonat drei Tipps gegeben:
Darüber hinaus können Unternehmen im Rahmen der Personalauswahlverfahren darauf achten, dass keine narzisstischen Führungskräfte nachrücken. Hier helfen beispielsweise KI-gestützte Persönlichkeits- und soziale Situationstests, die Personen auf narzisstische Verhaltensweisen analysieren. Werden Menschen mit stark negativen narzisstischen Verhaltensweisen erkannt, kann es sinnvoll sein, ihnen einen Karriereweg zu ermöglichen, auf dem sie weniger negative Auswirkungen auf andere haben: Das wäre zum Beispiel bei einer Expert:innen-Rolle der Fall, wo diese Arbeitskräfte hervorragend ihre Stärken einbringen können.
Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Es ist leider so, dass sich narzisstische Führungskräfte gern mit Gleichgesinnten umgeben, oder anders ausgedrückt: Sie ziehen narzisstische Menschen an. Das nennt sich dann kollektiver Narzissmus. Gleichzeitig fördern, dulden und belohnen Unternehmen immer noch narzisstische Verhaltensweisen, indem sie an veralteten Strukturen festhalten, die eher auf Wettbewerb als auf Zusammenarbeit ausgerichtet sind. Der Fokus liegt auf Performance und damit auf dem finanziellen Erfolg. Dafür wird in Kauf genommen, dass die Unternehmenskultur vergiftet wird. Es ist nicht die eine Person, die an allem schuld ist. Es ist das Umfeld im Unternehmen, das ein solches Verhalten verstärkt und belohnt. Es ist paradox: Wir erziehen uns regelrecht Narzist:innen, obwohl sie eigentlich keiner will. Daher braucht es neben dem inneren Wandel, den ich in diesem Buch ausführlich beschreibe, auch eine äußere Veränderung, also in unserer Gesellschaft generell.
Nach der Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Tania Singer und dem von ihr entwickelten Caring-Economics-Ansatz zeigt die Motivationspsychologie eindeutig, dass unser Umfeld, der Kontext, in dem wir uns bewegen, Einfluss auf unser Verhalten hat und maßgeblich unsere Motivationssysteme aktiviert – entgegen der Annahme vieler Verhaltensökonomen. Solange also die Wirtschaftswelt immer noch maßgeblich von belohnungs- und bedrohungsorientierten Motivationssystemen geprägt ist und sozial orientierte Motivationssysteme vernachlässigt, wird für Singer und Wirtschaftswissenschaftler Dennis Snower ein empathisches und sozial orientiertes Verhalten am Arbeitsplatz schwierig: »Der empathischste Familienmensch wird sich auf der Arbeit egoistisch verhalten, wenn wir nicht endlich das institutionelle Design der Institution, das heißt auch kontextuelle Faktoren, verändern«, sagt mir Singer. Während also der bisherige Fokus auf Macht, Konsum und Leistung weiterhin eher Stress und Konkurrenzdenken aktiviert, würde der Fokus auf ein »Care-System«, also unsere Fürsorge, prosoziales Verhalten fördern, wie Singer in einer Studie zeigen konnte. Hierbei wurde das Care-System von einer Gruppe von Menschen ohne deren Wissen mit süßen Hundevideos aktiviert. An einem anderen Tag wurde hingegen das Macht-Motivationssystem aktiviert. Daneben gab es noch eine Kontrollgruppe. Als alle Teilnehmer:innen anschließend in einem zweiten Experiment spielerisch wirtschaftliche Entscheidungen treffen mussten, zeigte sich, dass die erste Gruppe, also jene Menschen, die viele Hundevideos geschaut hatten, sich deutlich kooperativer und vertrauensvoller verhielt als die Kontrollgruppe. Die Menschen, deren Macht-Motivationssystem zuvor aktiviert wurde, waren deutlich konfliktorientierter.64
Es geht nicht darum, das aktuelle System zu ersetzen oder ein komplett neues Wirtschaftsmodell zu fordern. Es geht vielmehr darum, dass wir den Kontext erweitern beziehungsweise ergänzen müssen. Es geht darum, alle drei Klassen von Motivationssystemen in Einklang zu bringen. Denn während das anreizorientierte Motivationssystem nach Singer das Hormon Dopamin ausschüttet und süchtig machen kann, weil wir immer mehr davon haben wollen, stärkt das bedrohungsorientierte Motivationssystem unseren Stresslevel und die Cortisol-Produktion, da wir Angst haben, Macht und Geld zu verlieren. Nur das sozial orientierte Motivationssystem sorgt für die Produktion von Opiaten oder Oxytocin, dass schmerzstillend ist und uns körperlich und seelisch beruhigt.
Daran ist leicht zu erkennen, dass es keinen Sinn ergibt, ausschließlich sozial orientiert zu arbeiten, da wir dann überhaupt keine Motivation zur Leistungsfähigkeit haben. Sich aber ausschließlich auf die anderen beiden Motivationssysteme zu fokussieren, macht uns dagegen süchtig und krank. Es braucht Unternehmen, die den Rahmen dafür schaffen, alle drei Motivationssysteme in Einklang zu bringen.
Diese Notwendigkeit haben einige Unternehmen in den USA bereits erkannt. So haben zum Beispiel 2019 Konzerne wie Apple, Amazon, Walmart, Pepsi und die Unternehmensberatung Accenture gemeinsam in einer Erklärung verkündet, dass sie zunehmend den Fokus ihres Wirtschaftens auf die Stakeholder legen und eben nicht mehr ausschließlich auf Shareholder.65 Es geht also als oberstes Ziel nicht mehr ausschließlich um die Gewinnmaximierung für Aktionäre, sondern um die Verpflichtung gegenüber allen Anspruchsgruppen, einschließlich der eigenen Mitarbeitenden. Obwohl es sich hier nicht um einen konkreten Umsetzungsplan handelt, sondern vielmehr um eine Missionserklärung, wird die richtige Richtung eingeschlagen.
Ein konkreter Umsetzungsplan hingegen ist die Gemeinwohl-Bilanz, die ein Bestandteil der Bewegung zur Gemeinwohl-Ökonomie ist, die der Autor und politische Aktivist Christian Felber aus Österreich bereits 2010 initiierte. Die Idee der Gemeinwohl-Bilanz ist, dass neben der gesetzlich erforderlichen Bilanz eines Unternehmens eine zusätzliche Bilanz erstellt wird, die den Beitrag zum Wohl der Gesellschaft bemisst. Die Unternehmen werden dabei auf Basis der Verfassungswerte Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und demokratische Mitentscheidung bewertet: »Die Gemeinwohl-Bilanz misst, wie diese Grundwerte gegenüber den Berührungsgruppen eines Unternehmens gelebt werden. Berührungsgruppen sind alle Personengruppen, die von der Tätigkeit eines Unternehmens betroffen sind oder mit diesem direkt in Beziehung stehen: Zuliefer:innen, Geldgeber:innen, Mitarbeiter:innen, Kund:innen, Mitunternehmen, Standortgemeinden, zukünftige Generationen und die Umwelt einschließlich Weltklima«, schreibt Christian Felber in seinem Buch.66
Im Rahmen dieser Bewertung gibt es insgesamt zwanzig Themen, die wiederum in weitere Negativ- und Positivaspekte aufgeschlüsselt werden. So wird zum Beispiel das Thema Menschenwürde am Arbeitsplatz in Aspekte wie Mitarbeitenden-orientierte Unternehmenskultur, Diversität und Chancengleichheit sowie menschenunwürdige Arbeitsbedingungen aufgeschlüsselt. Diese einzelnen Aspekte werden in Gemeinwohl-Punkten bewertet und zusammengerechnet, sodass sich am Ende eine Summe ergibt: das Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnis. Diese Bilanz wird durch einen externen Auditor auf Richtigkeit geprüft.
Damit wird ein Umfeld geschaffen, das ein soziales, kooperatives Verhalten fördert und belohnt und die Zusammenarbeit und das Gemeinwohl aller Beteiligten in den Vordergrund stellt. Auf diese Weise machen sich Unternehmen ethisch, sozial und nachhaltig vergleichbar und zeigen transparent auf, welche Auswirkungen ihr Handeln auf Umwelt und Gesellschaft hat. Tausende Unternehmen in unterschiedlichen Ländern lassen bereits eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen, so zum Beispiel auch der Outdoor-Ausrüster VAUDE oder die Spardabank München, bei der sich die Initiativbewerbungen verdoppelt haben, nachdem dies öffentlich bekannt geworden war. »Eine Gemeinwohl-Bilanz kann ein Magnet für ethisch ausgerichtete Arbeitskräfte sein«, sagt Felber mir bei meinem Besuch in Wien. Für VAUDE-Geschäftsführerin Antje von Dewitz ist die Gemeinwohl-Bilanz aber viel mehr, da sie auch das Verständnis für ethische Konflikte fördert: Denn jedes Unternehmen muss sich mit den unterschiedlichen Perspektiven seiner Stakeholder auseinandersetzen – die einen profitieren, bei den anderen entsteht ein Schaden. »Wir sind das beste Beispiel dafür, dass erfolgreiches Wirtschaften auch in einer globalisierten Welt menschlich, umweltfreundlich und werteorientiert funktionieren kann«, sagt mir von Dewitz.
Während die Gemeinwohl-Bilanz für Unternehmen freiwillig ist, sorgt eine neue Richtlinie der EU für eine verpflichtende Nachhaltigkeitsberichterstattung, die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) genannt wird. Demnach müssen in den nächsten Jahren immer mehr Unternehmen umfassender und nach einheitlicheren Maßstäben über ihre Nachhaltigkeit Bericht erstatten.
Dabei werden sie nach den sogenannten ESG-Richtlinien bewertet:
Schon jetzt greifen Investoren bei der Beurteilung einer Investition und Unternehmen bei der Bewertung von erreichten Nachhaltigkeitszielen immer mehr auf diese ESG-Richtlinien zurück. Bis bundesweit alle Unternehmen von der gesetzlichen Pflicht betroffen sind, wird es aber noch ein paar Jahre dauern. Umso mehr braucht es jetzt Kennzahlen im Unternehmen, die ein menschlicheres, sozialeres, nachhaltigeres und ethisch korrektes Wirtschaften ermöglichen.
Bodo Janssen war ein Narzisst. Das sage nicht ich, sondern er selbst. Im Jahr 2007 übernahm er die Geschäftsführung seiner Eltern, als sein Vater bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben kam. Das Unternehmen Upstalsboom zählt mit über 600 Mitarbeitenden zu den führenden Anbietern von Hotels und Ferienanlagen an der Nord- und Ostsee – und ist dir vielleicht noch aus dem vorherigen Kapitel in Erinnerung. In den ersten Jahren war Bodo Janssen der Typ Manager, der von sich und seiner Welt sehr eingenommen war: »Ich schaute in den Spiegel, nicht nur um die Haare zu machen, sondern um mir selbst auf die Schulter zu klopfen«, erzählte er. Er war der typische Geschäftsführer, der nur auf Zahlen, Daten und Fakten fixiert war und in dem größten Büro vor dem größten Schreibtisch in seinem Chefsessel saß und das Unternehmen durch sein gigantisches Kennzahlen-Cockpit steuerte. Manchmal auch mit Zuckerbrot und Peitsche, um Mitarbeitende dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie sonst nicht machen würden.
Nach den ersten beachtlichen Erfolgen wurden die Mitarbeitenden unruhig, die Fluktuation wuchs, es bewarben sich immer weniger Leute auf neue Stellen, die Krankheitstage stiegen und die Umsätze gingen immer mehr zurück. Schließlich stellte Janssen 2010 einen neuen Personalleiter ein, der eine Lösung finden sollte, um die Mitarbeitenden und damit das Unternehmen wieder auf Kurs zu bringen. Dessen erste Amtshandlung war eine Mitarbeitenden-Befragung, die für Janssen vernichtend war. Auf die Frage: »Was braucht ihr, um besser zu arbeiten?«, gab es eine eindeutige Antwort: »Einen anderen Chef als Bodo Janssen.«
Das tat weh. »Ich hatte ein Ego, das hätte nicht mal ansatzweise in eine Turnhalle gepasst. Und das schrumpfte innerhalb von Sekunden auf die Größe einer Erbse«, sagt Janssen mir bei meinem Besuch in Emden. Er musste etwas ändern. Über eineinhalb Jahre ging er regelmäßig ins Kloster, um von dem Benediktinermönch Anselm Grün zu lernen, worauf es bei der Führung von Mitarbeitenden ankommt.
Zwei Erkenntnisse verfestigten sich dabei sehr schnell:
Ab jetzt änderte sich alles. Janssen nahm seine Mitarbeitenden mit auf eine Reise, indem er sie einlud, die gleichen Erfahrungen zu machen wie er. Er leitete einen Paradigmenwechsel ein, der als »Upstalsboom Weg« bezeichnet wird und der nach dem »Harvard Business manager« zum beeindruckendsten Wandel in der deutschen Management-Geschichte gehört. Janssen hat gelernt, dass Mitarbeitende nicht als Mittel verstanden werden dürfen, um einen höheren Zweck zu erreichen, wie zum Beispiel die Rentabilität des Unternehmens. Vielmehr geht es darum, dass sich das Unternehmen als Mittel versteht, um Menschen zu stärken und Möglichkeiten zu schaffen, ihr volles Potenzial zu entfalten. Janssens Ziel ist es nun, dass Mitarbeitende das Unternehmen am Abend aufrechter verlassen, als sie es am Morgen betreten haben. Die Finanzkennzahlen sind damit in den Hintergrund gerückt: »Wirtschaftlichkeit ist heute nicht mehr Sinn unseres Handelns, wohl aber die Basis unserer Existenz«, sagt Janssen. »Sie dient dem Menschen.« So wurden auch soziale Projekte gestartet, in Ruanda werden zum Beispiel durch die Hilfe von Upstalsboom Schulen gebaut. Aber auch um Auszubildende kümmert sich das Unternehmen nun intensiver. Alle zwei Jahre findet eine »Tour des Lebens« statt, wie etwa die Besteigung des knapp 6.000 Meter hohen Kilimandscharo. Ziel von Janssen ist es, die Mitarbeitenden fit für sich selbst zu machen, unabhängig vom Unternehmen.
Aber was heißt das alles nun wirtschaftlich für Upstalsboom? In den drei Jahren der Transformation verdoppelte sich der Umsatz. Die Produktivität erhöhte sich signifikant und die Krankheitsquote sank von über zwölf auf unter zwei Prozent. Dafür stieg die Zufriedenheit der Mitarbeitenden auf 80 Prozent und die Fluktuation sank unter fünf Prozent (in der Hotellerie sind im Durchschnitt 30 Prozent üblich). Und die Marketingkosten reduzierten sich, da sich Upstalsbooms Geschichte schnell verbreitete.
»Seit ich nicht mehr panisch auf die Zahlen schiele, laufen die Geschäfte viel besser. Damals sind mir die Menschen davongerannt, heute haben wir Wartelisten für freie Stellen«, sagt Janssen. Upstalsboom wurde 2018 nach dem F.A.Z.-Institut sogar zum begehrtesten Arbeitgeber in der Hotellerie. Janssen hat mit Upstalsboom auf eine sehr beeindruckende Art und Weise gezeigt, dass ein innerer Wandel auch zu einer positiven äußeren Veränderung führen kann. Und der Weg ist noch lange nicht vorbei. Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess.
Mein Fazit: Ich bin der Überzeugung, dass unternehmerischer Erfolg zukünftig nicht nur durch Finanzkennzahlen bemessen werden darf, sondern auch Kennzahlen benötigt, die soziales und ökologisches Engagement widerspiegeln. Jon Clifton, CEO bei Gallup, hat es in einem Interview auf den Punkt gebracht, das ich mal zusammenfasse:67 Vor 70 Jahren kam der amerikanische Ökonom Simon Kuznets auf die Idee, dass wir in der Wirtschaft eine Zahl brauchen, die zeigt, ob die Wirtschaft größer oder kleiner geworden ist. Das war die Geburtsstunde des Bruttonationalprodukts. Diese Kennzahl sagt aber überhaupt nichts über die Gefühle und Gedanken der Menschen aus. Wenn ein Unternehmen um zehn Prozent wächst, können wir nicht erkennen, ob Menschenrechte verletzt oder ökologische Lebensgrundlagen zerstört werden. Wir sehen nicht, ob wir mehr Ärger, Traurigkeit oder Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden haben. Alles, was das Leben lebenswert macht, wird in diesen nackten Finanzkennzahlen überhaupt nicht abgebildet. Clifton aber kann aufgrund der Datensätze bei Gallup erkennen, dass sich die Gefühlslage der Menschen in 150 Ländern über die letzten zehn Jahre verschlechtert hat.
Was wäre also, wenn wir zusätzlich zu den wirtschaftlichen Kennzahlen auch soziale Kennzahlen ermitteln würden? Würden wir dann nicht statt eines stetigen Wettbewerbsumfelds auch immer mal wieder ein Kooperationsumfeld schaffen, das sozial orientierte Motive aktiviert? Würden wir dadurch nicht eine Umgebung kreieren, die Narzist:innen nicht belohnt und fördert, sondern eher abschreckt? Was Menschen wirklich im Unternehmenskontext brauchen, das haben die psychologischen, neurowissenschaftlichen und biologischen Erkenntnisse längst gezeigt. Jetzt müssen sie auch endlich in der Wirtschaft Berücksichtigung finden und eingebracht werden. Das Ziel muss es sein, den gesamten Planeten global zur Kooperation zu bringen. Eine Unternehmenskultur ist nur stark, wenn wir miteinander und füreinander arbeiten. Und sie ist schwach, wenn wir gegeneinander und nur für uns selbst agieren.
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