Es ist ein Video, das unter die Haut geht und Gänsehaut erzeugt.1 Eine junge Frau sitzt vor der Kamera, sie ringt um Fassung, kämpft mit den Tränen. »Ich kann doch nicht die Einzige sein«, sagt sie und schaut an die Decke, »die Einzige, die gar keine Kraft mehr für eine Ausbildung hat.« Sie ist Anfang zwanzig und hat bereits zwei Ausbildungen abgebrochen und dabei wertvolle Zeit vergeudet, etwa drei Jahre. »Weil es einfach der Horror ist«, erzählt sie. »Entweder man sitzt auf der Toilette und heult oder man wird wie der größte Dreck behandelt.« Sie wischt sich immer wieder Tränen aus dem Gesicht und erzählt davon, dass sie entweder ignoriert oder angemotzt wurde. »Und dafür wird man dann auch noch richtig schlecht bezahlt«, sagt sie. »Mich belastet das voll«, erzählt sie weiter. »Ich fange die Ausbildungen an und bin noch voll motiviert.« Jetzt ist sie ratlos, kraftlos, arbeitslos. Am Ende ihres Videos, das sie auf der Social-Media-Plattform TikTok hochgeladen hat, stellt sie zwei Fragen: »Warum ist das so in Deutschland? Warum ist die Ausbildung die Hölle?«
Ich habe mich gefragt, ob diese junge Frau mit ihren Gedanken und Gefühlen wohl allein ist? Stellt sie sich womöglich nur an und hat keine Ahnung davon, was es heißt, sich reinzuknien? Immerhin sind Lehrjahre keine Herrenjahre, oder? Das Beratungsunternehmen Gallup gibt dazu eine klare Antwort und zeigt in weltweiten Umfragen eindeutig, dass viele Menschen im Job mehr Frust als Lust erfahren – unabhängig von Alter oder Geschlecht. Demnach fühlen sich in Deutschland 84 Prozent der Mitarbeitenden nicht verbunden mit dem Unternehmen, in dem sie arbeiten.2 Für jede:n Dritte:n ist der Leidensdruck sogar so groß, dass ans Kündigen gedacht wird.3 Wenn du bei Google den Satzanfang »Mein Job ist …« schreibst, schlägt dir die Suchmaschine folgende Vollendungen als Erstes vor: »… langweilig«, »… sinnlos«, »… die Hölle«. Das ist also das, was die Menschen auf ihre berufliche Tätigkeit bezogen beschäftigt.
Im Gallup-Report 2023 heißt es weiter, dass 39 Prozent der Mitarbeitenden in Europa aufgrund der Unzufriedenheit viel Stress erleben. Nicht nur ein wenig oder moderat, sondern so viel Stress, dass sie sich ausgebrannt fühlen – 15 Prozent der europäischen Mitarbeitenden sind sogar sogenannte »Loud Quitter«, also Mitarbeitende, die so unzufrieden sind, dass sie nicht nur innerlich gekündigt haben, sondern ihrer Unzufriedenheit dadurch Ausdruck verleihen, dass sie öffentlich schlecht über ihr Unternehmen reden.4
Aber anstatt an dieser Stelle darüber zu diskutieren, warum die Verhältnisse in den Unternehmen so schlecht sind, und vor allem, wie wir das ändern können, schreien aktuell viele Mitarbeitende nach einer Vier-Tage-Woche. Aber was nützt uns eine kürzere Woche, wenn die Arbeitsumgebung weiterhin toxisch bleibt, weil zum Beispiel die Führungskraft so emphatisch ist wie ein Clownfisch? Der Fisch stinkt vom Kopf, heißt es. Und deshalb sollten wir unseren Fokus nicht nur auf Recruiting, sondern auch auf Retention-Management legen. Denn was hilft es, wenn die besten Mitarbeitenden mit großen Versprechungen angeworben werden – die bereits in den ersten Wochen nicht eingehalten werden – und sie womöglich direkt wieder gehen, weil sie sich mit der Unternehmenskultur nicht identifizieren können? Das ist für alle frustrierend, auch für die Unternehmen: Fehlendes Engagement kostet Unternehmen jedes Jahr allein in Deutschland bis zu 113,9 Milliarden Euro.5
Deswegen stelle ich mir seit einigen Jahren die Frage, welche Rahmenbedingungen wir brauchen, damit Mitarbeitende gerne bleiben, engagiert sind und auch noch performen können? Wie können wir alle zusammen – ob als Führungskraft, Mitarbeitende oder Unternehmensleitung – die Erlebnisse und Erfahrungen am Arbeitsplatz positiver gestalten, sodass wir wieder mehr Lust als Frust am Arbeitsplatz erleben? Meine Antwort darauf ist das Buch, das du gerade in deinen Händen hältst.
Ich möchte damit Mitarbeitenden, Führungskräften und Unternehmensleitungen Impulse geben, was wir in unserem Berufsalltag anders machen können. Wie wir zusammen eine Arbeitsplatzumgebung schaffen, in der Mitarbeitende nicht nur überleben, sondern leben – und das so, dass sie dabei auch noch aufblühen und über sich hinauswachsen. Die psychologischen Einblicke in diesem Buch mit Best-Practice-Beispielen aus der Wirtschaft sind das Ergebnis aus zahlreichen intensiven Gesprächen mit führenden Expert:innen, Psycholog:innen, Forscher:innen und Personalvorständ:innen, ebenso Erfahrungen aus meinen Unternehmensberatungen sowie meinen persönlichen Erlebnissen.
Dabei geht es nicht darum, alles gleichzeitig umzusetzen, sondern vielmehr darum, auszuprobieren, welche Impulse für das eigene Unternehmen und das eigene soziale Umfeld passend erscheinen. Das Buch ist also so etwas wie ein reichhaltiges Buffet (ohne Warteschlange), von dem du dir das nehmen kannst, was dich anspricht, das zum Reflektieren sowie vor allem zum Handeln anregt.
Es ist mir sehr wichtig, zu betonen, dass es nicht darum geht, mehr aus dir herauszuholen. Du muss nicht dein komplettes Leben auf den Kopf stellen oder alles hinwerfen (wer das tut, muss meist kurz darauf sowieso alles wieder aufheben). Mein Motto für dieses Buch lautet vielmehr: »Mach nicht mehr, sondern mach es anders.« Dazu müssen wir unsere etablierten Routinen und unser Verhalten kritisch hinterfragen: »Ist das, was wir jeden Tag tun und wie wir uns verhalten, für uns selbst und für andere noch gut?« Wir dürfen also für einen kleinen Moment unsere Komfortzone verlassen. Ich weiß, das ist nicht einfach. Wir lieben sie, diese Komfortzone. Wir haben uns in ihr eingerichtet mit Billy-Regalen und Ektorp-Sofas. Aber nur weil wir etwas seit zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren machen, heißt es nicht, dass es heute immer noch gut ist. Daher sollten wir gegenüber anderen Ideen und Ansätzen offen sein und einfach mal etwas ausprobieren.
Was es bringt, nicht mehr, sondern etwas anders zu machen, habe ich selbst eindrucksvoll erfahren dürfen, als ich 2017 zum ersten Mal in Portugal war: in einem Surfcamp zwischen Lissabon und Porto. Am ersten Tag sind wir mit den Boards raus zum Strand, und weil ich recht sportlich bin, dachte ich, dass ich das mit dem Surfen schnell draufhaben würde. Die Trockenübungen am ersten Morgen auf dem Sand schienen das zu bestätigen. Dann ging es ins Wasser. Und dort fiel ich Welle für Welle für Welle vom Board. Den kompletten Tag lang. Zurück im Camp dachte ich abends im Bett darüber nach, was ich noch alles tun müsste, um besser zu werden: mehr Fitness- und Stabilitätsübungen machen, Yoga praktizieren, YouTube-Tutorials schauen.
Am nächsten Tag hatte ich einen anderen Lehrer. Er sah mich am Strand auf dem Board stehen, ließ mich eine Übung machen und sagte nach nur zwei Sekunden: »Du stehst mit dem falschen Fuß vorn.« Es sei eine der wichtigsten Faktoren für den Erfolg beim Surfen, mit dem richtigen Fuß vorn auf dem Brett zu stehen: Goofy (rechter Fuß vorn) oder Regular (linker Fuß vorn).
An diesem Tag habe ich jede Welle bekommen. Und alles, was ich dafür tun musste, war, mich anders aufzustellen. Ohne jeden Mehraufwand. Ich habe weder mehr geschwitzt noch mehr Trainingsstunden bezahlt. Und genauso, glaube ich, kann es im Job laufen: Mach nicht mehr, mach es anders!
Und das Beste daran: Es lohnt sich für alle Beteiligten. Das Softwareunternehmen SAP hat zum Beispiel in einer mehrjährigen internen Erhebung gezeigt, dass ein Prozent mehr Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden zu 50 Millionen Euro mehr Gewinn im Jahr führt: »Happy employees. Happy customers.«6 Darüber hinaus wirken sich zufriedene Mitarbeitende aber auch auf unser gesellschaftliches Miteinander aus. Stell dir mal vor, wir wären alle engagierter und zufriedener bei der Arbeit: Wie würden wir miteinander umgehen? Im Beruf, mit Freund:innen und in den Beziehungen mit unseren Partner:innen und Kindern? Wie würden wir gesellschaftliche Diskussionen führen? Ich finde, dass es auf einen Versuch ankommt.
In diesem Sinne: Viel Spaß mit diesem Buch – zu Hause und vor allem bei der Arbeit.
Rebellische Grüße
Jonas Höhn