4 EIGENVERANTWORTUNG STATT FREMDBESTIMMUNG

Arbeitskräfte werden eingestellt, weil sie in Unternehmen spezifische Aufgaben übernehmen, Probleme lösen oder etwas voranbringen sollen. Dafür bekommen sie meist in den ersten Wochen und Monaten ein entsprechendes Onboarding mit Trainings, Workshops, Coachings und Gesprächen. Mit dem Ziel, so schnell wie möglich nützlich zu sein und in einer vorgegebenen Maschinerie des Arbeitgebers als eines von vielen Zahnrädern zu funktionieren.

Wenn erst einmal alles läuft und die Zahnräder angepasst worden sind, werden Mitarbeitende dann aber oftmals schnell ignoriert. Um ein Höchstmaß an Effizienz und Effektivität zu erreichen, entwickeln Unternehmen Strukturen, sie definieren Prozesse und stellen Regeln und Normen auf – die von Mitarbeitenden jedoch oft als störend, als Einschränkung und Begrenzung wahrgenommen werden. Eigenverantwortung, Autonomie und Entwicklung kommen viel zu kurz. Es scheint also wenig überraschend, dass für jede:n Vierte:n der Leidensdruck sogar so groß ist, dass der Job gekündigt wird, ohne überhaupt eine neue Stelle in Aussicht zu haben.1

Einen festen Job aufzugeben und dann erst eine neue Stelle zu suchen, zeigt das Ausmaß der Not dieser Menschen. Letztlich ist es aber so: Wer kann garantieren, dass das Gras auf der anderen Seite des Zaunes grüner ist? Der Kaffee weniger abgestanden schmeckt? Sich die Bürostühle besser drehen? Wer kann garantieren, dass wir unsere Stärken und Leidenschaften in anderen Unternehmen besser einbringen können? Dass wir mehr Freiräume und Eigenverantwortung erfahren dürfen? Die Antwort ist einfach: Niemand kann das.

Aber wir können daran arbeiten, die Wahrscheinlichkeit dafür zu erhöhen. Wenn sich Mitarbeitende grundsätzlich im Unternehmen wohlfühlen würden, gäbe es die Möglichkeit, dass sie ihre eigene Tätigkeit auf mehr Spiel- und Freiräume durchleuchten könnten. In Eigenverantwortung oder durch die Unterstützung von Führungskräften und den entsprechenden Abteilungen im Unternehmen. Na, wie klingt das? Eben! Deshalb schauen wir uns in diesem Kapitel verschiedene Möglichkeiten an, durch die wir im Job wieder mehr in die Eigenverantwortung kommen, unsere Stärken einbringen und uns langfristig im Unternehmen weiterentwickeln können. Damit wir nicht schon in der Probezeit am Sonntagmorgen das Gefühl haben, dass uns eine Faust von innen die Organe zerquetscht, weil der Montagmorgen nicht mehr weit weg ist.

Intrapreneurship: Lasst sie ruhig mal machen

Es gibt eine Geschichte, die mich immer wieder aufs Neue beeindruckt: Die junge Software-Ingenieurin Swetha Machanavajhala war gerade von Indien in die USA gezogen, um ihren Job bei Microsoft anzutreten. Dort angekommen skypte sie wöchentlich mit ihren Eltern, die in der Heimat geblieben waren. Leider war die Internetverbindung in Indien sehr schlecht und Machanavajhala, die seit ihrer Geburt taub ist, hatte Mühe, die Lippen ihrer Eltern zu lesen.

Immer wieder musste Machanavajhala ihre Eltern bitten, das Licht im Hintergrund auszuschalten, damit sie sich besser auf die Gesichter der beiden konzentrieren konnte. Und immer wieder fragte sie sich, warum man nicht eine Technologie entwickeln könnte, die das erledigt? Also tat sie es. Dabei stellte sich heraus, dass Machanavajhalas Funktion, den Hintergrund unscharf zu stellen, auch aus Gründen der Privatsphäre gut geeignet war, um unordentliche Büros bei Videokonferenzen oder neugierige Cafébesucher bei Vorstellungsgesprächen zu verbergen. Und so wurde Machanavajhala zu einer der Personen, die maßgeblich die Entscheidung beeinflussten, ähnliche Funktionen für Microsoft Teams und Skype zu entwickeln. Schon bald stand sie im Rampenlicht von Microsoft und war zudem an internen Programmen beteiligt, die dafür sorgten, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben nicht mehr vorhandenen Strukturen anpassen müssen.2

Machanavajhalas Beispiel zeigt, welche Innovationen geschaffen werden, wenn die Menschen sie aus eigenem Antrieb heraus entwickeln. Und genau darum soll es hier gehen.

Innovationen – die Kraft der Zukunft

Kurz und knapp: Für Unternehmen sind Innovationen überlebenswichtig, denn sie führen zu langfristigem Erfolg. Wer sich nicht stetig weiterentwickelt, Veränderungen anpasst und diese fördert, existiert bald nicht mehr – wie zum Beispiel 88 Prozent der »Fortune 500«-Unternehmen aus dem Jahr 1955. Lediglich zwölf Prozent der umsatzstärksten Unternehmen der USA existierten 60 Jahre später immer noch. Obwohl hier keine Unternehmen dabei sind, die miteinander fusionierten, ist die Quote beachtlich.3

Auch McKinsey-Berater Claudio Feser, der mehrere Bücher zum Thema Leadership verfasst hat, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Nach seinen Marktbeobachtungen überleben Unternehmen im Schnitt nur neun Jahre, bevor sie von der Bildfläche verschwinden – das entspricht in etwa der natürlichen Lebenserwartung eines Huhns. Ist also nicht das Gelbe vom Ei. Jedes 7. Unternehmen erreicht das 30. Lebensjahr, und nur jedes 20. Unternehmen darf sein 50-jähriges Jubiläum feiern.4

Prof. Dr. Joerg Dederichs, Professor für Strategisches Management an der CBS International Business School und ehemaliger Managing Director von 3M, bringt es auf den Punkt: »Jede Organisation muss innovativ sein – aufgrund von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen. Und gerade in Zeiten des digitalen Wandels zeigt sich, dass die Innovationsintervalle immer kürzer werden. Die Anpassung an sich verändernde Umfeldbedingungen ist dabei wichtiger als die Unternehmensgröße – das wissen wir seit dem Aussterben der Dinosaurier. Daher ist es umso entscheidender, dass Unternehmen sowohl extern als auch intern herausfinden, wo sich die besten Quellen für Innovationen befinden und dann diesen Prozess systematisch angehen.«

Bleibt die Frage: Wie können Innovationen im Unternehmen entstehen und gefördert werden? Aus den vorherigen Kapiteln weißt du bereits, dass Empathie ein großer Faktor sein kann. Eine andere Möglichkeit, Innovationen zu fördern – und gleichzeitig die Zufriedenheit, Motivation, das Engagement und die Verbundenheit zum Unternehmen von Mitarbeitenden zu steigern –, heißt Intrapreneurship.

Intrapreneurship – Innovationen von innen

Angestellte, wie die Microsoft-Managerin Machanavajhala, die sich aus einer intrinsischen Motivation und Leidenschaft in bestehenden Organisationen so verhalten, als ob sie selbst Unternehmer:innen wären, nennt man Intrapreneure: Sie kennzeichnet ein unternehmerisches, lösungsorientiertes und innovationsorientiertes Denken und Handeln mit dem Ziel, das Unternehmen nach vorne zu bringen: »Sie bringen neue Dinge auf den Weg, während diejenigen, die versuchen, auf dem offiziellen Weg zu innovieren, immer noch auf die Erlaubnis warten, beginnen zu dürfen.«5

Während 2018 nur jedes 5. Unternehmen ab einer Größe von 500 Mitarbeiter:innen das Intrapreneur-Potenzial seiner Teams nutzte6, war es 2022 bereits jedes zweite Unternehmen.7 Es ist nicht der Mangel an Ideen, die Innovationen ausbremsen, sondern eher der Mangel an Intrapreneurship. In jedem Unternehmen schlummert ein enormes Potenzial, da innovative Ideen vor allem auch aus persönlichen Erfahrungen oder Problemen entstehen. Oft werden die innovativen Ideen aber leider erst gar nicht weiterentwickelt oder umgesetzt, da es egoistische oder narzisstisch veranlagte Haltungen, Machtgefüge, Hierarchien, starre Strukturen und Prozesse nicht erlauben, dass Mitarbeitende ihre Ideen frei entfalten können. Aber so wie Start-ups nicht ohne ihre Entrepreneure funktionieren werden, bekommen Unternehmen ohne Intrapreneure echte Probleme.

Meist wird das Thema Intrapreneurship lediglich aus Sicht des Unternehmens betrachtet. Meines Erachtens bietet Intrapreneurship aber nicht nur zahlreiche Vorteile für Unternehmen, sondern insbesondere auch für deren Mitarbeitende – weil sie damit die Möglichkeit bekommen, das zweite der bereits beschriebenen drei angeborenen psychologischen Grundbedürfnisse für sich zu erfüllen: das Bedürfnis nach Autonomie.

Wie bereits an anderer Stelle verdeutlicht, wird das psychische Wohlbefinden von Menschen gesteigert und damit schlussendlich auch die Motivation, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit, wenn die psychologischen Bedürfnisse erfüllt sind. Ein sehr guter Grund also, dass wir uns auch dieses Grundbedürfnis einmal näher anschauen.

Das Grundbedürfnis nach Autonomie

Im Rahmen unseres Bedürfnisses nach Autonomie möchten wir selbstbestimmt nach eigenen Werten entscheiden und uns auch dementsprechend verhalten. Die jeweiligen Aktionen gehen also von jedem Einzelnen aus und werden nicht von außen aufgezwungen – und erfordern damit auch keine externen Belohnungen oder Bestrafungen. Dieses psychologische Grundbedürfnis beruht nach Edward L. Deci auf »[…] Neugier, Exploration, Spontaneität und Interesse an den unmittelbaren Gegebenheiten der Umwelt […]«.8

Im Laufe der Zeit wird uns dieses angeborene psychologische Grundbedürfnis aber genommen – und zwar durch unsere von klein auf antrainierte und eingefahrene Vorstellung davon, worauf es im Leben ankommt (dicke Muskeln, schnelle Autos, steile Karriere…). Mit diesen Vorstellungen sind wir dann mehr verbunden als mit uns selbst. Wir sind sehr im Außen und richten uns nach dem, was von uns verlangt wird – erst von unseren eigenen Eltern, später im Job. Das machen wir, weil wir sonst in dieser Gesellschaft keinen Platz finden. Wir wollen aber dazugehören und Wertschätzung erfahren. Deshalb lernen wir schon als Kinder, unsere eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, wie ein Furz im vollbesetzten Fahrstuhl, und halten die Vorstellung, die wir verfolgen, für wichtiger als die Signale, die unser Körper gibt.

Wir tun dies, um Stress und inneres Chaos zu vermeiden. Beides entsteht nämlich in unserem Gehirn, wenn wir das, was wir ausleben wollen, aufgrund von Vorstellungen anderer nicht ausleben können – Stichwort Inkohärenz. Dadurch sind wir zum Objekt geworden. Das Schlimmste dabei ist: Wir sind damit erfolgreich und dies gerade in einer Gesellschaft, die immer noch geprägt ist von Wettbewerb und Leistungsgedanken. Wir passen uns mehr an, funktionieren immer besser und werden Maschinen Stück für Stück ähnlicher. Das führt aber irgendwann dazu, dass wir uns selbst nicht mehr mögen, es geht uns damit nicht mehr gut. Und wer mit sich selbst nicht mehr glücklich ist, der kann dies auch nicht mit anderen werden: nicht mit Kolleg:innen, nicht mit Freund:innen, nicht mit Partner:innen. Irgendwann sind wir dann so unglücklich, dass wir uns selbst belohnen müssen dafür, dass wir so tapfer waren, das alles auszuhalten. Das ist dann der Punkt, an dem wir uns neue Schuhe kaufen, teuren Schmuck, schnelle Autos, an dem wir uns in Affären stürzen oder anfangen, Schnaps zu trinken.

Diese Ersatzbefriedigungen sind nicht gut: nicht für den Einzelnen, nicht für die Gesellschaft. Wir sind zwar im Außen erfolgreich, aber innerlich nahezu tot. Denn uns fehlt die Lebendigkeit, wir spüren uns immer weniger. Es kommt sogar so weit, dass wir die Signale unseres Körpers nicht mehr wahrnehmen. Dabei ist es ja das Schöne an unserem Körper, dass er uns Signale sendet: wenn wir gestresst sind, hungrig oder müde. Aber wir essen nicht etwa dann, wenn uns der Magen bis in die elfte Rippe knurrt, sondern wenn es in den Arbeitsplan passt. Wir schlafen nicht, wenn wir schon beinahe mit dem Kopf auf die Tischplatte krachen, sondern erst dann, wenn nichts mehr zu tun ist. Wir finden auch keine Muße zum Ausruhen, bewegen uns nicht genug und spüren gar nicht, dass uns das alles nicht guttut.

So weit die schlechte Nachricht. Aber es gibt auch eine gute. Denn wir können da rauskommen. Indem jede:r damit anfängt, liebevoll mit sich selbst umzugehen9, und Unternehmen bewusst Rahmenbedingungen schaffen, damit Mitarbeitende sich selbstbestimmter, gestaltungsfreier und eigenverantwortlicher verhalten können: zum Beispiel durch Intrapreneurship. Denn Mitarbeitende benötigen Eigenverantwortung und eine gewisse Freiheit beim Ausführen ihrer Tätigkeiten. Das heißt natürlich nicht, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Vielmehr geht es darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, ähnlich der Leitplanken auf der Autobahn, in deren Mitte wir uns, unter Einhaltung allgemeiner Regeln, frei bewegen können. Denn das Verhalten erfolgt immer im sozialen Kontext, also innerhalb eines Teams, und das erfordert Abstimmungen und Kompromisse.

Wenn Mitarbeitende ihre Bedürfnisse zunehmend nicht mehr innerhalb einer Organisation befriedigt bekommen, passiert das, was wir alle irgendwann schon einmal erlebt haben: Wir sind frustriert, fühlen uns nicht mehr mit dem Unternehmen verbunden, kündigen, machen uns selbstständig oder reduzieren unsere Arbeitszeit. Diesen Trend erlebst du besonders auf allen gängigen Social-Media-Kanälen, wo immer mehr redaktionelle Beiträge und Podcastfolgen entstehen, in denen sich Menschen neben ihrem Angestelltenverhältnis eine eigene Selbstständigkeit bzw. einen Nebenverdienst aufbauen. In einigen Branchen spüren das Unternehmen bereits, weil sie keine Mitarbeitende mehr finden, sondern nur noch auf Freelancer, auch »Gig-Worker« genannt, zurückgreifen können. Diese Menschen wollen sich schlichtweg nicht mehr anstellen lassen, um ihr Bedürfnis nach Autonomie zu schützen. Ich kann es verstehen.

Win-win für alle

Nicht nur Mitarbeitende profitieren deutlich davon, wenn Unternehmen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, die Selbstverantwortung zu fördern und das Bedürfnis nach Autonomie zu befriedigen. Auch die Unternehmen selbst gewinnen dadurch. Mitarbeitende werden dazu befähigt, stressigere Zeiten oder widrigere Umstände durchzustehen. Führungskräfte können erheblich entlastet werden, wenn Problemlösungen direkt aus dem Team kommen bzw. Mitarbeitende bei Problemen direkt mit Vorschlägen für Lösungen aufwarten. In der heutigen komplexen Welt ist es meiner Meinung nach ein Irrglaube, dass innovative Ideen ausschließlich von Führungskräften kommen. Selten sind Führungskräfte gleichzeitig Expert:innen für alle Bereiche ihres Aufgabengebietes. Unternehmen, die sowohl auf eine Führungskräfte- als auch auf eine Expert:innen-Laufbahn setzen, ermöglichen damit, dass Intrapreneure in ihrem Fachgebiet innovative Ideen einbringen. Das zahlt sich aus. Denn von Unternehmen, die Intrapreneurship fördern, kommen fast doppelt so viele neue Produkt-, Dienstleistungs- und Prozessinnovationen auf den Markt.10

Diese Erfolgsgeschichten können Unternehmen auch unternehmensintern einsetzen, um die Kultur und die Haltung bei den Mitarbeitenden generationsübergreifend im Unternehmen positiv zu beeinflussen und zu prägen. So nutzt zum Beispiel der amerikanische Multitechnologiekonzern 3M die Erfolgsgeschichten der eigenen Intrapreneure, um die Kreativität, Leidenschaft und Risikobereitschaft von Mitarbeitenden zu fördern und eine innovationsorientierte Kultur zu etablieren: »Wir machen jeden, der eine Idee hat, zu einem Superstar – egal ob etwas erfolgreich umgesetzt wird oder nicht«, sagt Stephan Rahn, 3M Director Brand & Communications (EMEA). Solche Geschichten inspirieren Mitarbeitende zudem, mit Mut, Entschlossenheit und Ausdauer bei vermeintlichen Misserfolgen dranzubleiben und weiter an sich und die eigenen Fähigkeiten und Ideen zu glauben.

Ein schönes Beispiel ist die Geschichte des Forschungschemikers George Swenson, die bei 3M jede:r kennt. Hier die Kurzversion: Immer wieder scheiterten Swensons Versuche, Granulate, die für die Beschichtung von Asphaltschindeln benötigt wurden, so einzufärben, dass Dächer in verschiedenen Farben gedeckt werden konnten und gleichzeitig ihr Funktionalität behielten. Das Problem war, dass die Farbe ausblich. Nach mehreren erfolglosen Versuchen forderte sein Chef ihn auf, die Forschung einzustellen. Was Swenson aber nicht tat, woraufhin er entlassen wurde. Am nächsten Tag stand er aber pünktlich auf der Matte und forschte weiter. Sein Chef machte ihm noch einmal deutlich, dass er nicht mehr für das Unternehmen arbeite, und er antwortete: »Nun, ich verstehe, dass das bedeutet, dass Sie mich nicht bezahlen werden, aber bedeutet es auch, dass ich nicht an dem Granulat arbeiten kann?« Beeindruckt von seiner Entschlossenheit erlaubte ihm sein Chef, die Ressourcen des Labors weiterhin in seiner Freizeit zu nutzen. Nachdem Swenson schließlich doch erfolgreich war, stellte 3M ihn wieder ein. Er baute fortan das große und profitable 3M-Geschäft mit Dachgranulat auf und leitete es. Das Unternehmen ist bis heute ein wichtiger Akteur in diesem Geschäft.11

Garant für innovationen – aber auch für Burn-out

Wir alle könnten Intrapreneure sein, aber nicht alle von uns sollten es werden. Denn so schön es sich bis hierher vielleicht anhört, so besteht leider auch die Gefahr, dass die Leidenschaft und intrinsische Motivation der Mitarbeitenden zu Überforderung und Stress führen, weil die eigenen Grenzen nicht erkannt werden. Dies kann schlussendlich die Burn-out-Rate erhöhen. Hier sollten Führungskräfte ganz genau hinschauen.

Auch die Psychologin Sirka Laudon, Personalvorständin beim Versicherungsunternehmen AXA, betrachtet diese Entwicklung kritisch: »Man hat manchmal die leicht naive Vorstellung, dass, wenn eine Führungskraft weniger Impulse gibt, automatisch mehr Empowerment entstehen würde. Ich glaube aber daran, dass das gelernt werden muss. Dass Empowerment nichts ist, was mal eben so nebenbei passiert, wenn man einfach eine hierarchische Führung wegnimmt. Dass dann nicht plötzlich sehr selbstwirksame, autonome, handlungsaktive Menschen zum Vorschein kommen, die nur darauf warten, ihre Ideen auf die Straße zu bringen. Ich bin der Meinung, dass es ein gezieltes Training braucht, um Mitarbeitende zum Empowerment zu befähigen.«

Diese Erfahrung macht auch gerade der Gründer Mario Konrad von Ryzon, einer Sportbekleidungsmarke, der mir beim Mittagessen in Köln erzählt: »Am Anfang haben wir das Unternehmen sehr auf Basis von Eigenverantwortung aufgebaut. Aber mit der Zeit und dem Wachstum des Unternehmens mussten wir erkennen, dass die totale Freiheit und Eigenverantwortung nicht funktionieren. Wir mussten erkennen, dass es Strukturen, Prozesse und Regeln braucht, damit Menschen sich nicht orientierungslos fühlen. Dabei ist es aber immer noch ein Ziel von uns, den Menschen die maximale Eigenverantwortung zu geben.«

Es geht letztlich also gar nicht darum, Intrapreneure zu erschaffen, sondern eher, sie zu entdecken und dann natürlich auch noch entsprechend zu fördern. Wenn dabei erst einmal das passende Mindset aufgebaut und eine innovationsorientierte Kultur mit viel Eigenverantwortung entwickelt worden ist, braucht es zudem noch viele Ressourcen, um Mitarbeitende mit ihren Ideen abzuholen. Denn nichts ist frustrierender, als eine innovative Idee zu haben, aber zu merken, dass Unternehmen keine Kapazitäten zur Verfügung stellen können, um die Idee zu bewerten und umzusetzen.

Nicht zögern, sondern machen

Das Erfinderunternehmen 3M aus Neuss zeigt, wie es richtig geht: Denn den Mitarbeitenden werden 15 Prozent ihrer Arbeitszeit dafür eingeräumt, an eigenen Innovationsideen zu arbeiten, völlig unabhängig davon, ob diese Ideen in die offizielle Planung des Unternehmens passen oder nicht. Darüber hinaus stehen den Mitarbeitenden alle Entwicklungsressourcen des Unternehmens zur Verfügung: von Laborgeräten über Projektteams bis hin zu finanziellen Ressourcen. Und das zahlt sich aus: Mit über 129.000 Patenten in über 100 Jahren zählt 3M zu den 50 innovativsten Unternehmen weltweit.12

Es ist zwar schwierig, jede einzelne Produktidee eindeutig auf diese 15-Prozent-Regel zurückzuführen, aber es scheint sicher, dass sie immer eine Rolle spielt wegen ihrer Signalwirkung auf die Mitarbeitenden: »Schaut her, das ist, was das Unternehmen will und was uns stark macht. Nutzt die Gestaltungsfreiräume, genießt das Vertrauen, geht Risiken ein und denkt das Unternehmen jeden Tag neu. Das ist in den Köpfen der Mitarbeitenden«, sagt mir Rahn.

Eine einzige Maßnahme wird aber nicht ausreichen, um eine erfolgreiche Innovationskultur zu schaffen. »Die Leute sind ja nicht blöd«, sagt Rahn. »Ich kann nicht an einem Tag Freiräume schaffen und die Mitarbeitenden am nächsten Tag wieder einschränken und vorgeben, was sie zu tun haben. Das Entscheidende ist deshalb, dass das Gesamterlebnis in sich stimmig sein muss.«

Und das passt bei 3M, das seit der Gründung im Jahr 1902 das richtige Mindset von Generation zu Generation weitergibt. »Dafür ist es wichtig, nicht nur Wissensträger im Unternehmen zu halten, sondern vielmehr Potenzialträger, also leistungsorientierte Teamplayer, die die Kultur und Haltung in die nächste Generation transportieren«, erklärt mir Prof. Dr. Joerg Dederichs. Eine erfolgreiche Innovationskultur und die Nutzung von Gestaltungsfreiräumen erfordern ein stetiges Vorleben. Die Kultur muss für neue Mitarbeitende erlebbar gemacht werden.

Genauso wichtig ist aber auch die Anerkennung und Wertschätzung für hervorragende Leistungen abseits monetärer Anreize. So fördert zum Beispiel die bereits in den 1960er-Jahren eingeführte Carlton Society bei 3M Innovationen und Beharrlichkeit in der Forschung und der Produkt- und Technologieentwicklung. In diesen elitären Kreis werden jedes Jahr von den über 8.000 Forscher:innen 30 ausgewählte Mitarbeitende aufgenommen, um deren Innovationskraft zu ehren. Dies ist die höchste Anerkennung für das Lebenswerk von Wissenschaftler:innen und Ingenieuren und in der 3M-Welt mit einem Nobelpreis vergleichbar.

Damit solche Erfolgsgeschichten entstehen können, braucht es neben der innovationsfördernden Kultur und der richtigen Haltung auch professionelle Strukturen. Denn Intrapreneurship bedeutet gleichermaßen Kreativität und Chaos. Und nicht selten scheitern Intrapreneurship-Projekte, da keine Prozesse etabliert wurden oder das Management nicht risikofreudig ist.

Das musste beispielsweise Eastman Kodak erfahren. Der US-amerikanische Kamerakonzern war über ein Jahrhundert lang Marktführer für analoge Kameras und Filme, musste aber 2012 Insolvenz anmelden. Der Grund dafür war die Entwicklung der Digitalkamera. Nun liegt der Verdacht nahe, dass man diesen Trend bei Kodak verschlafen hatte – aber genau das Gegenteil war der Fall. Bereits 1974 entwickelte der Kodak-Ingenieur Steve Sasson weltweit die erste digitale Kamera. Allerdings sah die damalige Geschäftsführung darin eine Bedrohung für das eigene Geschäft und hielt an alten Unternehmenswerten fest. Erst 1991 kam die erste digitale Kodak-Kamera auf den Markt – viel zu spät. Andere Unternehmen konnten sich besser positionieren, und so nahm die unternehmerische Entwicklung ihren Lauf.13

Mein Fazit: Unternehmen, die sich in der heutigen Zeit nicht mit Intrapreneurship beschäftigen, verlieren nicht nur gute Mitarbeitende, sondern lassen auch eine Menge Potenzial ungenutzt – gerade unter dem Aspekt von Künstlicher Intelligenz, mit der viele neue Formen, Produkte und Services kreiert werden können. Es braucht räumliche und technische Ressourcen sowie vor allem auch finanzielle Ressourcen – und hier ist Deutschland im weltweiten Vergleich noch sehr zurückhaltend.

Der Autor und Blogger Sascha Lobo hat es im Rahmen seines Vortrags auf dem OMR-Festival 2023 sehr gut veranschaulicht: Während das Unternehmen META, ehemals Facebook, 2022 bei einem Umsatz von 104 Milliarden Euro 31,6 Milliarden Euro in die Entwicklung und Forschung investierte, waren es bei der Deutschen Telekom bei einem Umsatz von 114 Milliarden Euro lediglich 33 Millionen Euro. Lobo merkt in seinem Vortrag an, dass es unterschiedliche Bilanzierungsregeln gibt, was einen Vergleich unfair macht, »[…] und trotzdem steht dahinter eine Botschaft: Nämlich, wir sind in Deutschland extrem investitionsavers.«14 Hierzulande gibt es beim unternehmensinternen Investieren also definitiv noch Luft nach oben. Für mehr Innovationen. Für eine positivere Unternehmensentwicklung. Für mehr Zufriedenheit, Wohlbefinden, Engagement und Performance von Mitarbeitenden: Win-win-win.

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QUICK WINS

Für Mitarbeitende

  1. a) Kreative Ideen ins Unternehmen aktiv und eigenverantwortlich einbringen.
  2. b) Unterstützung bei Kolleg:innen und Führungskräften für eigene Ideen suchen, um Feedback zu bekommen bzw. die Idee weiterzuentwickeln.
  3. c) Netzwerk mit möglichen Intrapreneuren aus anderen Abteilungen suchen und sich austauschen.

Für Führungskräfte

  1. a) Mitarbeitende befähigen, ihrer Kreativität, Neugier und Autonomie während der Arbeitszeit nachzugehen.
  2. b) Mögliche Intrapreneure erkennen und fördern. Zum Beispiel weil sie »Querulanten« sind und immer wieder alles hinterfragen. Aber Vorsicht, nicht alle Mitarbeitende sind dafür geeignet.
  3. c) Im Team proaktiv Lösungen finden, wenn sich Mitarbeitende aus dem Alltagsgeschäft für die Weiterentwicklung einer Idee rausziehen und Kolleg:innen deren Arbeit übernehmen müssen.

Für Unternehmen

  1. a) Professionelle Intrapreneurship-Strategie wählen und umsetzen: 1. Level: Coaching & Workshops anbieten. 2. Level: Arbeitszeit zur Verfügung stellen 3. Level: Zielgeführte Programme etablieren, in denen die Teilnehmenden nun 100 Prozent ihrer Arbeitszeit investieren können.
  2. b) Die hervorragende Leistung bzw. Innovationskraft einzelner Mitarbeitenden anerkennen und wertschätzen.
  3. c) Mitarbeitenden die Gestaltungsfreiräume sowie die Ressourcen wie Budgets, Räume und technische Tools zur Verfügung stellen, damit sie an eigenen Innovationsideen arbeiten können.

Job Crafting: Selbstbestimmt statt fremdgesteuert

Während meines Studiums habe ich sechs Monate in London gelebt und gearbeitet. Ich war sofort in das Gewimmel des Wochenendmarktes in der Portobello Road verliebt, das Nachtleben von Soho oder die Straßenkultur von Camden Town. Die größte Metropole Europas bietet alle Verlockungen und Vergnügungen, alle Möglichkeiten und Herausforderungen, alle Abgründe und Höhen: von stocksteifen Soldaten mit Bärenfellmützen bis hin zu leckerem Fish and Chips. Natürlich war ich auch häufiger shoppen, schlenderte durch die Stadt, ließ mich treiben und oft auch beregnen (nein, es goss nicht jeden Tag). An diesem Tag aber war ich auf der Suche nach einem neuen Jackett für meine Business-Termine. Vor allem in dieser Stadt kommt es auf ein gutes Auftreten an. In einem Laden, den Namen habe ich leider vergessen, ist mir ein Badge an einem Ärmel aufgefallen: »Tailor me – To make me more you«. Ich musste schmunzeln. Ein Jackett, das nach meinen individuellen Maßen angepasst werden wollte, damit warb das Bekleidungsgeschäft. Und in diesem Moment wollte ich nichts lieber als dieses Stück Stoff, das nur mir passen sollte. Niemand anderem.

Daran musste ich beim Schreiben dieses Kapitels denken. Denn wird nicht inzwischen alles unseren Wünschen und Vorstellungen angepasst? Vom Kaffeebecher über Neuwagen bis hin zur Inneneinrichtung unserer Wohnzimmer. Wir Menschen lieben es, alles Mögliche zu personalisieren und individualisieren. Nur einen Bereich lassen wir dabei konsequent außen vor: unseren Job. Dabei ist das ein Bereich, in dem es am meisten Sinn ergibt, auf wichtige Details einzugehen. Immerhin beschäftigen wir uns in der Regel ein Drittel des Tages mit unserem Beruf. Ich habe mir jedenfalls den Schuh angezogen, dir hier ein paar Impulse zu geben, wie ein auf dich abgestimmter Arbeitsplatz aussehen könnte. Welche Vorteile er dir bringen würde und dem Unternehmen, für das du arbeitest. Das Jackett habe ich übrigens immer noch. Passe aber nicht mehr rein.

Es ist Zeit, deinen Job zu personalisieren

Wenn wir es lieben, alle möglichen Konsumgüter nach unseren eigenen Vorlieben zu personalisieren und zu gestalten, und dafür sogar bereit sind, bis zu 50 Prozent mehr auszugeben,15 dann kann nur erahnt werden, welches Potenzial es hat, wenn wir auch endlich unseren Job, unsere Tätigkeit unseren Vorlieben, Interessen, Stärken und Fähigkeiten in Eigenverantwortung anpassen: für Unternehmen, für Führungskräfte, für Mitarbeitende.

Was wir dafür brauchen, nennt sich Job Crafting. Der Begriff wurde von den beiden Organisationspsychologinnen Amy Wrzesniewski und Jane Dutton geprägt.16 Dabei geht es darum, den eigenen Job proaktiv so zu gestalten, dass er besser zu einem selbst passt – indem Abläufe in Prozessen, die Beziehungen zu anderen oder das Sinnempfinden verbessert werden. Das heißt aber nicht, dass der komplette Job auf links gekrempelt werden muss, sondern dass lediglich ein paar Stellschrauben gedreht werden. Die Arbeit wird den Beschäftigten angepasst, nicht umgekehrt.

Im Gegensatz zu Intrapreneurship geht es beim Job Crafting nicht darum, dass etwas vom Unternehmen oder dessen Führungskräften auf die Mitarbeitenden übertragen wird (Top-down), sondern darum, dass sich die Mitarbeitenden selbst um Veränderungen bemühen (Bottum-up). Ziel ist es, die eigenen Tätigkeiten so zu gestalten, dass sie motivierender und sinnstiftender werden, damit es im Grunde keine externen Motivationsfaktoren mehr braucht. Dies kann mit der Zustimmung, Unterstützung und Einladung des Arbeitgebers erfolgen, aber auch ohne die Kenntnis von Vorgesetzten – aus eigenem Antrieb und eigener Verantwortung heraus.

Die Organisationspsychologinnen Wrzesniewski und Dutton empfehlen, sich die folgenden drei Ebenen anzuschauen:

  1. Task Crafting: Die Abläufe im Job können durch die Art, Reihenfolge, Anzahl und den Umfang der anfallenden Tätigkeiten individuell angepasst werden. So können Aufgaben innerhalb eines Teams getauscht werden. Du könntest also zum Beispiel die Excel-Tabellen an eine Kollegin abgeben und dafür ein kreatives Brainstorming von ihr übernehmen, wenn dies euren Stärken entspricht. Du kannst neue Aufgaben in dein Arbeits-Portfolio integrieren oder aber auch reduzieren oder sogar komplett rauswerfen.
  2. Relationship Crafting: Hierbei passt du die Beziehungen und Interaktionen mit Kolleg:innen im Arbeitsumfeld an, sodass du ein soziales Umfeld schaffst, in dem du mit genau den Menschen zusammenarbeitest, die dir ein Gefühl der Zugehörigkeit und Verbundenheit geben.
  3. Cognitive Crafting: Die Bedeutung beziehungsweise die Einstellung zu deinen Aufgaben kannst du dahingehend anpassen, dass du sie aus einer anderen, einer höheren oder besseren Perspektive siehst. Es macht für dich mental einen großen Unterschied, ob du sagst, dass du Steine stapelst, eine Mauer baust oder eine Kathedrale errichtest.

Vermutlich setzt du davon schon mehr um, als du denkst. Denn Job Crafting findet bei vielen bereits intuitiv und unbewusst in kleinem Rahmen statt. Das hat jedenfalls einer der weltweit führenden Job-Crafting-Experten und TED-Speaker Rob Baker bei seiner Arbeit mit zahlreichen Kund:innen festgestellt und mir im Interview verraten. Wenn es aber Unternehmen, Führungskräften und auch Mitarbeitenden gelingt, Job Crafting ganz bewusst und aktiv einzusetzen, dann können vorgegebene Arbeitsbedingungen und definierte Handlungsspielräume so angepasst werden, dass es nicht nur den einzelnen Personen, sondern auch anderen zugutekommt, z. B. Kolleg:innen und Kund:innen. Um dem bestmöglichen Zustand an Wohlbefinden, Zufriedenheit und Performance näher zu kommen, gibt es zwei Strategien:

  • Du kannst entweder das Ziel verfolgen, dich auf den Aufbau und die Verbesserung von Aufgaben und Beziehungen zu konzentrieren,
  • oder dich bemühen, negative Rahmenbedingung zu vermeiden, indem Arbeitsanforderungen reduziert und eingeschränkt werden.

Ersteres ist laut Forschung allerdings Erfolg versprechender und führt eher zu positiven Effekten.17

Physische und psychologische Flexibilität

Wir wissen nun also: Das übergeordnete Ziel von Job Crafting ist, die größtmögliche Übereinstimmung zwischen der jeweiligen Person und ihrem Arbeitsplatz zu realisieren. Erreicht werden kann dies einerseits durch die Erhöhung der herausfordernden Anforderungen sowie die Reduzierung hinderlicher Arbeitsanforderungen und andererseits durch die Erhöhung struktureller und sozialer Arbeitsressourcen. Aber genau hier kommt es im Joballtag oft zu Dissonanzen und Stressoren, weil der Arbeitsplatz und die Mitarbeitenden nicht richtig zusammenpassen – als würde man versuchen, eine Schlitzschraube mit einem Kreuzschlitz-Schraubendreher festzudrehen, was zu Unzufriedenheit, einer geringeren Produktivität bis hin zu Burn-out und Depressionen führen kann. Kommt es zu solchen Folgen, werden dann leider oftmals falsche Schlüsse gezogen.

Um ihren Gesundheitszustand und ihre Leistungsfähigkeit zu verbessern, wird Betroffenen empfohlen, zu meditieren, sich gesünder zu ernähren, mehr zu schlafen, Achtsamkeitsübungen auszuführen und Stressmanagement zu betreiben. Das ist sicher alles nicht schlecht. »Aber Burn-out ist ein Management- und Organisationsproblem, kein Problem der körperlichen oder mentalen Gesundheit, sodass die Förderung der Selbstfürsorge den Mitarbeitern normalerweise nicht dabei hilft, sich zu erholen«, sagt Christina Maslach, Professorin für Psychologie und Forscherin am Healthy Workplaces Center an der University of California.18

Mit anderen Worten: Jemandem, der sich in unkomfortablen Schuhen Blasen läuft, empfehlen wir doch keinen Lauf-Workshop. Wir würden eher raten, die Schuhe anpassen zu lassen – oder schlimmstenfalls neue zu kaufen. Für die Unternehmen bedeutet dies natürlich einen Mehraufwand. Es ist immer einfacher und vor allem günstiger, den einzelnen Menschen zu verändern, anstatt die übergeordneten Strukturen, Prozesse und Formen der Zusammenarbeit anzupassen. Deshalb warten wir beim Job Crafting erst gar nicht darauf, dass Führungskräfte die Dissonanzen irgendwann erkennen, sondern wir ergreifen selbst die Initiative, indem wir innerhalb eines vorgegebenen Rahmens unsere Position individuell nach unseren Vorlieben, Fähigkeiten und Stärken anpassen. Denn wir wissen einfach am besten, wo der Schuh drückt. Ganz nebenbei sorgt diese Selbstbestimmung auch noch dafür, dass wir uns ein drittes psychologisches Grundbedürfnis erfüllen können: Kompetenz.

Unser psychologisches Grundbedürfnis nach Kompetenz

Hierbei geht es um den Wunsch nach Effektivität, darum, wertvolle Ergebnisse aus eigener Kraft zu erreichen. Wir wollen das Gefühl haben, durch den Einsatz unserer Stärken uns zugeteilte Aufgaben erfolgreich auszuführen und wirklich gebraucht zu werden.

Und hier kommt Job Crafting ins Spiel: Denn durch Selbstbestimmung können Mitarbeitende die optimale Diskrepanz zwischen Anforderungen und Fähigkeitsniveau erreichen und kommen sogar in die Erfahrung des von allen Menschen angestrebten Flow-Zustands19: ein Bewusstseinszustand, in dem Menschen »[…] Raum und Zeit vergessen, maximal glücklich, motiviert und leistungsfähig sind – wie im Rausch«.20

Wer sich ständig überfordert fühlt, ist von Angst geprägt und fühlt sich irgendwann beunruhigt und gestresst. Menschen, die dagegen überwiegend unterfordert sind, langweilen sich und fühlen sich ebenfalls ständig unter Spannung. Arbeiten im Flow hingegen motiviert, die Tätigkeit zu wiederholen.

Und wer das tut, trainiert seine Fähigkeiten, setzt sich immer größeren Anforderungen aus und wächst stetig weiter. Um in diesen Flow-Zustand zu kommen, braucht es zwei Dinge: Zum einen das optimale Gleichgewicht zwischen Unter- und Überforderung – wobei die Anforderungen leicht über den eigenen Fähigkeiten liegen sollten. Oder wie es das Beratungs- und Forschungsinstitut GAB München ausdrückt: »Eine Aufgabe ist eine passende Lernaufgabe, wenn sie über die vorhandenen Kompetenzen bzw. die eigene Komfortzone hinausgeht, aber mit Anstrengung, ggf. mehreren Versuchen, Hilfe und Begleitung zu bewältigen ist.«21 Zum anderen braucht es weitere Faktoren, die durch ein erfolgreiches Job Crafting vom Mitarbeitenden autonom gestaltet werden können.

Zum Beispiel braucht es nach dem amerikanischen Neurowissenschaftler und Professor für Neurobiologie an der Stanford School of Medicine Andrew Huberman ein Warm-up, um richtig hochzufahren. So empfiehlt er 20 bis 30 tiefe Atemzüge, um Adrenalin auszuschütten, das uns wach macht. Beim Fokussieren hilft dagegen das Hormon Acetylocholin, das ausgeschüttet wird, indem du einen visuellen Fokus anvisierst – zum Beispiel einen Punkt an der Wand, für 30 bis 60 Sekunden. Darüber hinaus solltest du deine Arbeitssessions immer in 90-Minuten-Zyklen planen, da – wie du dich hoffentlich noch erinnern kannst – unser Gehirn und Körper ultradiane Rhythmen am Tag durchlaufen. Heißt: Unsere Leistungsfähigkeit steigt aufgrund von Körperrhythmen über den Tag verteilt an und fällt auch wieder ab.22

Stärkenorientierung: Hier geht‘s lang

Um in den Flow-Zustand zu kommen und dabei gleichzeitig Kompetenz zu erleben, braucht es zusätzlich als Grundvoraussetzung den gezielten Einsatz der eigenen Stärken. Dazu verrät uns vor allem der amerikanische Psychologe Martin Seligman, der maßgebliche Beiträge zur Positiven Psychologie geleistet hat, dass Menschen nur dann aufblühen und eine optimale Balance zwischen den Arbeitsanforderungen und ihren Fähigkeiten haben, wenn sie ihre Stärken einsetzen, anstatt sich bemühen, ihre Schwächen zu reduzieren.

Wenn du deine Stärken kennst und zudem auch noch stärkenorientiert geführt wirst, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass du emotional mit deinem Unternehmen verbunden bist, um das Sechsfache höher. Und die Wahrscheinlichkeit, dass du eine ausgezeichnete Lebensqualität hast, ist drei Mal höher. Zudem erlebst du weniger Stress, arbeitest engagierter, bist kreativer, empfindest mehr Sinn in deiner Tätigkeit und fühlst dich selbstbewusster.23

Das Problem in unserem Alltag ist jedoch, dass wir uns häufig unserer Stärken gar nicht bewusst sind: »Als wir bei uns im Unternehmen Stärkencoachings eingeführt hatten, war ich schockiert, wie viele Menschen schon jahrelang in ihrem Job arbeiten, aber gar nicht wissen, was ihre Stärken sind, was ihre Leidenschaft ist«, sagt Laura Bornmann, ehemalige HR-Leiterin bei REWE Dortmund SE & Co. KG. Psycholog:innen aus meinem Expert:innen-Netzwerk erleben es in ihren Coachings sogar immer wieder, dass es Teilnehmenden unangenehm ist, über ihre eigenen Stärken zu sprechen. Das liegt daran, dass wir von klein auf durch unsere Erziehung und das Schulsystem darauf konditioniert werden, uns auf unsere Defizite und Mängel zu fokussieren. Dadurch entwickeln wir eine defizitorientierte Haltung, die schlussendlich dazu führt, dass sich 65 Prozent der Menschen zuerst auf ihre Schwächen konzentrieren – wenn ihnen ihre Schwächen und Stärken gleichzeitig aufgezeigt werden.24 Umso wichtiger ist es, dass sich Mitarbeitende mit ihren Stärken vertraut machen. Da es, wie bereits ausgeführt, häufig zu einem verzerrten Selbstbild kommt, brauchen wir dringend die Unterstützung von Führungskräften oder externen Instanzen, die uns ein entsprechendes Feedback geben, auch zu unseren Charakterstärken, wie zum Beispiel Humor, Mut, Neugier, Kreativität, Ehrlichkeit oder Fairness. Aber wir können und sollten uns auch selbst auf den Weg machen, unsere Stärken zu erforschen. Neben kostenfreien Online-Tests und dem sehr empfehlenswerten (kostenpflichtigen) »Clifton Strengths« von Gallup, den schon über 30 Millionen Menschen genutzt haben, kannst du einfach damit anfangen, Gespräche mit Freund:innen, Kolleg:innen und Führungskräften zu suchen.

Wenn sich Mitarbeitende ihrer Stärken bewusst sind, dann ist das natürlich schön und gut – aber das hilft leider gar nichts, wenn die Führungskräfte nicht auf diese Stärken zurückgreifen und sie nicht fördern. Welche Auswirkung dies haben kann, zeigt eine Studie von Gallup. Hierbei wurden Mitarbeitende in zwei Teams aufgeteilt. In dem einen Team haben sich Führungskräfte auf die Stärken der Mitarbeitenden konzentriert, im anderen auf die Schwächen. Das Ergebnis: In dem Stärken-Team waren lediglich drei Prozent der Mitarbeitenden frustriert bei der Arbeit und 32 Prozent gaben an, sich die letzten Tage ausgebrannt gefühlt zu haben. Lag der Fokus dagegen auf den Schwächen, fühlten sich 44 Prozent frustriert bei der Arbeit und dramatische 53 Prozent der Team-Mitglieder:innen fühlten sich ausgebrannt.25 Ist das nicht bemerkenswert? Immerhin geht es hier nicht um Mitarbeitende, die in unterschiedlichen Unternehmen oder gar Ländern beschäftigt sind. Es geht um Menschen, die alle in derselben Firma arbeiten, womöglich auf derselben Etage in denselben Büros sitzen und vielleicht sogar ähnliche Tätigkeiten ausführen. Und dennoch gibt es diese Unterschiede bei Wohlbefinden und Produktivität.

Es ist nicht nur wichtig, die Stärken zu erkennen, sondern auch positiv darüber zu reden. Ich finde, wir sollten uns mehr trauen, stolz auf unsere Fähigkeiten zu sein. So stolz, dass wir anderen auch von unseren Stärken erzählen – und uns dabei wohlfühlen, anstatt Angst davor zu haben, als eingebildeter Gockel abgestempelt zu werden. Es ist längst an der Zeit, die Stärkenorientierung noch viel mehr in den Mittelpunkt des Berufsalltags zu stellen.

Beim Sport ist es völlig normal, Menschen nach ihren Stärken einzusetzen. Kein Fußballtrainer käme auf die Idee, den erstklassigen Torwart Manuel Neuer im Sturm aufzustellen. Aber zwischen den Pfosten ist er Weltklasse. Sprinter Usain Bolt holt sicher keine Goldmedaille bei einem Marathon. Der Basketballer Michael Jordan hat es zwischendurch mal mit Baseball versucht und war darin sogar gar nicht schlecht – aber Michael Air Jordan gehörte immer in die Luft, da war er unbesiegbar.

Wenn wir das Außergewöhnliche finden wollen, müssen wir uns voll und ganz auf die Stärken konzentrieren und diese im Berufsalltag ausleben. Was wäre, wenn wir uns im Team oder im Unternehmen über unsere Stärken kennenlernen würden? Könnte das vielleicht nicht dazu führen, dass wir bei Konflikten oder Unstimmigkeiten untereinander weiterhin positiv über unser Gegenüber denken? Ich glaube fest daran! Welche Stimmung hätten wir wohl in Meetings und Gesprächen, wenn wir alle in unserer Stärke sind? Wie wäre es, ein Stärken-Quartett von allen Mitarbeitenden aufzubauen? Mit Karten, die einem auf einen Blick verraten, was die Leute in unserem Umfeld am besten können. Im nächsten Schritt könnte überlegt werden, wie diese Skills eingebracht werden könnten. Wenn zum Beispiel Humor deine Stärke ist, die bisher aber nur im privaten Rahmen zum Vorschein gekommen ist, sollte überlegt werden, wie dein Witz bei Meetings, Kunden-Telefonaten, E-Mails und anderen Interaktionen eingebracht werden könnte. Die Studien und Umfragen von Gallup zeigen eindeutig, dass sich das lohnt: Stärkenorientierte Entwicklung führt zu einer sieben bis 23 Prozent höheren emotionalen Bindung von Mitarbeitenden, zu einer acht bis 18 Prozent höheren Leistung und am Ende auch zu zehn bis 19 Prozent höheren Umsätzen sowie 14 bis 29 Prozent höheren Gewinnen.26 Worauf warten wir also? Ich finde, wir sollten auf diese Karte setzen: »Job Crafting ist dafür ein ideales Instrument, um sich Stärken bewusst zu machen und diese bei der Arbeit zum Leben zu erwecken«, sagt Rob Baker mir im Gespräch.

Es kann auch nach vorn losgehen

Mich begeistert vor allem sehr, dass durch Job Crafting alle unsere drei psychologischen Grundbedürfnisse erfüllt werden: Autonomie, Verbundenheit und Kompetenz. Wir alle können uns mit diesem Konzept voll entfalten, anstatt durch Fremdbestimmung und Begrenzungen daran gehindert werden. Und das ist sogar umfassend wissenschaftlich bewiesen: So kommen einige sogenannte Meta-Studien, die zahlreiche einzelne Studien zum Thema zusammenfassen, zu dem Ergebnis, dass die Möglichkeit von Job Crafting zu einer höheren Arbeitszufriedenheit, einem größeren Engagement in der Arbeit, einer besseren Arbeitsleistung und stärkeren Wahrnehmung von Sinnhaftigkeit führt.27

Weitere Studien zeigen, dass Job Crafting das proaktive Verhalten von Mitarbeitenden, also ihre Eigenverantwortung,28 sowie die emotionale Verbundenheit und Zugehörigkeit zu Kolleg:innen steigert – wodurch wiederum die Fluktuationsrate stark reduziert wird.29 Gleichzeitig verbessert sich auch die Gesundheit der Mitarbeitenden, die auf Job Crafting setzen, weil sie »tendenziell widerstandsfähiger sind und Stress besser abfedern können«, sagt Rob Baker mir im Gespräch. Menschen, die auf dieses Konzept setzen, schätzen ihre eigene Gesundheit sogar um elf Prozent besser ein als Mitarbeitende ohne Job Crafting.30

Was nicht passt, wird passend gemacht

Mit diesen Erkenntnissen ist es endlich an der Zeit, dass Job Crafting sich in Unternehmen stärker etabliert und nicht nur von Mitarbeitenden umgesetzt, sondern auch von Unternehmen und deren Führungskräften unterstützt wird. Denn nur so schaffen wir es, dass Menschen, wie Gehirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther es sagt, aus einem Objekt endlich wieder Subjekte werden und selbstbestimmt statt fremdgesteuert agieren können.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Job Crafting im Alltag umzusetzen: Als Erstes muss man verstehen, dass dieses Prinzip keine einmalige Sache ist. Es geht bei diesem Konzept um einen Prozess, der sich kontinuierlich weiterentwickelt und im Grunde nie zu einem Ende kommt. »Es braucht Zeit. Man muss geduldig sein, Menschen müssen es erfahren und daraus lernen, um ihren eigenen Weg zu finden«, erklärt mir Baker. Die gute Nachricht dabei ist, wie bereits geschrieben, dass Job Crafting nicht bedeutet, Veränderungen mit einer Abrissbirne herbeizuführen, sondern dass es nur kleiner Veränderungen bedarf. So konnte zum Beispiel Rob Baker bei der Arbeit mit seinen Kund:innen feststellen, dass 77 Prozent seiner Job-Crafting-Projekte weniger als zwölf Minuten pro Tag oder eine Stunde in der Woche in Anspruch nahmen. Um diese kleinen Veränderungen zu initiieren, empfiehlt Rob Baker, sich selbst folgende Fragen zu stellen:

  1. Wie zufrieden bist du bei deiner Arbeit? Womit könntest du dein Wohlbefinden während des Jobs steigern? Wenn du über diese Fragen nachdenkst, wirst du sicherlich Aspekte wahrnehmen, die sich positiv und negativ auf deine mentale, physische und soziale Gesundheit auswirken. Vielleicht gibt es ja Möglichkeiten, wie du deine körperliche Gesundheit im Alltag steigern kannst, zum Beispiel, indem du Meetings nicht mehr am Schreibtisch in deinem Büro abhältst, sondern öfter bei einem Spaziergang (Walk & Talk Meeting).
  2. Mit welcher Person interagierst du beim Job am häufigsten und mit welchen weiteren Kolleg:innen verbringst du Zeit bei deiner Arbeit? Die Antworten auf diese Fragen helfen dir dabei, herauszufinden, welche Kolleg:innen dir Energie geben, dich inspirieren und motivieren und welche deine Leistungsfähigkeit und deinen Spaß eher bremsen. Vielleicht fallen dir dabei schon Maßnahmen ein, wie du die positiven Beziehungen noch mehr intensivieren kannst, indem du zum Beispiel mehr gemeinsame Projekte mit diesen Menschen forcierst.
  3. Welche konkreten Aufgaben und Tätigkeiten fallen während deiner Arbeit an? Hier kannst du bewerten, ob du deine Stärken bereits einbringen kannst oder es noch Luft nach oben gibt. Vielleicht gibt es auch Aufgaben, von denen du weißt, dass diese von anderen Kolleg:innen besser ausgeführt werden könnten – während du ihre Aufgabe besser hinbekämst und dabei auch mehr Freude erleben würdest. Hier eignet sich zum Beispiel die Übung »Love and loath« von Rob Baker: Dabei schreibst du zehn bis 15 deiner Aufgaben jeweils auf ein Post-it. Nun zeichnest du mittig auf ein Blatt Papier eine horizontale und anschließend wieder mittig eine vertikale Linie, sodass vier Bereiche entstehen. Die linke Seite bekommt den Titel »Energieräuber«, die rechte »Energiespender«. Als Nächstes verteilst du deine Post-its auf beiden Seiten, oben stehen Aufgaben, die viel Zeit beanspruchen, unten jene, die wenig Zeit benötigen. So erkennst du die Tätigkeiten, die du reduzieren oder tauschen solltest, und natürlich auch To-dos, mit denen du mehr Zeit verbringen musst. Dabei solltest du aber auf dem Zettel haben, dass auch mal Routinearbeiten zu erledigen sind, die keinen Spaß machen.
  4. Zu welchen Uhrzeiten erledigst du deine verschiedenen Aufgaben? Hier kannst du überlegen, ob du deinen Kalender in verschiedene Blöcke aufteilst, in denen du dann Deep Work, kreatives Brainstorming und Abarbeiten umsetzen kannst. Dabei kannst du dich auch daran orientieren, ob diese Tätigkeiten zu den jeweiligen Uhrzeiten auch mit deinem persönlichen biologischen Rhythmus übereinstimmen.
  5. Warum gibt es deinen Job, und was ist der Zweck für das Unternehmen? Ziel ist es, dein persönliches Sinnerleben bei der Arbeit zu steigern. Hier solltest du also ein paar gute Antworten finden.
  6. An welchem Ort führst du deine Arbeit aus? Hierbei sollst du herausbekommen, in welchen Räumlichkeiten du beispielsweise die kreativsten Ideen hast und in welcher Umgebung du besser fokussiert und konzentriert arbeiten kannst. Abhängig von der Unternehmenskultur und von dem Bürogebäude gibt es hier verschiedene Möglichkeiten, die du dann für dich wahrnehmen kannst.

Brauchbare Illegalität

Job Crafting, Intrapreneurship und das Bedürfnis nach Autonomie – das alles bedeutet auch, dass Mitarbeitende sich nicht immer an Einschränkungen, Vorgaben und Regeln halten, sondern diese auch mal brechen. Während es eindeutig ist, dass manche Regelabweichungen und sogar teilweise Gesetzesbrüche schwerwiegend sind und nicht geduldet werden dürfen, gibt es auch Regelbrüche, die zwingend notwendig sind, damit Unternehmen funktionieren.

Jetzt wird es kompliziert. Einerseits brauchen wir Regeln, Vorgaben und Normen, damit die Gesellschaft und auch Unternehmen überhaupt funktionieren. Anderseits lassen sich wissentliche Regelabweichungen in Unternehmen nicht vermeiden, wenn Innovationen, Kreativität, Lösungen, Veränderungen und das Bedürfnis nach Autonomie im Unternehmen gefördert werden sollen. »Organisationen werden mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die nicht alle durch Entscheidungen auf der Formalebene gelöst werden können. Deswegen bilden sich in Organisationen kleine Schleichwege jenseits des offiziellen Ablaufs aus«, erklärt Stefan Kühl, Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und Autor des Buchs »Brauchbare Illegalität«.31 Wir müssen uns nur mal bewusst machen, wie der Berufsalltag aussähe, wenn sich Mitarbeitende an alle Regeln und Vorgaben hielten. Das nennt sich dann Dienst nach Vorschrift. Solche Mitarbeitende werden gern als »Korinthenkacker« oder »Paragrafenreiter« bezeichnet. Und es ist ja auch etwas dran, denn durch solche Leute verlieren Unternehmen an Leichtigkeit und Geschwindigkeit, Planungen werden immer schwerfälliger.

Diese Zwickmühle hat der Soziologe Niklas Luhmann schon früh erkannt und den Begriff »Brauchbare Illegalität« geprägt. Darunter versteht er »adaptive Strategien jeder Art, mit denen sich ein Organisationsmitglied helfen kann, wenn es Strecken problematischer Legalität durchwandern muss«. Damit sind Regelbrüche in Grauzonen definiert, die formale Erwartungen zwar verletzen, aber gleichzeitig brauchbar und nutzbringend sind.

Die Rede ist hier aber nicht davon, dass du Druckerpapier und Kugelschreiber mit nach Hause nimmst oder den ganzen Tag bei der Arbeit netflixt. Es geht nicht um den eigenen Vorteil, sondern darum, Nutzen zu haben für die Gesellschaft oder eben die Organisation, für die du arbeitest. Nur dann werden diese informalen Abweichungen geduldet und auch zwingend gebraucht, da Normabweichungen unvermeidlich sind, um Mitarbeitenden Raum zu geben, sich immer wieder an schnell verändernde Rahmenbedingungen anzupassen.

Vor dem Hintergrund zunehmender formeller Regeln und dem Bedürfnis nach mehr Eigenverantwortung und Autonomie braucht es in Unternehmen zukünftig mehr Mut, brauchbare Illegalität transparent anzusprechen und zu fördern. Wir brauchen eine Umgebung, in der keine Angst herrscht, eine Regel zu brechen, wenn es für das Unternehmen brauchbar und nutzenstiftend ist. Und damit es keine Missverständnisse darüber geben kann, was denn nun genau als brauchbar und nutzenstiftend zu betrachten ist, bedarf es eines gemeinsam definierten und gelebten Wertekompasses.

Aber selbst wenn es diesen Kompass gibt: Unrealistische und überaus ambitionierte Zielvorgaben an Führungskräfte und Mitarbeitende können zu Fehlern oder Regelabweichungen führen, die für das Unternehmen einen erheblichen Nachteil mit sich bringen oder sogar in eine Krise münden. Aber wie soll man mit diesen Fehlern und Regelabweichungen umgehen? In der Praxis wird oft ein Sündenbock gesucht, der verantwortlich gemacht wird und das Unternehmen verlassen muss. Damit in Zukunft ein solches Fehlverhalten nicht mehr vorkommt, werden noch mehr Regeln festgelegt. Ob ein solches Verhalten zielführend ist, stelle ich massiv infrage, denn dadurch wird eine Kultur geschaffen, die noch mehr Angst und Unsicherheiten verbreitet.

Das Konzept der brauchbaren Illegalität sollte nicht als eine Art Betriebsgeheimnis genutzt werden. Es sollte nicht hinter verschlossenen Türen über Grauzonen geflüstert werden. Wir brauchen eine offene und transparente Diskussion, um gemeinsam eine Kultur zu schaffen, in der sich Mitarbeitende an diese Grauzonen gewöhnen können, die im Unternehmen geschätzt werden. Dadurch entsteht eine psychologische Sicherheit. Ganz ehrlich: Es ist niemandem geholfen, Abläufe und Prozesse festzuhalten und zu kommunizieren, mit denen zwar die Compliance-Abteilungen zufrieden sind, die aber in der Realität überhaupt nicht umgesetzt werden können. Deswegen müssen sich Führungskräfte mit diesem Konzept befassen, auch wenn sie am liebsten davon nichts wüssten, um später im Fall der Fälle nicht in die Verantwortung gezogen zu werden. Neben einer offenen und transparenten Kommunikation und dem Wertekompass brauchen Mitarbeitende aber auch Erklärungen, die hinter bestimmten Regeln und Normen stecken, sowie realistische und wertevertretbare Zielvorgaben, die das Brechen von Regeln nicht immer erfordern.

Denn nur so können Mitarbeitende ermutigt und befähigt werden, selbst Fingerspitzengefühl zu entwickeln, wann es sich um brauchbare Illegalität und wann um nicht geduldetes Fehlverhalten handelt. Wir können nicht auf der einen Seite immer mehr formelle Regeln einführen, die den Spielraum für Mitarbeitende verkleinern, und gleichzeitig mehr Eigenverantwortung, Innovationen und Kreativität von ihnen verlangen. Das ist paradox und funktioniert nicht.

Bei Fragen oder Stress bitte die Gebrauchsanweisung lesen

Starten kann jedes Unternehmen mit Job-Crafting-Schulungen. Im Gespräch mit Rob Baker zeigte er mir Daten der nationalen Bank Virgin Money im Vereinigten Königreich, die belegen, dass sich die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden nach entsprechenden Job-Crafting-Workshops um 34 Prozent erhöhte und die Freude an der Arbeit um 20 Prozent stieg.

Wer Job Crafting aktiv in seinem Unternehmensalltag anwendet, kann dabei sogar noch einen Schritt weitergehen, indem er die Erkenntnisse über sich selbst im Rahmen einer Art persönlichen »Gebrauchsanweisung« festhält und diese mit Kolleg:innen oder sogar Kund:innen teilt. Baker nennt dies »Job Canvas«. Dabei kann zum Beispiel festgehalten werden, welche Lieblingsaufgaben man hat, in welcher Rolle man sich im Team am wohlsten fühlt, auf welche Werte man achtet und welche Ressourcen und Unterstützung man braucht, um die bestmögliche Leistung erbringen zu können. Dadurch wissen alle genau Bescheid, wie man am besten miteinander umgeht.

Die Mitarbeitenden des Unternehmens The People Branding Company, die sich auf Personal Branding und Corporate Influencing fokussieren, nutzen solche individuellen Gebrauchsanweisungen. So hat beispielsweise die Mitarbeiterin Pauline Fuchs für alle festgehalten, dass ihre Rolle die einer Organisatorin und Supporterin ist, dass sie gerne mit Emojis kommuniziert, Platz für ihre Ideen braucht, sie sich am Vormittag am besten fokussieren kann und Projekte am liebsten von Anfang bis Ende begleitet. Solche Gebrauchsanweisungen können auch noch um die eigenen Stärken und Kompetenzen erweitern werden, der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Das Ziel ist es, neben der formalen internen Stellenbeschreibung, eine Art individuellen Steckbrief zu erstellen, um die Zusammenarbeit zu verbessern und die eigenen Vorstellungen von der Arbeit in der Realität umzusetzen.

So spannend sich Job Crafting auch anhört: Natürlich ist dieses Konzept kein Allheilmittel für alle Organisationsprobleme, und es soll auch nicht die Top-down-Versuche eines Unternehmens ersetzen. Aber es wäre fatal, dieses Konzept zu ignorieren oder sogar zu verhindern. Vielmehr geht es darum, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Job Crafting zumindest möglich ist und aktiv unterstützt wird, um dessen positive Auswirkungen für Mitarbeitende zu fördern. Denn eine erfolgreiche Zukunft von Unternehmen kann meiner Meinung nach nur durch Job Crafting erreicht werden, da die Teams und Arbeitsplätze immer individueller werden. Jeder Mensch hat andere Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen.

Zudem funktioniert das alles nur, wenn wir Job Crafting nicht nur allein, sondern zusammen in unseren Teams anwenden – mit Führungskräften und Kolleg:innen gemeinsam. Denn in deiner Rolle interagierst du immer auch mit anderen. Der Teamgedanke sollte also keinesfalls ignoriert werden.

Mein Fazit: Lassen wir doch Mitarbeitende in einigen Bereichen selbst entscheiden, wie sie am besten arbeiten wollen und welche Ressourcen und Herausforderungen sie benötigen. Zudem verändern sich Jobprofile immer wieder durch externe Einflüsse und Entwicklungen. Die Haltung von Job Crafting kann erfolgreich dazu beitragen, dass Menschen ihre Rolle im Unternehmen flexibler sehen, weil sie ihre Aufgaben individuell anpassen und sich Gedanken darüber machen, wie sie ihre Arbeit verbessern können. Wer das für sich und das Unternehmen erkennt, kann eine Strategie umsetzen, die Gefühle der Hilflosigkeit verringert und es uns ermöglicht, unseren Job zu personalisieren.

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QUICK WINS

Für Mitarbeitende

  1. a) Job Crafting nicht als einmaliges To-do verstehen, sondern als fortlaufenden Prozess.
  2. b) Die eigenen Stärken durch Stärkentests oder gezielte Gespräche herausfinden und in Eigenverantwortung im Alltag fördern und einsetzen.
  3. c) Den eigenen Arbeitsplatz nicht völlig umgestalten. Erst mal mit kleinen, regelmäßigen effektiven Maßnahmen anfangen, zum Beispiel durch die Integration von »Walk & Talks«.

Für Führungskräfte

  1. a) Job Crafting nicht ignorieren oder verhindern, sondern aktiv unterstützen und fördern, indem den Mitarbeitenden der Raum zum Experimentieren gegeben wird.
  2. b) Mitarbeitende dabei unterstützen, ihre Stärken zu erfahren und im Alltag einzusetzen: stärkenorientierte Führung leben.
  3. c) Mitarbeitende zum Jahresende einladen, darüber nachzudenken, welche Projekte, Themen und Aufgaben sie im nächsten Jahr weiter fortsetzen möchten und welche weniger oder gar nicht. Die Antworten werden in Einzelgesprächen besprochen und anschließend in Team-Sessions gemeinsam diskutiert, um Aufgaben und Tätigkeiten entweder zu tauschen, auszulagern oder neu aufzunehmen.

Für Unternehmen

  1. a) Durch Schulungen, Coachings oder Workshops Mitarbeitende und Führungskräfte zu Job-Crafting-Profis machen und Persönlichkeitsanalysen sowie Stärkentests kostenfrei anbieten.
  2. b) Eine Vertrauenskultur mit psychologischer Sicherheit schaffen, um Eigenverantwortung der Mitarbeitenden zu fördern.
  3. c) Brauchbare Illegalität im Unternehmen offen und transparent behandeln und kommunizieren.

Lebenslanges Lernen: Wir sind noch lange nicht fertig

Wenn ich an meine Schulzeit denke, dann erinnere ich mich vor allem an zwei Dinge sehr gerne zurück: die großen Pausen, in denen ich mit anderen Tischtennis gespielt habe. Und das letzte Läuten der Schulklingel, wenn der Unterricht vorbei war. Ich war sicherlich kein schlechter Schüler, ein ausgesprochen guter war ich jedoch auch nicht. Lernen war damals einfach nicht so meins. Aber das änderte sich. Während meines Studiums wuchs mein Wunsch, die beiden Themen Sport und Events miteinander zu verbinden. Als ich später die Möglichkeit hatte, genau das beim Fußballclub Bayer 04 Leverkusen umzusetzen, war meine Freude groß. Jedoch hatte ich dort weder das Gefühl, meine Stärken richtig einbringen zu können, noch fühlte ich mich in dem, was ich dort tat, wertgeschätzt. Also fing ich nebenher damit an, bundesweit eigene Veranstaltungen zu planen: alkoholfreie Partys, Yoga- und Fitness-Events und Health-Workshops. Mein Ziel war es, Menschen für gesunden Lifestyle zu begeistern. Denn während dieser für mich völlig selbstverständlich war, hatten andere Menschen keinen Spaß daran. Das wollte ich ändern.

Währenddessen habe ich aber gemerkt, dass ich am meisten bewirken kann, wenn ich spezielle Angebote für Unternehmen entwickle. Also habe ich mich in das Thema betriebliches Gesundheitsmanagement eingearbeitet, und so wurden aus meinen Events nach und nach exklusive Keynotes, Workshops und andere Angebote für Unternehmen. Bei meiner Arbeit mit anderen Expert:innen wurde ich inspiriert und lernte erst etwas über Mental Health, dann Physical Health und schließlich auch Social Health – worüber ich dann wiederum zum Thema Mitarbeitenden-Retention kam. Ich fing an, einen Podcast zu entwickeln, ich fuchste mich in die Technik, machte Sprachübungen und führte Interviews.

In diesem gesamten Zeitraum war ich insgesamt zwar sehr erfolgreich, aber ich habe Fehler gemacht, viele Fehler sogar, und ich bin dankbar für jeden einzelnen. Denn nur durch den Mut, auch mal zu scheitern, habe ich immer mehr dazugelernt und sitze jetzt sogar hier und schreibe dieses Buch – meine Lehrer:innen können das bestimmt kaum glauben. Ich habe mit der Zeit verstanden, wie wichtig es ist, zu lernen, sich weiterzuentwickeln und niemals stehen zu bleiben. Mein Antrieb sind bis heute meine Neugier und meine Begeisterung. Einen Großteil meines Lebens habe ich nur getan, was ich meinte, zu können. Heute mache ich, was ich kann. Und das liebe ich.

Wir lernen fürs Leben

In der heutigen Geschäftswelt sind wir immer wieder neuen Veränderungen und Rahmenbedingungen ausgesetzt, die instabile Bedingungen mit sich bringen, völlig unvorhersehbar sind und dadurch nicht mehr verstanden werden. Nicht zuletzt durch die rasante Geschwindigkeit von technologischen Fortschritten, die früher mehrere Jahrhunderte brauchten und heute innerhalb weniger Jahre erfolgen: »Die Entwicklung vollzieht sich in so atemberaubender Geschwindigkeit, dass keiner vorhersagen kann, was in drei Monaten sein wird. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass unser Wissen von heute dann veraltet sein wird«, sagt Stephan Scheuer, Silicon-Valley-Korrespondent beim Handelsblatt.32 Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeitswelt: Das Weltwirtschaftsforum geht davon aus, dass von den 673 Millionen Arbeitsplätzen, die dem jährlich erscheinenden Insight Report zugrunde liegen, bis 2027 83 Millionen Stellen abgebaut, aber 69 Millionen neue Stellen geschaffen worden sind. Expert:innen prognostizieren, dass sich 44 Prozent der Kernkompetenzen eines durchschnittlichen Jobs in den nächsten fünf Jahren verändern werden.33 Seit 2016 haben sich diese Kernkompetenz im Arbeitsleben bereits zu 25 Prozent verändert.34 Deswegen wird laut Weltwirtschaftsforum eine der wichtigsten Kernkompetenzen für die Zukunft die Lernbereitschaft sein, sich neuen Situationen anzupassen und mit Unsicherheiten und Veränderungen positiv umzugehen. Viele Unternehmen haben diese Entwicklung bereits erkannt und werden ihm mit dem Konzept »lebenslanges Lernen« gerecht. Der Autobauer Mercedes-Benz hat verkündet, bis 2030 mehr als 1,3 Milliarden Euro in die Aus- und Weiterbildung seiner Beschäftigten in Deutschland zu investieren – das sind circa 1.000 Euro pro Mitarbeiter:in.35

Die Euphorie ist groß. Jedenfalls bei den Expert:innen und in Unternehmen. Nur bei den Mitarbeitenden ist die Bereitschaft dazu vergleichsweise niedrig. Allein die Abbruchquote von betrieblichem E-Learning liegt zwischen 60 und 70 Prozent.36

Es lässt sich eben niemand zwingen. »Menschen sind keine Zahnpastatuben, auf die man drückt und vorne kommt es raus«, sagt der Gehirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther mir im Gespräch. Wir können andere nicht einfach so ändern. Wir können uns nur selbst verändern – aus eigenem Antrieb, wenn wir es wollen. »Wer das Lernen von außen zu lenken versucht, unterdrückt damit genau das, was Lernen erst lebendig macht: Die Freude am Lernen – oft sogar ein Leben lang«, sagt mir Hüther. Menschen können dazu höchstens eingeladen, inspiriert oder begeistert werden. Aber am Ende muss jeder selbst entscheiden, zu lernen und sich zu verändern.

Obwohl das vielen Mitarbeiter:innen sicher bereits bewusst ist, kommt das Lernen im Alltag weitestgehend zu kurz. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen:

  • Da sind zum Beispiel einerseits ein Schulsystem und Lernmethoden von Universitäten, die uns die Freude am Lernen nehmen.
  • Andererseits sinkt die Neugier mit zunehmenden Alter.
  • Dazu kommen Ängste vor einer ungewissen Zukunft und Sorgen, die sich im eigenen Jobkontext breitmachen.
  • Und zu allem Überfluss fühlen sich die Menschen überfordert, weil sie schon jetzt nicht alle Anforderungen aus den verschiedenen Bereichen des Lebens unter einen Hut bekommen.

Lange Zeit haben sich die meisten Menschen ausschließlich über ihre Rolle, ihren Titel und ihre Position bei der Arbeit definiert. In dieser Komfortzone wird selten die Notwendigkeit gesehen, sich weiterzuentwickeln. Etwas am Altbekannten zu ändern, birgt auch die Gefahr, sein eigenes Selbstbild zu zerstören. »Was bleibt dann von mir noch übrig?«, fragt Gerald Hüther. »Wenn ich die ganze Zeit die Rolle als Chef gespielt habe, dann bin ich ja nackt. Meine Frau könnte mich erkennen, meine Freunde. Die wollen dann nichts mehr mit mir zu tun haben. Da bricht eine ganze Welt zusammen. Das führt dann dazu, dass man darauf verzichtet und so weitermacht wie bisher, obwohl das nicht so beglückend ist«, erklärt er mir im Gespräch. Solche Menschen fühlen sich ihrer Situation oft hilflos ausgesetzt, obwohl es genügend Möglichkeiten gäbe, ihr zu entkommen.

Das Problem mit der erlernten Hilflosigkeit

Mitarbeitende, die in ihrer Eigenverantwortung, in ihrem Handeln und in ihren Tätigkeiten von Kolleg:innen oder Vorgesetzten eingeschränkt werden, entwickeln mit zunehmender Zeit das Gefühl, sich veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr eigenverantwortlich und selbstwirksam anzupassen. Sie machen negative Erfahrungen, die sie immer stärker davon überzeugen, dass sie ihre Fähigkeit, die eigene Lebenssituation bewusst und aktiv zu verändern, verloren haben. Stattdessen bleiben sie passiv, hilflos und verlieren das Vertrauen in sich selbst, sodass sie sich dem vermeintlichen Schicksal beugen. In der Psychologie ist dieses Verhalten nach Martin Seligman und Steven Maier unter dem Begriff »erlernte Hilflosigkeit« bekannt.37 Ein solches Verhalten ist auch oft in Unternehmen vorzufinden. Dort treffen wir dann auf die »Das-haben-wir-doch-schon-immer-so-gemacht-Menschen«, auf die »Man-kann-sowieso-nichts-ändern-Typen«, die »Es-ist-wie-es-ist-Kolleg:innen«. In stressigen Situationen, die sich nicht kontrollieren lassen, sehen sie keinen Ausweg und verfallen in Lethargie. Ihre Vergangenheit hat sie gelehrt, dass sie nichts tun können. Deshalb stehen diese Menschen Veränderungen nicht positiv gegenüber und sind intrinsisch nicht motiviert, dazuzulernen. Selbst wenn ihnen dafür Tür und Tor geöffnet sind.

Im Jahr 2016 kam es aber zu einer kleinen Sensation – die Theorie der erlernten Hilflosigkeit musste revidiert werden. Demnach sind das Verhalten der Passivität und das Gefühl fehlender Kontrolle gar nicht erlernt, sondern eine biologische Standardreaktion auf anhaltende Widrigkeiten, Bedrohung und Stress, die durch eine bestimmte Gehirnstruktur ausgelöst wird: dem dorsalen Raphekern.38 Die Stimulation dieser Gehirnregion sorgt dafür, dass unsere Amygdala und unser sensomotorischer Cortex aktiviert werden. Um dagegen anzugehen, müssen wir den präfrontalen Cortex aktivieren oder, wie Seligman sagt, den Schalter des »Hope Circuit« in unserem Gehirn umschalten, da dann die Reaktionen des dorsalen Raphekerns ausgeschaltet werden.

Und wie kann das gelingen? Nach Seligman und Maier durch Zuversicht, die sich nicht nur erlernen lässt, sondern zwingend erlernt werden sollte, also die Vorstellung, dass man die Unvorhersehbarkeit seiner Umgebung kontrollieren und nutzen kann.39 Zuversicht ist aber nicht mit Optimismus zu verwechseln, obwohl beide Begriffe oft als Synonyme verwendet werden. Während Optimismus ausschließlich die Erwartung ist, dass es in Zukunft besser wird, wird Zuversicht bzw. Hoffnung durch die Überzeugung geprägt, dass es besser wird, weil ich selbstwirksam ins Handeln komme.

Nach dem Psychologen Charles R. Snyder, der sich auf die Positive Psychologe spezialisierte, zeichnet sich Zuversicht im Rahmen seiner »Hope Theory« durch drei Faktoren aus:

  1. Als Grundlage gibt es ein zukünftiges Ziel, das eine Person verfolgt und erreichen möchte.
  2. Zudem gibt es die Willensstärke, dieses Ziel unbedingt erreichen zu wollen.
  3. Die Person sieht verschiedene Möglichkeiten, um ans Ziel zu kommen.40

Um Zuversicht bzw. Hoffnung zu entwickeln, benötigst du alle drei Faktoren. Denn allein die Willensstärke hilft dir zum Beispiel nicht, wenn du keine Möglichkeiten siehst, aus einer Situation herauszukommen. Und andersherum bringt das Erkennen der verschiedenen Wege nicht viel, wenn du keine Energie hast, dich zu bewegen. Die gute Nachricht: Wer Zuversicht hat, erlebt nach der Forschung positive Effekte beim Erfolg, bei seiner Gesundheit und Zufriedenheit. Zudem genießen hoffnungsvolle Menschen nicht nur das Erreichen ihres Ziels, sondern auch den Weg dorthin41: »Der Weg ist also das Ziel«, erkannte schon Konfuzius.

Lernlust statt Lernfrust

Für die Bereitschaft, lebenslang lernen zu wollen, brauchen wir also zuversichtliches Denken und Handeln. Im Arbeitskontext hört sich das vermutlich nicht besonders professionell an. Deshalb möchte ich noch über ein anderes Konzept reden, das aus der Psychologie kommt und im Grunde genau denselben Zustand beschreibt: »Growth Mindset«. Entdeckt und geprägt wurde dieser Begriff von der amerikanischen Psychologin Carol Dweck, die unterschiedliche psychologische Denkweisen und ihre Auswirkungen auf Erfolg oder Misserfolg untersuchte. Dabei fand sie heraus, dass unsere Leistungsfähigkeit und unser Lernverhalten von zwei unterschiedlichen Mindsets beeinflusst werden. Demnach sind Menschen mit einem Growth Mindset davon überzeugt, dass sie ihre Talente, Stärken und Fähigkeiten weiter ausbauen können, wenn sie dafür genügend investieren, trainieren oder lernen. Diese Menschen gehen davon aus, dass Unwissenheit als Potenzial und Fehler als Möglichkeiten gesehen werden, sich zu verbessern und daraus zu lernen.

Dem gegenüber steht das »Fixed Mindset«. Mit diesem gehen Menschen davon aus, dass Fähigkeiten angeboren sind und nicht durch Investitionen beziehungsweise Lernen weiterentwickelt werden können. Ihr Verhalten ist darauf ausgerichtet, Fehler zu vermeiden aus Angst, beim Scheitern als Verlierer wahrgenommen zu werden. Sie sehen Fehler eher als Bestätigung des eigenen mangelnden Talents und sind weniger bereit zu lernen.42

Während also Menschen mit einem Fixed Mindset in ihrer Komfortzone verharren, bei Hindernissen schneller aufgeben und keine Leidenschaft für lebenslanges Lernen entwickeln, suchen Menschen mit einem Growth Mindset nach neuen Herausforderungen, sind wissbegierig, möchten neue Kompetenzen und Fertigkeiten lernen und sind bereit, auf dem Weg auch Fehler zu machen.43

Falls du dir an dieser Stelle die Frage stellst, wie du dein Mindset positiv verändern kannst, also wie du von einem Fixed auf ein Growth Mindset wechselst, dann findest du hier ein paar Inspirationen aus der Psychologie:

  1. Wenn du erst mal ins Handeln kommst und neue Fähigkeiten trainierst und erlernst, dann ändert sich auch deine Einstellung – nicht anders herum. Das ergab eine Feldstudie des Wirtschaftspsychologen und Neugierforschers Dr. Carl Naughton zum Thema Neugier, an der jeweils ein Team des Pharmaunternehmens Merck, von Porsche Consulting und dem Weizmann Institute of Science teilgenommen hat.44 Die amerikanische Psychologin Marsha M. Linehan bringt es auf den Punkt: »Man kann sich nicht in neue Verhaltensweisen reindenken. Man kann sich nur durchs Handeln neue Denkweisen aneignen.«45
  2. Wir sollten uns selbst und andere nicht für ihre Fähigkeiten loben, sondern für ihre Bemühung, das Durchhaltevermögen, den Fokus. Heißt: Statt also beispielsweise die Intelligenz, das Talent oder die Kreativität zu loben, erwähne lieber die konkrete Anstrengung oder die Ausdauer bei der Problemlösung. Das gilt auch bei Misserfolgen und vermeintlichen Fehlern. »Wir wollen uns wirklich auf die Verben konzentrieren, die zu diesen Fehlern führen. Keine Etiketten anbringen, wie dumm, lächerlich, bescheuert oder andere negative Bezeichnungen«, sagt der amerikanische Neurowissenschaftler Andrew Huberman.46 Ziel ist es, die Identität von der eigentlichen Performance abzukoppeln und die Identität mit der Anstrengung selbst und dem Prozess zu verbinden. Denn das trainiert Resilienz, fördert das Bestreben, Herausforderungen anzunehmen, und steigert sogar die zukünftige Performance.47 Du kannst das ja mal direkt bei dir oder deinen Kolleg:innen ausprobieren.
  3. Entwickle ein Verständnis dafür, dass Scheitern und Fehler dazugehören, um erfolgreich zu sein. Andrew Huberman stellte fest, dass dabei die neuronalen Schaltkreise erhöht werden. Das schärft unsere Aufmerksamkeit – was wiederum dazu führt, dass wir beim nächsten Versuch besser werden können. Die optimale Fehlerquote liegt übrigens bei etwa 15 Prozent, wie eine Computermodellierung gezeigt hat.48 Was uns dabei helfen kann, sind eine gelebte Lernkultur im Unternehmen und Vorbild-Führungskräfte, die zu ihren Fehlern stehen und diese auch öffentlich kommunizieren.
  4. Orientiere dich an Vorbildern, die niemals aufgegeben haben und dadurch Erfolg hatten. Menschen wie Bill Gates und Steve Jobs – beide sind beruflich erst einmal gescheitert, bis sie dann jeweils zwei der wertvollsten Unternehmen und Marken aufgebaut haben, die wir heute kennen. Es braucht aber nicht nur bekannte Persönlichkeiten. Menschen aus deinem privaten Umfeld wirken ebenso inspirierend und motivierend: Menschen, die sich durch Training, Ausprobieren und Weiterbildung ihre Fähigkeiten und Kompetenzen angeeignet haben. Wir brauchen Menschen in unserem Umfeld, die wissbegierig sind. Satya Nadella, der CEO von Microsoft, verschickt zum Beispiel jeden Monat ein Video an Mitarbeitende, indem er erzählt, was er zuletzt gelernt hat.49
  5. Mache dir klar, dass Stärken Talente sind, die du trainierst. Nach der Definition von Gallup entstehen Stärken aus der Multiplikation von Talent und Investition. Das heißt: Um angeborene Fähigkeiten in Stärken umzuwandeln, braucht es eine Investition. Und die ist nichts anderes, als sich weitere Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen. Man könnte auch sagen: Wer nicht weiterlernt, verfügt maximal über Talente. Der Schriftsteller Daniel Coyle ist für sein Buch »The Talent Code« um die Welt gereist, um Menschen zu interviewen, die jeweils in ihrem Fachgebiet die Besten der Besten sind. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Stärken durch drei Schritte aufgebaut werden können: aktives Lernen, Begeisterung und die Begleitung durch einen persönlichen Coach. »Talent zu haben, ist schön und gut. Aber wir haben Kontrolle über die Fähigkeiten, die wir entwickeln. Und wir haben mehr Potenzial, als wir jemals vermuten würden«, sagt Coyle.50

Konfetti im Kopf

Damit das Lernen im Arbeitsalltag aber noch besser funktioniert, braucht es besonders eine Voraussetzung: Begeisterung: »Das Gehirn ist kein Muskel! Wir können üben und trainieren, so viel wir wollen. Entscheidend ist, dass uns das, was wir lernen wollen, unter die Haut geht, dass wir begeistert sind«, sagt Gerald Hüther mir im Gespräch. Dazu ist es wichtig, dass das Lernen für uns bedeutsam ist, dass Lernen Relevanz hat. Hierbei können Führungskräfte ihre Mitarbeitenden wunderbar unterstützen, indem sie ihnen erklären, warum es bedeutsam ist, Kompetenzen weiterzuentwickeln und sich neue Fähigkeiten und neues Wissen anzueignen. Es ist wichtig, einen Bezug zu der eigenen Realität herzustellen und die Relevanz sichtbar zu machen: das Warum zu verdeutlichen, begeisternd und emotional. Dafür brauchen wir vor allem Empathie, die es ermöglicht, die Bedürfnisse und Probleme der Mitarbeiter:innen zu erkennen und darauf einzugehen. Und wenn es Führungskräfte erfolgreich schaffen, Mitarbeitende entsprechend zu unterstützen, dann entsteht bei ihnen die Neugier darauf, Wissen und Fähigkeiten zu trainieren.

Neugier ist eine Emotion. Und nach der Emotionstheorie des amerikanischen Psychologen Richard Lazarus werden unsere Emotionen nicht hervorgerufen, weil etwas passiert – sondern weil wir das, was passiert, individuell durch erlebte Erfahrungen bewerten.51 Neugierforscher Dr. Carl Naughton erklärt mir bei seinem Besuch in Köln, dass zwei Voraussetzungen automatisch die Neugier in uns wecken: »Es muss einerseits ungewöhnlich sein bzw. so interessant, dass es uns anspricht. Und andererseits müssen wir mit dem Reiz bzw. mit dem Thema umgehen können. Es darf mich nicht völlig überfordern.« Und genau an dieser Stelle sind meines Erachtens die Unternehmen gefragt, ihren Mitarbeitenden anstehende Veränderungen und Entwicklungen so zu kommunizieren und zu erklären, dass sie interessant sind und die Mitarbeitenden nicht überfordern.

Wenn wir es also schaffen, mit einem Growth Mindset durch die Welt zu gehen und beim Lernen Neugier und Begeisterung zu entwickeln, dann sind wir intrinsisch dazu motiviert, uns von Selbstverständlichkeiten zu verabschieden und Neues zu erfahren. Aber das allein reicht im Unternehmenskontext für lebenslanges Lernen noch nicht aus. Denn wir brauchen auch ein Ziel und darüber hinaus Wege und Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen. Denn was hilft es, die Bereitschaft zum Lernen zu haben, wenn in den Unternehmen die entsprechenden Rahmenbedingungen fehlen?

Geteilte Verantwortung

Was es vor allem braucht, sind finanzielle Ressourcen, über die die Mitarbeitenden selbst verfügen können. Allerdings ist das nur bei 14 Prozent der Unternehmen der Fall. Es ist immer noch überwiegend so, dass in erster Linie die Geschäftsführung den Tresorschlüssel um den Hals hängen hat und über entsprechende Budgets entscheidet, gefolgt von Führungskräften und der Personalabteilung.52 Hier braucht es nach meiner Meinung die Möglichkeit, dass Mitarbeitende mitentscheiden sollten, in welchen Bereichen sie sich weiterentwickeln.

Ein Unternehmen, welches das bereits 2020 erkannt hat, ist die Bank ING. Ihren knapp 4.000 Mitarbeitenden stellt das Unternehmen ein individuelles Weiterbildungsbudget von 500 Euro pro Jahr zur Verfügung.53 Durch ein selbst verwaltetes Budget können Mitarbeitende schließlich personelle, soziale und methodischen Kompetenzen selbstständig weiterentwickeln, die sie neben einer fachlichen Vertiefung zunehmend brauchen, um die Anforderungen in einem Unternehmen bewältigen zu können.

Laut des »Future of Jobs Report 2023« stehen bei den Kernkompetenzen kreatives und analytisches Denken ganz oben auf der Liste, gefolgt von technischer Kompetenz, lebenslangem Lernen sowie Flexibilität und Agilität.54 »Menschen müssen weniger befähigt werden, fachliche Kompetenzen zu lernen. Vielmehr geht es um die Hilfe zur Selbsthilfe: Kompetenzen erlernen, die Menschen dazu befähigen, sich selbst zu helfen, z. B. wo kann ich zuverlässige Informationen erhalten? Wie kann ich richtige und falsche Informationen voneinander unterscheiden?«, hält New-Work-Expertin Laura Bornmann fest. Neben diesen kognitiven Skills dürfen die sozialen Kompetenzen aber nicht vergessen werden. Denn bereits bei Kindern zeigt sich, dass deren zukünftige Entwicklung in verschiedenen Bereichen wie Bildung, Arbeit, kriminelle Aktivität, Drogenkonsum und psychische Gesundheit einer Langzeitstudie zufolge maßgeblich durch ihre sozialen und emotionalen Fähigkeiten beeinflusst wird. Daraus lässt sich ableiten, dass emotionale und soziale Fähigkeiten weitaus wichtiger sein könnten als reine kognitive Fähigkeiten.55

Darüber hinaus sind die zeitlichen Ressourcen eine Herausforderung. Wir haben alle viel zu viel zu tun. In beinahe jeder Branche hört man von zu viel Arbeit, die von zu wenig Personal geschultert werden muss. Dabei kommt das Lernen während der Arbeitszeit natürlich zu kurz. Die eigene Neugier wird von Zeitdruck, Stress und zahlreichen Versagensängsten in einen dunklen Hinterhof gezogen und verprügelt. In mehr als einem Drittel der Unternehmen gibt es keine klaren Richtlinien für Lernzeiten.56 Das hieraus entstehende Problem ist, dass sich viele Mitarbeitende erst recht keine Zeit zum Lernen nehmen. Auch wegen des schlechten Gewissens. In vielen Unternehmen entsteht Neid unter Kolleg:innen, wenn sich andere Zeit zum Lernen nehmen.

Auch ich mache diese Erfahrung in meinen Workshops, in denen die mentale, soziale und physische Gesundheit gestärkt wird. Hier erlebe ich immer wieder, dass die Teilnehmer:innen von anderen Kolleg:innen belächelt werden. Das liegt auch daran, dass Stress in Deutschland immer noch ein Statussymbol ist und wir weitestgehend eine Präsenz- statt Ergebniskultur haben. Was wir meiner Meinung nach in Unternehmen brauchen, ist eher eine Gönnerkultur: es anderen zu gönnen, wenn die sich Zeit für ihre Weiterbildung nehmen.

»Lernen darf kein Zufall sein. Lernen muss Tagesgeschäft werden. Am besten tragen wir uns einen fixen Termin im Kalender ein, um uns weiterzubilden und unsere Kompetenzen weiter auszubauen«, rät Sebastian Harrer, ehemaliger Personalleiter der ING Deutschland und Honorarprofessor für Personalmanagement an der CBS International Business School.

Unternehmen brauchen zukünftig eine klare Regelung und Haltung zur Lernkultur. Mitarbeitende, die intrinsisch motiviert sind, lernen auch in der Freizeit: Sie buchen Online-Kurse und Workshops, nehmen an Retreats teil, hören sich Podcasts an. Es gilt aber auch, die Leute zu erreichen, die noch nicht davon überzeugt sind, dass stetiges Lernen wichtig ist. Denn das zahlt sich am Ende für alle aus. Lernende Mitarbeitende sind zu 47 Prozent weniger gestresst und 39 Prozent haben eher das Gefühl, produktiv und erfolgreich zu sein. 93 Prozent der CEOs, die in Programme zur Weiterbildung investiert haben, sehen eine bessere Produktivität, eine widerstandsfähigere Belegschaft und positive Effekte auf das Engagement von Mitarbeitenden.57 Zudem sagen 94 Prozent der Arbeitnehmer:innen, dass sie länger bei einem Unternehmen bleiben würden, wenn dieses in ihre Weiterbildung und Entwicklung investieren würde.58 Re- und Upskilling sorgen also für eine stärkere Mitarbeitendenbindung, höhere Produktivität und stärkeres Engagement, da Aufstiegs- und Entwicklungschancen aufgezeigt werden.

Es gilt also auch, Mitarbeitenden nicht nur Lernangebote zur Verfügung zu stellen, sondern besonders relevante Aufstiegs- und Entwicklungschancen anzubieten. Jedenfalls vermissen das viele: 33 Prozent der befragten Mitarbeitenden fühlen sich nicht ermutigt, neue Jobs im Unternehmen anzustreben. 21 Prozent haben sogar das Gefühl, nicht mit ihren Führungskräften über diese Möglichkeiten sprechen zu können, und mehr als zwei Drittel würden das Unternehmen verlassen, wenn es keine interne Mobilität zulässt.59 Mitarbeitende brauchen die Möglichkeit, sich auch von ihrem aktuellen Standort auf ein Ziel zuzubewegen. Das ist es, was das hoffnungsvolle Denken und Handeln sowie das Growth Mindset fördert.

Es gibt viele tolle Möglichkeiten, das Konzept des lebenslangen Lernens im Berufsleben zu etablieren. Ein Weg, der sogar ohne größere Investitionen vonseiten der Unternehmen möglich ist, wird aber kaum gegangen. Nur gerade einmal zwei Prozent der berechtigten Mitarbeitenden (27 Millionen Arbeitnehmende) nehmen Bildungsurlaub in Anspruch60 – das ist das gesetzlich verankerte Recht auf fünf bis zehn Tage bezahlte Freistellung für eine zertifizierte Weiterbildung. Diese reicht von Yoga-Retreats über Impro-Theater bis hin zu einer spezifischen beruflichen Weiterbildung. Für Lara Körber, der Gründerin der Plattform »Bildungsurlauber.de«, liegen in unserem persönlichen Gespräch die Gründe für die geringe Quote auf der Hand: Zum einen ist da das fehlende Wissen bei Mitarbeitenden, Führungskräften und sogar HR-Abteilungen. Zum anderen gibt es unternehmenskulturelle Hindernisse, die es Mitarbeitenden schwer bis unmöglich machen, den Bildungsurlaub in Anspruch zu nehmen. Denn in vielen Unternehmen wird diese Maßnahme nicht als das wahrgenommen, was sie ist, nämlich eine dringend nötige Investition in die eigenen Leute, sondern eher als bedauerliche Fehlzeiten.

Noch mal, es ist dein Recht, Bildungsurlaub zu nehmen. Und du tust damit allen einen Gefallen!

Zusammen ist man weniger allein

Beim lebenslangen Lernen geht es nicht nur darum, für sich selbst Kompetenzen zu entwickeln, sondern auch andere Menschen daran teilhaben zu lassen. Im Teilen von Wissen innerhalb eines Unternehmens oder Netzwerkes sieht Christoph Zulehner, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler sowie Autor des Buchs »Die Evolution der Zusammenarbeit«, eine große Chance. Denn wenn Menschen ihr Wissen teilen, »[…] entsteht ein neuartiges, kollektives Bewusstsein, das allen arbeitenden Menschen ermöglicht, über sich hinauszuwachsen […].«61

Meines Erachtens können damit zudem Stress, Sorgen und Ängste genommen werden. Denn immer noch haben wir den Anspruch, alles selbst wissen zu müssen. Durch die zunehmende Komplexität wird das aber nicht mehr möglich sein – und auch vielleicht nicht mehr erforderlich, weil wir uns zunehmend nicht mehr nur über das Wissen definieren, sondern auch über unsere Fähigkeiten. Wir sollten weg von »alles wissen« und hin zu »alles lernen«. Eine Vernetzung wird immer relevanter. Eine Möglichkeit dazu kann die renommierte Methode des Amerikaners John Stepper sein: WOL – Working Out Loud. Diese soziale Lernmethode verfolgt das Ziel, dass Mitarbeitende sich beim Lernen unterstützen und ihr Wissen untereinander teilen, damit alle davon profitieren können. Dafür bilden die Mitarbeitenden Kleingruppen von drei bis fünf Personen, in denen sie die eigene Arbeit für andere in einem Rahmen von zwölf Wochenstunden sichtbar machen und Wissen bereitstellen. Durch eine vorgegebene strukturierte und erprobte Methode lernen sie, sich zu vernetzen, über die jeweiligen Entwicklungen Feedback zu geben und gemeinsam am Vorankommen jeder einzelnen Person zu arbeiten. Dabei gibt es kein vorgegebenes Lernziel: »Es ist mehr Vertrauen im Spiel und am Ende gibt es keinen Statusbericht, keine Prüfung. Jeder wählt sein eigenes Lernziel«, sagt Stepper gegenüber dem Human Resources Manager.62

Damit eignet sich diese Methode nicht nur dazu, etwas für sich selbst zu lernen, sondern insbesondere auch dafür, soziale Beziehungen zu fördern und aufzubauen, indem gemeinsam Probleme gelöst werden und man sich gegenseitig unterstützt. Es geht um die Eigeninitiative und die Freude daran, gemeinsam etwas zu lernen und sich gegenseitig zu unterstützen. Mit jeder Woche lernen sich die Kolleg:innen besser kennen. Es entsteht ein Gefühl eines geschützten Raums, der Zugehörigkeit und Verbundenheit, die die Beziehung zum Unternehmen verändert. Eine Studie über die Wirksamkeit von WOL zeigt, dass die Methode die Qualität der Zusammenarbeit steigern, Transparenz im Unternehmen erhöhen, das Wohlbefinden der Mitarbeitenden durch den sozialen Austausch verbessern und die persönliche Entwicklung fördern kann.63 Dafür ist auch Vertrauen, Radical Honesty und Empathie gefragt. Das WOL-Konzept wird also gleich zwei wichtigen Aspekten gerecht: lebenslangem Lernen einerseits und andererseits dem Bedürfnis nach sozialer Gesundheit.

Von wegen lange Leitung

Ende 2022 hat Vodafone, einer der führenden Kommunikationskonzerne mit knapp 15.000 Mitarbeitenden in Deutschland, eine digitale Lern-Plattform eingeführt. Nach dem Motto »Grow with Vodafone« soll diese die Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden unterstützen: »Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeitende müssen ständig Neues lernen, um zukunftsfit zu bleiben. Abschlüsse und Berufserfahrung sind keine für sich stehenden Kriterien mehr, um eine Rolle auszufüllen. Was wir früher einmal gelernt haben, verliert heute an Halbwertszeit«, sagt Personalchefin Felicitas von Kyaw. Das Ziel ist außerdem, die Lust aufs Lernen zu fördern und gleichzeitig neugierig zu bleiben. Herzstück dieser Plattform ist die Künstliche Intelligenz, die es ermöglicht, auf Basis des Nutzungsverhaltens personalisierte Lern- und Entwicklungsempfehlungen zu geben. »Wenn das Lernen persönlich wird, dann macht es mehr Spaß als mit einem Standardprogramm, das dir vorschreibt, was du jetzt machen musst«, erzählt mir von Kyaw. Es gibt die Möglichkeit, ein eigenes Skill-Profil zu erstellen. Darauf basierend schlägt die Plattform notwendige, nützliche Module vor, damit eine vorhandene Fähigkeit weiterentwickelt wird oder eine neue erlernt werden kann. Bei der Ermittlung zukünftig hilfreicher Fähigkeiten unterstützt der Karriere-Planer. »Er zeigt, welche Skills erforderlich sind, um in eine bestimmte Rolle hineinzuwachsen und um die individuelle berufliche Entwicklung weiterverfolgen zu können«, führt von Kyaw aus. Damit werden Mitarbeitende eingeladen, sich erst einmal mit sich selbst und ihren bereits vorhandenen Fähigkeiten zu beschäftigen und sich zu fragen, wo sie stehen und vor allem wo sie hinwollen. Die Mitarbeitenden können durch die KI-Unterstützung auf eine personalisierte Oberfläche zugreifen, die sich durch ihr Nutzungsverhalten und ihre Aktivitäten sowie abgeschlossenen Lerninhalte kontinuierlich verändert und anpasst. Der Vorteil der Plattform ist zudem, dass sowohl alle internen als auch externen Lerninhalte gebündelt an einem zentralen Ort für die Mitarbeitenden zur Verfügung stehen.

Dabei kommt der Austausch untereinander nicht zu kurz. Mitarbeitende können »Lern-Playlists« teilen oder sich gegenseitig Lerninhalte empfehlen. Auch außerhalb der digitalen Plattform halten Mitarbeitende den Kontakt zu anderen – in selbst organisierten Netzwerken und anderen Initiativen. »Es ist uns als Arbeitgeber wichtig, eine Lernkultur zu fördern, die Freude am Lernen unterstützt«, erzählt von Kyaw. Dafür können Mitarbeitende auch Zeit während der Arbeit nutzen. Zusätzlich gibt es ergänzende Angebote, wie etwa der »Vodafone Spirit Day«, bei dem sich Mitarbeitende einmal pro Quartal für einen Tag aufs Lernen fokussieren sollen. »Unser Ziel ist es, Lernen zu einer alltäglichen Sache zu machen, indem wir den Arbeitsort auch zum Lernort machen und Praxisnähe ermöglichen«, sagt von Kyaw. Aber nicht nur für das lebenslange Lernen eignet sich die Plattform, sondern auch für die HR-Abteilung, um potenzielle Mitarbeitende für neue Stellen aufgrund ihrer Skill-Profile identifizieren zu können. Ein praktischer Nebeneffekt.

Mein Fazit: Wir lernen niemals aus, selbst im hohen Alter nicht. Vielleicht sollten wir uns alle als eine Art »Beta-Version« betrachten, in der einerseits bestehendes Wissen und vorhandene Fähigkeiten immer weiterentwickelt werden und andererseits komplett neue Skills dazukommen. Und wir sollten vor allem begreifen, welche enorm wichtige Rolle unsere Weiterentwicklung einnimmt. Der Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther bringt es in unserem Gespräch auf den Punkt: »Lernen heißt nicht weniger, als lebendig zu bleiben. Wer nichts mehr lernt, ist tot.«

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QUICK WINS

Für Mitarbeitende

  1. a) Verständnis dafür entwickeln, dass Weiterbildung die Produktivität und das Wohlbefinden steigert.
  2. b) Feste Zeiten zum Lernen einplanen und die Termine im Kalender blocken.
  3. c) Wissen nicht nur konsumieren, sondern immer wieder im Alltag anwenden, um das Gelernte erfolgreich zu integrieren.
  4. d) Ein Growth Mindset entwickeln und Fehler machen, um erfolgreich zu lernen.

Für Führungskräfte

  1. a) Den Mitarbeitenden das Verständnis vermitteln, dass Lernen die gleiche Priorität haben muss wie das Abarbeiten der To-dos.
  2. b) Über das eigene Lernverhalten sprechen: E-Mails verschicken oder in Meetings erzählen, was man letzte Woche gelernt hat.
  3. c) Die Mitarbeitenden regelmäßig fragen, was sie in den letzten Wochen gelernt haben – persönlich und für das Unternehmen.
  4. d) Die Anstrengung bei Mitarbeitenden loben und nicht nur das Talent beziehungsweise die Fähigkeiten.

Für Unternehmen

  1. a) Eine Kultur etablieren, in der Mitarbeitenden verdeutlicht wird, dass Lernen eine erwünschte, produktive und notwendige Tätigkeit ist.
  2. b) Bei der Besetzung von Teams/Projektgruppen darauf achten, nicht nur Kritiker:innen zu integrieren, die die Perspektive der anderen Seite einnehmen, um Ideen und Prozesse aus allen Perspektiven zu beleuchten, sondern auch hoffnungsvolle Menschen, die verschiedene Wege aufzeigen, um ans Ziel zu gelangen.
  3. c) Unternehmensintern das Recht auf Bildungsurlaub und die damit verbundenen Möglichkeiten kommunizieren.