Künstliche Intelligenz wird in Zukunft nicht mehr aus unserer Arbeitswelt wegzudenken sein. Sie wird unsere Produktivität signifikant steigern. Einigen Menschen macht dies Angst. Aber ist es wirklich sinnvoll, uns mit diesen Technologien zu vergleichen oder sogar zu messen? Maschinen werden immer schneller rechnen, effektiver Fehler finden und sie brennen niemals aus. Anstatt uns auf einen Verdrängungswettbewerb zwischen Mensch und Maschine zu fokussieren, sollten wir uns lieber auf die wechselseitige Ergänzung konzentrieren – und damit auf die Fähigkeiten, die uns als Menschen ausmachen. Oft werden diese zwischenmenschlichen Fähigkeiten als Soft Skills bezeichnet, als Gegensatz zu den Hard Skills, die wir spezifisch für unseren Job brauchen – beide Fähigkeiten stehen in der Wahrnehmung vieler in Konkurrenz zueinander. Daher folge ich dem Vorschlag des amerikanischen Philosophen und Autors Simon Sinek, diese Fähigkeiten lieber als Human Skills zu bezeichnen, die es uns erlauben, zu besseren Mitarbeitenden zu werden. Einen Teil dieser Human Skills schauen wir uns in diesem Kapitel gemeinsam etwas genauer an. Wir können und sollten sie im Alltag trainieren, um tiefere Beziehungen zu knüpfen, Innovationen voranzutreiben, bessere Entscheidungen zu treffen und die Zusammenarbeit bei der Arbeit zu fördern. Denn der Einsatz von Künstlicher Intelligenz braucht zukünftig humane Intelligenz, die sich aus der Qualität unserer Human Skills bildet.
Bei diesem Thema muss ich immer wieder an eine Szene denken, die sich vor einigen Jahren in einer Firma abspielte, in der ich ein Praktikum absolvierte. Ein Kollege von mir wurde ins Büro der Chefin gerufen. Das war so ein komplett verglaster Kasten am Ende des Flures, wo auch mein Schreibtisch stand. Ein Arbeitsplatz, den andere offenbar nicht haben wollten. An diesem Tag sollte ich eine Ahnung davon bekommen, warum das so war.
Mein Kollege ging also in dieses Büro, schloss aber aus Versehen die Tür nicht richtig, wodurch sie einen Spalt weit offen stand und ich jedes Wort mithören konnte. Jedenfalls von unserer Chefin, denn mein Kollege gab keinen einzigen Ton von sich. »Deine Verkaufszahlen sind bereits seit drei Quartalen unter den Zielen«, begann unsere Chefin. »Du musst jetzt endlich anziehen, sonst kann ich nicht garantieren, ob du auch weiterhin eine Zukunft bei uns hast.«
Als ich später mit meinem Kollegen beim Mittagessen war, hing sein Kopf so tief, dass er fast in der Suppe ertrank, die vor ihm stand. Er erzählte mir, dass er vor einigen Monaten von seiner Jugendliebe verlassen worden war, nur zwei Monate, bevor sie hatten heiraten wollen. 15 Jahre waren die beiden ein Paar gewesen. Seitdem bekäme er nichts mehr auf die Reihe, und er sei froh, wenn er beim Rasieren nicht verblute. Ich versuchte ihn davon zu überzeugen, unserer Chefin von seiner privaten Situation zu erzählen, sie würde dafür bestimmt Verständnis haben. Aber mein Kollege schüttelte nur den Kopf und sagte, dass er das Gefühl habe, dass sich unsere Chefin dafür ganz sicher nicht interessiere und erst recht kein Verständnis zeigen würde. Womöglich hatte er damit recht.
In den folgenden Wochen war mein Kollege noch unmotivierter als vorher und darüber hinaus verängstigt. Er machte Fehler, einen nach dem anderen. Eben erst war seine große Liebe gegangen – und nun sah es so aus, als ob er auch noch seinen Job verlieren würde. Ich habe nie erfahren, wie es ausgegangen ist. Noch heute frage ich mich das. Und ich frage mich, was wohl passiert wäre, wenn unsere damalige Chefin anders an die Sache herangegangen wäre. Wenn sie meinem Kollegen zwar gesagt hätte, dass seine Verkaufszahlen schon länger hinter seinen Zielen lagen – dann aber auf ihn eingegangen wäre. »Geht es dir gut?«, hätte sie fragen können. »Ich mache mir gerade Sorgen um dich!« Um ihn, den Kollegen, nicht um die Zahlen! Sie hätte ihm anbieten können, über seine Situation zu sprechen, eine Lösung zu finden.
Was wäre wohl passiert, wenn das Gespräch zwischen den beiden einen solchen Verlauf genommen hätte? Diese Frage habe ich mir lange Zeit gestellt. Inzwischen bin ich zu der Antwort gekommen, dass ein solches Gespräch Mitarbeitende einlädt, sich zu öffnen, von sich zu erzählen, um gemeinsam nach einer Lösung zu suchen.
Ich bin davon überzeugt: Wann immer jemand angetrieben wird durch ein Motivationssystem, das entweder die Möglichkeit auf Belohnung oder, noch schlimmer, die Angst vor Bestrafung in Aussicht stellt, wird er nie sein komplettes Potenzial entfalten können. Weil der Antrieb nicht aus ihm selbst heraus kommt. Leider sind es aber genau diese zwei Prinzipien, nach denen in den allermeisten Unternehmen gehandelt wird. Das muss sich ändern!
Jeder von uns möchte bei der Arbeit abliefern und Leistung bringen. Wir alle wollen das Beste geben und zufrieden nach Hause gehen. Aber manchmal gibt es leider Herausforderungen und Umstände, die uns daran hindern. Das Kind ist krank oder die Heizung im Haus hat den Geist aufgegeben. Vielleicht ist gerade ein privater Streit mit einem Herzensmenschen ausgebrochen oder die Auswirkungen der Periode sind in diesem Monat intensiver als sonst. Gründe gibt es mehr als Krankmeldungen eines Mitarbeitenden pro Jahr. Natürlich haben diese Gefühle, Konflikte, Sorgen und Ängste Auswirkung auf unsere Performance bei der Arbeit. Wir sind eben keine Roboter (zum Glück nicht), sondern Menschen.
In vielen Unternehmen, für viele Führungskräfte und auch für Mitarbeitende haben Emotionen und Bedürfnisse oft aber keinen Platz, weil eben immer noch stark nach den eingangs erwähnten Motivationssystemen mit Fokus auf Belohnung und Bestrafung gehandelt wird. Statt Mitarbeitende als Menschen mit all ihren Bedürfnissen und Emotionen zu betrachten, werden sie immer noch als Arbeitsressource behandelt, die gefälligst ihre Leistung zu erbringen haben. Aber die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem verwischen immer mehr, wenn sich beispielsweise in Online-Meetings Babys und Hunde dazugesellen – und darüber hinaus immer mehr Emotionen im Arbeitsleben gefragt sind. Mal ganz davon abgesehen, dass auch die zunehmende Digitalisierung und Integration von Künstlicher Intelligenz soziale Kompetenzen immer mehr in den Fokus rücken werden.
Während die meisten Führungskräfte noch nicht die Notwendigkeit der Veränderung sehen, sehnen sich Mitarbeitende bereits sehr stark nach einem stärkeren empathischen Verhalten im Unternehmenskontext. So wünschen sich beispielsweise die knapp 4.000 befragten Mitarbeiter:innen aus vier europäischen Ländern einer Studie der amerikanischen Unternehmensberatung Boston Consulting Group, dass Führungskräfte vor allem mehr »Herzqualität« zeigen, das heißt mehr Zuhörerskills, Einfühlungsvermögen und eben Empathie.1
Aber was bedeutet Empathie konkret? Es gibt keine einheitliche, konkrete Definition, auf die sich die Expertenwelt festgelegt hat. Die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Tania Singer, die weltweit führende Forscherin zu diesem Thema, beschreibt Empathie in unserem Gespräch als die »Fähigkeit zur emotionalen Resonanz, also die Fähigkeit, mit den Gefühlen des anderen mitzuschwingen und sich dadurch in den anderen einzufühlen«. Zudem mag ich die Betrachtung des renommierten amerikanischen Philosophen und Autoren Simon Sinek. Er sagt: »Empathie bedeutet, sich um den Menschen zu kümmern und nicht nur um seine Leistung.«2
Es geht also auch darum, Interesse an anderen Menschen zu haben. Um das Verlangen, mit ihnen in Kontakt zu treten, ihre Emotionen und Gefühle zu erkennen und zu verstehen, und letztlich auch darum, ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt ausschließlich ihre Leistungen und Ergebnisse zu beurteilen. Kurz: Empathie ist die Basis für vertrauensvolle und gelingende Beziehungen mit anderen Personen. Durch Empathie wird ein Umfeld geschaffen, in dem wir uns mit anderen verbunden fühlen, zugehörig. Ein Umfeld, in dem sich Menschen nicht nur wohlfühlen, sondern auch (besser) performen.
Wenn du jetzt an ein Wolkenkuckucksland denkst, in dem sich alle nur lieb haben, mit Dauerumarmungen und geflügelten Einhörnern, die über einen Regenbogen reiten, dann liegst du falsch. Eine der richtungsweisenden Expertinnen für empathische Führung in Deutschland, Lunia Hara, Director Managerin des Dienstleistungsunternehmens Diconium, erklärt mir beim persönlichen Treffen in Berlin: »Empathie zu haben heißt übrigens nicht, immer weich zu sein, sondern durchaus auch, Nein zu sagen und nicht zuzustimmen, wenn ich anderer Meinung bin.« Vielmehr geht es darum, Probleme und Themen offen anzusprechen und dabei die Emotionen und Gefühle des anderen zu berücksichtigen. Also die Person genau dort abzuholen, wo sie sich gerade befindet.
Wenn dir das gelingt, bietet Empathie ein enormes Potenzial für Innovation, Wohlstand, Produktivität und Mitarbeitendenbindung. So zeigt zum Beispiel die Umfrage von Catalyst, einer globalen gemeinnützigen Organisation, die von vielen CEOs weltweit führender Unternehmen unterstützt wird, um Arbeitsplätze für Frauen zu schaffen, dass das empathische Verhalten von Führungskräften folgende Benefits bietet:
Kein Wunder also, dass Satya Nadella, der CEO von Microsoft, der Meinung ist, dass Empathie der Schlüssel zu fast allem ist, und er deshalb sein Unternehmen mit Empathie zum wertvollsten Unternehmen der Welt machen will.4 Und auch Hirnforscher, wie z. B. Prof. Dr. Gerald Hüther, propagieren längst, dass die Gesellschaft von morgen nicht die Intellektuellen prägen werden, sondern diejenigen, die gelernt haben, in der großen Gemeinschaft den Einzelnen und seine Talente zu erkennen und wertzuschätzen. Empathie ist demnach die größte Chance, die wir nutzen sollten. Nicht nur für die persönliche Zielerreichung, nicht nur für eine sozial gesunde Gesellschaft, sondern auch für ein wirtschaftlich stabiles Land. Der Ruf nach empathischer Führung, auch »compessionate leadership« genannt, ist gerade recht laut. Aber nicht nur Führungskräfte, wie Satya Nadella, können dazu maßgeblich etwas beitragen, sondern auch die Mitarbeitenden. Das sieht auch Lunia Hara so. Sie sagt mir: »Ein gemeinsames Ziel zu erreichen ist nur dann möglich, wenn ausreichend gegenseitige Empathie vorhanden ist. Gegenseitige Unterstützung, Zuhören, Verständnis aufbringen – all das braucht Empathie. Als Unternehmen bedeutet es, wahrzunehmen, was Mitarbeitende wirklich brauchen, und deren Bedürfnisse ernst zu nehmen.«
Wie genau sieht denn nun empathisches Verhalten im Arbeitskontext für Führungskraft und Mitarbeitende aus? Wie so oft beginnt die Reise natürlich zuerst bei dir: »Je besser du dich selbst kennst, umso einfacher wird es, auch andere Menschen zu verstehen«, sagt mir Hara. Ich habe bei mir selbst zum Beispiel irgendwann festgestellt, dass ich bei Gesprächen immer wieder versucht habe, die Pause meines Gegenübers zu nutzen, um meine Ideen oder Gedanken mitzuteilen. Während die andere Person noch sprach, habe ich mir schon überlegt, wie ich am besten darauf antworten könnte. Das führte dazu, dass ich gar nicht richtig präsent war, sondern nur zuhörte, um adäquat zu antworten, nicht aber, um den anderen wirklich zu verstehen.
Dieses Problem hat der amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Carl Ransom Rogers schon vor der Jahrtausendwende erkannt. Der Begründer der klinischen Gesprächstherapie und des Konzeptes »aktives Zuhören« sagte: »Es ist im Leben sehr selten, dass uns jemand zuhört und wirklich versteht, ohne gleich zu urteilen. Dies ist eine sehr eindringliche Erfahrung.«
Aber genau das zeichnet unser empathisches Verhalten aus: Den Gesprächspartner:innen zuhören, um zu verstehen. Der deutsche Rapper Sido hat es in meinen Augen in einem Interview auf den Punkt gebracht: »Weißt du, wie du jeden Menschen der Welt glücklich machen kannst? Mit einem Ohr. Du brauchst noch nicht mal zwei. Du brauchst nur ein Ohr. Du musst einem Menschen nur mal zuhören. Du musst nicht alles genauso sehen wie der andere. Nur einsehen, dass der vielleicht anders ist als du, das hinnehmen und ihm Verständnis zeigen. Das ist alles, womit du einen anderen Menschen glücklich machen kannst.«5
Was so einfach klingt – ist eigentlich auch einfach. Aber klar, das schaffen wir nicht, indem wir nebenbei in einem Meeting fragen, wie es der anderen Person geht, und direkt danach mit der Agenda weitermachen. Wir brauchen Zeit, die wir uns im Alltag nehmen sollten. Dann können wir erkennen, dass wir alle im Arbeitsalltag mehr gemeinsam haben, als uns eigentlich trennt. Es ist einfach, Menschen in Schubladen zu stecken. Es gibt uns. Und es gibt die anderen. Mitarbeitende, die neu sind. Und Mitarbeitende, die schon immer da waren. Mitarbeitende, die Führungskräfte sind und leiten. Menschen, die Visionen und Vorgaben umsetzen. Mitarbeitende, denen wir vertrauen. Und solche, denen wir eher aus dem Weg gehen. Mitarbeitende aus der Stadt. Mitarbeitende vom Land. Aber wenn wir zuhören, dann werden wir erkennen, dass wir mehr gemeinsam haben, als uns vielleicht trennt. Mitarbeitende, die früher Klassenclowns waren, Mitarbeitende, die in einer Patchwork-Familie leben, Mitarbeitende, die sich einsam fühlen, Mitarbeitende, die sich geliebt fühlen. Auf einmal ist es ein WIR. Wir, die es lieben, zu tanzen. Wir, die früher gemobbt worden sind. Wir, die traurig sind. Wir, die an eine bessere Arbeitswelt glauben. Wir, die den Sinn des Lebens gefunden haben. Lass uns aus dem ICH und DU ein WIR machen, indem wir endlich zuhören, um zu verstehen und nicht zu antworten. Hier sind es vor allem wieder die Führungskräfte, die lernen dürfen, anderen zuzuhören, anstatt selbst viel zu reden. Die Fragen stellen dürfen, um zu verstehen. Die Arbeitswelt ist viel zu komplex geworden, als dass eine Führungskraft allein die beste Entscheidung treffen kann. Warum nicht das Potenzial des Teams nutzen?
Empathisch zu sein und aktiv zuzuhören, heißt übrigens auch, dass wir damit aufhören, die Emotionen, Gefühle, Ängste und Sorgen anderer Menschen herunterzuspielen. Du weißt bestimmt, wie es sich anfühlt, wenn du dich einer Person anvertraust und Sätze zu hören bekommst wie: »Ach komm, so schlimm ist das doch nicht.« Oder: »Du hast schon ganz andere Sachen geschafft.«
Das ist bestimmt gut gemeint. Dein Gegenüber versucht, dich damit aufzumuntern, Lösungen anzubieten. Aber darum geht es in diesem Moment gar nicht. Und es hilft auch nicht. Oft brauchen wir in einer solchen Situation gar keine Lösung, jedenfalls nicht sofort, sondern vielleicht erst im zweiten Schritt. Was wir in diesem Moment brauchen, ist, dass wir mit unseren Themen gesehen und bestenfalls auch verstanden werden. Wenn unser Gegenüber nicht auf unsere Themen eingeht oder sie uns sogar auszureden versucht, denken wir, dass unsere Emotionen und Gefühle falsch sind. Aber das sind sie nicht, niemals.
Es geht also als Allererstes darum, zuzuhören und damit einen Raum zu schaffen, in dem sich unser Gegenüber wohlfühlt. Erst dann kannst du den anderen aufmuntern oder eine Lösung anbieten. Natürlich gibt es auch Situationen, schlimme Situationen, in denen wir nicht wissen, wie genau wir mit einer Person umgehen sollen. Hier ein herzzerreißendes Beispiel, von dem mir der renommierte Rhetorik- und Kommunikationsexperte René Borbonus erzählt hat: Einer seiner Seminarteilnehmer, Dieter, erfuhr, dass sich der Sohn seines Chefs das Leben genommen hatte. Die gesamte Belegschaft wusste davon. Nun kam der Tag, an dem der Chef zurück in die Firma kam. Niemand ließ diese Situation kalt, aber keiner wusste, wie er mit der Situation und dem Chef umgehen sollte. Auch Dieter ging es so, aber genau das machte er zum Thema. Er ging zu seinem Chef und sagte: »Wissen Sie, ich weiß nicht, wie ich mich richtig verhalten soll. Sollen wir es ausblenden? Sollen wir darüber reden? Ich weiß es nicht. Aber ich möchte Ihnen sagen, ich bin da, was auch immer gebraucht wird.« Die kurze Stille, nachdem Dieter diese Worte gesagt hatte, lag schwer im Raum. Aber sein Chef sah ihm in die Augen und antwortete: »Wissen Sie, manchmal ist es einfach nur gut, in den Arm genommen zu werden.« Und genau das tat Dieter dann, er nahm seinen Chef in den Arm.
So schön und positiv Empathie auch ist, so gefährlich kann sie werden. Denn bei manchen Menschen kann es passieren, dass empathischer Stress entsteht. Das hat zur Folge, dass Emotionen und Gefühle anderen Menschen gegenüber nicht mehr von den eigenen unterschieden werden können. Heißt: »Ich werde überwältigt von dem Leid des anderen, und die bei der gesunden Empathie noch vorhandene Unterscheidung zwischen selbst und anderem verschwimmt, sodass das Leid des anderen dann zu meinem eigenen wird«, erklärt mir Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Tania Singer.
So erging es einigen Teammitgliedern von Simon Sinek. Von einem auf den anderen Tag kündigten diese, weil sie das Gefühl hatten, ausgebrannt zu sein. Sinek war sehr verwundert und ratlos. »Burn-out? In meinem kleinen Team?«, fragte er sich selbst. Er wusste, wie viel seine Leute arbeiteten, und konnte sich einen Burn-out nur dadurch erklären, dass die betroffenen Teammitglieder einen zweiten Job neben der Vollzeitstelle haben mussten. Aber dem war nicht so. Sinek fand stattdessen heraus, dass diese Personen die Hauptansprechpartner:innen für Kolleg:innen waren, die unter Stress, Konflikten und Sorgen litten.6 Diese Teammitglieder waren dem emphatischen Stress also so extrem ausgesetzt, dass ihre Resilienzfähigkeit abnahm und sie dadurch einen Burn-out bekamen.
Singer weiß durch neurowissenschaftliche Untersuchungen, dass, wenn wir leidende Menschen sehen, dieselben Gehirnareale aktiviert werden, die aktiv sind, wenn wir selbst Schmerz oder Leid empfinden. Die Intensität des Empfindens dieser Empathie hängt davon ab, wer wir sind, wie viel eigenes Leid wir schon erlebt haben oder ob wir ein Trauma in uns tragen.7 Durch ein Experiment mit dem weltbekannten buddhistischen Mönch und Wissenschaftler Matthieu Ricard machte Singer allerdings eine überraschende und wichtige Entdeckung, die sie im Anschluss mit Studierenden wissenschaftlich fundiert belegen konnte: Bei Proband:innen, die leidende Menschen in Videos gesehen hatten, leuchteten im Zustand der Empathie jene Gehirnareale auf, die mit negativen Emotionen einhergehen. Im Zustand des Mitgefühls für diese leidenden Menschen hingegen waren Gehirnareale aktiv, die mit positiven Gefühlen verbunden sind, die zum Beispiel dann aktiv werden, wenn eine geliebte Person angeschaut wird. Hier empfanden die Proband:innen vor allem ein Gefühl der Wärme, Fürsorge und Liebe, sodass der Wunsch entstand, helfen zu wollen.8
Das heißt: Während empathischer Stress prosoziales Verhalten reduziert und im schlimmsten Fall zu Burn-out führen kann, hat unser Mitgefühl die Kraft, die eigene Resilienz, positive Gefühle sowie prosoziales Verhalten zu fördern. Anstatt uns überfordert zu fühlen und eventuell sogar soziale Beziehungen zu vermeiden, bleiben wir mit Mitgefühl handlungsfähig und können Stresssituationen besser bewältigen. Deshalb empfiehlt Singer, nicht in Empathie zu verharren, sondern stattdessen in den Zustand des Mitgefühls für andere zu gelangen, wodurch Schutz vor empathischem Stress entstehen kann. Ähnlich sieht es auch der ehemalige Unilever CEO Paul Polman, der sich in der Vergangenheit für soziale Verantwortung starkgemacht hat. Er sagt: »Wenn ich mit Empathie führen würde, wäre ich nie in der Lage, eine einzige Entscheidung zu treffen. Und warum? Weil ich mit Empathie die Emotionen anderer spiegele, was es unmöglich macht, das Allgemeinwohl zu berücksichtigen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Man muss Empathie auf menschlicher Ebene haben, aber ein Unternehmen mit Mitgefühl führen.«9
Wir brauchen also unbedingt auch Mitgefühl. Und das Verständnis dafür, dass dies nicht das Gleiche wie Empathie ist. Leider wird in vielen Gesprächen, Artikeln und Studien im Arbeitskontext bisher nicht zwischen diesen beiden Begriffen unterschieden. Aber genau das ist zwingend nach Singer notwendig.
Die gute Nachricht lautet: Unabhängig vom Geschlecht und Alter sind Menschen in der Lage, die sozialen Kompetenzen, wie Empathie und Mitgefühl, durch verschiedenste Praktiken zu erlernen und trainieren,10 sodass im Anschluss sogar die graue Substanz im Gehirn in den Bereichen zunimmt, die diese Fähigkeiten unterstützen.11 Im Rahmen einer der weltweit größten Studien zu Empathie und Mitgefühl, dem »ReSource-Projekt«12, konnte Singer darüber hinaus zeigen, dass sich insbesondere eine Kernübung des dreimonatigen sozialen mentalen Trainingsmoduls, auch Affektmodul genannt, zur Förderung des Mitgefühls eignete: die Affekt-Dyade. Hierbei handelt es sich um eine Übung, bei der sich zwei Personen zwölf Minuten lang miteinander austauschen.
Dabei spricht jede Person sechs Minuten und konzentriert sich dabei auf zwei Aspekte:
Die jeweils andere Person hört einfach nur empathisch und still zu, stellt also keine Fragen, gibt keine Antworten, unterbricht nicht. Durch diese Übung lernst du, anderen aktiv zuzuhören, und verlierst deine Angst, Menschen etwas von dir zu erzählen. Darüber hinaus fühlst du dich danach stärker sozial verbunden und kannst sozialen Stress erheblich reduzieren.13 Positiver Nebeneffekt der verschiedenen mentalen Übungen des Affekt-Moduls, die über einen Zeitraum von drei Monaten andauern, ist die Zunahme eines kooperativen Verhaltens. Die Menschen verhalten sich sogar verstärkt altruistisch, das heißt, sie zeigen ein Verhalten, das sich unmittelbar auf das Wohlergehen der anderen konzentriert.14
Auch bei Führungskräften ist das Verständnis der Unterscheidung zwischen Empathie und Mitgefühl für das eigene Wohlbefinden und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden von entscheidender Bedeutung. So zeigt eine interne Studie, die von dem amerikanischen Beratungsunternehmen »Potential Project« durchgeführt wurde, das bereits für über 450.000 Menschen neue Arbeits- und Führungsmethoden entwickelte, dass Führungskräfte, die sich auf Mitgefühl konzentrieren, ein zwölf Prozent niedrigeres Risiko haben, einen Burn-out zu bekommen. Gleichzeitig empfinden sie sogar ein um 30 Prozent größeres Wohlbefinden und haben ein stärkeres Vertrauen in ihre Führungsqualitäten. Mitarbeitende dieser Führungskräfte, die Mitgefühl gegenüber Empathie bevorzugen, sind sogar 25 Prozent engagierter bei der Arbeit, setzen sich 20 Prozent stärker für das Unternehmen ein und haben ein elf Prozent geringeres Burn-out-Risiko.15
Bereits an seinem ersten Tag im Februar 2014 stellte der neue Microsoft-Geschäftsführer Satya Nadella klar, dass Empathie ein wesentlicher Bestandteil seiner neuen Unternehmensstrategie sein würde, da das Thema für ihn die wichtigste Innovationsquelle im Unternehmen sei.16 Damit prägte er die Unternehmenskultur von Tag eins maßgeblich und konnte die bisher ausschließlich leistungsorientierte und von Wettbewerb geprägte Ausrichtung um eine kooperative Komponente erweitern. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft war das für Reinhard Nissl, Personalleiter von Microsoft Deutschland, ein entscheidender Schritt: »Eine One-size-fits-all-Lösung für Mitarbeitende passt einfach nicht mehr. Es braucht einen diversen Führungsstil und Empathie, um individuelle Bedürfnisse zu erkennen«, sagt Nissl mir im Interview.
Es geht aber natürlich nicht nur darum, Mitarbeitende und Kolleg:innen einfach besser zu verstehen. Im Unternehmenskontext geht es immer auch um wirtschaftlichen Erfolg. Ein Beispiel dafür, wie Microsoft die Wachstums-Mentalität organisatorisch umsetzt, ist das seit 2019 in Kraft getretene Management-Framework »Model, Coach & Care« mit dem Ziel, Erfolg durch Empowerment und Verantwortlichkeit zu erzielen, indem man Vorbildfunktionen, Coaching und Fürsorge nutzt. Die Führungskräfte sind dazu angehalten, auf die Bedürfnisse, Befindlichkeiten und Ziele der Mitarbeitenden innerhalb und außerhalb der Arbeit einzugehen. Darüber hinaus sollen sie Flexibilität, Wohlbefinden und Selbstfürsorge vorleben. »Diese neue Erwartungshaltung an die Führungskräfte und die Messbarkeit empathischen Verhaltens durch Fragestellungen in regelmäßigen Umfragen kommt bei der Belegschaft positiv an«, resümiert Nissl. Dadurch, dass man bei Microsoft Führungskräfte nach ihrer Fürsorge bewertet, wurde erreicht, was Prof. Dr. Tania Singer dringend empfiehlt: nämlich dass das soziale Motivationssystem »Care« (Fürsorge) in den Arbeitskontext integriert wird. So ist es für Nissl längst zur Routine geworden, die ersten Minuten bei Terminen für einen persönlichen »Coffee Chat« zu nutzen, bei dem Nissl sich bei seinen Team-Mitgliedern erkundigt, wie es ihnen geht, oder seine eigenen Emotionen, Fehler oder Ängste teilt. Zum Beispiel die Angst, Aufgaben nicht so gut zu erledigen, wie es erwartet wird – von ihm selbst oder anderen. »Durch das Teilen meiner Ängste und Emotionen kann ich empathischer gegenüber anderen sein, und durch das aktive Zuhören gebe ich meinem Gegenüber die Möglichkeit, mir sein Herz auch zu öffnen«, sagt er mir im Gespräch.
Die Ergebnisse von weltweiten Mitarbeitendenbefragungen bei Microsoft zeigen, dass das Unternehmen mit diesem empathischen Ansatz sehr erfolgreich ist:
»Der häufigste Grund, warum Mitarbeitende sich entscheiden, bei Microsoft zu bleiben, ist unsere besondere von Empathie geprägte Kultur«, sagt Nissl. Seiner Meinung nach funktionieren Recruiting und Retention besser, je empathischer eine Organisation ist. Und hier ist Nadella als CEO ein besonderes Vorbild, weil er als Person glaubwürdig die Kultur prägt. Und wenn ich Nadella zuhöre, glaube ich zu verstehen, was Nissl meint: »Die Menschen reden davon, das Arbeitsleben vom Privatleben zu trennen, [aber] wie macht man das in Wirklichkeit? Man ist an beiden Orten ein vollständiges Ich. Daher denke ich, dass Empathie bedeutet, zuzuhören, was im Leben passiert, und sich dann vollständig auszudrücken, auch bei der Arbeit.«18
Mein Fazit: Es ist also an der Zeit, dass wir unserer Empathie und unserem Mitgefühl mehr Raum geben. Die Bedürfnisse und Wünsche der Mitarbeitenden zeigen, dass die Sehnsucht nach mehr Menschlichkeit groß ist. Wir wollen gesehen werden. Moderne Unternehmen und Führungskräfte zeigen zudem, dass Verletzlichkeit und Emotionen zur Arbeitswelt dazugehören. Diese Vorbilder werden inzwischen nicht mehr belächelt oder als unprofessionell wahrgenommen. Sie sind authentisch, sie sind echt. Empathie und Mitgefühl müssen eine Kompetenz sein, die jeder erlernen sollte. Ob nun als Führungskräfte oder Mitarbeitende. Damit wir alle gemeinsam für etwas brennen, anstatt auszubrennen.
QUICK WINS
Für Mitarbeitende
Für Führungskräfte
Für Unternehmen
Gelb, die Ampel war gelb. Gerade erst umgesprungen, kein Wimpernschlag war das her, und der Typ hinter mir spielte sofort sein Lieblingsinstrument: Autohupe. Ich hatte noch nicht den ersten Gang eingelegt, da drückte der Kerl schon wieder drauf. Möööööp. Ganz nach dem Motto: »Geduld ist etwas für Anfänger:innen – ich flippe lieber sofort aus.«
Es wunderte mich nicht. Ich kenne es ja auch von mir: im Stau, an der Kasse, in der Warteschleife am Telefon. Das dauert alles – Viel. Zu. Lange! Früher war das anders bei mir, da war ich irgendwie geduldiger. Das war aber vor einer Welt, in der ich auf dem Sofa sitzend ein Buch im Internet bestellen konnte und schon am nächsten Tag vor dem Mittagessen das erste Kapitel gelesen habe. Noch bevor man sogar Lebensmittel in weniger als einer Stunde geliefert bekommen hat. Das war vor der Zeit, als man mit zweifacher Geschwindigkeit eine Sprachnachricht abhören konnte – das war, bevor es überhaupt Sprachnachrichten gab. Bevor eben einfach so ziemlich alles sehr viel fixer ging und es nun wirklich Schlimmeres gab als einen eingefrorenen Ladebalken.
Das Problem ist: Inzwischen sind wir alle verwöhnt. Egal, wo wir hinschauen, unsere Bedürfnisse werden immer schneller befriedigt. Ist doch klar, dass unsere Gesellschaft immer ungeduldiger wird. Vor allem die junge Generation, die digital aufgewachsen ist und aufwächst, kennt es nicht anders, als unmittelbar Rückmeldungen zu bekommen. Da werden Videos, Bilder, Texte auf Social Media gepostet, die direkt Likes, Kommentare oder Weiterleitungen zur Folge haben. Bestenfalls, denn bleiben solche unmittelbaren Feedbacks aus, fühlen wir uns nämlich nicht gesehen, nicht wertgeschätzt. Und das hat Auswirkungen.
Durch die Schnelllebigkeit in unserem Alltag ändern sich auch unsere Erwartungen an die Arbeitswelt. Denn natürlich wollen wir auch im Job eine schnelle Rückmeldung bekommen. Einerseits, um darüber mehr Wertschätzung zu erfahren, anderseits aber auch, um uns weiterzuentwickeln – dazu gleich noch mehr. Klassische Feedbackgespräche finden aber in den allermeisten Firmen nur einmal pro Jahr statt. Wenn überhaupt. Laut einer Studie von Gallup erhalten nur 23 Prozent der Arbeitnehmer:innen überhaupt ein regelmäßiges Feedback von ihren Vorgesetzten.19
Feedbackgespräche sind einer der wichtigsten Grundbausteine, wenn es darum geht, dass Mitarbeitende lernen und sich weiterentwickeln. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass beispielsweise Schimpansen und Orang-Utans dieselben Fähigkeiten wie Kleinkinder haben, wenn es um die Bereiche räumliches Verständnis, Rechnen und kausale Zusammenhänge geht. Beim sozialen Lernen jedoch haben die Affen keine Chance mehr.20 Wir müssen also keine geborenen Genies sein, sondern können unser Wissen und unsere Fähigkeit dadurch erweitern, dass wir von anderen Rückmeldungen bekommen.21 »Wir sind darauf ausgerichtet, Verbindungen mit den Menschen unserer Umgebung herzustellen«, schreibt der Autor und Historiker Rutger Bregman in seinem Buch »Im Grunde gut«. »Und das ist kein Handicap, sondern unser größtes Kapital.«22
Wie genau sich das ausdrückt, hat ein Team von Wissenschaftler:innen im Forschungsprojekt LinkedIn Personnel Panel (LPP) herausgefunden. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass in Unternehmen, in denen regelmäßig Mitarbeitendengespräche geführt werden, die Zufriedenheit und das berufliche Engagement signifikant höher sind.23 Das hat mir auch der erfolgreiche Unternehmer Marcus Diekmann in unserem Gespräch bestätigt. Diekmann war CEO von ROSE Bikes und ist Co-Gründer der Founders League, einer Plattform für Start-ups und junge Gründer:innen. Er ist davon überzeugt, dass Jahresgespräche keine Relevanz mehr haben und Mitarbeitende stattdessen regelmäßige Feedbacks und Dialoge brauchen.
Im Grunde verhält es sich mit dem Feedback im Job genauso wie in unseren Beziehungen. Eine funktionierende Partnerschaft braucht den regelmäßigen Austausch untereinander. Wenn wir nur einmal am Ende des Jahres darüber reden, was gut und schlecht gelaufen ist, dann wird das nicht funktionieren. Das ist, wenn ich mir die Scheidungsrate anschaue, wohl häufig der Fall. Es braucht also ein Umdenken. Im privaten Kontext womöglich, aber ganz sicher in der Wirtschaft. Große Player wie Adobe, Google, Microsoft und Accenture haben bereits vor Jahren die klassischen Jahresgespräche abgeschafft und durch Instant Feedback ersetzt, das im Rahmen eines regelmäßigen und fest strukturierten Termins oder eines flexiblen und spontanen Gesprächs stattfinden kann. Damit sind diese Firmen aber eine Ausnahme. Denn immer noch führen 49 Prozent der Unternehmen ihre Feedbackgespräche jährlich, 22 Prozent immerhin halbjährlich, zehn Prozent vierteljährlich und nur sechs Prozent monatlich.24
Die zeitliche Komponente ist also ein wichtiger Faktor, wenn es um das Thema Feedback geht. Von ebenso großer Bedeutung ist die Art und Weise, wie dieses Feedback übermittelt wird. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Gallup finden nur 26 Prozent der Mitarbeiter:innen, dass das Feedback, das sie erhalten, ihnen dabei hilft, ihren Job besser machen zu können.25 Auch da ist also noch Luft nach oben. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie ein Feedback aussehen muss, damit sich die Leute im Unternehmen wohlfühlen, deshalb gerne dort bleiben und zusätzlich auch noch performen? Als Grundvoraussetzung ist es erst mal wichtig, zu verstehen, dass wir andere Menschen gar nicht objektiv bewerten können, weil es dabei nämlich zum sogenannten idiosynkratischen Bewertungseffekt kommt. Dabei sind unsere Einschätzungen so sehr gefärbt durch unser eigenes Verständnis und unser Gefühl, dass unsere Beurteilungen zu über 50 Prozent unsere eigenen Eigenschaften widerspiegelt anstatt die unseres Gegenübers.26 Das muss man sich an dieser Stelle unbedingt deutlich machen: Wer ein Feedback gibt, ist nicht die Quelle der Wahrheit, sondern demnach vielmehr die Quelle des möglichen Irrtums.
Der einzige Bereich, in dem jeder Mensch eine unanfechtbare Quelle der Wahrheit ist, sind die eigenen Gefühle und Erfahrungen. Ärzt:innen lassen deshalb zum Beispiel ihre Patient:innen oft die eigenen Schmerzen anhand einer Skala bewerten, um darauf mit einer angemessenen Behandlung zu reagieren. Sie vertrauen also auf die Empfindungen ihres Gegenübers. Und genauso wenig, wie eine Ärztin die Schmerzen ihrer Patient:innen beurteilen kann, können Vorgesetzte in ihre Mitarbeiter:innen hineinschauen. Das macht eine objektive Bewertung unmöglich.
Alles, was wir daher machen können, ist, unsere eigenen Gefühle und Erfahrungen mitzuteilen. Vor diesem Hintergrund dürfte es niemanden mehr überraschen, dass Unternehmen immer häufiger ein 360-Grad-Feedback einsetzen. Das Ziel dabei ist es, dass nicht nur die eigenen Führungskräfte Feedback geben, sondern auch Kolleg:innen, Dienstleister:innen, Kund:innen und andere Stakeholder. So erhalten die Mitarbeitenden aus mehreren unterschiedlichen Perspektiven individuelle subjektive Feedbacks (Gefühle und Erfahrungen), die dann zusammengenommen einer objektiven Betrachtung ein Stück näher kommen.
Um nun als Mitarbeiter:in auch von den Feedbacks zu lernen und dadurch die eigene Leistungsfähigkeit zu verbessern, kommt es auf die inhaltliche Ausrichtung an. Wissenschaftler:innen haben herausgefunden, dass ein Gehirn am meisten dort wächst, wo es bereits am stärksten ist. In einem Experiment wurden Student:innen in zwei Gruppen aufgeteilt – in der einen wurden die Teilnehmer:innen nach ihren Träumen gefragt, die sie verwirklichen wollen, und in der zweiten sollte erzählt werden, was die Student:innen ihrer Meinung nach bei ihren Hausaufgaben falsch machen und was sie daran ändern müssten. Ergebnis: Bei den Student:innen der zweiten Gruppe wurde das sympathische Nervensystem aktiviert, das als »Kampf-oder-Flucht-System« dafür sorgt, dass wir uns nur auf die Informationen konzentrieren, die zum Überleben notwendig sind. Das Gehirn schränkt also die Aktivitäten ein. Dies bedeutet, dass wir ein kritisches Feedback als Bedrohung wahrnehmen, und das beeinträchtigt wiederum unser Lernen. Bei der ersten Gruppe war hingegen das parasympathische Nervensystem aktiv, das als »Ruhe- und Verdauungssystem« bezeichnet wird. Hier werden neue Neuronen produziert, die das Lernen fördern. Deshalb sollten sich Vorgesetzte in einem Feedbackgespräch vor allem auf die Stärken ihrer Mitarbeiter:innen konzentrieren und dabei helfen, diese auszubauen, anstatt sich auf die Schwächen und Unzulänglichkeiten zu fokussieren. Aus diesem Experiment kann geschlussfolgert werden, dass Lernen nur dann stattfinden kann, wenn wir sehen, wie wir etwas besser machen können. Lernen beruht auf dem Verständnis dessen, was wir gut machen, nicht auf dem, was wir nicht oder nur schlecht hinbekommen.27
Hat eine Vorgesetzte ein vorgefertigtes Modell im Kopf, mit dem sie ihr Team vergleicht und ihr vor Augen führt, wo ihr Modell verfehlt wurde, sind bestenfalls durchschnittliche Leistungen möglich. Wer beispielsweise den Verfasser eines Textes nur auf die grammatikalischen Fehler hinweist, bekommt hinterher vermutlich einen korrekten Text, aber eben kein Werk, das die Leser:innen mitreißt.
Es geht bei einem erfolgreichen Feedback also nicht darum, Misserfolge zu erkennen, und auch nicht darum, zu erklären, wie diese Misserfolge vermieden werden können. Es ist vielmehr von großer Bedeutung, die Dinge zu erkennen und vor allem auch hervorzuheben, die gut funktioniert haben. Denn das motiviert und führt am Ende zu Spitzenleistungen.
Wir wissen jetzt also, dass das Timing bei einem guten Feedback wichtig ist und ebenso der Inhalt. Es kommt aber auch noch darauf an, in welcher Zeitform der Inhalt rübergebracht wird. Anders ausgedrückt: Es ist wichtig, was wir sagen – aber auch, wie wir es sagen. René Borbonus, einer der renommiertesten Rhetorik- und Kommunikationsexperten in Deutschland, erklärte mir bei unserem Gespräch in der Nähe von Nürnberg die drei unterschiedlichen Varianten:
Aber wie sieht das konkret aus? Stellen wir uns nun einmal vor, ein Teammitglied ist im Meeting immer wieder abwesend, driftet weg. Das gefällt uns natürlich nicht, also suchen wir hinterher das Gespräch. Nun könnten wir die Vergangenheitsform wählen und so etwas sagen wie: »Du hast gar nicht zugehört!« Das ist ziemlich vorwurfsvoll. In der Gegenwartsform klingt das schon anders: »Wo bist du denn mit deinen Gedanken?« Und ganz anders hört es sich an, wenn wir die Zukunftsversion wählen: »Ich wünsche mir von dir, dass du beim nächsten Mal präsenter bist.«
Du merkst es selbst. Es klingt viel entspannter, wenn du bei Konfliktgesprächen mit deiner Kommunikation nach vorn gerichtet bist, anstatt darüber sprichst, was in der Vergangenheit alles falsch gelaufen ist.
Das hat auch der israelische Wissenschaftler Avi Kluger erkannt und den Begriff und die Methode »Feedforward« etabliert. Um diese im Alltag direkt anzuwenden, helfen dir diese drei Buchstaben: WWW. Diese Abkürzung steht in diesem Zusammenhang für die Begriffe Wahrnehmung, Wirkung und Wunsch.
»Feedbackgespräche sind einmal im Jahr gut, aber lange nicht ausreichend. Feedbacks sind am wirksamsten, wenn sie mit direktem Situationsbezug, unmittelbar und möglichst konkret gegeben werden«, sagt mir Gunnar Kilian, Personalvorstand und Arbeitsdirektor beim Volkswagen Konzern, bei meinem Besuch vor Ort in Wolfsburg. Das Unternehmen macht im Rahmen der größten Transformation der Firmengeschichte, vom reinen Automobilhersteller zum softwareorientierten und nachhaltigen Mobilitätsdienstleister, auch einen Kulturwandel durch.
Im Hinblick auf die Anpassung der Feedback-Kultur wurde den Mitarbeitenden im größten HR-IT-Roll-out der Volkswagengeschichte nicht nur ein webbasiertes Dashboard zum Performance Management mit einem kurzzyklischen Zielsystem und regelmäßigen Rückmeldemöglichkeiten zur persönlichen Leistung ermöglicht, sondern auch ein neues digitales Echtzeitfeedback: »Ziel ist es, regelmäßig und direkt Feedback zu geben und zu erhalten«, erzählt mir Kilian. Denn ein wertschätzendes, empathisches und kontinuierliches Feedback trägt nicht nur zum persönlichen Wachstum bei, sondern gibt auch für die Transformation des Volkswagen Konzerns fortlaufend wertvolle Impulse. Dank des digitalen Tools »SAP Success Factors« ist Feedback direkt nach Meetings oder Projekttreffen auf Basis definierter oder individueller Fragestellungen jederzeit möglich. Da das hybride Arbeiten eine immer größere Rolle spielt, halte ich ein Tool wie dieses für sehr sinnvoll, da es nicht erfordert, dass sich alle beteiligten Personen persönlich treffen müssen.
Die Mitarbeitenden erhalten Orientierungshilfe durch Leitfäden und Tutorials, damit sie kritisches Feedback angemessen kommunizieren können. Eine offene Feedback-Kultur ist Kilian sehr wichtig, er selbst nennt sie »Speak-up-Kultur« und sagt: »Unsere Erfahrung zeigt, dass die niedrigschwelligen Angebote dazu führen, dass Beschäftigte und Führungskräfte deutlich stärker in zielführende Diskurse gehen und die Tendenz, kurzzyklisch Feedback über das Tool zu geben, wächst.«
Dabei sollen persönliche Feedbackgespräche nicht ersetzt, sondern im Rahmen eines kontinuierlichen und multiperspektivischen Prozesses ergänzt und unterstützt werden. Gerade das Feedback der Mitarbeitenden an die Führungskräfte beziehungsweise das Management ist für Volkswagen entscheidend geworden. So hat das Unternehmen im Rahmen von »Upward Feedback« Führungskräften die Möglichkeit geschaffen, sich von ihren Teams ein kompaktes, anonymisiertes Feedback zu ihrem Führungsverhalten einzuholen. Dazu sind die Beschäftigen eingeladen, sechs Fragen auf freiwilliger Basis zu beantworten. Auf diese Weise erhalten die Führungskräfte ein direktes Bild davon, wie sie in ihrer Funktion wahrgenommen werden. Durch die Maßnahme »Book your boss« können Mitarbeitende Führungskräfte aus dem Top-Management zum Meinungsaustausch treffen, ihnen auf Augenhöhe begegnen und persönliches Feedback geben. Dabei handelt es sich um eine Initiative des »Role-Model-Programms«, das seit 2018 Führungskräfte dabei unterstützt, neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Hierarchieebenen zu etablieren sowie Silo-Denken und Machtdistanzen weiter zu reduzieren. Auch an den Produktionsstandorten wurde ein entsprechendes Gesprächsformat ins Leben gerufen: »Auf ein Frühstück mit …«
Ein zentrales Element im Volkswagen Konzern ist das Stimmungsbarometer, eine Mitarbeitenden-Befragung, die seit 2008 jährlich weltweit in über 160 Gesellschaften in 49 Ländern durchgeführt wird. Dabei können rund 600.000 teilnahmeberechtigte Mitarbeitende Feedback zu unternehmensrelevanten Themen, zur Zusammenarbeit und eine Bewertung der Führungsqualitäten ihrer direkten Vorgesetzten abgeben. Im Anschluss der Auswertung führen Führungskräfte mit ihren Teams einen offenen Dialog, sodass gemeinsam Handlungsfelder und Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsklimas erarbeitet und implementiert werden.
Kilian zieht eine positive Bilanz: »Die regelmäßigen Feedbackmöglichkeiten geben unseren Kolleg:innen das Material an die Hand, das sie brauchen, um ihre Leistung zu verbessern und den Kurs mitzubestimmen. Es verändert die Einstellung der Mitarbeitenden zu ihrer Arbeit und ihren Möglichkeiten völlig. Feedback wird als ein Geschenk angesehen.«
Auch für das Unternehmen OTTO hat das klassische System des Jahresgesprächs ausgedient, »da sich im Laufe eines Jahres so viel verändert, dass ein regelmäßiger Austausch benötigt wird«, erklärt mir Personalvorständin Katy Roewer. Nach der Maxime »Weg von der Beurteilung – hin zum Dialog« hat das Unternehmen ein neues digitales Feedback- und Beurteilungssystem etabliert: »Feedback im Dialog« (FiD). Es ermöglicht Mitarbeitenden und Führungskräften, zunächst digital eine Selbst- und Fremdeinschätzung anzugeben, deren Übereinstimmungen und Unterschiede anschließend im persönlichen Dialog besprochen werden können. Durch dieses digitale System soll das Feedback offener, unkomplizierter und jederzeit durchführbar gestaltet werden. Es beinhaltet einen Modul-Baukasten für verschiedene Situationen. Im Modul »Basis« kann grundsätzliches Feedback zu den aktuellen Aufgaben, Ergebnissen und der Zusammenarbeit gegeben werden. Das Modul »Führungsfeedback« beinhaltet Feedback für Führungskräfte, während beim Modul »Individuell 360 Grad« Mitarbeitende aus unterschiedlichen Blickwinkeln Rückmeldungen von Kolleg:innen erhalten.
Mein Fazit: Mit Plastik, Papier oder Strom sollten wir sparsam umgehen – aber nicht mit Feedback in Unternehmen. Denn um mal ehrlich zu sein: Wer kein regelmäßiges Feedback gibt, der wird wahrscheinlich auch nicht besonders an der Weiterentwicklung anderer Personen interessiert sein, oder? Feedbackgeben sollte also gelernt sein, da wir Menschen mit der Art und Weise nicht nur demotivieren, sondern auch stark verletzen können. Feedback anzunehmen ist eine Fähigkeit, die wir lernen können, um uns persönlich nicht angegriffen zu fühlen. Wir sollten das Feedback als Geschenk sehen. Wenn wir beide Fähigkeiten zukünftig trainieren, dann, da bin ich mir sicher, werden Feedbacks in Unternehmen nicht nur gegeben, sondern auch endlich gehört und angenommen – ein wichtiger Schritt!
QUICK WINS
Für Mitarbeitende
Für Führungskräfte
Für Unternehmen
Vor mir stand mein aufgeklapptes Notebook und ich blickte auf dieses weiße Dokument. Es war leer. Der blinkende Cursor oben links erinnerte mich im Sekundentakt daran, dass ich an diesem Tag bisher noch nichts geschrieben hatte – schon wieder.
Blink.
Blink.
Blink.
Das. Tat. Weh. Als würde mir jemand immer wieder ein Vierkantholz über den Hinterkopf ziehen. Ich spürte es beinahe sogar körperlich, auf jeden Fall aber mental. Ich hatte schließlich noch nie ein Buch geschrieben und fing an zu grübeln. »Dir fehlt die Erfahrung«, sagte eine Stimme in mir. Was dagegen nicht fehlte, waren Zweifel und Fragen, die aufpoppten wie Popcorn in der Mikrowelle: Kann ich den Leser:innen wirklich einen Mehrwert bieten? Wer bin ich, zu glauben, dass sich irgendwer da draußen dafür interessiert, was ich zu sagen habe?
Und dann tat ich etwas, das ich die meiste Zeit in meinem Leben nicht getan hatte. Ich sprach über meine Gefühle, über meine Zweifel und die Angst, versagen zu können. Früher hätte ich solche Momente überspielt. Ich hätte so getan, als wäre ich selbstsicher, als hätte ich die Sache voll im Griff, als würde es in meinem Leben keine Zweifel geben – aber die Wahrheit war, dass es mich stresste, diese Rolle zu spielen. Es machte mich müde und antriebslos. Denn ich war einfach nicht ich.
Die Gespräche mit meinen Freund:innen, mit meiner Familie und meinem Verlag pusteten mir Wind unter die Segel. Sie erinnerten mich daran, dass ich in der Vergangenheit oft genug bewiesen hatte, dass mir Menschen zuhörten. Ich wurde daran erinnert, wie ich beim Fußballbundesligisten Bayer 04 Leverkusen als Marketing-Projektleiter die Bälle hochgehalten hatte. Daran, dass ich danach alles auf eine Karte setzte und mein Start-up »detoxRebels« bei der TV-Show »Die Höhle der Löwen« einem Millionenpublikum präsentierte. Ich dachte plötzlich an meinen erfolgreichen Podcast »Rebellisch gesund«, den Tausende Menschen regelmäßig hören, an meine zahlreichen Auftritte als Speaker und an die vielen namhaften Unternehmen und Konzerne, die ich mit meinem Team bis dahin beim Thema Mitarbeitenden-Retention unterstützen konnte. Die Menschen um mich herum machten mir Mut – ich machte mir Mut. Das half. Und so bekämpfte ich diesen blinkenden Cursor Tag für Tag mit jedem Buchstaben, jedem Wort, jedem Absatz und jeder Seite, bis ich am Ende ein fertiges Manuskript an den Verlag schicken konnte.
Es heißt: Betrunkene, kleine Kinder und zu enge Hosen verraten immer die Wahrheit. Aber es sollte mehr sein. Wir alle sollten ehrlicher sein: privat, aber auch im Job. Wenn du dich also fragst, wieso ich den Mut gefunden habe, an dieser Stelle meine Hose runterzulassen und dir meine Zweifel anzuvertrauen, dann lautet meine Antwort darauf, dass es in diesem Kapitel genau darum geht: Radical Honesty.
Wir alle verhalten uns im Alltag oftmals anders, als wir das eigentlich denken, fühlen und wollen. Insbesondere bei der Arbeit sprechen wir unsere Gedanken nicht aus, verschweigen Fehler, unterdrücken Gefühle. Wir geben also im Grunde vor, jemand zu sein, der wir nicht sind. Warum tun wir das? Um irgendwie dazuzugehören, um Konflikte zu vermeiden, um Karriere zu machen und schlussendlich, um vielleicht so unseren Platz in der Gesellschaft zu finden. Das sieht auch der Psychotherapeut Dr. Brad Blanton aus Amerika so. Er ist Autor des Buches »Radical Honesty« und gilt als Urvater der Radical-Honesty-Bewegung, die in den 1990er-Jahren startete. Blanton stellte bei seiner Arbeit immer wieder fest, dass die emotionale und kognitive Dissonanz – also wenn deine Vorstellungen, Gedanken, Gefühle überhaupt nicht mit der Realität übereinstimmen – der zentrale Treiber für den Dauerstress ist, den wir in unserer Gesellschaft spüren.28
Auch du wirst vermutlich die eine oder andere Situation kennen, in der das bei dir genauso gewesen ist, oder? Wie oft hast du schon gedacht, dass ein Meeting Zeitverschwendung, die Idee der Kolleg:innen nicht das Papier wert ist, auf dem sie steht, dass dein Chef eine falsche Entscheidung getroffen hat? Du hättest das sogar belegen können. Aber gesagt hast du: nichts. Vermutlich aus Angst. Angst, die Gefühle anderer zu verletzen. Angst, dich selbst ins Abseits zu stellen. Angst, die Karriere zu beschädigen. So geht das dann jeden Tag. Business as usual.
Dabei gibt es ein Problem, mehrere, um genau zu sein. Denn durch ein solches Verhalten entsteht eine Kettenreaktion: Je öfter wir Wünsche und Emotionen herunterschlucken, desto mehr steigt unsere Unzufriedenheit, und je mehr sie steigt, desto öfter sind wir gefrustet – und je mehr Frust wir haben, desto häufiger fühlen wir uns gestresst. Wünsche, Emotionen, Frustration dauerhaft und konstant herunterzuschlucken oder freundlich zu tun, wenn man wütend ist, kostet enorm viel Kraft, die uns an anderer Stelle fehlt. Auf Dauer kann das nicht gesund sein: »Jeden Tag ein Bild von sich selbst zu verkaufen, erzeugt Stress. Wir müssen zwei Menschen gleichzeitig sein und die äußere Show dann noch mit Lächeln und lockeren Sprüchen untermauern. Innerlich herrschen Versagensängste, unterdrückte Wut, Einsamkeit«, sagt Radical-Honesty-Coach und Seminarleiter Jakob Eichhorn.29
Der renommierte deutsche Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther redet in so einem Fall von Inkohärenz im Gehirn. Was kompliziert klingt, ist eigentlich ganz einfach: Glück ist der Zustand von Kohärenz im Hirn. Und das passiert, wenn alles richtig gut zusammenpasst: Wenn die Erwartungen mit der Realität übereinstimmen. Wenn Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit bilden. Ist das der Fall, wird im Gehirn nur ganz wenig Energie verbraucht (und das liebt unser Hirn mehr als Trash-TV). Passt das allerdings nicht, spricht man von Inkohärenz. Dann feuern die Nervenzellen alles durcheinander, und bei diesen Entladungen wird eine Menge Energie verschwendet. Die Folgen sind eben Stress, Erschöpfung und schlimmstenfalls irgendwelche Süchte, die uns ablenken sollen – allerdings mit jedem Mal stärker werden. Wir hauen uns dann abends auf das Sofa und lassen uns vom Fernsehprogramm berieseln oder tauchen in die digitale Welt ab, anstatt uns damit auseinanderzusetzen, wie wir zum Beispiel den Konflikt mit einem Teammitglied lösen können. Je häufiger wir das machen, desto stärker wird unsere Gewohnheit und desto stärker unsere Sucht, bei jeder Inkohärenz diese Routine abzuspielen.
Die Folgen der eigenen Unehrlichkeit schaden nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch den Menschen in ihrem sozialen Umfeld, weiß Psychotherapeut Blanton. Sie schafft unweigerlich Distanz zu Kolleg:innen, Freund:-innen und Partner:innen, die irgendwann merken, dass etwas nicht stimmt. Wenn dann keine der beiden Seiten das ehrliche Gespräch sucht, bleibt das Ungesagte und Unverarbeitete im Raum und sorgt dafür, dass Beziehungen noch distanzierter und unpersönlicher werden. Für Blanton ist der Mangel an Ehrlichkeit die Hauptursache der meisten persönlichen Konflikte. Deswegen ist seine Lösung ebenso naheliegend wie einfach. Sie lautet: Radical Honesty.
Als ich zum ersten Mal von Radical Honesty gehört habe, musste ich an eine Abrissbirne denken. An eine riesige Kugel, die mit viel Schwung in die Büros der Kolleg:innen einschlägt, mit dem Ziel, denen mal so richtig die Meinung zu sagen. Soll ich das wirklich machen? Soll ich nicht! Denn das Konzept von Radical Honesty bedeutet natürlich nicht, wie ich anfangs dachte, brutal ehrlich zu sein und andere Menschen durch meine Wahrheit zu verletzen. Es geht nicht darum, meinem Gegenüber rücksichtslos alles an den Kopf zu werfen, was ich gerade über ihn denke. Denn dann bin ich nicht ehrlich, sondern nur ehrlich ein Arsch. Das Ziel ist nicht, meinen Frust abzulassen, sondern wirklich Nähe mit anderen aufzubauen. Es ist möglich, die Wahrheit zu sagen, ohne andere zu verletzen.
Das Konzept der radikalen Ehrlichkeit ist also nicht mit einer moralischen Verpflichtung zu verwechseln, sklavisch die Wahrheit zu sagen. »Vielmehr geht es darum, sich selbst immer bewusster wahrzunehmen und dann, wenn möglich, die eigenen Gefühle, Gedanken, Wünsche, Bedürfnisse und körperlichen Empfindungen ausführlich, echt und transparent in der Kommunikation mit anderen zu teilen«, führt Radical-Honesty-Trainer Marvin Schulz bei unserem persönlichen Gespräch in Köln aus.
Was heißt das jetzt genau? Schauen wir uns ein Beispiel aus dem Alltag an, das du ganz bestimmt kennst. Nehmen wir an, du sitzt in einem Meeting, in dem für ein Problem bei einem Projekt verschiedene Ideen und Vorschläge diskutiert werden. Nachdem du dir alles angehört hast, bist du davon überzeugt, dass dein Vorschlag von allen der beste ist. Genommen wird aber die Idee deines Nachbarn. Jetzt kannst du schweigen und auf die Chefin sauer sein, die diese Entscheidung gefällt hat, oder auf die Person, die diese Idee hatte. Vielleicht machst du dies sogar zum Thema, damit du deinen Ärger nicht die ganze Zeit mit dir herumschleppen musst. Vielleicht wirst du es vorsichtig formulieren wollen und so etwas sagen wie: »Nimm es mir bitte nicht übel, aber ich finde meinen Vorschlag einfach besser als deinen.«
Das Ergebnis ist vermutlich, dass deine Aussagen als herablassend empfunden werden, auch wenn du es gar nicht so gemeint hast. Aber wie sollst du es sonst formulieren, ohne dass du für Konflikte und Spannungen sorgst? Ein Vorschlag nach dem Radical-Honesty-Konzept sieht tatsächlich etwas anders aus, nämlich so: »Ich habe Angst, dass du mich für arrogant hältst. Weil ich meinen Vorschlag besser als deinen finde und mich ärgere, dass die Chefin deinen genommen hat.« Klar, dein Gegenüber kann dich jetzt immer noch für anmaßend halten. Aber indem du deine Angst geäußert und dich damit verletzlich gezeigt hast, besteht überhaupt erst die Chance auf ein tiefgreifendes, verbindendes Gespräch, weil dein Gegenüber nun womöglich auch bereit ist, sich dir gegenüber zu öffnen. Vielleicht wird die Person sagen, dass sie dich verstehen kann, weil sie es auch schon ein paar Mal erlebt hat. Natürlich funktioniert das auch im privaten Bereich, zum Beispiel bei einem Date. Was spricht dagegen, zuzugeben, nervös zu sein, weil man sich so sehr auf das Treffen gefreut hat? Ich finde, dass es einen Versuch wert ist. Oder auch zwei, drei, vier Versuche. Probiere es aus!
Das Ziel von Radical Honesty ist also einerseits, Energie zu sparen, und andererseits, Nähe und Verbundenheit zu Mitmenschen aufzubauen. Die Voraussetzung dafür ist die psychologische Sicherheit, die ich bereits in diesem Buch ausführlich beschrieben habe. Wir sollten einen Raum schaffen, in dem wir das Gefühl haben, keine negativen Konsequenzen zu erfahren, und vollstes Vertrauen spüren. Ein Umfeld, in dem Menschen ehrlich und authentisch sein können, ohne Angst vor Verurteilungen haben zu müssen.
Klar, Gespräche, bei denen wir uns verletzlich zeigen, bringen uns aus der Komfortzone. Du kennst das sicher auch von Auseinandersetzungen mit deinem Partner, deinen Eltern und Freund:innen. Aber was du dann ganz bestimmt auch kennst, ist das befreiende Gefühl danach: die Zufriedenheit, das Wohlbefinden. Vielleicht sogar ein Gefühl der Verbundenheit.
Einer, der ebenfalls eine solche Erfahrung gemacht hat, ist Philip Siefer, der Gründer von Einhorn, ein Unternehmen, das vegane Kondome in bunten Chipstüten und Periodenartikel verkauft. In dem Podcast »Hotel Matze« sprach Siefer 2017 zum ersten Mal öffentlich über seine Panikattacken. In einem Gespräch erzählte er mir, dass er sich das zuvor nicht getraut hätte, aus Angst, was andere über ihn denken könnten. Ein erfolgreicher Gründer dürfte schließlich keine Panikattacken haben. Also schwieg er jahrelang. Doch das Reden war ein Befreiungsschlag und viele Menschen erzählten ihm hinterher, dass es ihnen genauso ginge. Genau so entstehen Verbindungen, echte Verbindungen. Seitdem ist Philip Siefer sicher, dass vieles einfacher wird, wenn wir uns trauen, unsere wahren Gefühle und damit mehr Verletzlichkeit zu zeigen. Wenn wir bewusster wahrnehmen und direkter benennen, was uns innerlich bewegt, können wir auch unseren Emotionen auf die Spur kommen und sie anderen mitteilen. So werden Gefühle sichtbar – und damit auch veränderbar. Eine zentrale Voraussetzung, um Konflikte besser zu lösen. Radical Honesty hilft uns dabei, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Privat wie beruflich.
Natürlich ist mir klar, dass dieser Weg nicht ganz so leicht ist. Denn wir haben uns über Jahrzehnte ein berufliches Umfeld geschaffen, in dem es schwer ist, die Wahrheit zu sagen. Hierarchien, Kontrollstrukturen, wirtschaftliche Abhängigkeit und Machtdynamiken führen dazu, dass wir nicht ganz wir selbst sein können. Dazu kommt, dass wir bereits in der Kindheit erfahren haben, dass die Wahrheit sehr oft auch Konsequenzen mit sich bringt: Ablehnung, Disharmonie, Ausgrenzung, Scham oder Schmerz. Kein Wunder, dass wir täglich immer wieder lügen. Wie oft, das ist nicht wissenschaftlich belegt. Im Internet wird gern mal behauptet, dass wir 200 Mal pro Tag die Unwahrheit sagen. Wer das glauben mag … Vielleicht beobachtest du dich einfach mal ehrlich selbst dabei, wie oft du die Dinge schönfärbst oder verfälschst. Zum Beispiel bei der Frage, wie es dir geht. Fragen, wie diese sind zu einer Floskel geworden, auf die wir automatisch positiv antworten. Das Verschweigen von Gefühlen und aufrichtigen Gedanken ist zur Norm geworden.
Kaum vorzustellen, was passieren würde, wenn wir unsere Energie nicht mehr dazu benutzen würden, um Masken zu tragen und Lügen zu leben. Wenn wir diese Kraft nehmen könnten, um sie in die eigentlichen Arbeitsprozesse zu stecken. Was würde passieren, wenn wir radikal ehrlich wären?
Im Vergleich zu anderen Gebieten ist die wissenschaftliche Forschung über Radical Honesty leider noch recht überschaubar. Aber es gibt zahlreiche Erfahrungsberichte, wie die von Philip Siefer von Einhorn oder die des Radical-Honesty-Trainers Marvin Schulz, der seit mehr als zehn Jahren das Konzept praktiziert und weltweit Workshops gibt. »Das war nicht immer so. Früher war ich u. a. bei der Unternehmensberatung KPMG in New York tätig. Und dort habe ich konstant so getan, als wäre ich immer effizient, und habe sogar bei meinen Freunden die ganze Zeit eine Rolle gespielt. Das hat mich sehr viel Energie und Lebensfreude gekostet. Nach meinen ersten Radical-Honesty-Workshops habe ich auf einmal gemerkt, je ehrlicher ich mit Menschen umgehe, desto ehrlicher werden auch sie. Auf einmal habe ich mehr Präsenz gewonnen und mich freier und lebendiger gefühlt. Natürlich ist das nicht immer angenehm oder leicht, die eigene verletzliche Wahrheit zu teilen. Das tat oftmals zuerst weh, doch nach kurzer Zeit stelle sich fast immer ein Gefühl der Ruhe und Integrität ein. Denn wenn man nicht mehr seine Geschichten und sein Ideal-Selbstbild verteidigen und Sachen verstecken muss, öffnet sich vielmehr der Raum für wahrhaftige Beziehungen und kreative Projekte«, erzählt mir Schulz.
Auf der Basis meiner Gespräche mit dem Experten Schulz ergeben sich meines Erachtens durch das Radical-Honesty-Prinzip folgende Vorteile für Unternehmen:
Wenn dich das Thema bis hierhin genauso erwischt hat wie mich, möchtest du an dieser Stelle bestimmt wissen, wie du Radical Honesty auch in deinen Alltag integrieren kannst. Nun, das hier könnten deine nächsten Schritte sein:
Glaube nicht alles, was du denkst. Denn damit liegst du leider oft falsch. Glaubst du nicht? Ein Beispiel: Du läufst bei der Arbeit gut gelaunt und federnden Ganges durch den Flur und begegnest jemandem, der dich nicht grüßt. Nüchtern betrachtet ist das erst einmal nur eine Beobachtung. Was jetzt aber passiert, wenn du dich darüber ärgerst, ist, dass diese Beobachtung rasend schnell zu zahlreichen Interpretationen mutiert. Deine Gedanken wollen dir jetzt vielleicht erzählen, dass diese Person zum Beispiel unsympathisch ist, arrogant oder selbstverliebt. Oder schlimmer noch, dass du etwas falsch gemacht hast. Dass du nicht liebenswert bist und keine Wertschätzung verdient hast. Aus diesen Gedanken entstehen vielerlei negative Gefühle. Was glaubst du, wie du dieser Person ab jetzt gegenübertreten wirst?
Mache dir also in einer solchen Situation lieber erst einmal klar, was tatsächlich passiert ist: Du wurdest nicht gegrüßt. Punkt. Dann fragst du dich, was deine Sorge ist, welche Gefühle in dir hochkommen. Und damit gehst du dann zu der betreffenden Person und öffnest dich ihr. Zum Beispiel so: »Hey! Mir ist eben aufgefallen, dass du mich nicht gegrüßt hast. Ich habe jetzt die Sorge, dass du vielleicht sauer auf mich bist oder ich etwas falsch gemacht habe. Ist da was dran?« Auf diese Weise kann dein Gegenüber die Chance nutzen, seine Sichtweise zu schildern. Wenn beide an dieser Stelle ehrlich sind, kann das Thema geklärt werden, bevor überhaupt erst ein Konflikt daraus entsteht.
Um mit deinen Mitmenschen ehrlich sein zu können, musst du natürlich erst einmal ehrlich zu dir selbst sein. Bevor du an dieser Stelle direkt zum nächsten Punkt springst, weil du davon überzeugt bist, dich selbst niemals anzulügen, gib bitte der folgenden Übung eine Chance, indem du folgenden Satzanfang laut liest und ihn dann vollendest: »Manchmal tue ich so, als ob …«
Falls dir gerade nichts einfällt, gebe ich dir hier mal ein paar Beispiele aus meinem Leben:
Wir alle benutzen Lügen, um alle möglichen Geschichten über uns selbst zu konstruieren – und unabhängig davon, ob wir uns dadurch besser oder schlechter fühlen, bringen sie uns dazu, die Wahrheit über uns selbst zu leugnen. Mit dieser Übung wird dir bestimmt auch ganz schnell klar, in welchen Bereichen deines Lebens du vielleicht nicht immer ganz ehrlich bist. Wenn du eine Lüge entdeckst, stelle dich ihr und lerne daraus. Heißt: Entweder du änderst etwas an deinem Handeln, sodass aus der Lüge eine Wahrheit wird. Oder du begräbst die Lüge. Diese Übung kannst du übrigens auch wunderbar in deinem Team oder Freundeskreis machen. Wer sich ebenfalls in der Lüge des Sprechenden wiederfindet, hebt die Hand. Dadurch lernt ihr euch besser kennen und sorgt für mehr Verbundenheit.
Wenn du deine Wahrheit und Lügen erkannt hast, versuche dich in deinem sozialen Umfeld immer mehr auf die Wahrheiten zu konzentrieren und diese auch zuzulassen. Zu Beginn solltest du vielleicht risikoarme Gelegenheiten wählen, bei denen die Themen noch nicht allzu groß und existenziell sind. Wenn es zum Beispiel mit Freund:innen um die Wahl eines Kinofilms geht, eines Restaurants oder eines anderen Ausflugsziels. Taste dich langsam vor und sprich deine Wahrheiten aus.
Ich will dir nichts vormachen, natürlich wird es auch Momente geben, die nicht so gut laufen. Nicht immer spielen alle Beteiligten das Spiel mit. Aber du kannst vorangehen und ein Vorbild sein.
Grundsätzlich befürworte ich Radical Honesty, betrachte diese Methode aber auch als ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bin ich davon überzeugt, dass dieses Konzept für die persönliche Entwicklung von großem Nutzen sein kann und eine starke Grundlage dafür bildet, qualitativ wertvolle Beziehungen im Alltag und Berufsleben aufzubauen und zu pflegen. Andererseits kann Radical Honesty eine Zusammenarbeit auch negativ beeinflussen. Demnach ist es wichtig, sorgfältig abzuwägen, wann radikale Ehrlichkeit angebracht ist und wann nicht. Dabei spielt vor allem die Frage eine große Rolle, ob in einem Unternehmen überhaupt ein Kommunikationssystem existiert, das Ehrlichkeit unterstützt.
Und noch mal: Radical Honesty bedeutet nicht, dass wir in jeder Situation unsere Gedanken und Meinung teilen müssen. Es bleibt dir überlassen, in welcher Situation, du dich öffnen möchtest.
Ausnahmsweise öffne ich jetzt mal keine Tüte mit Knabbereien, wenn ich mich mit Netflix beschäftige. Der amerikanische Streaming-Anbieter zeigte bereits 2009 mit der Veröffentlichung seines »Culture Decks«, wie stark radikale Transparenz und Ehrlichkeit in der Unternehmenskultur verankert sind und wie sehr dieses Konzept dazu beigetragen hat, dass sich aus einem kleinen Start-up für internetbasierten DVD-Verleih ein global führendes Unternehmen der Unterhaltungsindustrie entwickeln konnte. Die Meinung des ehemaligen CEO Reed Hastings war dabei glasklar: Wer seine Bedenken, Zweifel, Meinung nicht ehrlich und transparent äußert, der ist seinem Unternehmen gegenüber nicht loyal. Rumms! Das ist mal ein Statement.
Hastings verlangte von Mitarbeitenden auf allen Ebenen, ehrlich zu sein, verdammt ehrlich sogar. Gegenüber sich selbst und allen anderen. Führungskräfte mit eingeschlossen. Eine beliebte Übung in den Meetings der Führungskräfte hieß »Start, Stop, Continue«. Dabei trat eine Führungskraft einer anderen gegenüber und sagte ihr, was sie ihrer Meinung nach a) endlich beginnen, b) besser lassen und c) unbedingt weiter machen sollte.30
Eine weitere Maßnahme war, dass Mitarbeitende nicht hinter dem Rücken über andere sprechen durften. So etwas haben Führungskräfte direkt unterbunden und ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht einberufen – aber auch nur dann, wenn die betreffende Person dazu bereit war, das, was sie auf dem Herzen hatte, »face to face« anzubringen. Damit hat man bei Netflix eine Umgebung geschaffen, in der Probleme und Konflikte offen und ehrlich angesprochen werden können – ausgenommen ethische Verstöße wie Diskriminierung oder sexuelle Belästigung, die einen gewissen Raum des Vertrauens zur vorgesetzten Person brauchen. Zudem wurde festgestellt, dass regelmäßige, einfache und ehrliche Gespräche über die Leistung zu besseren Ergebnissen führten.31
Darüber hinaus hat das Führungsteam an Radical Honesty festgehalten, wenn es darum ging, Veränderungen und Strategien umzusetzen, die das Unternehmen und deren Mitarbeiter:innen beeinflussen. Ein Vorgang, der in vielen Firmen aus Angst vor den Reaktionen der Belegschaft vermieden wird. Patty McCord, eine der früheren Chief Culture Officer, schreibt in ihrem Buch: »Bei Netflix haben wir gelernt, dass die Vorbereitung der Mitarbeiter auf bevorstehende Veränderungen zu einem Gefühl des Vertrauens in das Unternehmen führt: Vertrauen, dass wir das Unternehmen proaktiv dorthin bringen, wo es hingehen muss, und dass wir niemanden über die erforderlichen Veränderungen täuschen werden. […] Die Transparenz in Bezug auf die Schwierigkeit dieser Entscheidungen machte sie nicht leichter, aber der ehrliche Dialog bedeutete, dass alle Mitarbeiter im Unternehmen darauf vorbereitet waren.«32
Netflix ist damit ein gutes Beispiel dafür, dass die Befürchtungen von Unternehmen sich nicht bewahrheiten müssen. Es ist weniger so, dass die Änderungen Ängste bei den Mitarbeitenden hervorrufen, sondern vielmehr fehlende Informationen darüber. René Borbonus, einer der führenden Rhetorik- und Kommunikationsexperten Deutschlands und Berater von zahlreichen Spitzenpolitiker:innen und anderen Persönlichkeiten, sagt mir: »Klarheit, auch wenn sie schmerzt, bringt uns oftmals weiter als Unklarheit, die uns extrem belasten kann.«
Aber mal eben so nebenbei wurde diese Kultur auch bei Netflix nicht etabliert. Dieser offene und transparente Umgang miteinander war laut McCord einer der schwierigsten Aspekte, an den sich alle gewöhnen mussten. Aber es hat sich gelohnt. Der frühere VP of Data Science and Engineering, Eric Colson, sagte zu Patty McCord, dass »[…] das Geben und Annehmen von ehrlichem Feedback von zentraler Bedeutung dafür war, wie gut sein Team arbeitete – und sein Team arbeitete hervorragend«.33
Es stellt sich also die berechtigte Frage, ob das Konzept von Radical Honesty zukünftig nicht zwingend die grundlegende Haltung in modernen Unternehmen sein sollte. Auf jeden Fall, findet Erin Meyer, Professorin an der internationalen Business Schools INSEAD. Sie ist eine der 50 einflussreichsten Wirtschaftsautor:innen der Welt, unter anderem mit ihrem Buch »The Cultur Map« über kulturelle Unterschiede in der Zusammenarbeit und als Co-Autorin des Buches »No Rules Rules« über die Unternehmenskultur bei Netflix. Sie sagt: »Im Silicon Valley und in vielen anderen Unternehmen herrscht ein regelrechter Hype um radikale Ehrlichkeit.«34
Mein Fazit: Ich denke, wir brauchen so etwas wie radikale Ehrlichkeit in Unternehmen. Denn ich merke selbst, wie sehr es mich anstrengt, in Meetings vielleicht nicht immer die ganze Wahrheit zu sagen. Diese emotionale und kognitive Dissonanz stresst mich – nach außen auf professionell zu machen, aber innerlich diese Unsicherheit zu spüren. Das sollte anders möglich sein. Das finden auch knapp 60 Prozent der Mitarbeitenden, die sich im Rahmen einer Umfrage von Compensation Partner, einer Marke von Stepstone, eine aktive, ehrliche und offene Kommunikation wünschen.35
Auf der anderen Seite weisen sehr viele Führungskräfte noch narzisstische Charakterzüge auf, die radikale Ehrlichkeit nicht unbedingt erleichtern. Solange also in den Unternehmen nicht die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es ermöglichen, das Radical-Honesty-Konzept umzusetzen, solange habe ich die Befürchtung, dass bedingungslose Ehrlichkeit einer Karriere eher schaden könnte. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mitten in einem Wandel stecken, der in die richtige Richtung geht. Das bestätigt mir persönlich auch Sebastian Harrer, ehemaliger Personalleiter ING Deutschland, der im Rahmen eines Artikels des Magazins »Human Resources Manager« im Oktober 2023 öffentlich fordert, dass emotionale Kompetenz auf die Agenda der Personalentwicklung gehört, weil darin der Schlüssel für erfolgreiche Zusammenarbeit und individuelle Performance liegt. Er sagt: »Emotionen haben überall da ihren Platz, wo Menschen miteinander in Interaktion treten – besonders wenn mit Engagement und Einsatz gearbeitet wird. Wer Emotionen bewusst erlebt, ist in der Lage, über Lernprozesse immer wieder Kongruenz zwischen Fühlen und Fakten herzustellen.« Und jeder von uns kann dazu seinen eigenen Beitrag leisten, indem er vorsichtig vorangeht und sich die richtigen Verbündeten sucht.
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Ich lag allein im Bett und starrte an die Decke. »Es ist vorbei«, hatte Julia gesagt. Vorbei. Sie war weg, gegangen. Für immer. Ich hatte Hüllenbruch erlitten. Die Luft strömte aus mir hinaus. Das Nichts herein. Liebeskummer eben, du kennst das. Es folgten Tage, in denen ich nicht duschte und nichts aß. Tage, in denen mir meine Eltern immer wieder sagten, dass andere Mütter auch schöne Töchter hätten, und Kumpels mich zur Ablenkung von einer Bar in die nächste zogen. Mich aber beschäftigte nur eine einzige Frage. Als meine Beziehung scheiterte, vibrierte vor allem dieses eine Wort im Raum: Warum? Warum hat es mit Julia und mir nicht geklappt? Obwohl kein Zweifel daran bestand, dass wir uns liebten und zusammengehörten, kam es ständig zu Missverständnissen, Streit und Verletzungen.
Man sagt, das Leben muss vorwärts gelebt werden, aber es wird rückwärts verstanden. Und verstanden habe ich erst viele Jahre später – als ich ein Buch des amerikanischen Pastors, Anthropologen und Beziehungsexperten Gary Chapman gelesen hatte. Darin beschreibt Chapman unterschiedliche Sprachen der Liebe. Eine Liebessprache, erfuhr ich, ist die Art, wie ein Mensch anderen seine Liebe und Sympathie zeigt. Und plötzlich kapierte ich, dass Julia und ich darin grundverschieden waren, dass es zwischen Sender:in und Empfänger:in so etwas wie Frequenzstörungen gab. Während ich ihr beispielsweise ständig sagte, dass ich sie liebte, und ihr zu verstehen gab, wie toll ich sie fand, hörte ich solche Sätze von ihr dagegen so gut wie nie. Stattdessen schenkte sie mir immer wieder Dinge: ein Freundschaftsarmband, einen selbst gestrickten Schal, verschiedene Bücher (leider nicht das von Chapman).
Worauf ich mit meiner Erzählung hinaus möchte: Wir alle drücken Liebe und Wertschätzung unterschiedlich aus – je nach Persönlichkeit, Prägung durch Erfahrungen und Beurteilung unserer Wahrnehmung. Und das nicht nur in Partnerschaften, sondern generell. Also auch im Job. Aber eins nach dem anderen.
Noch mal zurück zu Chapman: In seiner Praxis erzählten ihm immer wieder Paare, wie unglücklich sie waren, weil sie sich von ihrem Partner nicht geliebt fühlten. Mit der Zeit festigte sich bei Chapman eine Erkenntnis: »Ich entdeckte, dass sich viele Ehepaare wirklich bemühten, einander ihre Liebe zu zeigen, aber emotional nicht zueinanderfanden, weil es ihnen nicht gelang, genau die Sprache der Liebe zu sprechen, die dem anderen am wichtigsten war.«36 Chapman ist davon überzeugt, dass jeder Mensch die Liebe für seinen Partner auf eine ganz bestimmte Art und Weise zeigt, nämlich auf jene, die er sich für sich selbst wünscht. Deshalb sagte ich Julia so oft, dass ich sie liebte – nichts lieber hätte ich auch gern von ihr gehört. Das Problem ist aber, dass wir uns nicht geliebt, gesehen, wertgeschätzt fühlen, wenn die andere Person ihre Liebe in einer Sprache ausdrückt, die nicht unsere ist. Julias Sprache waren ihre Geschenke an mich.
Bereits 1992 entwickelte der Beziehungsexperte Chapman ein Konzept, das auf dieser Erkenntnis beruht, und schrieb eben jenes, das mir später in die Hände fiel: »The 5 Love Languages«. Sein Ziel war es, damit Paaren zu helfen, die Bedürfnisse und Wünsche des anderen besser zu verstehen und zu lernen, die bevorzugte Sprache des Gegenübers zu sprechen. Und so sehen sie aus:
Warum ich das alles erzähle? Schließlich soll das hier kein Ratgeber für schwierige Beziehungen sein – jedenfalls nicht für eine Liebesbeziehung. Aber für Geschäftsbeziehungen schon. Und was die Liebe in Partnerschaften ist, das ist die Wertschätzung bei der Arbeit. Fehlende Wertschätzung führt im Job ebenfalls zu Trennungen, und zwar zwischen Mitarbeitenden und dem Unternehmen, in dem sie arbeiten. In Deutschland war das 2019, also vor Corona, der häufigste Kündigungsgrund37 und 2021 sogar in internationalen Umfragen, u. a. in den USA und in Großbritannien.38
Wie die Mehrheit der Arbeitnehmer:innen fühlte sich auch Dennis, ein Mitarbeiter eines Kunden von mir, der die Karriereleiter geradezu hochgeflogen war. Er war schon mit 30 Jahren Assistent des Chief Finance Officers eines Beratungsunternehmens. Zu Beginn war er erfreut über die Möglichkeit, sich persönlich und fachlich weiterentwickeln zu können. Doch mit der Zeit sanken seine Begeisterung und damit seine Zufriedenheit und schließlich auch seine Leistungsfähigkeit. Wir sprachen nach einem sehr intensiven Workshop ausführlich miteinander und er erzählte mir von seinem Problem: »Weißt du, mir geht es überhaupt nicht ums Geld«, sagte er. »Es ist nur so: Ganz egal, was ich mache, wie lange ich arbeite, wie sehr ich mich anstrenge, was ich erreiche – ich höre nie etwas Positives. Aber sobald ich einen Fehler mache, bekomme ich sofort eine Rückmeldung.« Nach nur 15 Monaten kündigte Dennis schließlich seinen Job.
Dennis ist kein Einzelfall. Es gibt viele Führungskräfte, die Mitarbeitende und deren Leistung für etwas Selbstverständliches halten und keine Wertschätzung zeigen. In einer Umfrage der Society for Human Resource Management gab immerhin jede:r Zweite der Manager:innen an, dass sie ihre Mitarbeitenden für gute Arbeit wertschätzen – dem gegenüber standen allerdings nur 17 Prozent der genau für diese Manager:innen arbeitenden Mitarbeitenden, die sich tatsächlich wertgeschätzt fühlten – also knapp jede:r fünfte Angestellte.39 Aussagen, die weiter auseinanderliegen als die Titanic vom Meeresspiegel.
Ist es daher nicht nur die fehlende Bestätigung, die zum Problem wird, sondern eher die falsche Bestätigung? Denn es gibt eben auch Führungskräfte, die ihre Wertschätzung so zum Ausdruck bringen, dass sie nicht als solche erkannt wird. Diese Erfahrung hat auch Nadja gemacht, eine Kundin von mir. Sie arbeitet in einem großen Konzern und kann in ihrer Abteilung die besten Verkaufszahlen und Bewertungen im Kundendienst vorweisen. Ihr Chef, den ich als modern und sehr mitarbeitendenorientiert kennengelernt habe, hat Nadja regelmäßig wertgeschätzt, indem er sie zum Beispiel bei Personalversammlungen nach vorne auf die Bühne geholt hat, um sie vor allen lobend hervorzuheben und ihr sogar eine Prämie auszuhändigen. Toll, oder? Nur leider nicht für Nadja. Denn sie hätte sich lieber mit einer Drahtbürste über einen Sonnenbrand gekratzt, als vor allen im Rampenlicht zu stehen. Das ist nämlich eine Qual für sie. Besser hätte sie es gefunden, wenn sich ihr Chef mehr Zeit für sie genommen hätte. Wenn er gemeinsam mal mit ihr zum Mittagessen gegangen wäre oder Vier-Augen-Gespräche in seinem Büro mit ihr geführt hätte, in denen sie ihre Vorschläge zur Verbesserung der Prozesse hätte aufzeigen können. Das hätte sie als Wertschätzung empfunden. Anders ausgedrückt: Während ihr Chef die Sprache der Anerkennung spricht, spricht Nadja die Sprache der gemeinsamen Zeit.
Die Folge: Frust auf beiden Seiten. Nadja ist enttäuscht, weil sie gute Arbeit leistet, aber in ihren Augen keine Wertschätzung dafür bekommt. Ihr Chef ist ratlos, weil er sich große Mühe gibt, seiner besten Mitarbeiterin den roten Teppich auszurollen, die sich aber sogar noch bei Kolleg:innen darüber beschwert, nicht gesehen zu werden. Es ist ein wenig so, als würdest du in der Kantine eine Suppe essen wollen, aber der Küchenchef gibt dir eine Gabel.
An dieser Stelle fällt dir vielleicht auf, dass Konflikte aufgrund unterschiedlicher Sprachen nicht nur ein Problem in Liebesbeziehungen sind, sondern eben auch in Beziehungen, die wir im Job führen. Das hat auch Chapman erkannt und deshalb sein Konzept der »The 5 Love Languages« gemeinsam mit dem Psychologen und Leadership-Trainer Dr. Paul White auf den Arbeitskontext übertragen. Das Ergebnis: »The 5 Languages of Appreciation in the Workplace«. Es lädt nicht nur dazu ein, Menschen grundsätzlich mehr Wertschätzung zu geben, sondern sich vielmehr intensiver mit den einzelnen Personen zu beschäftigen, um die bevorzugte Sprache der Wertschätzung zu erkennen.
Selten habe ich so viele Studien und Umfragen gefunden, wie zu dem Thema Wertschätzung im Job und die positiven Auswirkungen, die damit zusammenhängen. Grundlegend ist es erst einmal so, dass sich die Mehrheit der Mitarbeitenden eine hohe Wertschätzung bei der Arbeit wünscht.40 Das allein ist aus meiner Sicht schon ein wichtiger Grund, warum sich die Verantwortlichen in Unternehmen näher mit diesem Thema beschäftigen sollten. Davon abgesehen bekommen die Arbeitgeber dafür aber auch noch eine Menge zurück. So schreibt Chapman in seinem Buch: »Zwar nehmen wir es immer zur Kenntnis, wenn uns jemand in irgendeiner der fünf Sprachen Anerkennung zollt, aber wirklich ermutigt und motiviert fühlen wir uns nur, wenn es in der Sprache geschieht, die uns am meisten bedeutet.«41
Daraus resultieren einige Vorteile. Drei Beispiele:
Zusammengefasst heißt das: Wertschätzung steigert die Zufriedenheit der Menschen und Teams. Darüber hinaus performen sie besser und steigern damit die Rentabilität von Unternehmen.
Leider bekomme ich immer wieder bei meinen Kund:innen mit, dass das Thema Wertschätzung für Führungskräfte keine große Rolle spielt. Ihnen ist es oft egal, wie sich Mitarbeitende bei der Arbeit fühlen, weil es für die Führungskräfte im Job eben darum geht, Aufgaben zu erfüllen. Dass aber genau das durch Wertschätzung optimiert wird, haben die wenigsten auf dem Zettel. Um es an dieser Stelle einmal klar zu formulieren: Das Ziel beim Umgang mit Wertschätzung ist, dass eine gesunde und vor allem funktionierende Organisation geschaffen wird, in der Mitarbeitende besser performen und gleichzeitig auch noch gerne bleiben. Dass die Menschen sich dabei auch noch besser fühlen, ist quasi die Kirsche auf der Sahnetorte.
Die Verantwortung liegt meiner Meinung nach aber nicht allein bei den Führungskräften, es geht dabei nicht ausschließlich um einen Top-down-Prozess. Denn wie eine Umfrage zeigt, würden 65 Prozent der Mitarbeitenden im Unternehmen bleiben, obwohl die Vorgesetzten keine Wertschätzung zeigen – wenn sie dafür Anerkennung von Kolleg:innen bekämen.46 Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und behaupte, dass überhaupt nichts dagegen spricht, wenn auch Führungskräfte von ihren Mitarbeitenden Wertschätzung erfahren würden. Am Ende sind wir alle Menschen. Deswegen schauen wir uns jetzt die 5 Sprachen der Wertschätzung im Job mal etwas genauer an.
Diese Form der Anerkennung wird laut Chapman und White von 46 Prozent der Mitarbeitenden favorisiert und ist damit die Sprache der Wertschätzung, die im Unternehmenskontext am meisten benutzt wird. Diese Menschen fühlen sich wertgeschätzt, wenn sie verbal oder schriftlich Komplimente, Lob oder Anerkennung für Leistungen, Charaktereigenschaften, Persönlichkeit, Gefälligkeiten, Gesten, Unterstützung oder Ähnliches erhalten. Dafür braucht es keinen bestimmten Anlass. Ihnen ist wichtig, wie andere Menschen über sie denken.
Bei jedem vierten Mitarbeitenden kommt Anerkennung am besten an, wenn diese über die Zeit zum Ausdruck gebracht wird, die man für diese Person investiert. Interessant hierbei: Im Gegensatz zu Frauen freuen sich Männer mehr über gemeinsame Erlebnisse als über ein intensives Gespräch in einem geschützten Raum.47 Grundsätzlich geht es bei Menschen, die diese Sprache der Wertschätzung sprechen, um aufrichtiges Zuhören, gegenseitige Rücksichtnahme und um das Gefühl, dass die eigene Arbeit von Bedeutung ist und die andere Person Interesse für einen zeigt. Es geht dabei nicht explizit um eine räumliche Nähe, sondern vielmehr um die ungeteilte Aufmerksamkeit.
Taten sagen mehr als Worte, das gilt zumindest für 22 Prozent der Mitarbeitenden. Diese Menschen fühlen sich erst dann wertgeschätzt, wenn sie im Alltag von anderen unterstützt werden – am besten unaufgefordert und wenn gerade viel los ist. Wichtig ist außerdem, dass es um echte Hilfsbereitschaft geht und nicht im Nachhinein eine Gegenleistung erwartet wird. Allerdings kannst du dann überrascht werden, dass dir von diesen Kolleg:innen gern geholfen wird: Sie stehen bei deinem Umzug pünktlich um acht Uhr vor deiner Tür – mit einem Sprinter, zwei Schüsseln Kartoffelsalat und drei Freunden, die ein Kreuz wie eine Schubkarre haben.
Immerhin noch sechs Prozent der Mitarbeiter:innen sprechen sozusagen die Sprache der bunten Schleifchen. Heißt: Diese Menschen freuen sich im Alltag über Überraschungen und Aufmerksamkeiten in Form von Geschenken – nicht nur am Geburtstag. Dabei geht es laut Chapman oftmals nicht um den materiellen Wert, sondern eher um die Idee hinter dem Präsent und die Zeit, die sich genommen wurde, um es zu besorgen.
Bestimmt fragst du dich an dieser Stelle, wie die Wertschätzung in Form von Körperkontakt zum Tragen kommen kann. Okay, vielleicht fällt dir jemand ein, dem du gern mal eine Backpfeife geben würdest. Das ist damit natürlich nicht gemeint. Genau genommen habe ich diesen Punkt vollständigkeitshalber aufgenommen. Diese Sprache ist jedoch schwierig, in eine arbeitsgerechte Variante umzuwandeln: Denn was für die eine Person noch okay ist, mag bei der anderen zu Schnappatmung und nervösem Augenzucken führen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, im Unternehmen und in den entsprechenden Teams gemeinsam angemessene Formen des Körperkontakts am Arbeitsplatz festzulegen. Laut Chapman und White kann diese Sprache der Wertschätzung ohnehin nur für wenigstens ein Prozent der Mitarbeitenden im Job-Alltag Ermutigung geben.
Als ich zum ersten Mal von »The 5 Languages of Love« gelesen habe, war mir sofort klar, dass sich damit viele Konflikte im Arbeitskontext vermeiden lassen. Und das ist sogar belegt. Gary Chapman und Dr. Paul White ließen wissenschaftliche Studien durchführen, um die Wirkung ihres Konzeptes zu untermauern. Dabei hat sich beispielsweise gezeigt, dass die Entdeckung der spezifischen Sprache der Wertschätzung das Gefühl der Mitarbeitenden, geschätzt zu werden, verbessert.49 Darüber hinaus konnten die Studien darlegen, dass die Vermittlung von Wertschätzung an Kolleg:innen auf die Art und Weise, die für sie am bedeutsamsten ist, dazu beiträgt, einen unterstützenden und ermutigenden Arbeitsplatz zu schaffen, der das Engagement der Mitarbeitenden fördert.50
Aber bitte nicht falsch verstehen, liebe Führungskräfte. Eure authentische und ehrliche Wertschätzung führt bestimmt auch dazu, dass eurer Team Überstunden oder Spätschichten eher toleriert – aber das allein ist nicht Zweck der Sache. Denn allein von eurer Wertschätzung kann sich niemand etwas kaufen, wortwörtlich nicht. Heißt: Eine angemessene Vergütung darf durch Wertschätzung natürlich nicht ersetzt werden.
Ich glaube, dass sich Chapmans Konzept in jeder Firma umsetzen lässt. Chapman und White sagen sogar, dass es völlig unabhängig von der Branche und Größe eines Unternehmens erfolgreiche Umsetzungen in der Praxis gibt. Ein Unternehmen, das mir dabei direkt auffiel, war ein Bergbauunternehmen aus South Dakota. Die Bergleute von Pete Lien & Sons in Rapid City verbringen ihre Arbeitstage vornehmlich mit Bohren, Sprengen und Verladen von Gesteinsbrocken. Auf den ersten Blick eine Umgebung, in der Soft Skills so gut reinzupassen scheinen wie ein rundes Klötzchen in ein eckiges Loch. Dennoch entschied sich die Unternehmensleitung, genau in diesem Setting das Konzept der Sprachen der Wertschätzung einzuführen.
»Wir sind ein Bergbaubetrieb, und die Sache mit Emotionen und Gefühlen ist nichts, womit sich Männer im Allgemeinen wohlfühlen«, führt Tucker Green gegenüber der »New York Times« aus, ein Angestellter, dessen Sprache der Wertschätzung Anerkennung ist.51 Aber nun war die Vorstellung der Unternehmensleitung nicht, dass sich die kantigen Kerle gegenseitig den breiten Nacken streicheln sollten, sondern eben eine ganz andere. Eine wirklich kreative. Jeder Helm, der bei den Bergbaumännern zur Standard-Schutzkleidung gehört und zwingend getragen werden muss, sollte mit einem Aufkleber versehen werden, der die favorisierte Sprache des Trägers zum Ausdruck bringt. Somit kann jeder sofort erkennen, welche Form der Wertschätzung bei diesem Kollegen gewählt werden sollte. »Als das anfing, konnte man überall die Augen rollen sehen«, sagt Green.52 Doch mit der Zeit erkannten die Mitarbeitenden schnell die Vorteile. Obwohl die Teilnahme von Anfang an freiwillig gewesen ist, machen mittlerweile 91 Prozent der Mitarbeitenden mit. »Das ist so sehr ein Teil unserer Arbeit geworden und ich bin davon überzeugt«, sagt Green.53
Mein Fazit: Wenn man es schafft, in einem Bergbauunternehmen ein solches Konzept erfolgreich zu integrieren, dann ist das nahezu überall möglich.
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