In Kapitel 1 haben wir mit der Erforschung der Frage begonnen, wie es dem Partner mit dem schwächeren Verlangen ergeht, wenn sich bei ihm diesbezüglich Probleme bemerkbar machen. Am Beispiel Connies haben wir gesehen, dass das gespiegelte Selbstempfinden im Grunde darunter leidet. Doch was ist, wenn Sie der verlangensstarke Partner sind? Doreens Beispiel in Kapitel 2 zeigt, dass auch das gespiegelte Selbstempfinden des verlangensstärkeren Partners beschädigt wird. Zwar fühlen sich einige verlangensstärkere Partner nicht abgelehnt, unzulänglich oder unattraktiv, aber das sind Ausnahmen. Viele sagen zwar, sie bezögen das fehlende Verlangen nicht als negative Spiegelung auf sich selbst, doch dem steht entgegen, dass eine recht große Zahl von ihnen viel Zeit darauf verwendet, im Haus herumzubrüllen: »Nicht ich bin das Problem, sondern du!«
Wie viele andere Menschen mit schwächerem Verlangen hörte auch Sally häufig solche Bemerkungen. Ihr Partner Robert, dessen Verlangen stärker war, hatte das Bedürfnis, seinen Gefühlen Luft zu machen, insbesondere wenn diese sich auf Sally bezogen. Als Sally und Robert zum ersten Mal zu mir kamen, sagte Robert, er fühle sich gut, so wie er sei, und er habe mehr verdient, als er in seiner Ehe bekomme. Hätte ich nicht genau zugehört, wäre mir das, was er sagte, als völlig plausibel erschienen. Nachdem ich jedoch einen tieferen Einblick in die Situation der beiden gewonnen hatte, veränderte sich das Bild, das sich mir darbot, stark: Sally, die Partnerin mit dem schwächeren Verlangen, entschied tatsächlich darüber, ob Sex stattfand. Doch die Art, wie Robert ihre Kontrolle darstellte und warum er das tat, sagte eine Menge über ihn und sein Selbstempfinden aus.
Robert machte Sally Vorwürfe und vermittelte ihr das Gefühl, unzulänglich zu sein, weil sein eigenes gespiegeltes Selbstempfinden zu zerfallen drohte. Er fasste Sallys mangelndes sexuelles Verlangen als Kritik an seiner sexuellen Attraktivität und seinen Fähigkeiten als Liebhaber auf. Sally hatte die völlige Kontrolle über Roberts Selbstwertgefühl, einfach indem sie darüber entschied, wann es Sex gab und wann nicht. Und Robert machte sein Selbstwertgefühl davon abhängig, ob Sally Sex mit ihm zuließ. Somit hing Roberts Gefühl, ein guter Liebhaber zu sein, völlig von Sallys Gutdünken ab.
Das war Sally intuitiv klar. Sie wusste, wie Robert dachte. Und Robert selbst schwächte seine sexuelle Attraktivität, indem er den Eindruck zu erwecken versuchte, er nehme Sallys Verhalten ihm gegenüber nicht persönlich. Sally wusste, dass es für Roberts Bild von sich selbst extrem wichtig war, ob sie enthusiastisch auf seine sexuellen Annäherungsversuche reagierte. Doch dadurch entstand bei ihr ein Druck, der ihr Verlangen noch mehr schwächte.
Im vorigen Kapitel wurde erläutert, wie das Selbstempfinden (bzw. das Selbstwertgefühl) mit dem sexuellen Verlangen verwoben ist, und vorher, dass der verlangensschwächere Partner immer die Kontrolle über den Sex hat. Aber was bedeutet dies, wenn man bedenkt, dass die meisten von uns sich von einem positiven gespiegelten Selbstempfinden abhängig machen, und zwar insbesondere im Hinblick auf Sex? Sally und Robert veranschaulichen, wie sich dies im Alltagsleben auswirkt: Außer dem Sex kontrolliert der Partner mit dem schwächeren Verlangen auch das Gefühl, begehrenswert zu sein.
Diese Tendenz manifestiert sich lange vor dem Sichtbarwerden irgendwelcher sexuellen Probleme: In Liebesbeziehungen ist das von Anfang an so. (Insbesondere Frauen lernen, das »sexuelle Selbstwertgefühl« ihres Partners unbedingt zu schützen.) Wenn dann Probleme hinsichtlich des sexuellen Verlangens oder sexuelle Dysfunktionen auftreten, entscheidet der verlangensschwächere Partner darüber, ob sich der verlangensstärkere sexuell begehrenswert fühlen kann, ob ersterem dies nun gefällt (bzw. ob er es weiß) oder nicht. Ergreift der verlangensstärkere Partner die Initiative, um sein erlahmendes Selbstwertgefühl zu heben, wirkt sich dies in der Regel negativ auf das ohnehin geschwächte Selbstempfinden des verlangensschwachen Partners aus. So kommt eine neue Runde des uralten Kreislaufs des sexuellen Verlangens und der menschlichen Entwicklung in Gang.
Wie viele Paare hatten auch Robert und Sally seit Beginn ihrer Beziehung Probleme gehabt. Als sie das zweite Mal miteinander schliefen, fragte Robert Sally, ob sie Orgasmusprobleme habe. Sie antwortete, sie glaube das nicht. Sie brauche bei einem neuen Partner nur länger, um sich zu entspannen und sich auf ihn einzulassen. Robert erklärte daraufhin zwar, das sei für ihn kein Problem, doch Sally hatte das Gefühl, dass er nicht ehrlich war. Danach gab Sally sich mehr Mühe zu signalisieren, dass sie Lust empfand, auch wenn das gar nicht der Fall war, weil Robert dies zu brauchen schien. Offensichtlich war er glücklicher, wenn sie stöhnte. Außerdem tat Sally dies, weil sie ihrer selbst unsicher war und weil sie wollte, dass Robert sie liebte.
Was ich hier beschreibe, ist ziemlich normal. Es ist unabhängig vom Geschlecht, von der sexuellen Orientierung und von einer bestimmten Kultur. Ich habe auch mit anderen Paaren gearbeitet, bei denen die Rollen vertauscht waren. Und auch bei schwulen und lesbischen Paaren existiert dieses Problem. Wir alle wünschen uns, dass andere Menschen uns mögen, uns akzeptieren und uns bewundern. Doch ebenso wie viele andere Menschen machte auch Robert sich von Sally (und von anderen Menschen) abhängig, damit sie ihm helfen würde, sich in seiner eigenen Haut wohlzufühlen.1 Weil sein Selbstwertgefühl nicht besonders stark war, stützte er sich auf sein gespiegeltes Selbstempfinden. Ohne dass ihm dies klar war, wollte er, dass Sally sich ihm gegenüber gefällig verhielt und sich zurücknahm. Wenn sie diesem Wunsch entsprach, fühlte er sich wichtig, geliebt, respektiert und geschätzt.
Zu Beginn ihrer Ehe hatte Sally sich so verhalten. Sie hatte sich dafür verantwortlich gefühlt, Robert glücklich zu machen. Wenn er unglücklich wirkte, hatte sie das Gefühl gehabt, sie habe als seine Frau versagt. Robert zufrieden zu machen wirkte stärkend auf Sallys eigenes gespiegeltes Selbstempfinden – zumindest eine Zeitlang. So reagierte sie immer, wenn wichtige Menschen in ihrem Leben sich nervös oder unglücklich zeigten.
Nach mittlerweile 20 Ehejahren war Sally nun nicht mehr bereit, sich weiter so zu verhalten. Der Grund war nicht nur, dass sie störrisch wurde, sondern es frustrierte sie auch, dass es ihr nie gelang, Robert für längere Zeit glücklich zu machen. Jahre des Erfolgs in dem Bemühen, Robert gefällig zu sein und sein gespiegeltes Selbstempfinden zu unterstützen, forderten schließlich ihren Tribut.
Je nachdrücklicher Sally Roberts notleidendes gespiegeltes Selbstempfinden unterstützte, umso mehr erwartete er dies und umso lauter beklagte er sich, wenn er nicht bekam, was er sich wünschte. Je häufiger Sally sich auf Sex einließ und vorspielte, dass sie Lust empfand, umso weniger Lust hatte sie tatsächlich, solche Scharaden mitzumachen. Ihr sexuelles Verlangen wurde immer schwächer. Roberts Erwartungen widersprachen ihrem Gefühl der Autonomie und erzeugten bei ihr verständlicherweise den Impuls, ihrem Partner klarzumachen, dass sie genug von alldem habe.
Mich überraschte nicht, dass Sally und Robert Probleme mit ihrem sexuellen Verlangen hatten. Sie waren in dieser Hinsicht an einen toten Punkt gekommen und empfanden nicht mehr viel Zuneigung füreinander. Im Bett scheiterten ihre Annäherungsversuche oft schon in der Anfangsphase.
Ihr erster Besuch bei mir verlief ganz ähnlich. Robert klagte, Sally wolle nur selten Sex und gehe nicht auf seine Bedürfnisse ein. Dadurch geriet Sally in die Defensive, und sie führte eine lange Liste von Dingen an, die sie für ihn tat, wozu sie auch den gemeinsamen Sex rechnete. Sie bestätigte, dass sie oft kein Verlangen verspüre, sich aber seit Jahren bemühe, sich trotzdem entgegenkommend zu verhalten.
Robert antwortete daraufhin, genau das sei das Problem: Sally verhalte sich ständig, als würde sie ihm einen Gefallen tun. Sie selbst wolle offenbar nie Sex. Da sie nie wie normale Menschen an Sex interessiert zu sein scheine, glaube er, dass sie ein Problem habe. Einerseits kritisierte er, dass sie seit Jahren nur so tue, als ob Sex ihr Freude mache, und andererseits monierte er, dass sie nicht bereit sei, dies auch weiterhin zu tun. Er merkte offenbar gar nicht, wie sehr er Sally emotional traumatisierte.
Zu Hause verhielt Robert sich ganz ähnlich: Er versuchte mehrmals wöchentlich, Sally zum Sex zu animieren, und wenn sie dann nicht gleich begeistert reagierte, wurde er wütend. Anschließend schmollte er einige Tage und unterbrach sein nachdrückliches Schweigen nur gelegentlich, um knappe und reservierte Antworten zu geben. Robert wollte Sally spüren lassen, dass er unglücklich war. Nahm Sally seinen offensichtlichen Unmut nach seiner Auffassung nicht gebührend zur Kenntnis, begann er seine Litanei mit: »Nicht ich, sondern du hast ein Problem!«
Jahrelang hatte Sally sich daraufhin bei Robert entschuldigt und erklärt, ihr tue leid, was geschehen sei. Und Robert hatte solche Entschuldigungen gewöhnlich angenommen, wenn dies mit Sex belohnt wurde. Danach war alles vergeben und vergessen – bis zum nächsten Mal. Doch wenn Robert besonders verletzt und wütend war, verlagerte sich die Auseinandersetzung auf eine zweite Ebene: Entschuldigte Sally sich dann, sagte Robert: »Das meinst du doch gar nicht so.« Daraufhin musste Sally ihn anbetteln, er möge ihr glauben, dass er ihr wichtig sei. Außerdem erwartete er beim obligatorischen anschließenden Sex besonders enthusiastische Reaktionen. So stärkte Sally Roberts gespiegeltes Selbstempfinden – und sie spielten dieses Muster nicht nur im Sex durch.
Ebenso schloss sich Sally Roberts Auffassungen regelmäßig an, wenn es um ihren gemeinsamen halbwüchsigen Sohn Jason ging. Robert bestrafte den Jungen häufig. Er forderte von ihm unbedingten Gehorsam und absolute Unterwürfigkeit, in noch stärkerem Maße als von Sally. Wenn Jason auch nur zögerte, seinen Anweisungen zu folgen, wurde Roberts gespiegeltes Selbstempfinden verletzt.
Sally wusste, dass das nicht in Ordnung war. Sprach sie Robert jedoch darauf an, reagierte er stets mit Vorwürfen wie dem, sie falle ihm in den Rücken und untergrabe seine Autorität. Er selbst hingegen verhielt sich Jason gegenüber insofern widersprüchlich, als er sich auch mit ihm gegen Sally verbündete. Deshalb schwieg Sally gewöhnlich. Bis vor kurzem hatte Sallys gespiegeltes Selbstempfinden die Oberhand behalten, wenn Robert wütend geworden war. Sally fühlte sich ruhiger und stabiler, wenn sie Roberts Wünschen nachkam.
Robert und Sally sind ein gutes Beispiel für das, was ich Geborgte Funktionsfähigkeit oder Funktionsübertragung (engl.: borrowed functioning) nenne. Dabei handelt es sich um einen Versuch, damit fertigzuwerden, dass das erste Selbst, das wir entwickeln, ein gespiegeltes Selbstempfinden ist. Von ihm sind wir abhängig, weil seine Herausbildung ein fester Bestandteil der menschlichen Entwicklung ist. Vom Säuglingsalter an bemühen wir uns darum, dass andere Menschen uns bei der Entwicklung von Selbstgewahrsein unterstützen. Wir sehen uns durch die Augen von Menschen, die uns wichtig sind. Wir verinnerlichen, wie andere Menschen uns sehen und behandeln und verstehen diese Wahrnehmungen anderer als Hinweise darauf, wie wir tatsächlich sind.
Wenn wir erstmals erkennen, dass wir (ein) »selbst« sind, ruft dies bei uns nicht etwa Freude und Erleichterung, sondern Wut und Frustration hervor. Dies tritt ein, wenn uns klar wird, dass Mami und wir keine Einheit sind. Plötzlich gibt es ein »ich« und ein »du«. (Nach Martin Buber besteht diese Beziehung ursprünglich zwischen »ich« und »es«.2) Wir erleben zum ersten Mal Selbst-Sein, wenn unsere Eltern oder eine andere Betreuungsperson nicht tut, was wir wollen. Solange wir uns wohl und genährt fühlen, wird uns nicht bewusst, dass wir und unsere Betreuungsperson nicht eins sind. Was ich hier beschreibe, ist nicht das ursprüngliche »Trauma« unseres Lebens, sondern einfach, wie die Dinge nun einmal liegen.
Die psychische Funktionsfähigkeit ist deshalb »geborgt«, weil sie weder ein stabiles Selbstempfinden vermittelt noch an und für sich dauerhaft stabil ist. Sie gleicht sozusagen einem Ballon, den Ihr Partner aufbläst. Vielleicht sehen Sie kurzfristig besser aus, fühlen sich besser und handeln sogar besser, doch ist die Wirkung solcher Pseudo-»Selbst«-Transfusionen nicht von Dauer. Auch wenn Ihr Partner Ihnen nicht irgendwann »die Luft wieder rauslässt«, verlieren Sie im Laufe der Zeit so viel davon, dass Sie über kurz oder lang eine neue »Füllung« brauchen.
Die Funktionsfähigkeit ist in solchen Fällen auch insofern »geborgt«, als durch diese Übertragung die Funktionsfähigkeit Ihres Partners sowie seine Resilienz und sein gespiegeltes Selbstempfinden verringert werden. Das wird nicht immer sofort deutlich, weil die Funktionsübertragung die Situation beider Beteiligter trotz ihres illusionären Charakters manchmal zunächst verbessert. Doch wenn der verlangensschwache Partner schließlich in Unsicherheit (und in eine latent-unterschwellige Trotzhaltung) verfällt, schwingt sich der verlangensstärkere Partner kraft Funktionsübertragung prachtvoll in die Höhen der Selbstgerechtigkeit empor. Wenn Partner einander in einer Beziehung wirklich helfen, zeigt die allmähliche Verbesserung ihrer Funktionsfähigkeit an, dass sie einander aufrichtig lieben. Der Unterschied zwischen echter Liebe und Zuneigung und dem, was Robert und Sally in ihrer Beziehung erlebten, ist daran zu erkennen, dass Sally emotional erschöpft war und Robert nur scheinbar Oberwasser behielt.
Allerdings kann man aus der Tatsache, dass in Roberts und Sallys Beziehung die Funktionsübertragung eine wichtige Rolle spielte, nicht automatisch ableiten, dass ihre Beziehung keine echte Beziehung war. Eine Beziehung, für die Funktionsübertragung charakteristisch ist, ist eine Beziehung – und nicht nur das: Funktionsübertragungen gibt es in den meisten Beziehungen. Wenn Partner sich davon abhängig machen, dass andere ihr Selbstempfinden positiv spiegeln, besteht zwischen ihnen eine emotionale Verschmelzung. (Echte Interdependenz setzt eine stabile Identität voraus.) Bei Bestehen einer emotionalen Verschmelzung regulieren die Beteiligten ihre Emotionen (und ihr gespiegeltes Selbstempfinden) durch Interaktionen mit ihren Partnern, statt aufgrund ihres eigenen, stabilen Selbstempfindens allein damit fertigzuwerden. Von welchem Partner die Funktionsfähigkeit jeweils »geborgt« wird, hängt von den konkreten Umständen ab und kann wechseln. Allerdings ist eine solche Funktionsübertragung nur in einer echten Beziehung möglich, weil für das »Borgen« andernfalls keine Basis besteht. Funktionsübertragung und emotionale Verschmelzung sind starke Formen von Bezogenheit und wohl die am weitesten verbreiteten. Doch auch wenn dies der Normalzustand ist, müssen wir darüber hinauswachsen.
Robert fühlte sich besser, wenn Sally sich demütig gab und sich entschuldigte, auch wenn sie gar nichts Falsches getan hatte. Er war auch weniger angriffslustig und streng, wenn sein Sohn sich seiner Autorität beugte. Wenn alles so lief, wie er es sich wünschte, hatte er das Gefühl, sein Leben sei, wie es sein sollte. Er verstand nicht, warum Sally so unglücklich wirkte. Sie hatten doch ein gutes Leben. Er nahm an, irgendein Ereignis aus Sallys Vergangenheit müsse der Grund für ihre »Launen« sein. Doch sie befanden sich in einem für Liebesbeziehungen typischen, Jahrmillionen alten Dilemma, das letztendlich auf die Herausbildung eines Selbst zurückzuführen ist.
Identitätsempfinden, Selbstwertgefühl und Sicherheit normaler Menschen unterliegen stets dem Einfluss anderer Menschen. Das ist deshalb so, weil die meisten von uns in ihrer persönlichen Entwicklung nicht über das erste, gespiegelte Selbstempfinden hinausgekommen sind. Viele Menschen entwickeln nie ein besonders stabiles Selbstempfinden und bleiben ihr Leben lang von der psychischen Kraft abhängig, die andere auf sie übertragen – bzw. die sie von diesen ausborgen.
Die meisten Menschen beziehen es auf sich persönlich, dass ihr Partner ein starkes oder schwaches Verlangen hat. Bei sehr sensiblen Themen wie Sex machen wir uns besonders häufig von einem gespiegelten positiven Selbstempfinden abhängig. Wir fühlen uns attraktiv, wenn andere uns für attraktiv halten. Wir fühlen uns begehrenswert und begehren selbst, weil ein anderer Mensch uns begehrt. Wenn Sie in den Genuss des positiven gespiegelten Selbstempfindens kommen, das Sie brauchen, ist Ihnen dies nicht bewusst. Aus Ihrer Sicht ist ja auch alles in bester Ordnung. Sie sind verliebt. Wenn Menschen darüber reden, dass sie sich die Romantik zurückwünschen, die ihr Leben einmal bestimmt hat, wünschen sie sich in Wahrheit die Euphorie zurück, die sie aufgrund »ausgeborgter psychischer Kraft« erlebt haben.3
Doch der Preis dafür, dass Sie sich selbst schätzen, weil andere Sie akzeptieren – oder Sie sexuell begehren – ist, dass Sie sich schlecht fühlen, wenn diese anderen Sie einmal nicht so positiv sehen.
Ist es nicht völlig normal, dass Menschen es persönlich nehmen, wenn ihr Partner sexuell nichts von ihnen wissen will? Und umgekehrt: Würden Sie sich etwa nicht schlecht fühlen, wenn Sie kein sexuelles Verlangen nach Ihrem Partner spürten und dieser Ihnen daraufhin sagen würde, sie seien völlig verkorkst? Natürlich! Genau darum geht es: Die meisten Menschen machen sich von einem Selbstempfinden abhängig, das von den Spiegelungen anderer bestimmt ist.
Dies ist keineswegs eine Folge von Kindheitstraumata, etwa so wie wenn man als Kind und Jugendlicher nicht genug gelobt oder nicht bedingungslos akzeptiert worden ist. Falls Sie in Ihrer Kindheit ständig kritisiert und zurückgewiesen worden sind, ist Ihr gespiegeltes Selbstempfinden mit Sicherheit besonders negativ. Vernachlässigung durch die eigenen Eltern erzeugt bei Menschen das Gefühl, unwichtig und wertlos zu sein. Aber selbst unerschöpfliche positive Verstärkung würde das Grundproblem nicht lösen, weil Sie dann weiterhin davon abhängig wären, dass andere Ihnen das Gefühl vermittelten, Sie seien »okay«. Auch wenn Sie der ganze Stolz Ihrer Eltern waren, können Sie sich nach der permanenten Aufmerksamkeit, Unterstützung und Rückversicherung Ihres Partners sehnen. Kein Lob kann so stark sein, dass es Ihnen ein stabiles Selbstwertgefühl zu garantieren vermag.
Ein stabiles Selbstempfinden entsteht durch Selbstkonfrontation, dadurch, dass Sie von sich selbst fordern, das Richtige zu tun, und indem Sie sich selbst zu respektieren lernen. Ein verlässliches Selbstwertgefühl entsteht aus Ihnen selbst heraus, nicht indem Sie das, was in Ihrer Umgebung ist, verinnerlichen.
Ein wirklich stabiles Selbstempfinden zu entwickeln (d.h., den Zustand des Erwachsenseins zu erreichen) erfordert wesentlich mehr Zeit und Mühe, als die meisten Menschen glauben. Wenn wir heiraten, sind wir hinsichtlich unseres Selbstempfindens gewöhnlich noch stark von positiven Spiegelungen anderer abhängig. Wir bringen unser gespiegeltes Selbstempfinden mit in die Ehe, weil es uns in die Ehe hineingeführt hat. Unterdessen machen die neuronalen Schaltkreise der Wollust, der romantischen Liebe und der Bindung in unserem Gehirn Überstunden. Was dann geschieht, ist absehbar: Wir werden zu einem »Paar«. Die Ehe ist ein Ökosystem, das uns helfen soll, erwachsen zu werden, indem wir unser gespiegeltes Selbstempfinden so verletzlich machen, dass wir uns schließlich nicht mehr damit begnügen können.
Wie die meisten Menschen glaubte Sally, sexuelles Verlangen sei eine natürliche Funktion. Dadurch schrieb sie sich selbst eine sehr schwache Position zu. Und weil Robert die Dinge genauso sah, war Sallys Status in der ehelichen Beziehung der beiden sehr fragil. Roberts Verlangen wurde zum Maßstab, an dem Sally und ihre »Normalität« gemessen wurde. Weil Sally selbst Roberts Unzufriedenheit zum Maßstab ihrer Eigenbeurteilung machte, übernahm sie hinsichtlich des Sexuallebens in der Partnerschaft bereitwillig die schwächere und schlechtere Position.
In unserer ersten gemeinsamen Sitzung klagte sie, Robert setze ihr häufig zu, indem er ihr vorwerfe, sie habe ein Problem mit dem Sex. Ich erklärte es ihr so:
»Es kommt oft vor, dass der Partner mit dem stärkeren Verlangen sein eigenes labiles Selbstempfinden zu retten versucht, indem er sagt: ›Du hast das Problem, nicht ich.‹ Je abhängiger Sie sich von einem gespiegelten Selbstempfinden machen, umso schlechter ertragen Sie es, als nicht vollkommen angesehen zu werden. Sobald Ihre Mängel zutage treten, zerbricht Ihr Bild von sich selbst, und Sie erleiden einen emotionalen Zusammenbruch. Falls Sie von einem gespiegelten Selbstempfinden abhängig sind, fühlen Sie sich besser, wenn Sie den anderen beschuldigen können. Deshalb sagen viele verlangensschwächere Partner: ›Nicht ich bin das Problem, sondern du!‹«
Sally klagte: »Ich fühle mich so schlecht, wenn er so etwas zu mir sagt. Ich bin dann den ganzen Tag deprimiert. Die betreffende Szene läuft in meinem Kopf immer wieder ab. Ich sehe Mal um Mal vor mir, wie ich Robert enttäusche.«
»Das passiert, wenn Ihr [ich deute auf Robert] gespiegeltes Selbstempfinden einen schlechten Tag hat.« Sally und Robert lachten. Die Anspannung im Raum ließ nach.
»Es ist schwer, bei sich selbst zu bleiben, wenn man zwei Botschaften gleichzeitig empfängt, von denen die eine lautet: ›Du bist zu nichts gut, du bist unzulänglich und nicht in der Lage zu leisten, was du eigentlich leisten müsstest‹, und die andere lautet: ›Du bist diejenige, die über die Ressourcen verfügt, und nur du kannst meine körperlichen und emotionalen Bedürfnisse erfüllen. Du hast kein Recht, mir diese Befriedigung vorzuenthalten, denn ich brauche sie.‹ Die emotionale Peitsche bewirkt, dass der verlangensschwächere Partner sich fragt, wer er wirklich ist.«
Meine Beschreibung aktivierte offenbar allmählich Roberts gespiegeltes Selbstempfinden. »Warum ergreift Sally denn dann beim Sex nie die Initiative?«
»Sie sind mit Sally zusammen in einem bestimmten Muster gefangen. Sie sind der Partner mit dem stärkeren Verlangen, und wie die meisten Partner, die diese Rolle übernommen haben, versuchen Sie, bei Sally das sexuelle Verlangen anzufachen. Sallys Verlangen ist schwächer, und wie die meisten Partner mit schwächerem Verlangen weiß sie, dass Sie sie brauchen, um sich als Liebhaber bestätigt zu fühlen. Und damit Sie dieses Gefühl bekommen, soll sie Ihnen gegenüber sexuelles Verlangen zum Ausdruck bringen. Das Problem ist, dass ihr Verlangen noch schwächer wird und sie sich unter Druck gesetzt fühlt, wenn sie Sie als guten Liebhaber bestätigen soll. Sally ist klar, dass Sie es als Zurückweisung erleben, wenn sie keinen Sex will, und genau das erschwert es ihr, den Sex mit Ihnen zu genießen. Auf diese Weise wird der Partner mit dem schwächeren Verlangen noch zusätzlich belastet, und das gespiegelte Selbstempfinden des verlangensstärkeren Partners wird dadurch ebenfalls geschwächt. Das ist der Punkt, an dem Sie ins Spiel kommen.«
Als ich dies sagte, richtete Robert sich auf seinem Stuhl auf. Ich fuhr fort: »Der Partner mit dem stärkeren Verlangen fühlt sich in dieser Situation unerwünscht, unattraktiv und nicht geliebt. Er versucht, den verlangensschwächeren Partner als begehrenswerter hinzustellen, um sein eigenes schwächer werdendes Selbstwertgefühl zu stärken. Der Partner merkt dies und fühlt sich von der Unsicherheit des anderen abgestoßen. So entsteht ein Teufelskreis, und die Situation wird immer schwieriger.
Die nächste Eskalationsstufe besteht darin, dass sich der verlangensstärkere Partner eine scheinbar ›aufgeklärte‹ Haltung zu eigen macht: Seine Partnerin hat offenbar ein Problem, und er möchte ihr helfen, es zu lösen. Deshalb bietet er ihr an, sie zu einer psychotherapeutischen Behandlung zu ›begleiten‹. Doch sie empfindet es als herablassend, dass er so mit ihr umgeht und dadurch die Situation noch verschlimmert.« Robert lächelte. Sally war so erleichtert darüber, dass er auf diese Situationsbeschreibung hin nicht explodiert war, dass sie sich zu einem Kichern hinreißen ließ.
»Wenn der Partner mit dem stärkeren Verlangen seiner Partnerin Vorwürfe macht, löst sich auch der kleinste aufkeimende Anflug von sexuellem Verlangen augenblicklich in Luft auf, und die Partnerin reagiert verärgert und defensiv und verliert jede Motivation, positive Empfindungen zu entwickeln. Dies wiederum nimmt der verlangensstärkere Partner persönlich, und der Teufelskreis setzt sich in einer neuen Runde fort.«
»Kommt mir bekannt vor«, warf Robert ein.
»Im Laufe der Zeit weitet sich der Rückzug des verlangensschwächeren Partners zu einem Zustand emotionaler Tiefkühlung aus. Je katastrophaler die Beziehungssituation wird, umso nachdrücklicher besteht der verlangensstärkere Partner auf Sex: Er drängt seine Partnerin wie rasend zum Sex und zieht sich andererseits phasenweise immer stärker zurück.«
Robert und Sally tauschten wissende Blicke aus. Robert wirkte nun noch entspannter. »Warum kommt die verlangensschwächere Partnerin denn nicht einfach in die Gänge und unternimmt etwas?«
»Weshalb sollte sie das? Sie hat doch sowieso nichts Positives zu erwarten. Solange sie kein stärkeres Verlangen entwickelt, bekommt sie Vorwürfe zu hören. Wird ihr Verlangen stärker, heimst ihr Partner die Lorbeeren dafür ein – denn dann heißt es, schließlich habe er ja das Verlangen in ihr entfacht. Wenn man weder etwas gewinnen noch etwas verlieren kann, ist man einfach nicht besonders motiviert, eine Situation zu verbessern. Eher tendiert man dann zu Rebellion und passiver Aggression.« Sally lächelte verlegen und errötete.
Robert musste lächeln. »Okay. Das hat mich beeindruckt. Aber das klingt ja, als ob wir uns wie Automaten verhalten würden.«
»Wie die meisten Menschen, die in Partnerschaften leben, befinden auch Sie sich in einem Zustand emotionaler Verschmelzung, siamesischen Zwillingen ähnlich. Jede Bewegung des einen Partners wirkt sich auf das emotionale Gleichgewicht des anderen aus. Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, erfordern keine Wut, keine Vendetta und keine böswillige Absicht. Sie wollen beide die Kontrolle über Ihr eigenes Leben haben. Wenn Sie so eng miteinander verbunden und emotional so verstrickt sind, wie es bei Ihnen der Fall ist, hat jede Bewegung – und auch jede nicht vollzogene Bewegung – des einen Partners weitreichende Konsequenzen für den anderen.«
Robert nickte. »Ist das nicht krank? Und ich dachte, wir hätten uns auseinandergelebt.«
»Der Zustand emotionaler Verschmelzung ist Normalität. Das Problem besteht nicht darin, dass Sie einander ›zu nahe‹ sind, sondern dass Sie bezüglich der Aufrechterhaltung Ihres emotionalen Gleichgewichts zu stark voneinander abhängig sind. Wenn Sie sich auf ein gespiegeltes Selbstempfinden verlassen, haben Sie gar keine andere Möglichkeit, als an jemand anderem zu ›kleben‹. Der Zustand emotionaler Verschmelzung wird dann zu einer übergeordneten Notwendigkeit.
Sie und Sally gleichen zwei Geschäftsleuten, die intensiv miteinander verhandeln. Ist der eine mit dem Handel zufrieden, hat die andere das Gefühl, nicht energisch genug gefeilscht zu haben. Ist die andere zufrieden, denkt der eine, er hätte bei den Verhandlungen mehr herausholen können. Er meint dann, er habe sich selbst etwas vorgemacht – oder sei übers Ohr gehauen worden. Für beide ist wichtig, dass der andere sich unglücklich fühlt, damit sie das Gefühl haben können, selbst gut abgeschnitten zu haben. Sie und Sally sprechen über Win-Win-Lösungen, doch Ihr gespiegeltes Selbstempfinden macht solche Lösungen unmöglich.«
Sally erklärte: »Ja, das ist wohl so: Selbst wenn ich mich aufraffe, es Robert im Bett recht zu machen, weiß ein Teil von mir, dass ich mich zurückhalte. Ich beobachte ihn dann ständig, um herauszufinden, ob er merkt, was mit mir los ist. Beim Sex bin ich mit mir selbst im Krieg. Ich mache mich verrückt dabei!«
»Sie sind beide sehr geübt darin zu verfolgen, was im Geist Ihres Partners vor sich geht – das ist das, was ich ›den Geist des anderen spiegeln‹ nenne.« Sally und Robert warfen sich misstrauische Blicke zu. Dann brach aus beiden ein nervöses Lachen hervor. Die Intimität zwischen ihnen war in diesem Augenblick so stark, dass sie verlegen zu Boden schauten. Als sie meinen Behandlungsraum verließen, beobachteten sie einander aus den Augenwinkeln.
Wenn Sie ein gespiegeltes Selbstempfinden haben, ist es für Sie unverzichtbar, den Geist anderer Menschen wie ein Buch lesen zu können. Dies tun Sie ständig, und Sie suchen dabei wachsam nach Hinweisen darauf, was andere über Sie denken und welche Gefühle sie Ihnen gegenüber haben. Die Gedanken anderer Menschen über Sie sind für Sie von elementarer Bedeutung, damit Sie sicher sein können, in ihren Augen »gut dazustehen«. Das ist Sinn und Zweck eines gespiegelten Selbstempfindens. Und Sie können niemals sicher sein, dass andere Sie billigen, wenn Sie nicht nachvollziehen können, was in ihnen vor sich geht.
In dieser Verfassung sind Sie hypervigilant und versuchen unablässig, eventuelle frühe Warnzeichen für die Ablehnung, die Sie erwartet, möglichst zeitig zu registrieren. Sie spielen drei Runden im Voraus. Darin werden Sie zum Experten, und es ist eine Ganztagsbeschäftigung. Sie wollen einfach nicht auf dem falschen Fuß erwischt werden und dann wie ein Idiot dastehen.
All dies könnten Sie nicht, wenn Ihr Gehirn nicht in der Lage wäre, die Vorgänge im Geiste anderer Menschen nachzuvollziehen. Gedankenlesen spielt bei erfolgreichen sozialen Interaktionen und bei Bemühungen, andere Menschen zu manipulieren (d.h., sie dazu zu bringen, Sie zu mögen), eine wichtige Rolle. Man kann diese Fähigkeit sowohl negativ als auch positiv nutzen. Gedankenlesen bzw. das Spiegeln des Geistes anderer kann sehr nützlich sein; doch manchmal ist es alles andere als spaßig. Beispielsweise kann es sein, dass Sie auf diese Weise wesentlich mehr herausfinden, als Sie eigentlich wissen wollten. Und oft gelangen Sie so zu beängstigenden oder enttäuschenden Erkenntnissen. Ich werde Ihnen in Kürze die Vier Aspekte der Balance (Four Points of Balance®) vorstellen, die Ihnen helfen werden, Ihre Tendenz, den Geist eines anderen Menschen zu spiegeln, bewusster zu steuern.
Den Geist eines anderen Menschen zu spiegeln bedeutet, dass Sie die Gedanken, Gefühle und Motive des Betreffenden aus seinen Reaktionen und Verhaltensweisen herauslesen können. Diese Fähigkeit erwächst aus dem Bewusstsein, dass (a) andere Menschen einen eigenständigen Geist mit eigenen Wahrnehmungen, Überzeugungen und Wünschen haben und (b) das Verhalten anderer Menschen sich erklären und voraussagen lässt, wenn wir uns durch Deduktion ein Bild davon machen, was in ihrem Geist vor sich geht. Wissenschaftler bezeichnen diesen alltäglichen Vorgang als »Mentalisieren«.4
An der Entwicklung dieser Fähigkeit arbeiten wir von unserer Kindheit an, indem wir zunächst die Menschen in unserer Ursprungsfamilie studieren. Wir verhalten uns auf bestimmte Weise, weil wir ihre Emotionen, Wünsche und Gedanken erkennen. Wir verstehen die für sie charakteristischen Verzerrungen und Stimmungen, ihre Persönlichkeit und ihre Vorgeschichte. Das Mentalisieren existiert in jeder Kultur, und es ist in jedem Lebensbereich und in jedem Augenblick des Lebens im Wachzustand wirksam.
Mentalisieren steht im Zentrum aller sozialen Interaktionen. Die Fähigkeit, den geistigen Zustand anderer zu manipulieren, um ihr Verhalten zu verändern, zeugt von sozialer Intelligenz. Erfolgreiche soziale Interaktionen, ob sie nun direkt oder manipulativ sind, werden möglich, wenn wir erkennen, wer unser Gegenüber ist und wie er oder sie »tickt«. Gewöhnlich findet auch bei unangenehmen und unbefriedigenden Interaktionen in starkem Maße Mentalisieren statt, nur dass in solchen Fällen die Gefahr unzutreffender Einschätzungen deutlich größer ist.
Mentalisieren ist für die Aufrechterhaltung Ihres gespiegelten Selbstempfindens wichtig. Wenn Sie nicht herauszufinden vermögen, was ein anderer Ihnen gegenüber empfindet, wissen Sie nicht, woran Sie in der betreffenden Situation sind. Dieses Nichtwissen verunsichert Sie, und deshalb versuchen Sie mit allen verfügbaren Mitteln herauszubekommen, was tatsächlich los ist. Das Mentalisieren ermöglicht Ihnen, sich so darzustellen, dass andere Sie so akzeptieren und bestätigen, wie es Ihnen genehm ist.
Sally und Robert war nicht klar, dass sie einander jeden Abend beim Zubettgehen mental spiegelten. Sally gab sich ganz unbefangen, beobachtete Robert aber intensiv auf Anzeichen dafür, ob er vorhatte, sexuell aktiv zu werden. Und Robert beobachtete Sally mit Argusaugen, um zu erkennen, ob sie »in Stimmung« war.
Im letzten Jahrzehnt wurde erforscht, wie unser Gehirn herausfindet, was im Geist anderer Menschen vor sich geht. So wurde ein riesiges neuronales Netzwerk entdeckt, das Zellen in verschiedenen Gehirnbereichen umfasst, die im Rahmen eines komplexen Systems zusammenarbeiten. Am Mentalisierungsprozess sind drei Bereiche des Gehirns beteiligt: (1) Zellen auf der Rückseite des Kopfes identifizieren motorische Verhaltensweisen anderer Menschen. (2) Zellen im mittleren Bereich des Gehirns lesen die Emotionen anderer Menschen und fügen ihnen eine eigene emotionale Reaktion hinzu, die mit der zuvor identifizierten des anderen zusammengefügt wird. (3) Zellen im Vorderhirn entwickeln aufgrund des Resultats dieser Analyse eine Reaktion. Dies ist eine stark vereinfachte Darstellung dessen, wie der Neokortex mit den Emotionszentren im Gehirn verhandelt und wie er sie zu organisieren versucht. Für unsere Zwecke reicht die Feststellung, dass der Teil des Gehirns, der darüber entscheidet, welche Bedeutung bestimmten Dingen zugewiesen wird, nicht unbedingt besonders rational ist.5
Mentalisieren basiert auf zuverlässigen und hocheffizienten Mechanismen im sogenannten »Reptilienhirn«, dem ältesten Gehirnteil. Er ermöglicht uns, unsere eigenen Handlungen von denjenigen anderer Menschen zu unterscheiden.6
Andere Teile Ihres Gehirns bauen auf diesem Resultat auf, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das richten, worauf andere Menschen fokussieren. Indem wir dem Blick anderer folgen und ihre Emotionen wahrnehmen, können wir herausfinden, welche Ziele sie haben – was die anderen wollen (bzw. wünschen). So können Sie das zukünftige Verhalten anderer erschließen und Ihre eigenen zielgerichteten Handlungen dementsprechend organisieren.7
Reptilien sind dazu nur in sehr geringem Maße in der Lage.8 Doch das »Säugetierhirn« reichert diese grundlegenden Informationen mit Emotionen und Bedeutungen an. Dieser nicht-rationale, emotional reagierende Teil des Gehirns beeinflusst entscheidend, wie wir auf das, was wir über andere Menschen in unserer Umgebung herausgefunden haben, reagieren. Der Präfrontalkortex fügt unserer mentalen Spiegelung des Geistes der anderen Person Details hinzu, verhandelt mit dem Säugetierhirn darüber, welche Handlungen ausgeführt werden sollen, und setzt diese Handlungen um.9
Wie ich bereits erwähnte, stellte Helen Fisher fest, dass Gehirnscans Reaktionen bestimmter Teile des Gehirns auf romantische Liebe und anderer Bereiche auf eine längere Liebesbeziehung belegen. Letztere spielen sowohl beim Mentalisieren als auch für das Erkennen der Vorgänge in unserem eigenen Geist (also für die Selbstwahrnehmung) eine wichtige Rolle.10
Zwei Zoologen gelangten unabhängig voneinander zum gleichen Schluss: Der Kampf gegen »feindselige Naturkräfte« (d.h., die natürliche Auslese im Sinne Darwins) war allein nicht Grund genug, die Mentalisierungsfähigkeit zu entwickeln. Die dazu erforderlichen Reize und Belohnungen waren verstärkte Kontakte zu anderen Menschen.11 Ihr höher entwickeltes Bewusstsein ist großenteils damit beschäftigt, die den Handlungen anderer Menschen zugrunde liegenden Gedanken und Gefühle zu identifizieren.12
Vor der Entwicklung dieser Theorie verstand man die Kommunikation ähnlich wie naive Ehetherapeuten: Man ging schlicht von der Annahme aus, Sinn und Zweck von Kommunikation sei es, Informationen zu übermitteln. Man glaubte, Sender und Empfänger einer Nachricht profitierten von klaren, zutreffenden und ehrlichen Botschaften. Irgendwann jedoch stellte sich heraus, dass viele Tiere die Kommunikation benutzen, um einander zu manipulieren, statt Informationen zu übermitteln. Alle großen Affenarten können sich Alternativsituationen vorstellen – wie ihre Täuschungsmanöver zeigen. Kalkulierte intelligente Täuschungen kommen bei Schimpansen gelegentlich und bei Pavianen kaum vor, sie sind aber unter Menschen sehr verbreitet. Mentalisieren erleichtert den Aufbau von Allianzen erheblich, und Allianzen sind bei der Kommunikation zwischen Menschen ein Schlüssel zum Erfolg. Andere zu täuschen und Täuschungen zu erkennen könnte auch einer der wichtigsten Gründe dafür gewesen sein, dass Menschen die Fähigkeit zu mentalisieren entwickelten.13 Täuschung spielt in der menschlichen Kommunikation eine so wichtige Rolle, dass unser Gehirn vorrangig darauf programmiert ist, sie zu entdecken.14
Die ersten Anfänge des Mentalisierens zeigen sich kurz nach der Geburt. Schon im ersten Lebensjahr lernen wir zu verfolgen, worauf die Aufmerksamkeit anderer gerichtet ist, und ihre Intentionen zu erkennen.15 Wir orientieren uns dann auf das hin, worauf andere Menschen fokussieren, und wir deuten auf Objekte, die sie zu interessieren scheinen. Wir suchen »Augenblicke der Begegnung«, in denen wir mit anderen »gemeinschaftliche Aufmerksamkeit« erleben.16 Im Alter von etwa 12 Monaten sind wir auch schon in der Lage, die Aufmerksamkeit unserer Eltern durch Fingerzeige auf Objekte oder Ereignisse, die uns interessieren, zu lenken, und wenn wir unsicher sind, schauen wir uns ihre Gesichter an und versuchen, deren Ausdruck zu deuten.
Mit 18 Monaten können wir erkennen, dass der Blick eines anderen Menschen auf ein Objekt gerichtet ist, das wir selbst nicht wahrnehmen.17 Wir verstehen dann, dass jemand, der ein Objekt anschaut, mit einem Finger darauf deutet oder seine Aufmerksamkeit auf ein Ereignis fokussiert, dadurch eine mentale Verbindung zu dem betreffenden Phänomen herstellt. Aufgrund persönlicher Erfahrung wissen Sie, dass zwischen zwei Menschen eine Verbindung entsteht, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf das gleiche Objekt oder Ereignis richten.18 Dieses gemeinschaftliche Fokussieren der Aufmerksamkeit ist charakteristisch für die ersten Erlebnisse von Intimität.
Im Alter von 18 bis 24 Monaten entwickeln wir die Fähigkeit, zwischen uns selbst und anderen zu unterscheiden; dies markiert den Übergang vom Säuglingsalter zur frühen Kindheit. In diesem Alter erkennen Kinder sich im Spiegel, und sie sind in der Lage, sich im Geist Phantasiespielen zu widmen. Sie fangen nun an, beim Spiel mit anderen Kindern zu kooperieren, und sie führen einfache altruistische Handlungen aus. Sie imitieren und vervollständigen Handlungen, die sie einen anderen haben ausführen sehen, der sein Vorhaben nicht hat zum Abschluss bringen können.19 Sie lächeln, wenn sie eine Aufgabe erfolgreich bewältigt haben, und sie geben ihren Wünschen deutlich hörbar Ausdruck.20 Vor allem jedoch ist ihnen nun klar, was eine Vorspiegelung oder Täuschung ist – eine Fähigkeit, die voraussetzt, dass sie die Absichten anderer Menschen erkennen.21
Im Alter von zwei Jahren sind Kinder mit ihren Emotionen und Wünschen beschäftigt, und sie sprechen ständig darüber, was sie sich wünschen, was sie wollen und was sie hoffen. Außerdem wissen sie, dass es Schmerz bereitet, etwas zu wollen, aber nicht zu bekommen. Mit drei Jahren haben sie gelernt, dass sie zutreffend voraussagen können, was jemand tun wird, indem sie herausfinden, was der Betreffende will.22
Mentales Spiegeln oder Mentalisieren hat also offensichtlich viel mit Verlangen zu tun.
Für Kinder ist es wesentlich leichter, die Wünsche anderer Menschen zu verstehen, als ihre eigenen zu erkennen. Wenn wir herauszufinden versuchen, was jemand will (oder nicht will), benutzen wir die primitivsten Teile unseres Gehirns. Die eigenen Motivationen zu erkennen und uns über das Wissen und die Überzeugungen anderer Menschen klarzuwerden lernen wir später, wenn unser Gehirn und unsere soziale Intelligenz gereift sind.23
Im Alter von fünf Jahren erreichen wir einen wichtigen Wendepunkt, wenn wir begreifen, dass der Geist eines anderen Menschen eine falsche Überzeugung produzieren kann.24 Als Kind lernen wir alternative mentale Welten und die Möglichkeit der Täuschung zunächst kennen, indem wir Ungenauigkeiten im Denken unserer Eltern und Selbsttäuschungen bei ihnen identifizieren. Tun wir beispielsweise zum ersten Mal etwas, das wir nicht tun »sollen« – etwa lügen –, und niemand merkt dies, wird uns klar, dass unsere Eltern nicht allwissend und nicht im Voll- und Alleinbesitz »der Wahrheit« sind. Wenn wir dann Eiscreme statt einer Strafe bekommen, wissen wir, dass die Urteile unserer Eltern auch unzutreffend sein können.
Danach beginnen wir mit Versuchen, andere Menschen bewusst zu täuschen. Lügen (absichtliches Verbreiten von Falschinformationen) ist ein Indiz dafür, dass ein Mensch zu mentalem Spiegeln in der Lage ist.25 Gute Lügner können wir nur sein, wenn wir zu erkennen vermögen, was im Geist anderer Menschen vor sich geht, denn nur dann merken wir, ob unsere Bemühungen erfolgreich waren. Wie das Schleifen eines Messers einen feineren Schnitt ermöglicht, verfeinert das Lügen die Fähigkeit zu spiegeln, was im Geist anderer Menschen vor sich geht.26 Die Mentalisierungsfähigkeit ist im Alter von elf Jahren noch ausgereifter, und in der Adoleszenz findet eine erneute Verfeinerung statt.27
Ich erwähne dies alles, weil Sie und Ihr Partner einander ständig mental spiegeln – auch wenn es gar nicht so aussieht, als ob Sie dies täten. Doch viele Menschen tun so, als ob dies nicht der Fall wäre. Einige der besten »Geistspiegler«, die ich jemals kennengelernt habe, erweckten den Eindruck, dass sie nichts taten und dass sie nicht die leiseste Ahnung davon hatten, was tatsächlich im Gange war.
Sind auch Sie ein »Geistspiegler«? Ich weiß, dass Sie es sind. Die Frage ist nur: Wie zutreffend ist das, was Sie spiegeln? Lassen Sie sich selbst wissen, was Sie sehen, oder machen Sie sich dagegen blind? Lassen Sie zu, dass Ihr Partner (und andere Menschen) Ihren Geist spiegeln?
Wenn Paare Probleme mit dem sexuellen Verlangen haben, erfüllt ihre mentale Einfühlung ihre Funktion nicht mehr. Zweifellos nutzen auch Sie das mentale Spiegeln, um herauszufinden, ob Ihr Partner Sie begehrt.
Die Zielrichtung des mentalen Spiegelns verändert sich im Laufe der Entwicklung einer Beziehung und im Einklang mit ihren Phasen: Am Anfang wollen Sie in der Regel, dass Ihr Partner weiß, ob Sie ihn wollen oder nicht – denn wahrscheinlich wollen Sie ihn. (Falls Sie ihn nicht begehren, kaschieren Sie dies, um die Beziehung fortsetzen zu können.) Wenn Sie später die lähmende Wirkung sexueller Langeweile kennenlernen, versuchen Sie wahrscheinlich zu verhindern, dass Ihr Partner über die aktuelle Stärke Ihres sexuellen Verlangens ihm gegenüber informiert ist.
Wenn Sie Ihren Partner nicht wollen, möchten Sie in der Regel auch nicht, dass er herausfindet, was in Ihnen vor sich geht. Das kann Ihre Beziehung entweder stabilisieren oder sie in einen letztlich nicht erstrebenswerten Zustand der Balance befördern. Lässt das Verlangen bei einem Partner (oder sogar bei beiden) nach, beginnen beide zudem, Informationen darüber zu sammeln, was im Geist des anderen vor sich geht – welche Gedanken, Gefühle und Motive der andere hat. Dieses undurchdringliche Gewirr liegt dem Phänomen des Sich-Auseinanderlebens zugrunde. (Im Sinne unserer momentanen Perspektive handelt es sich jedoch um eine Art emotionaler Verschmelzung. Das emotionale Gleichgewicht beider Beteiligten hängt davon ab, was nach ihrer Meinung im Geist des Partners vor sich geht.)
Die Zielrichtung des mentalen Spiegelns kann im übrigen jeweils in Relation dazu variieren, wer daran beteiligt ist. Beispielsweise könnten Sie die Gefühle Ihres Partners verletzen wollen oder sein gespiegeltes Selbstempfinden beeinflussen oder die Machtverhältnisse in Ihrer Beziehung verändern wollen. In den genannten Fällen ist Ihnen wahrscheinlich daran gelegen, es Ihrem Partner zu erleichtern, bei Ihnen zu »lesen«, dass Sie ihn nicht begehren.
Wenn wir lesen können, was im Geist unseres Partners vor sich geht, weshalb nutzen wir diese Fähigkeit dann nicht, um rücksichtsvoller miteinander umzugehen? Wie können Menschen mit einer hochentwickelten Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle eines anderen zu erfassen, diese Fähigkeit auf eine so selbstbezogene und unsensible Weise nutzen? Dies ist leichter zu verstehen, wenn Sie wissen, wie Ihr Gehirn zu einer auf mentales Spiegeln spezialisierten Maschine wurde.
Nach Auffassung einiger Experten setzt das mentale Spiegeln die Fähigkeit zur Entwicklung und Anwendung allgemeiner Prinzipien menschlichen Verhaltens und der menschlichen Natur voraus. Wir erschließen die innere Wirklichkeit anderer Menschen, indem wir das, was sie sagen, was sie tun und was sie nach ihrem Verhalten zu urteilen wollen, zusammenfassen und diese Informationen aufgrund von sozialem Wissen analysieren, über das wir bereits vorher verfügten. (Dies ist der »Theorie«-Aspekt des mentalen Spiegelns).28 Kinder können sich Situationen in erstaunlichem Maße mit einer stringenten deduktiven Logik nähern, die schnell erkennt, dass die Eltern der Dreh- und Angelpunkt aller Dinge sind.
Einige andere Wissenschaftler sind der Auffassung, dass wir den Geist anderer Menschen spiegeln, indem wir mental ihre Gedanken und Gefühle simulieren, wobei wir unseren eigenen mentalen Zustand als Modell für das benutzen, was im Inneren des anderen vor sich geht.29 (Dies ist der »Simulations«-Aspekt des mentalen Spiegelns.) Wir tun dies in Form von Rollenübernahme und dramatischer Personifikation, indem wir uns in unserer Vorstellung in die Position eines anderen versetzen und indem wir unsere eigenen Emotionen und physischen Empfindungen einschätzen. Wir können entweder annehmen, dass die andere Person so reagiert wie wir, oder wir gehen von anderen Charakteristika als den unseren aus und entwickeln mental ein anderes Handlungsmodell. So versuchen wir herauszufinden, was die andere Person als attraktiv oder unattraktiv empfindet, welche Ziele sie hat oder was sie zu vermeiden versucht.
Untersuchungen haben ergeben, dass es zur »Simulation« unmittelbar durch den Anblick des Gesichts und des Körpers eines anderen Menschen kommt. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass wir automatisch und unbewusst neuronal reagieren, wenn wir beobachten, wie jemand anders etwas tut. Wir spüren viszerale Reaktionen und »Bauchgefühle«, wenn wir sehen, dass das Gesicht eines anderen Menschen eine Emotion zum Ausdruck bringt.30 Wenn Sie jemanden nach einem Objekt greifen sehen, aktiviert dies genau die gleichen sogenannten Spiegelneuronen im prämotorischen Kortex, die auch aktiviert werden, sobald Sie selbst nach dem betreffenden Objekt greifen. Wenn Sie sehen, dass jemand einen Apfel isst oder mit einem Stock geschlagen wird, feuern Ihre Motoneuronen so, als würden Sie selbst die mit der Aktivität verbundenen Bewegungen ausführen oder als bekämen Sie selbst die Schläge ab. Deshalb erleben Sie auch die gleichen motorischen, viszeralen und psychischen Schmerzreaktionen wie eine Person, die Sie beobachten. Ihr Gehirn nutzt diesen Mechanismus, um Schlüsse darüber zu ziehen, was im Geist und Körper eines anderen Menschen vor sich geht.31
Sehr präzises mentales Spiegeln nutzt wahrscheinlich alle diese Ressourcen. Ist das Verhalten eines Menschen vorhersehbar, nutzen Sie die Möglichkeit der mentalen Simulation. Handelt der Betreffende dann nicht so, wie Sie erwartet haben, gehen Sie zum »Sammeln und Analysieren von Daten« über. Ihre viszeralen Reaktionen aufgrund der Beobachtung von Gesicht und Körper des anderen geben Ihnen Aufschluss über seinen mentalen Zustand.32
Ein großer Teil des mentalen Spiegelns hat nichts mit Einfühlung in andere Menschen oder mit der Identifikation mit ihnen zu tun.33 Deshalb erkennen Soziopathen und Trickbetrüger so erstaunlich gut, was im Geist anderer vor sich geht. Im Grunde sind sie Spurenleser: Sie leiten Ihre Überzeugungen, Wünsche und Absichten aus ihrer eigenen Sicht der menschlichen Natur und aus Beobachtungen Ihres Verhaltens ab. Sie versetzen sich in Ihre Situation, finden heraus, was Sie denken und fühlen, und nutzen dieses Wissen, um Sie durch Lügen zu manipulieren. Mentales Spiegeln ist die menschentypische Verfeinerung prähistorischer sozialer Intelligenz, die Tieren hilft, ihr Leben zu erhalten.34 Mentales Spiegeln ist nicht primär ein Resultat der Aktivität des Neokortex. Aus mental Gespiegeltem einen Sinn abzuleiten ermöglicht in erster Linie die Aktivität des limbischen Systems, des weniger rationalen, sehr stark emotional reagierenden, »nicht-denkenden« Gehirnteils. Die Rohdaten für diesen Prozess liefert ein noch primitiverer Bereich, das sogenannte Reptilienhirn, das, wie der Name vermuten lässt, schon auf der evolutionären Entwicklungsstufe der Reptilien vorhanden ist.
Ich bin überzeugt, dass der Neokortex die Regie über das mentale Spiegeln übernehmen kann. Gelingt ihm dies, gewinnt das mentale Spiegeln an Qualität. Ihre Wahrnehmungen und Urteile sind dann weniger stark durch emotionale Verzerrungen beeinträchtigt. Sie können mentales Spiegeln auch darauf ausrichten, dafür zu sorgen, dass Ihr Partner glücklich ist; allerdings erfordert das mehr, als die Richtigkeit der Resultate zu verbessern, und wenn es Ihrem Selbstempfinden an Stabilität mangelt, werden Sie davon wahrscheinlich absehen, weil es bedeuten könnte, dass Sie etwas, das Sie selbst wollen, aufgeben müssen. Leichter ist es, so zu tun, als ob Sie ahnungslos wären, während Sie in Wahrheit jede Bewegung Ihres Partners verfolgen.
Qualität und Güte Ihres mentalen Spiegelns gewinnen, wenn Sie bereit und in der Lage sind, unangenehme Gefühle zu ertragen, darunter auch diejenigen, die durch Selbstkonfrontation und durch Spiegeln des eigenen Geistes entstehen können. Wenn Sie nicht bereit sind, sich selbst anzuschauen oder sich anderen so zu zeigen, wie Sie wirklich sind, oder wenn für Sie das Wichtigste ist, dass alles immer nach Ihren Vorstellungen geschieht, spiegeln Sie Ihren Partner zwar ständig, doch Empathie spielt dabei keine Rolle.
Es ist schwer, Ihre besten Ressourcen zu nutzen, um Ihr mentales Spiegeln zu organisieren. Um sich von echter Empathie und Fürsorglichkeit leiten lassen zu können, braucht man ein ziemlich stabiles Selbstempfinden. Die meisten Menschen brauchen Hilfe, um eine stabilere Persönlichkeit zu entwickeln. Deshalb werde ich im nächsten Kapitel das Programm der Four Points of Balance™, der Vier Aspekte der Balance, vorstellen, mit dessen Hilfe Sie nicht nur Ihre Fähigkeit, mental zu spiegeln, sondern auch noch viele andere Dinge in Ihrem Leben verbessern können.
Die Fähigkeit zum mentalen Spiegeln, um die es in diesem Buch immer wieder gehen wird, prägt die menschliche Natur, Liebesbeziehungen und das sexuelle Verlangen. Wenn Sie und Ihr Partner sich von einem gespiegelten Selbstempfinden abhängig machen, spiegeln Sie einander ständig und manipulieren durch Ihre Interaktionen den Geist des anderen. Auf diese Weise versuchen Sie, das positive gespiegelte Selbstempfinden zu erlangen, das Sie sich wünschen. Wenn Sie sich auf einen anderen Menschen verlassen, um in den Genuss eines positiven gespiegelten Selbstempfindens zu kommen, versuchen Sie den Betreffenden in jedem Fall zu kontrollieren. Sie wollen ja die Droge nicht verlieren, die ihre »emotionale Versorgung« sicherstellt.
Menschen, die kein eigenständiges Selbstempfinden aufrechterhalten können, versuchen sich zu stabilisieren, indem sie die Menschen in ihrer Umgebung unter Druck setzen – ob sie dies nun wissentlich oder willentlich tun oder nicht. Wir haben am Anfang dieses Kapitels gesehen, wie Robert versuchte, Sally zu kontrollieren, wenn er nicht in der Lage war, sich selbst zu kontrollieren. Er plagte sie, indem er ihr sexuelle Unzulänglichkeit vorwarf. Er unternahm verstärkt Versuche, sie zum Sex zu animieren, um sein schwindendes gespiegeltes Selbstempfinden zu retten.
Das Gleiche gilt, wenn es Ihnen nicht gelingt, Ihre Ängste unter Kontrolle zu bringen. Wenn Sie Ihre »emotionale Temperatur« nicht in Ihrem Sinne beeinflussen können, versuchen Sie, die Menschen in Ihrer Umgebung so zu beeinflussen, dass Sie sich wohlfühlen können. Denken Sie an Väter und Mütter, die ihre Launen oder Ängste nicht unter Kontrolle haben. Alle anderen Familienmitglieder müssen sich in ihrer Gegenwart so verhalten, dass sie »bei Laune« bleiben.
Durch Ihre Unfähigkeit, bei sich selbst zu bleiben und die eigenen Gefühle zu regulieren, stören Sie das emotionale Gleichgewicht Ihres Partners. Je stärker Ihr gespiegeltes Selbstempfinden Sie antreibt und je stärker Sie sich davon abhängig machen, was andere über Sie denken, umso stärker fühlt Ihr Partner sich unterdrückt und kontrolliert. Je intensiver Sie versuchen, Ihren Zustand mit Hilfe Ihrer Partnerin zu regulieren, umso stärker wird bei ihr der Impuls, sich Ihrer Tyrannei zu widersetzen, denn das entspricht der menschlichen Natur.
Deshalb habe ich aufgehört, für Kompromisse, Verhandlungen und Mäßigung zu plädieren und helfe Menschen stattdessen, bei sich selbst zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass Menschen über mehr als genug Macht und Kontrolle verfügen, sofern sie sich Macht zugestehen und lernen, sich selbst zu kontrollieren. Wird dies Klienten zum ersten Mal klar, so wie es jetzt bei Ihnen der Fall ist, hören sie auf, sich anzukeifen und schenken dem tatsächlichen Geschehen mehr Aufmerksamkeit.
Mentales Spiegeln kann zu einer tiefen psychischen Begegnung führen, die »intersubjektiver Zustand« genannt wird. Dieser tritt ein, wenn Sie das mentale Spiegeln nicht mehr benutzen, um herauszufinden, ob Sie »eine gute Figur machen«, und stattdessen zulassen, dass andere Sie so sehen, wie Sie wirklich sind. Wenn Sie zulassen, dass andere Ihren Geist so spiegeln, wie er ist, erkennt Ihr Partner dies. Dadurch entsteht der intersubjektive Zustand – etwas wie: »Ich sehe dich und du siehst mich, und wir wissen beide, dass wir einander sehen, weil wir dies beide zulassen.«
Daniel Stern bezeichnet in seinem Buch Der Gegenwartsmoment (Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag) intersubjektive Zustände als sozial basierte gemeinsam geschaffene Erlebnisse, die sich im phänomenologischen Bewusstsein von Partnern stark überschneiden. Beide Beteiligte erleben etwas Ähnliches. Beide sind sich des Erlebens des anderen und dessen, dass der andere Partner ein entsprechendes Erlebnis hat, sehr intensiv bewusst.35 Stern erklärt, wir seien ab dem Alter von neun bis zwölf Monaten zum Erleben intersubjektiver Zustände in der Lage.
Intersubjektive Erlebnisse mit einem Partner sind besondere Augenblicke, die unserem Geist »eingeprägt« werden und an die wir später oft zurückdenken. Es handelt sich um Situationen, die Sie mit Ihrem Partner gemeinsam durchlebt haben, um Erlebnisse, die auf Sie als Individuum wirken und die Sie für kurze Zeit als Teil einer »Einheit« definieren. Gemeinsam geschaffene Erlebnisse. Augenblicke der Begegnung. Experten sind der Auffassung, dass intersubjektive Zustände bei der Entstehung von Gehirnschaltkreisen und bei deren lebenslanger ständiger Umgestaltung eine zentrale Rolle spielen.
Aus folgendem Grund sind Augenblicke der Begegnung von besonderer Bedeutung: Nicht immer erzeugt mentales Spiegeln (das manchmal auch »Spurenlesen« genannt wird) ein tiefes intersubjektives Erlebnis. Spurenleser vertuschen oft, dass sie die Menschen in ihrer Umgebung beobachten, um die Möglichkeit der Entstehung eines intersubjektiven Erlebnisses zu minimieren. Der vielleicht tiefste und schönste Aspekt von Sex, Intimität und Erotik, wenn nicht sogar deren Essenz, ist, dass zwei Menschen einander offen mental spiegeln.
Augenblicke der Begegnung können Sie aber auch jeden Tag erleben, sogar mit Menschen, die Sie kaum kennen. Doch zwischen Liebenden beim Sex haben diese Augenblicke im menschlichen Leben einen besonderen Platz und eine besondere Bedeutung. Das Gleiche gilt für Augenblicke der Begegnung zwischen Eltern und ihren Kindern. Immer sind an solchen Begegnungen zwei Personen beteiligt, wobei die eine Person den Geist der anderen spiegelt und gleichzeitig zulässt, dass die andere ihren Geist spiegelt.
In der folgenden Woche berichteten Robert und Sally, sie hätten ihr Muster erneut durchgespielt. Robert hatte versucht, Sally zum Sex zu animieren, und Sally hatte darauf willig, aber ohne Enthusiasmus reagiert. Deshalb hatte Robert einen Wutanfall bekommen, und Sally hatte sich zurückgezogen. Sie hatten zwar Sex gehabt, aber Robert war am nächsten Tag immer noch in einem depressiven Zustand gewesen. Kurz darauf war Robert wieder auf Jason wütend geworden. Er war völlig außer sich geraten und hatte Jason mehrmals als »wertlos« bezeichnet.
Sally hatte sich einige Tage lang Vorwürfe gemacht, weil sie sich nicht gewehrt hatte. Aus Furcht davor, auch den letzten Rest Selbstachtung zu verlieren, hatte sie Robert aufgefordert, mit ihr ins Schlafzimmer zu gehen. Dort hatte sie Klartext geredet: Sie würde keine herabsetzenden Äußerungen Roberts mehr dulden, weder ihr noch Jason gegenüber. »Wenn wir uns selbst und einander ein wenig respektvoller behandeln, entwickelt Jason vielleicht auch Respekt uns gegenüber.«
»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?!«, brauste Robert auf.
»Wagen? Was passiert denn, wenn ich es nicht wage?«, entgegnete Sally bestimmt. »Jason kann uns nicht ertragen, und das kann ich verstehen. Ich kann mich ja selbst nicht ertragen. Und dich ertrage ich auch nicht. Du bist ständig wütend, und ich entschuldige mich ständig bei dir. Ich willige ein, mit dir zu vögeln, damit du dich beruhigst. Du zwingst Jason, dir zu gehorchen, weil du fürchtest, dass er dich sonst nicht respektiert. Sicher, das tut er nicht, und ich tue es auch nicht! Ich habe nicht einmal vor mir selbst Respekt! Diese ganze Situation ist so unschön und unattraktiv, warum sollte ich da Sex wollen? Wir alle drei gehen dabei drauf. Und solange sich das nicht ändert, brauchst du nicht darauf zu hoffen, dass ich mit dir noch jemals Sex haben will.«
Dies war ein machtvoller »Augenblick der Begegnung«. Weil Robert Sallys Geist spiegelte, wusste er, dass sie das, was sie gesagt hatte, ernst meinte. Das war kein Spaß gewesen. Sie hatte nicht schuldbewusst zu Boden geblickt, sondern ihn unerschrocken angeschaut. Sie hatte zwar verstört, aber auch zu allem entschlossen gewirkt. Besonders beunruhigte ihn, dass ihre Stimme nicht schrill klang und nicht zitterte. Robert sagte, er wolle über die Sache nachdenken und später mit ihr darüber reden.
Einige Tage lang war Robert danach ziemlich wortkarg; doch sein Rückzug war diesmal anders als sonst. Er bedrängte Sally nicht emotional, sondern war offenbar mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und überlegte, was er tun könnte. Sally ließ ihn schmoren.
Nach vier Tagen begann Robert ein Gespräch mit Sally. Er sagte, er habe über ihren Vorwurf nachgedacht, er achte weder sich selbst noch sie. Seine Stimme klang traurig und nach innen gewandt. »Ich habe dich gebraucht, um mich wie ein Mann zu fühlen, genauso wie ich es gebraucht habe, dass Jason mich als Mann respektiert. Ich glaube, ich bin bedürftiger, als ich bisher dachte. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass das so klar auf der Hand lag.« Robert schaute zu Boden. Ihn beschäftigte noch mehr als das, was er gesagt hatte, aber nachdem er zu reden aufgehört hatte, konnte er sich nicht mehr dazu durchringen, erneut anzufangen. Er schaute Sally an, lächelte schwach und sagte leise gute Nacht.
Am nächsten Morgen beim Frühstück geschah etwas Ungewöhnliches zwischen Robert und Jason. Jason verschüttete Milch auf dem Tisch. Weil er erwartete, deswegen ausgeschimpft zu werden, bereitete er sich innerlich auf eine Auseinandersetzung mit Robert vor. Doch statt sich auf seine eigenen Gefühle zu fixieren, versuchte Robert, sich in Jason hineinzuversetzen. So wurde ihm klar, dass sein Sohn nicht respektlos war, sondern sich vor seinem Vater nur wie ein Idiot fühlte.
Plötzlich sah Robert die Situation völlig neu. Er entschärfte die in der Luft liegende Spannung, indem er eine Scheibe Toastbrot nahm, die Milch damit vom Tisch aufsaugte und das Brot dann aß. Jason blickte ihn ungläubig an. Einen Augenblick lang hatte er vermutet, sein Vater wolle sich über ihn lustig machen. Jason starrte Robert an und versuchte herauszufinden, was in ihm vorging.
Einen Augenblick später sagte Robert: »Der Toast schmeckt nicht ohne Milch. Er ist dann zu trocken.« Dann lächelte er Jason an.
In den folgenden Tagen verhielt sich Robert erträglicher als sonst in Phasen, in denen er und Sally keinen Sex hatten. Weder er noch sie machte den geringsten Versuch, eine solche Situation herbeizuführen. Robert hätte einige Male auf Jason wütend werden können, sparte sich dies aber. Er zwang Jason auch nicht, sich seiner Autorität zu beugen, und sein Sohn war nicht so aufsässig wie sonst.
Natürlich war Sally über diese Entwicklung ziemlich erstaunt. Sie rechnete es Robert hoch an, dass er sich ehrlich mit sich selbst auseinandergesetzt hatte. Doch das allein brachte noch nicht die Lösung aller ihrer Probleme. Robert wirkte nun nicht mehr so schwach und klein, wie es bisher so lange der Fall gewesen war. Sallys Interesse an Sex und speziell an Sex mit Robert wurde stärker.
Und da Robert ständig beobachtete, wie Sally ihn wahrnahm, merkte er dies natürlich auch. Er fühlte sich nun wohler in seiner Haut, weil Sally ihn zu mögen schien. Doch noch wichtiger war für ihn, dass er das Gefühl hatte, mit Jason sehr gut umzugehen. Jedes Mal, wenn er an den Toast mit Milch dachte, musste er grinsen. Dieses Erlebnis half ihm, auf Jason nicht mehr übertrieben stark zu reagieren und seine Reaktionen generell zu mäßigen. Auch machte er sich weniger Gedanken darüber, ob Jason ihn respektierte oder nicht.
Einige Wochen nach ihrem wichtigen Augenblick der Begegnung hatten Robert und Sally wieder Sex. Das Wichtigste daran war, wie sie in diese Situation kamen. Diese fühlte sich anders an als sonst, weil sie eine völlig neue Bedeutung hatte: Sallys Motiv war nun nicht mehr, Robert zu beschwichtigen, und Robert hatte den Sex nicht gefordert. Sie schufen gemeinsam eine weitere neue Bedeutung, indem sie nicht mehr versuchten, einander zum Orgasmus zu bringen, um ihr gespiegeltes Selbstempfinden zu besänftigen. Dies ermöglichte ihnen, ihren positiven Augenblick der Begegnung beim Sex zu erleben: Sally und Robert öffneten die Augen und schauten einander einige Minuten lang an. Beide sagten während dieser Zeit kein Wort. Sie waren offen zueinander, wie sie es bisher noch nie gewesen waren.
Die Episode löste zwar nicht alle ihre Probleme, aber es war ein wunderbarer Anfang. Sie hatten einen kurzen Blick auf eine völlig andere Art zu leben werfen können. Eine Ehe gedeiht, wenn Menschen einfach Menschen sind. Eine Liebesbeziehung ist eine Möglichkeit, als Person zu wachsen.
Zerstört die Ehe das sexuelle Verlangen? Diese Frage beschäftigt Liebende seit Urzeiten. Seit mindestens 2000 Jahren, also seit der Zeit, in der Ovid seine Liebeskunst schrieb36 (»Streit ist die Mitgift, die Eheleute einander mitbringen«), existiert die Befürchtung, dass längerfristige emotionale Beziehungen den Sex sterben lassen. Oscar Wilde scherzte: »Bigamie bedeutet, dass man eine Frau zu viel hat. Mit Monogamie verhält es sich genauso.«37
Ich habe in diesem ersten Teil meines Buches viele Beweise dafür angeführt, dass das, was die soeben zitierten Autoren fürchteten, die Wahrheit ist. Die Ehe tötet tatsächlich das Verlangen! Allerdings beinhaltet diese Antwort etwas anderes, als Ovid, Wilde – und auch die Leser dieses Buches – gedacht haben mögen. Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, sind ein fester Bestandteil der mittleren Phase jeder Ehe. Sie sind typisch für einen bestimmten Entwicklungsabschnitt von Liebesbeziehungen. Es handelt sich dabei um normale Erscheinungen im Lebenszyklus einer Beziehung.
Was Sie durchleben, empfinden Sie als schmerzhaft, herzzerreißend, beängstigend und demoralisierend. Auch ich habe es erlebt und kann aus persönlicher Erfahrung sprechen. Zu wissen, dass Sie einen in einer Langzeitbeziehung typischen Prozess durchleben, kann die Hoffnung stärken und hilft, das Beste aus der Situation zu machen. Wenn Sie verstehen, was geschieht, werden Sie widerstandsfähiger und brauchen sich nicht mehr so defensiv zu verhalten, und außerdem hilft Ihnen Ihr Wissen, die Krisensituation schneller zu überwinden. Wie Sie mit Problemen des sexuellen Verlangens umgehen, hat entscheidenden Einfluss auf die Überwindung der Schwierigkeiten – auch darauf, ob Ihre Beziehung diese unbeschadet übersteht.
Als Sie anfingen, dieses Buch zu lesen, hofften Sie vielleicht, ein paar Tipps zu bekommen, wie Sie Ihren Partner oder sich selbst für den Sex »in Stimmung« bringen könnten. Vermutlich hatten Sie noch nie darüber nachgedacht, dass das sexuelle Verlangen einem Rhythmus von Ebbe und Flut unterliegt und dass sich daraus Konflikte ergeben können. Dies alles gehört zum natürlichen Wachstumsprozess von Liebesbeziehungen. Wahrscheinlich haben Sie nicht erwartet, etwas über das sexuelle Verlangen, das menschliche Selbst und die Entwicklung der mentalen Einfühlung über Jahrmillionen zu erfahren.
Wo passt die Liebe in dieses Bild? Nicht die romantische Liebe, die von Ihrem Reptilienhirn und Ihrem dopamingetränkten Säugetierhirn stimuliert wird, sondern die reife Erwachsenenliebe, die durch Ihren Präfrontalkortex und Ihr stabiles Selbstempfinden gesteuert wird. Liebe und Verlangen, die Ihre spezifisch menschlichen Fähigkeiten beinhalten: Erotik, Intimität, Mitgefühl und Bereitschaft zu verbindlichem Engagement. Um diese Art reifer Liebe und reifen Verlangens geht es uns hier.
Seit unsere Vorfahren das menschliche Selbst »ausgebrütet« haben, haben wir alle die Fähigkeit entwickelt, köstliches sexuelles Verlangen und reife Liebe zu erleben. Unser sexuelles Verlangen zu meistern bedeutet nicht, dass wir unsere tierische Natur bezwingen müssen, sondern dass wir jenes differenzierte Selbstempfinden entwickeln, das wir brauchen, um unser sexuelles Potential erforschen zu können. Und dazu müssen wir in jedem Fall Elastizität entwickeln. Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, spannen Ihr gespiegeltes Selbstempfinden so straff wie ein Trommelfell. Garantiert!
Ein stabileres Selbstempfinden bereichert Ihre Fähigkeit, Verlangen zu erleben. Vielleicht kommt es Ihnen merkwürdig vor, sich das sexuelle Verlangen als eine Fähigkeit vorzustellen, die Sie entwickeln können. Aber stellen Sie sich diese Fähigkeit im Sinne Ihrer Fähigkeit zu lieben vor. Sie hätten wohl kaum etwas gegen die Aussage einzuwenden, dass Ihre Selbstentwicklung erheblichen Einfluss auf Ihre Fähigkeit zu lieben hat. Bis Ihr Selbst ein gewisses Maß an Stabilität bei gleichzeitiger Flexibilität entwickelt hat, ist Ihre Fähigkeit, einen Menschen zu lieben – und dies gilt auch für Sie selbst –, stark eingeschränkt, und genauso verhält es sich mit Ihrer Fähigkeit, starkes Verlangen auszuhalten. Eine reife Liebe zwischen Erwachsenen mit allen ihren Härten erfordert ein authentisches und widerstandsfähiges Selbstempfinden, wenn die Liebe dauerhaft sein soll. Liebe, Verlangen und Eigenart sind dem Menschen angeboren, und wir alle müssen sie weiterentwickeln.
In Teil II werde ich erläutern, wie Sie Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens nutzen können, um ein stabileres und gleichzeitig flexibleres Selbstempfinden zu entwickeln. Ich werde Sie mit den Vier Aspekten der Balance (Four Points of Balance™) bekannt machen sowie mit dem Prozess der Differenzierung. Beide sind zentrale Bestandteile meines Ansatzes. Diese Prozesse stärken Ihre Würde und Selbstachtung, und das ist das beste Aphrodisiakum überhaupt.