Sind Sie bereit, sich stärker auf Ihr sexuelles Verlangen einzulassen? In Teil I haben wir uns mit dem Wesen des sexuellen Verlangens von Menschen beschäftigt sowie damit, wie das Selbstempfinden das Verlangen an- und abschwellen lässt. Wir haben gesehen, dass die verbreitete Tendenz, sich bezüglich eines positiven gespiegelten Selbstempfindens auf den Partner zu verlassen, regelmäßig zu Verlangensproblemen führt. Das hat nichts mit einer »Wachstumshemmung« oder »Entwicklungsverzögerung« zu tun. Stellen Sie sich vor, es handle sich um bisher noch nicht erschlossenes Potential. Das gespiegelte Selbstempfinden ist eine frühe Vorform der komplexesten Spielarten des Selbst auf unserem Planeten!
Das menschliche Selbst ist ein erstaunliches Wunder. Wir können ein endogenes stabiles Selbst entwickeln, das nicht von der Wertschätzung anderer abhängig ist, ein Selbst, das angesichts der Herausforderungen, mit denen wir durch das Leben und durch andere Menschen konfrontiert werden, widerstandsfähig bleibt. Ein stabiles Selbst ist kein statisches, starres Selbstbild, sondern gleichzeitig stabil und flexibel. (Schon das allein ist erstaunlich.) Sie können es erweitern und so neue Facetten entdecken, und Sie können alte Aspekte, die nicht mehr zu Ihnen passen, entfernen. Sie können ein stabiles Selbstempfinden auch verändern, wenn Sie dies wollen, und trotzdem Ihre vertraute Form behalten, wenn andere Sie zu jemandem zu machen versuchen, der Sie nach der Vorstellung der Betreffenden sein sollten. Flexibilität und Resilienz sind zwei grundlegende und wichtige Eigenschaften eines stabilen Selbstempfindens.
Außerdem ist ein stabiles und flexibles Selbstempfinden auch ein »klares« Selbstempfinden, was bedeutet, dass es klar definiert ist. Es entsteht durch die Entwicklung einer adäquaten Identität, eines intrinsischen Selbstwertgefühls und dauerhafter Wert- und Zielvorstellungen (die nicht auf den Beurteilungen anderer Menschen basieren).
Ein stabiles und flexibles Selbst ist zweifellos die wichtigste evolutionäre Errungenschaft der Menschheit, da es Freiheit, Autonomie, Entscheidungen und damit Selbstbestimmung möglich macht. Ein stabiles und gleichzeitig flexibles Selbst zu entwickeln gibt Liebesbeziehungen eine tiefere Bedeutung und ermöglicht eine langfristig leidenschaftliche Ehe.
Das Verhältnis zwischen gespiegeltem Selbstempfinden und stabilem und flexiblem Selbstempfinden ist ausschlaggebend für die Entstehung von Verlangen. Es entscheidet darüber, wann, wo und warum Sie Verlangen empfinden und ob Sie es vermissen, wenn es sich nicht einstellt. Doch das ist nur die oberste Schicht.
Das eigentlich Erstaunliche ist, dass ein stabiles und flexibles Selbstempfinden nur eine von vier machtvollen menschlichen Fähigkeiten ist, die Ihr sexuelles Verlangen, Ihre Ehe und Ihr Leben formen. Außerdem können Sie noch drei andere Eigenschaften entwickeln, um Ihr Selbst zu stärken. Insofern geht es beim Bemühen um die Entfaltung des Selbst um mehr als darum, sich darüber im Klaren zu sein, wer Sie sind (oder dies zu verändern) und den eigenen Werten und Zielen treu zu bleiben. Sie mögen ein netter Mensch mit sehr positiven Wertvorstellungen und den besten Absichten sein, doch wenn Ihre Ängste Sie dazu treiben, Dinge zu vermeiden oder impulsiv zu handeln, schaden Sie Ihrer Integrität, Ihren Idealen und Ihren Zielen und damit letztendlich Ihrem Selbstwertgefühl. Dies wirkt sich häufig sehr nachhaltig auf Ihr sexuelles Verlangen aus.
Carol und Randall waren ein Paar mittleren Alters. Probleme mit dem sexuellen Verlangen und andere eheliche Schwierigkeiten hatten sie zu mir geführt. Sie waren verzweifelt auf der Suche nach einer Lösung. Schon wenige Minuten nach Beginn unserer ersten Sitzung verstrickten sie sich in ihre typische Interaktion.
Carol fand, dass Randall sexuell wenig aktiv sei. »Wir sind eher wie Bruder und Schwester als wie Mann und Frau. Er vergisst, dass ich eine Frau bin. Es ist doch wohl nicht meine Aufgabe, ihn daran zu erinnern, dass er sich wie ein richtiger Mann verhalten sollte.«
Randall entgegnete: »Ich weiß schon, wer ich bin. Ich brauche das nicht erst von dir zu hören.« Daraufhin rollte Carol verächtlich die Augen – was Randall veranlasste, angewidert die Hände hochzuwerfen. »Ich werde mir diesen Unsinn nicht länger anhören, Carol! Für mich ist das hier erledigt. Ich habe die Nase gestrichen voll. Ich hab’s wirklich satt!«
Carol ließ keine Sekunde ungenutzt verstreichen. »Du bist hier nicht derjenige, der Grund hat, die Nase voll zu haben. Das steht mir zu! Ich kann dich einfach nicht mehr ertragen. Wir sollten uns schleunigst scheiden lassen!«
Danach schwiegen beide. Da sie nun wiederholt bekräftigt hatten, sie wollten nichts mehr miteinander zu tun haben, gab es eigentlich auch nichts mehr zu sagen. Allerdings machten beide nicht die geringsten Anstalten aufzubrechen, und das war ihnen völlig klar. So saßen wir einige Minuten lang schweigend da. Ihr Geheimnis war gelüftet: Bei ihnen zu Hause kam es immer wieder zu hässlichen Ausbrüchen dieser Art.
»Ich kann verstehen, dass Sie beide die Nase voll haben. Aber nachdem wir das nun festgestellt haben, möchte ich Sie etwas anderes fragen: Wie lange haben Sie eigentlich schon die Nase voll voneinander?«
Einen Moment lang wussten Randall und Carol nicht, was sie sagen sollten. Dann konnten beide sich nicht mehr halten vor Lachen. Während sie sich noch schüttelten, machte ich mir ein Bild von ihnen: Sie waren klug. Ihr Geist war schnell. Sie konnten auf der Stelle in einen anderen Bezugsrahmen wechseln. Das Androhen der Scheidung machte ihnen offenbar nicht sonderlich viel aus. Sie hatten das schon etliche Male durchgespielt und kannten es gut. Sie gerieten schnell und heftig aneinander, aber sie konnten sich von solchen Situationen auch schnell wieder erholen, wenn man ihnen dabei half.
Carol sagte: »Schon seit sechs Monaten – viel zu lange.«
Randall reagierte sofort: »Stimmt nicht, es sind nur vier Monate. Behaupte nicht ständig, es seien sechs Monate. Ich weiß genau, dass das nicht stimmt. Ich kann schon richtig zählen!«
Ich wendete mich Randall zu, wartete einen Moment und stellte dann bedächtig meine Frage. Ich wollte ihm ermöglichen, sich in meine Gedanken einzufühlen, und er sollte merken, dass die Frage nicht rein rhetorisch gemeint war. Ich war wirklich an seiner Antwort interessiert.
»Wenn Sie wissen, wer Sie sind … und wenn Sie wissen, dass Sie richtig zählen können … warum nehmen Sie es dann Carol übel und werden aufgebracht, wenn Sie meinen, dass sie anderer Auffassung ist als Sie, und warum reagieren Sie darauf so heftig?«
Randalls unmittelbarer Impuls war, in eine Defensivhaltung zu verfallen und sich zum Kampf bereitzumachen. Zum Glück erfasste er richtig, was ich meinte, und merkte, dass ich ihn nicht angriff. Er beruhigte sich und nahm sich einen Augenblick Zeit, um über meine Frage nachzudenken.
»Ich glaube, ich brauche mich nicht angegriffen zu fühlen«, sagte er. »Ich weiß, wer ich bin. Zumindest so einigermaßen.« Die Anspannung im Raum ließ nach, und er wirkte erleichtert und weniger aufgewühlt. Der Grund dafür war nicht, dass das, was er sagte, der Wahrheit entsprach, sondern dass ich ihm geholfen hatte, sein gespiegeltes Selbstempfinden zu unterstützen und sich einen Augenblick lang von seiner emotionalen Verschmelzung mit Carol zu distanzieren.
Ich möchte Ihnen nun von vier bemerkenswerten menschlichen Fähigkeiten berichten, die sich über Millionen von Jahren entwickelt haben. Ebenso wie Ihr stabiles und flexibles Selbst, eine dieser vier Fähigkeiten, stammen auch die anderen drei aus den ersten Anfängen der Menschheitsgeschichte. Trotzdem manifestieren sie sich nur, wenn Sie sich in Ihrem persönlichen Leben entwickeln und wenn Sie reifen. Die drei übrigen Aspekte sind für das Leben reifer Erwachsener ebenso zentral wie das stabile und flexible Selbst – und sie stehen in einer ebenso starken Beziehung zu Ihrem sexuellen Verlangen wie dieses. Allerdings beeinflussen diese Fähigkeiten nicht nur Ihr sexuelles Verlangen, sondern sie entscheiden darüber, wie das Verlangen in Ihrem ganzen Leben zum Ausdruck gelangt. Wie das stabile (oder gespiegelte) Selbstempfinden wirken sie sich auch auf Ihre Interaktion mit Ihren Kindern, Eltern, Freunden und Arbeitskollegen aus. Die Vier Aspekte sind also mit Sicherheit ziemlich wirksam.
Wie die meisten Menschen hatten auch Randall und Carol in vier für die Erhaltung des emotionalen Gleichgewichts zentralen Bereichen Schwierigkeiten. Ich nenne diese Bereiche die Four Points of Balance™ – die Vier Aspekte der Balance. Es sind:
Der erste Aspekt, die Existenz eines stabilen und flexiblen Selbst – im Gegensatz zu einem gespiegelten Selbstempfinden – ermöglicht Ihnen, Ihre psychische Gestalt auch in unmittelbarer Nähe wichtiger Partner aufrechtzuerhalten, wenn diese Sie dazu drängen, sich ihren Wünschen und Vorstellungen anzupassen. Sie brauchen keinen (körperlichen oder emotionalen) Abstand zu halten, um klar zu wissen, wer Sie sind. Je stabiler Ihr Selbstempfinden ist, umso besser können Sie zulassen, dass Ihr Partner in Ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt, und umso deutlicher können Sie sich selbst so zeigen, wie Sie sind. Sie können bei anderen Rat suchen und sich von ihnen beeinflussen lassen. Und Sie können eine Entscheidung später abändern, wenn Ihnen dies als angebracht erscheint. Sie können sich flexibel verhalten, ohne Ihre Identität zu verlieren.
Der zweite Aspekt – stiller Geist und ruhiges Herz – ermöglicht Ihnen, Ihre Emotionen, Empfindungen und Ängste zu regulieren. Wenn Sie nicht in der Lage sind, sich selbst zu beruhigen und zu trösten, besteht die Gefahr, dass Ihre Wünsche und die Frustrationen, mit denen das Leben Sie konfrontiert, Sie zerreißen. Selbstberuhigung ist die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft zu beruhigen, die eigenen emotionalen Verletzungen zu lindern sowie Furcht und Angst unter Kontrolle zu halten. Ein stiller Geist und ein ruhiges Herz spielen für die reife Liebe zwischen wahrhaft Erwachsenen eine wichtige Rolle. Sie sind für unsere Position als anpassungs- und widerstandsfähigste Wesen auf dem ganzen Planeten von zentraler Bedeutung.
Der dritte Aspekt beinhaltet, dass wir in der Lage sind, auf die Menschen und Ereignisse in unserer Umgebung maßvoll zu reagieren. Dies ist wichtig für die mentale Einfühlung: Bei dem Bemühen, sich in den Geist von Menschen einzufühlen, die Sie lieben, müssen Sie das Wahrgenommene abpuffern. Meist ist die Fähigkeit zu mentaler Einfühlung der Fähigkeit, ruhig und gelassen zu bleiben, weit überlegen. Bemühungen, sich in den Geist Ihres Partners einzufühlen, können Sie in Aufregung versetzen und Sie zu übersteigerten Reaktionen treiben.
Der vierte Aspekt ermöglicht Ihnen, Unbehagen um Ihrer persönlichen Entwicklung willen zu ertragen. Alle Tiere suchen Lust und vermeiden Schmerz. Doch die enorme Anpassungsfähigkeit, über die wir Menschen verfügen, beruht darauf, dass wir auf die unmittelbare Befriedigung unserer Bedürfnisse verzichten und Härten ertragen können. Dadurch können wir auf die Realisation langfristiger Ziele und Werte hinarbeiten, die uns am Herzen liegen. Wenn wir in der Lage sind, die Schmerzen und den Kummer zu ertragen, die Beziehungen mit sich bringen, können wir in einer Ehe oder Familie leben, Eltern sein und für andere Menschen sorgen. Das ist alles andere als leicht. Es lässt sich aber leichter ertragen, wenn Ihre Schmerzen und Ihr Kummer Ihnen als sinnvoll erscheinen, wenn Sie das Gefühl haben, dass sie einem Zweck dienen, der Ihnen wichtig ist, oder wenn Sie die Gewissheit haben, dass am Ende etwas Gutes dabei herauskommen wird. Sinnloses, hartnäckig-dumpfes oder unsinniges Leiden ist viel schwerer zu ertragen und führt praktisch zu nichts.
Alle Vier Aspekte der Balance spielen für die Erhaltung Ihres Selbst sowie für dessen Pflege und Weiterentwicklung eine wichtige Rolle. Die beschriebenen vier Fähigkeiten sind die Grundlagen für die Stärkung Ihres Selbstempfindens. Sie helfen Ihnen, das emotionale Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, wenn es in Ihrem Leben einmal rauh zugeht.
Bleiben Sie fest in Ihrer Wahrnehmung dessen, wer Sie sind, wenn jemand Ihr Selbstempfinden zu beeinflussen versucht? Oder erleiden Sie dann einen Zusammenbruch? Können Sie sich beruhigen, wenn Sie aufgebracht sind oder sich verletzt fühlen? Oder brauchen Sie dann einen anderen Menschen, der Sie tröstet? Reagieren Sie auf Probleme, die in Ihrer Beziehung auftreten, übermäßig stark, und laufen Sie dann von Ihrem Partner weg (oder hängen sich an ihn)? Gelingt es Ihnen, die schwierigen Dinge zu tun, die Sie tun müssen, um Ihre Ziele zu erreichen, oder geben Sie auf, springen ab oder hängen durch? Diese Vier Aspekte der Balance entscheiden über Stärke oder Schwäche Ihres Selbstempfindens.
Carol und Randall hatten ungefähr alle drei Wochen Sex und stritten mehrmals wöchentlich darüber, wessen Schuld es war, dass es nicht häufiger dazu kam. Beide waren emotional sehr reizbar, und die zwischenzeitlichen »Waffenstillstände« hielten nie lange an. Beide wurden nicht damit fertig, im Unrecht oder unvollkommen zu sein. Gewöhnlich hatte einer von ihnen nach solchen Streitigkeiten einen emotionalen Zusammenbruch – und manchmal auch beide. Sie fühlten sich schnell angegriffen und beruhigten sich nach solchen Irritationen nur schwer. Beide waren oft deprimiert. Sie beschimpften einander zwar, konnten aber selbst nur schlecht »einstecken«.
Carol und Randall stritten darüber, wer für das permanente »Gemetzel« in ihrer Ehe verantwortlich war. Beide fühlten sich unwohl in ihrer Situation, und deshalb beschuldigten sie sich gegenseitig. Sie nahmen die Vorwürfe, die sie einander machten, persönlich, fühlten sich deshalb verletzt und zogen sich dann oft tagelang zurück. Carol und Randall zögerten, aufeinander zuzugehen. Deshalb war Sex bei ihnen zu einer Seltenheit geworden, und auch im Bett kam es bei den ersten Anzeichen für Probleme zur Katastrophe.
Carol und Randall hatten in allen Lebensbereichen Schwierigkeiten mit den Vier Aspekten der Balance. Auch außerhalb des Schlafzimmers wurde ihre Situation immer schwieriger. Ihre Kinder wurden Zeugen hässlicher Auseinandersetzungen und Beschimpfungen. Ihre Beziehungen zu Freunden und Arbeitskollegen waren etwas besser, weil diese Menschen für sie weniger wichtig waren. Doch Randall hatte kaum Freunde, und Carol hatte seit langem berufliche Probleme.
In unserer ersten Sitzung drängte Carol Randall, über seine Kindheit zu reden. Randalls leerer Blick zeigte mir, dass er nicht darüber sprechen wollte. Deshalb fing Carol selbst an, mir Randalls Geschichte zu erzählen. »Randall wurde auf ein Internat geschickt, und er hat nie darüber gesprochen. Ich glaube, das hat etwas damit zu tun, dass er Sex irgendwie ablehnt. Er sollte darüber reden, um darüber hinwegzukommen.« Carol kratzte diese emotionale Wunde auf, als versuche sie, Randall gewaltsam zu »öffnen«, um seine »Heilung« zu ermöglichen. Seine Abwehrhaltung und sein Schweigen verstand sie als Indiz dafür, dass sie mit dem, was sie für notwendig hielt, richtig lag. Randalls Verlangen war nicht nur bezogen auf Sex schwächer, sondern auch bezogen auf die Therapie und das Reden über die Vergangenheit.
Monate nach Abschluss der Therapie bestätigte Randall, er habe tatsächlich ein Internat besucht. Er wollte sich nicht damit auseinandersetzen, wie leichthin seine Eltern ihn fortgeschickt hatten, angeblich um ihm eine bessere Schulausbildung zu ermöglichen. Randall wollte nicht näher an sich heranlassen, was er über seine Eltern offenbart hatte: Sie hatten ihn wie ein Haustier behandelt. Er hatte so lange bei ihnen bleiben dürfen, wie er eine angenehme Gesellschaft gewesen war und »keinen Ärger gemacht« hatte – solange er nichts kaputt machte und kein Chaos anrichtete. Doch Randall hatte in der Schule und in einem Fall sogar mit der Polizei Schwierigkeiten bekommen. Daraufhin fingen seine Eltern an, sich »wegen seiner Erziehung Sorgen zu machen«, und deshalb hatten sie ihn in ein Internat geschickt.
Carol drängte Randall in dieser Sitzung ständig, über diese Dinge zu reden. Sobald es ihm gelungen war, das Gespräch über dieses Thema auf irgendeine Weise zu beenden, suchte sie nach einer anderen Möglichkeit, es erneut zur Sprache zu bringen. Sie besetzte emotional das gesamte Terrain, ähnlich wie Connie, von der in Kapitel 1 die Rede war. Insofern fand ich es nicht überraschend, dass Randall sich sexuell zurückzog.
Carol war in emotionaler Hinsicht sehr anstrengend. Ihre psychische Funktionsfähigkeit war von ihrem Partner ausgeborgt, und ihr war absolut nicht klar, wie belastend sich dies auf sie selbst und Randall auswirkte. Sie ähnelte stark ihrer zudringlichen Mutter, die sie in ihrer Kindheit kontrolliert hatte, die bei Carols Hochzeit die Gestaltungshoheit beansprucht hatte und die immer noch versuchte, ihre Tochter durch Manipulation zu beeinflussen. Doch Randall hütete sich, Carol auf diese Dinge hinzuweisen. In Anbetracht dessen, wie sich Carol auf Randalls Kindheit fixierte, hätte man denken können, es gehe um ihre Beziehung zu ihren eigenen Eltern. Doch Carol hatte schlicht ihre mentale Einfühlung völlig auf Randall konzentriert. Was sie selbst anging, hatte sie einige blinde Flecken.
Der Therapeut, bei dem Randall und Carol vorher gewesen waren, hatte Randall ebenfalls aufgefordert, er solle über seine Kindheit reden, weil er in dieser Hinsicht so defensiv war. Er hatte die Vermutung geäußert, Randalls sexuelles Verlangen sei vielleicht deshalb so schwach, weil er in jener Zeit emotionale Verletzungen erlitten habe. Doch schließlich hatten beide die Behandlung ohne Ergebnis abgebrochen. Carol sah in Randall die Verkörperung eines Mannes, der sich nicht mit seinen Gefühlen auseinandersetzen wollte. Wenn sie an dieser Wunde kratzte, wurde Randall defensiv, was den Eindruck erzeugte, er »protestiere zu viel«. Carol entschied darüber, welche Themen und Probleme für ihre Beziehung wichtig waren, und Randall konnte nur darüber entscheiden, welche Position er dazu beziehen wollte. Sie bestimmte, wann sie sich ein neues Haus kauften, wann sie Urlaub machten und wann sie in ein Restaurant essen gingen. Randalls Einfluss beschränkte sich darauf, welche Art von Haus oder Urlaubsort oder Restaurant gewählt wurde. Doch seine Weigerung, über seine Kindheit zu sprechen, war nicht der Schritt in Richtung Autonomie, für den man ihn bei oberflächlicher Betrachtung hätte halten können. Randall war von Carol abhängig, weil sein gespiegeltes positives Selbstempfinden von ihr abhing – mit der Folge, dass er auf Zudringlichkeiten übermäßig stark reagierte.
Man könnte nun meinen, jemand mit Randalls Hintergrund müsse emotional so verhärtet und zurückgezogen sein, dass ihm völlig egal ist, was andere Menschen über ihn denken. Diesen Eindruck konnte man bei oberflächlicher Betrachtung tatsächlich gewinnen. Untergründig jedoch brauchte Randall Carols Anerkennung. Nur auf dieser Grundlage fühlte er sich wertvoll und war er sich sicher, dass es ein Fehler seiner Eltern gewesen war, ihn aufzugeben. Carols Meinung war für ihn so wichtig, dass er so tat, als ob sie ihn überhaupt nicht interessiere – so wie er es schon gemacht hatte, als seine Eltern ihn ins Internat geschickt hatten. Solange er und Carol miteinander stritten, hatte sie ihn offensichtlich noch nicht aufgegeben. Außerdem hielt er sie durch die Streitigkeiten auf Armlänge von sich fern. Er hatte Angst, sie würde die Kontrolle über ihn gewinnen, herausfinden, wer er wirklich war, und dies wäre das Ende von allem.
Wenn Carol und Randall sich nicht wegen Sex stritten, stritten sie über seine (in Carols Augen) mangelnde Bereitschaft, über seine Probleme zu reden. Irgendwann sagte sie gewöhnlich, sie werde ihn verlassen, wenn er es nicht noch einmal mit einer Therapie versuche und sich »mit den Dingen auseinandersetze«. Randall antwortete dann, sie könne ruhig gehen, wenn sie das wolle, aber er werde nicht über seine Kindheit reden, selbst wenn sein Leben – oder seine Ehe – davon abhinge. Carol ließ das Thema Trennung daraufhin fallen, beharrte aber darauf, dass sie noch einmal einen Versuch machten, gemeinsam in Therapie zu gehen. Dies war für sie der Anlass gewesen, zu mir zu kommen.1
Ungeachtet seiner Weigerung, über seine Kindheit zu reden, fürchtete Randall, die Behandlung könnte erneut fehlschlagen, weil die Auseinandersetzung mit seiner Kindheit ein so wichtiger Bestandteil dieser Arbeit zu sein schien. Dass er sich einerseits davor fürchtete, über seine Kindheit zu reden, und andererseits auch fürchtete, dies nicht zu tun, war keine gute Ausgangssituation für eine Therapie. Offensichtlich hatte er Probleme mit den Vier Aspekten der Balance. Weil es ihm schwerfiel, sich zu beruhigen, war er in unserer ersten Sitzung emotional reizbar und angriffslustig.
Außerdem verfügte Randall nicht in ausreichendem Maße über die für eine gesunde psychische Entwicklung erforderliche Fähigkeit zu sinnvoller Beharrlichkeit. Er gab schnell auf und erweckte den Eindruck, ihm sei alles gleichgültig. Er fürchtete sich davor, Dinge wirklich anzugehen und dann als unzulänglich beurteilt zu werden. Er hatte das Problem, das sein sexuelles Verlangen betraf, jahrelang unter den Teppich gekehrt, obwohl ihm klar war, dass Carol über die sexuelle Situation in der Beziehung unglücklich war. Das führte zwar zu Streitigkeiten mit Carol, doch alles in allem konnte er mit der Situation, so wie sie nun einmal war, leben.
Carol war emotional ebenso leicht irritierbar wie Randall. Ein stabiles und flexibles Selbst war bei ihr so gut wie nicht entwickelt. Sie ertrug es nicht, in irgendeiner Hinsicht unvollkommen zu wirken. Sie nahm reflexhaft an, sie sei im Recht, und brachte so andere Menschen leicht in die Defensive. Als Randall in unserer ersten Sitzung mit dem Gezänk aufhörte, hatte Carol das Gefühl, sie stünde vergleichsweise schlecht da. Instinktiv startete sie deshalb erneut einen Angriff auf Randall, um ihr gespiegeltes Selbstempfinden zu stärken. Sie verfolgte ihn und sagte, er brauche nicht mit ihr zu streiten, weil er selbst wisse, wie es um ihn bestellt sei.
»Du meinst vielleicht, du wüsstest, wer du bist, aber das ist nicht der Fall. Vielleicht meinst du, du wüsstest genau, wann wir das letzte Mal Sex hatten, aber das weißt du nicht. Es ist fünf Monate und 21 Tage her. Du bist so schrecklich selbstgerecht, tust aber rein gar nichts, um dein Problem zu lösen – das Problem, das du uns eingebrockt hast.«
Nachdem beide kurz aus ihrer »emotionalen Suppe« aufgetaucht waren, tauchte Randall gleich wieder unter. »Das ist nicht mein Problem! Es ist unser Problem! Das hat der andere Therapeut auch schon gesagt.«
»Der andere Therapeut, mit dem du nicht über deine Kindheit reden wolltest?«
Carol verhielt sich, als hätte sie Randall in ihrem emotionalen Schachspiel schachmatt gesetzt. Ich verstand dies als einen Hinweis auf ihre Probleme mit den Vier Aspekten der Balance. Sie war sich ihrer Identität unsicher, weil Randall sie nicht mehr begehrte, und ihre Unsicherheit darüber, ob sie noch attraktiv war, veranlasste sie, Randalls Kompetenz in Frage zu stellen. Wie Randall fiel es auch ihr schwer, mit ihren Ängsten fertigzuwerden und ihren Kummer selbst zu lindern. Carol hatte auch Schwierigkeiten, gut geerdete und verhältnismäßige Reaktionen zu entwickeln. Sie reagierte zu heftig, wenn Randall zeitweise souveräner auftrat als sie. Sie versuchte die Probleme, die sie in ihrer gemeinsamen Partnerschaft hatten, ihm zuzuschreiben, statt das nicht so ganz angenehme Gefühl auszuhalten, sich an die eigene Nase zu fassen.
Carol brauchte es, dass Randall sich zu ihr hingezogen fühlte, um sich gut fühlen zu können. Wenn er Sex mit ihr vermied, hielt sie nach Männern Ausschau, die ihr Aufmerksamkeit schenkten. Allerdings verängstigte und verärgerte sie dies, weil sie keine Affäre anfangen wollte.
Wenn Carol besonders ängstlich, unsicher und wütend wurde, sagte sie Dinge wie: »Vielleicht sollten wir uns einfach scheiden lassen! Du wärest wahrscheinlich glücklicher mit einer Frau, die keinen Sex mit dir will. Und ich sollte mir jemanden suchen, der Sex will. Jeder für sich allein kämen wir sicher beide besser zurecht.« Insgeheim jedoch versuchte Carol auf diese Weise zu erreichen, dass Randall sie zum Bleiben bewegte.
Doch wie vorauszusehen fühlte Randall sich angegriffen und nahm die Herausforderung an: »Du willst die Scheidung? Gut. Dann lassen wir uns eben scheiden. Sag es unseren Kindern. Sag ihnen, dass du unser gemeinsames Zuhause zerstören willst, weil du so geil bist.«
In den Streitgesprächen, die sich an solche Eröffnungen anschlossen, sagten Carol und Randall schreckliche, emotional verletzende Dinge zueinander – bis sie schließlich beide ein wenig weicher wurden. Innerhalb der nächsten 24 Stunden kam es dann oft zum Sex zwischen ihnen, sie versprachen einander, sich im Umgang miteinander größere Mühe zu geben, und sie nahmen die hässlichen Dinge, die sie einander vorgeworfen hatten, zurück – bis zum nächsten Mal. Carol fand sich mit diesem Verlauf ab, weil sie sich vor dem fürchtete, was geschehen würde, wenn sie es nicht täte. Sie war von Randall nicht nur emotional abhängig, sondern liebte ihn auch.
Mit den Problemen, die den Streitigkeiten wegen Sex zugrunde lagen, hatten sie sich nie ernsthaft befasst. Das empfanden sie als zu persönlich und zu schmerzhaft. Randalls gespiegeltes Selbstempfinden »klappte zusammen«, wenn Carol das Thema zur Sprache brachte. Er fühlte sich dann jedes Mal völlig niedergeschmettert. Aus eigenem Antrieb sprach er nie darüber. Er hielt den Schmerz, den er bei einer Konfrontation mit seinem sexuellen Problem, seiner Ehe und seinem Leben empfand, einfach nicht aus, weil er nicht glaubte, dass es für ihn auch nur die geringste Aussicht auf Besserung gab. Es erschien ihm nicht der Mühe wert, um einer nur eventuell möglichen Besserung willen noch größere Härten zu ertragen. Randall war fest davon überzeugt, dass die Einschätzung seiner Eltern, er sei generell unzulänglich, richtig gewesen war. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sich die Ansicht seiner Eltern als falsch erweisen könnte, wenn er sich der Kritik stellen und seine Probleme durcharbeiten würde. Die Bedeutungen, die wir mit Dingen verbinden, beeinflussen unsere Entschlossenheit und Resilienz erheblich.
Als ich mit Carols und Randalls Situation allmählich vertrauter wurde, stieß ich bei ihnen überall auf Probleme, die mit den Vier Aspekten der Balance zusammenhingen.
Die Vier Aspekte der Balance entscheiden über den Verlauf Ihres Lebens. Wenn Ihnen einer dieser Punkte Probleme bereitet, gilt das meist auch für die anderen; allerdings ist manchmal eine bestimmte Fähigkeit stärker als die restlichen. Jedenfalls sind Probleme hinsichtlich der Vier Aspekte normal – was bedeutet, dass auch Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, normal sind. Doch solche Probleme lassen sich durch Stärkung aller Vier Aspekte lösen.
Das Verhältnis zwischen Randall und Carol war generell sehr schwierig, aber insbesondere wenn es um Sex ging. Beide waren der Auffassung, Randall müsse dafür sorgen, dass Carol entspannt sei und sich erregt fühle. Verspürte sie keine Erregung, kritisierte sie seine »Technik«. Daraufhin wurde Randall defensiv, und Carol reagierte entsprechend. Randalls sexuelles Interesse löste sich dann augenblicklich in Luft auf.
Carol konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie auch dann sexuell attraktiv war, wenn Randall gerade nicht mit ihr ins Bett wollte. Und weil sie sich dies nicht vorstellen konnte, wurde ihr Impuls, eine sexuelle Affäre zu beginnen, stärker. Carols gespiegeltes Selbstempfinden schwang sich in höchste Höhen auf, wenn sie im Laufe des Tages die sexuellen Schwingungen anderer Männer auffing. Sie wurde dann sehr nervös, weil sie fürchtete, sie könnte tatsächlich eine Affäre beginnen, und wenn sie nervös wurde, reagierte sie immer außerordentlich stark. Dann drohte sie Randall und stellte ihm Ultimaten, um ihn zu zwingen, endlich aktiv zu werden. In Wahrheit jedoch fürchtete sich Carol vor einer Scheidung. Wenn sie ihm an den Kopf warf: »Warum sind wir eigentlich verheiratet?«, war dies manchmal nicht nur ein Versuch von ihr, ihn zu verletzen, sondern sie wollte herausfinden, ob er vorhatte, sich von ihr zu trennen.
Randall und Carol hatten sich rettungslos in ihre Streitereien verrannt. Randalls sexuelles Verlangen nach Carol war fast völlig zum Erliegen gekommen, und Carol brauchte sein Begehren. Beide suchten emotionale Geborgenheit und Sicherheit beieinander, und beide sahen sich nicht in der Lage, einander dies zu geben. Beide reagierten übertrieben stark auf verärgerte Äußerungen des Partners, und beide nahmen solche Aussprüche persönlich. Beide erwarteten voneinander eindeutiges Engagement für die Beziehung, obwohl sie andererseits oft »das Handtuch warfen« und sich keine echte Mühe gaben.
Sie befanden sich im Zustand emotionaler Verschmelzung und hielten sich voneinander fern, und wenn sie masturbierten, machte ihnen das eigentlich keine Freude.
In unserer Sitzung sagte Carol: »Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll. Wir streiten uns ständig. Manchmal gelingt es mir nicht einmal, einen einzigen Satz zu beenden, bevor Randall wütend wird. Ich habe das Gefühl, ich kann mit ihm über gar nichts reden!«
Randalls Reaktion kam prompt. »Genau so ist es. Wir gehen uns ständig an die Kehle. Sie sagt nie, dass ihr etwas leid tut, und ich habe es satt, das zu sagen. Wir sehen den Dingen nicht ins Auge. Aber Carol muss immer recht behalten!«
Carol ging in die Luft. »Nein, das stimmt nicht! Du verletzt mich ständig, und dir sind meine sexuellen Bedürfnisse scheißegal! Früher hast du dir noch die Mühe gemacht zu sagen, es tue dir leid, aber das sparst du dir jetzt auch. Wir schaffen es einfach nie, etwas zu lösen. Unsere Differenzen lassen sich nicht überwinden. Wenn ich beim Sex nicht die Initiative ergreife, passiert gar nichts. Es ist völlig klar, dass wir dieses Dilemma niemals lösen werden. Wir könnten uns genauso gut scheiden lassen!« Randall schüttelte bestürzt und gleichzeitig empört den Kopf.
Ich sagte: »Sie haben keine unlösbaren Differenzen miteinander. Sie und Randall befinden sich in einem typischen emotionalen Patt.«
Das Gezänk zwischen den beiden endete sofort. Randall war sich nicht sicher, ob ich mich mit Carol gegen ihn verbündet hatte. Er wusste nicht so recht, was ich mit »emotionalem Patt« meinte, aber mit dem Bild von zwei Autos, die sich auf einer Kreuzung gegenseitig blockieren, konnte er sofort etwas anfangen. Er fragte: »Wie kommt es zu so einem Patt? Und was ist das eigentlich, ein emotionales Patt?«
»Ein emotionales Patt bedeutet, dass das, was Sie tun wollen, Ihre Partnerin in dem, was sie tun will, blockiert, und umgekehrt. In einer Ehe geht es häufig um Entscheidungen, denen Sie nicht zustimmen und die Sie auch nicht ablehnen können, beispielsweise wenn es um Sex geht. Kompromisse, Verhandlungen und Kommunikation führen aus Pattsituationen in der Regel nicht heraus. Deshalb glauben Sie, Ihre Differenzen ließen sich nicht beilegen. Man kann emotionale Patts auflösen, aber dazu braucht man andere Strategien. Sie und Carol sind durch Ihr Patt völlig gelähmt. Das ist einer der Gründe dafür, dass Sie nicht viel Lust auf Sex mit ihr haben.«
Carols und Randalls Situation wies die klassischen Anzeichen eines emotionalen Patts auf:
Konflikte sind in Liebesbeziehungen unvermeidbar. Sie lassen sich auch durch Ehevorbereitungskurse, Kommunikationstrainings, Psychotherapien oder dieses Buch nicht vermeiden. (Ich werde gleich erklären, warum.) Die Fähigkeit zur mentalen Einfühlung schränkt den Nutzen von Kommunikationsfertigkeiten und von Empathietraining ein, weil Ihr Partner, so nett Sie ihm auch etwas sagen mögen, in jedem Fall Ihre Gedanken, Emotionen und Motive verfolgt. Eine Pattsituation entsteht gerade durch gute Kommunikation: durch erfolgreiche mentale Einfühlung. Ihr Partner weiß in der Regel, was Sie wirklich wollen (oder nicht wollen).
Konflikte sind aufgrund der Liebesbeziehungen eigenen Dynamik unvermeidbar: Sie können sich darauf einigen, sich über ungreifbare Aspekte wie Emotionen, Wahrnehmungen und Werte uneins zu sein. Sie können ohne jedes Problem während Ihrer gesamten Ehe über politische Fragen debattieren. Aber dies alles führt zu nichts, sobald es um Verhalten geht, das sich in dramatischer Weise auf Ihren Partner und Sie selbst auswirkt. Versuchen Sie einmal, sich darüber zu einigen, dass Sie uneins darüber sind, ob Ihr Partner eine Affäre hat. Deshalb sind die vier häufigsten Gegenstände emotionaler Pattsituationen Sex, Geld, Kinder und Schwiegereltern. Es ist einfach nicht möglich, über diese Dinge eins oder uneins zu sein, und damit »hat es sich«.
Eine Pattsituation ist keine inhärente Schwäche in einer Liebesbeziehung, sondern ein Zeichen für deren differenzierte Struktur. Ein emotionales Patt ist eine normale und natürliche Entwicklung in einer Beziehung. Das Durchleben eines solchen Patts erzeugt Angst, Wut, Frustration, Gefühle der Zurückweisung und emotionalen Druck. Dies ist zwar schwierig, aber kein Makel: Es fördert die menschliche Resilienz. Ein emotionales Patt ist eine Art Überlebenstraining für Möchtegern-Erwachsene.
Wird ein solches Patt missverstanden und wird falsch damit umgegangen, führt es zur Scheidung. Zweifellos ist das auf der ganzen Welt der wichtigste Grund für Scheidungen. Gewöhnlich wird ein Patt als ein Aufeinanderprallen unüberwindbarer Differenzen, als unlösbares Kommunikationsproblem oder als das Ende der Verliebtheit missverstanden. Doch da ein emotionales Patt nicht durch zu wenig Kommunikation verursacht wird, vermag ein Mehr an Kommunikation es nicht zu lösen. Wenn Menschen nicht in der Lage sind, ein Patt mit Hilfe eines kommunikationsbasierten Ansatzes aufzulösen, reden sie sich zu Unrecht ein, ihre Probleme seien nicht lösbar. Machen die Betreffenden sich von einem gespiegelten Selbstempfinden abhängig, fühlen sie sich nicht geliebt und werden selbst lieblos.
Es gibt bessere Möglichkeiten, eine emotionale Pattsituation aufzulösen, als dass man über Empfindungen und Emotionen redet. Eine ganze Wissenschaft der Liebesbeziehungen befasst sich mit solchen Situationen und mit den Vier Aspekten der Balance. Obwohl der Begriff »Patt« in Teil I dieses Buches nicht vorkam, haben wir uns dort damit beschäftigt, dass der Partner mit dem schwächeren Verlangen immer beim Sex das Sagen hat und oft auch ausschlaggebend dafür ist, ob der verlangensstärkere Partner sich in seiner Haut wohlfühlt. Dies ist die Quintessenz aller Pattsituationen in Liebesbeziehungen.
Auch viele andere Dinge können emotionale Pattsituationen verursachen, und sie sind so schockierend einfach und gleichzeitig hochwirksam wie die Tatsache, dass der Partner mit dem schwächeren Verlangen immer den Sex kontrolliert. Deshalb sind Pattsituationen unvermeidbar. Beispielsweise ist eine andere primäre Ursache einer Pattsituation der Eliminationsprozess. Dies bedeutet: Jedes Mal, wenn ein Ereignis eintritt, werden dadurch andere Optionen zunichte gemacht, und die Zahl der verbleibenden Möglichkeiten wird kleiner.
Eine emotionale Pattsituation entsteht, wenn Sie und Ihr Partner das tun, was alle Menschen tun, die eine gute Beziehung aufbauen wollen: Sie wirken auf die Ängste des Partners ein, indem Sie dessen gespiegeltes Selbstempfinden annehmen und stützen. Sie geben Ihrem Partner hinsichtlich eines Themas nach, und dieser revanchiert sich entsprechend in einer anderen Hinsicht. Dies hält die Angst beider Beteiligten in Grenzen und bewirkt, dass sich beide geliebt und gewollt fühlen.
Doch jede Anpassung dieser Art bringt Sie und Ihren Partner dem Punkt näher, an dem Sie sich nicht mehr anpassen können oder wollen. Rein theoretisch könnten Sie zwar unendlich lange Kompromisse suchen und miteinander verhandeln, doch tatsächlich ist das nicht der Fall. Es entspricht einfach nicht der menschlichen Natur. Außerdem bieten Liebesbeziehungen eine endliche Anzahl von Möglichkeiten. Und wenn Ihre Vier Aspekte schwach sind, wird Ihre Anpassungsfähigkeit dadurch noch weiter eingeschränkt und Ihr Bedürfnis nach Entgegenkommen verstärkt.
Emotionale Pattsituationen entstehen in sechs deutlich abgrenzbaren Schritten:
Die Pattbereiche in Ihrer Beziehung sind diejenigen, in denen Sie und Ihr Partner am unflexibelsten sind. Ein Patt tritt ein, wenn Ihre Grenzen mit denen Ihres Partners kollidieren, so dass Ihnen kein Raum mehr bleibt, einander entgegenzukommen. Sie können Ihrem Partner nicht geben, was er will. Im Rahmen des Eliminationsprozesses sind Sie ihm so weit entgegengekommen, wie Sie können, ohne (a) stärkere Angst zu empfinden oder (b) die eigene Integrität zu gefährden. Sie kommen Ihrem Partner nicht weiter entgegen, wenn Ihre Angst eine für Sie inakzeptable Stärke erreicht – insbesondere wenn es Ihnen schwerfällt, sich selbst zu beruhigen.
Auf den ersten Blick scheint ein emotionales Patt eine simple Angelegenheit zu sein, doch in der Regel sind dabei sehr komplexe Verstrickungen im Spiel. Ein solches Patt ist insofern ein universelles Phänomen, als es auf der ganzen Welt vorkommt. Andererseits sind Patts immer individuell, weil Sie und Ihr Partner sie gemeinsam erzeugen. Ihr individuelles Pattmuster sagt eine Menge darüber aus, wer Sie und Ihr Partner wirklich sind.
Ein Patt manifestiert sich je nach Beziehung unterschiedlich – also je nachdem, mit wem Sie sich zusammengetan haben. Wenn Sie mit einem Sauberkeitsfanatiker verheiratet sind, und Ihr eigener Reinlichkeitsstil ist eher »entspannt«, streiten Sie mit Ihrem Partner wahrscheinlich über Haushaltsarbeiten (und dies wirkt sich auf Ihr sexuelles Verlangen aus). Sollten Sie beide entweder Reinlichkeitsfanatiker oder Chaoten sein, geraten Sie wahrscheinlich aus anderen Gründen in eine Pattsituation (und Sie haben Ihre Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens trotzdem weiterhin). Selbst wenn Sie zu Beginn Ihrer Beziehung dreimal täglich mit Ihrem Partner vögeln, streiten Sie sich irgendwann mit ihm über das Wann und Wie-oft sexueller Aktivitäten. Wenn Sie beide die gleiche Tageszeit bevorzugen, einer von Ihnen sich jedoch nicht genügend geschätzt fühlt, treten mit Sicherheit ebenfalls Probleme mit dem sexuellen Verlangen auf.
Wenn Sie das Wesen eines emotionalen Patts verstehen, können Sie an Verlangensprobleme auf eine völlig neue Weise herangehen, selbst wenn Sie sich schon seit Jahrzehnten in einer solchen Pattsituation befinden. Sicherlich fällt es Ihnen am Anfang schwer, diese Möglichkeit zu würdigen, insbesondere wenn Sie »mitten im Schlamassel« stecken. Über die eigenen Ängste und Unsicherheiten hinauszublicken ist nie leicht. In solch einer Situation können Sie nicht erkennen, dass eben das, was Ihre Beziehung und Ihr Selbstempfinden bedroht, letztlich beides stärken wird – vorausgesetzt, es gelingt Ihnen, den Wachstumsschmerz zu ertragen.
Die Auflösung von Pattsituationen eröffnet Wachstumschancen für die Liebesbeziehung. Im übrigen sind einige Neurowissenschaftler der Auffassung, dass das menschliche Gehirn durch die Konfrontation mit belastenden und besonders bedeutsamen Ereignissen flexibler wird. Um die Weiterentwicklung des Menschengeschlechts zu fördern, nutzt die Natur etwas wesentlich Zuverlässigeres als das Unbewusste. Könnten emotionale Pattsituationen eine Methode der Natur sein, neuronale Plastizität zu fördern und Möglichkeiten zur »Reparatur« des Gehirns zu schaffen?
Und noch eine gute Nachricht: Die gemeinsame persönliche Entwicklung von Partnern hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem sogenannten »Bockspringen«: Wenn der eine Partner hinsichtlich der Vier Aspekte der Balance Fortschritte erzielt, stimuliert er dadurch auch beim anderen einen Schub der Persönlichkeitsentwicklung. Die verbesserte Funktionsfähigkeit des einen Partners wirkt sich auf die des anderen sehr stark aus, wenn sich beide im Zustand emotionaler Verschmelzung und in einer Pattsituation befinden. Das ist deshalb gut, weil die Auflösung eines solchen Patts erfordert, dass (mindestens) einer von beiden die Vier Aspekte stärkt.
Leider entspricht dies in vielen Fällen nicht der Absicht der Betroffenen. Meist will der eine Partner dem anderen die Verantwortung dafür zuschieben, dass er selbst sich besser fühlt. Dies ist eine so instinktive Reaktion, dass schwer zu erkennen ist, weshalb sie sich als problematisch erweisen könnte. Wir alle wünschen uns seit unserer Kindheit, dass ein anderer Mensch uns tröstet.
In Teil I habe ich Sie aufgefordert, sich von der Vorstellung zu lösen, dass Sex »eine natürliche Funktion« sei. Nun möchte ich eine ähnliche Aufforderung an Sie richten: Lösen Sie sich von der Idee, Interaktionen zwischen Kindern und Müttern seien ein geeignetes Modell für Liebesbeziehungen zwischen Erwachsenen. Vergessen Sie auch die Theorie, unerfüllte »Bindungsbedürfnisse« seien die primäre Ursache Ihrer Probleme. Diese Verzerrung intensiviert die emotionale Pattsituation, macht es schwieriger, mit Problemen hinsichtlich des sexuellen Verlangens fertigzuwerden, und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es letztendlich doch zu einer Scheidung kommt.
Der Prozess der Entwicklung der Vier Aspekte der Balance, den ich beschrieben habe, wird Differenzierung genannt. Ohne diesen Begriff zu erwähnen, habe ich in Teil I des Buches bereits zwei Formen von Differenzierung erläutert: Die eine davon war die Differenzierung der Arten, ein Evolutionsprozess, der sich über viele Generationen einer Lebensform erstreckt. Die andere war die Ihrer persönlichen Differenzierung – Ihr Bedürfnis, ein stabiles Selbstempfinden zu entwickeln und zu erhalten, das Ihnen hilft, anderen näherzukommen. Stellen Sie sich die Differenzierung als Ihre Fähigkeit vor, während der Interaktion in wichtigen Beziehungen Ihr emotionales Gleichgewicht zu erhalten. Dies bedeutet praktisch, dass Sie die Vier Aspekte der Balance nutzen. Je stärker diese bei Ihnen sind, umso weiter ist Ihre Differenzierung fortgeschritten (und umgekehrt).
Bei der Differenzierung geht es um die Entwicklung von Lebensformen und darum, wie diese sich neue Fähigkeiten aneignen, was manchmal zur Entstehung völlig neuer Arten führt. Dass Menschen sich völlig anders entwickelten als beispielsweise Schimpansen und Gorillas, ist im Grunde ein Phänomen der Differenzierung. Als wir uns damit beschäftigten, wie unser Gehirn ein komplexes Selbstempfinden und die Fähigkeit zum mentalem Spiegeln entwickelte, ging es im Grunde um die Resultate der Differenzierung (von Gehirnzellen). Indem ich beschrieb, wie unterschiedlich drei Paare auf die Tatsache reagierten, dass der Partner mit dem schwächeren Verlangen immer den Sex kontrolliert, verwies ich damit auf die Bedeutung der menschlichen Differenzierung (bzw. auf deren Fehlen). Diese Darstellungen haben gezeigt, wie die betreffenden Paare mit (a) ihrem gespiegelten Selbstempfinden kämpften, (b) Schwierigkeiten damit hatten, ihre Angst in Grenzen zu halten und ihre emotionalen Verletzungen zu lindern, (c) auf die Angst und Angespanntheit des Partners reagierten, indem sie sich zurückzogen oder angriffen, und (d) vermieden, was in der Beziehung geschehen musste, um das Wachstum zu fördern. Sind die Vier Aspekte der Balance gut entwickelt, ist das gleichbedeutend mit einem hohen Maß an Differenzierung. Ihr Differenzierungsniveau zeigt, wie weit Ihre Entwicklung als Mensch fortgeschritten ist.
Die Differenzierung ist mächtiger, als Sie sich vorstellen: Differenzierung ist Entwicklung. Wenn ich sage, dass die Differenzierung Ihre Fähigkeit beinhaltet, sich selbst Halt zu geben und in einer Beziehung den Zustand emotionaler Balance aufrechtzuerhalten, dann beziehe ich den Begriff auf Ihre Entwicklung als Person. Wenn Sie dies mit Millionen von anderen Menschen innerhalb eines Zeitraums von Millionen von Jahren multiplizieren, ergibt sich als Resultat des Differenzierungsprozesses die Evolution des Menschen.
Differenzierung betrifft alle Lebewesen in jedem Augenblick und seit der Entstehung des Lebens auf der Erde. Die Differenzierung der Arten beinhaltet die Interaktion der Angehörigen einer bestimmten Art (z.B. Pflanzen, Insekten oder Säugetieren) mit Artgenossen sowie mit Angehörigen anderer Arten.
Zur Differenzierung kommt es, wenn die Mitglieder einer Art miteinander in Kontakt bleiben. Unsere Vorfahren entwickelten Beziehungen und blieben so lange zusammen, dass unsere Art entstehen konnte. Dies veränderte unsere Physiologie und Psychologie. Das Resultat war ein menschliches Selbst, das in der Lage ist, sich in den Geist von Artgenossen einzufühlen (d.h., diesen zu spiegeln) und die Vier Aspekte der Balance zu entwickeln und zu nutzen. Unser heutiges Gehirn hat sich durch die immer komplexer werdende Interaktion unserer Vorfahren entwickelt.
Durch Ihre Interaktionen werden Sie eher einzigartiger als allen anderen ähnlicher. (Ist das nicht erstaunlich?) Durch Interaktion und durch Konfrontation mit neuen Herausforderungen entwickeln sich die Angehörigen einer Art weiter. Dieser Zyklus, in dem wir gleichzeitig Erben unserer Vergangenheit und Schöpfer unserer Zukunft sind, setzt sich unablässig fort.
Bei der Werbung, Paarbildung und Ehe geht es großenteils um Meilensteine der persönlichen Entwicklung. Die Beschaffenheit Ihrer Vier Aspekte der Balance entscheidet in erheblichem Maße darüber, wann, wo und mit wem Sie sich paaren. Ihre Gene sind dabei »mit von der Partie«. Ihr sexuelles Verlangen wird in stärkerem Maße von Ihrer Selbstentwicklung bestimmt als von Ihrem Drang, Ihre Gene zu verbreiten.
Millionen von Jahren menschlicher Differenzierung schlagen sich auch in Ihrer Liebesbeziehung nieder, beispielsweise indem Sie und Ihr Partner gemeinsam emotionale Pattsituationen erzeugen und sich durch deren Auflösung gemeinsam weiterentwickeln. Die emotionale Pattsituation ist eine Strategie der Natur, Sie, Ihren Partner und Ihre Beziehung zu weiterer Differenzierung anzuregen. Das Nichtstattfinden von Differenzierung (in Form der Verringerung emotionaler Verschmelzung, der Lösung von Funktionsübertragungen und der Auflösung von emotionalen Pattsituationen) ist eine häufige Ursache für Scheidungen.
Fassen wir das soeben Erläuterte mit dem in Teil I Erklärten zusammen: Ihr Gehirn schaltet an einem bestimmten Punkt von Verliebtheit und romantischer Liebe auf Bindung um, und dabei wird Ihr sexuelles Verlangen in riesigen Mengen von Vasopressin oder Oxytocin ertränkt. Allerdings bleiben viele Paare nicht lange genug zusammen, um mit diesem Problem konfrontiert zu werden. Wenig differenzierte Menschen gelangen nicht über den Zustand der Verliebtheit hinaus, sondern trennen sich vorher. Ihre Differenzierung entscheidet darüber, ob Ihr Gehirn die Möglichkeit erhält, auf Bindung umzuschalten. Wenn Sie an diesen Punkt kommen, spielt Ihr Differenzierungsniveau für die Lebendigerhaltung des sexuellen Verlangens in einer längeren ehelichen Beziehung eine entscheidende Rolle. Differenzierung wirkt im Gehirn mit Wollust (animalischem Begehren), romantischer Liebe und Bindungsprozessen zusammen.
Die Differenzierung nimmt bei verschiedenen Arten unterschiedliche Formen an. Bei Menschen läuft sie letztendlich auf die Vier Aspekte hinaus, die vier Fähigkeiten, die das Selbstempfinden unterstützen und weiterentwickeln: (1) bei sich selbst zu bleiben, wenn der Partner auf Anpassung an seine Vorstellungen drängt; (2) die eigene Angst zu regulieren; (3) nicht in reaktives Verhalten zu verfallen und engagiert zu bleiben; und schließlich (4) Unbehagen zu ertragen, damit man wachsen kann. Diese vier Fähigkeiten oder deren Fehlen prägen Ihr Schicksal und Ihr sexuelles Verlangen.
Die vier genannten menschlichen Adaptationen potenzieren sich durch ihr Zusammenwirken und tragen so zu einem umfassenderen interpersonalen Entwicklungsprozess bei.
Differenzierung ist ein greifbarer interpersonaler Prozess, der in jedem Augenblick zwischen Ihnen und anderen Menschen stattfindet. Außerdem ist es ein machtvoller individueller Prozess, der Ihre Gedanken und Gefühle sowie Ihr gesamtes Verhalten im Laufe Ihres Lebens beeinflusst. »Selbstdifferenzierung« lautet der Terminus, doch Formulierungen wie »an sich selbst festhalten« und »bei sich selbst bleiben« beschreiben, wie sich der Vorgang tatsächlich »anfühlt«.
Für mich sind der Begriff »Differenzierung« und Formulierungen wie »die Balance erhalten«, »Vier Aspekte der Balance« und »an sich selbst festhalten« austauschbar.2 Die Differenzierung ist Ihre Fähigkeit, Ihre emotionale Balance aufrechtzuerhalten. Sie können statt des Wortes »Differenzierung« generell das Wort »Balance« benutzen, ohne den Sinn des Gemeinten zu verändern. Wenn ich vom »Differenzierungsniveau« spreche, meine ich damit die Stärke der Vier Aspekte der Balance. Manchmal empfehle ich, wenn ich das Wort »Differenzierung« verwende, innezuhalten und die Vier Aspekte anzuwenden, bevor Sie weiterlesen. Jeder dieser Aspekte ist für das »Festhalten an sich selbst« wichtig: (1) auch angesichts von Widrigkeiten die eigenen Ziele und den eigenen Wert im Auge zu behalten; (2) den eigenen Kummer zu lindern und emotionale Wunden zu pflegen; (3) nicht übertrieben stark zu reagieren, wenn Ihr Partner sich »verrückt« verhält; und (4) schwierige Situationen zu ertragen und schwierige Dinge in Angriff zu nehmen, um zu erreichen, was Sie erreichen wollen. Nach einer Weile werden Sie die Differenzierung als ein »Ganzes« (einen Prozess) und als »Teile« (die Vier Aspekte) verstehen sowie als etwas, das einerseits in Ihrem Inneren und andererseits zwischen Ihnen und Ihrem Partner stattfindet.
Damit verfügen Sie über eine »eins-zwei-drei-vier«-Strategie, mit deren Hilfe Sie schwierige Beziehungssituationen bewältigen können. Erstens: Machen Sie sich klar, dass es sich bei Ihrer Situation um einen Differenzierungsprozess handelt. (Wie man dies erreicht, werde ich im Folgenden erklären.) Zweitens: Erkennen Sie, dass Sie dabei sind, Ihr emotionales Gleichgewicht zu verlieren. Drittens: Gliedern Sie Ihr Problem im Sinne der Vier Aspekte. Dies hilft Ihnen, sich zu vergegenwärtigen, womit Sie Schwierigkeiten haben und was Sie tun müssen, um diese zu überwinden. Viertens: Benutzen Sie, um in einer schwierigen Situation fokussiert zu bleiben, das Mantra »Bleib bei dir!«
Als ich mit Randall und Carol über emotionale Pattsituationen sprach, war Randall hellwach und aufmerksam. Er wirkte nun nicht mehr defensiv und schien von dem Gedanken, dass er und Carol sich in einem Prozess befanden, dessen Existenz er sich nie hätte vorstellen können, sichtlich angetan. Was er nicht wusste und worüber er sich immer noch Sorgen machte, war die Frage, was dies bedeutete.
»Worauf läuft das alles denn letztendlich hinaus, Doktor? Ist das, was Sie sagen, im Grunde nur ein hübsches Etikett und eine wissenschaftlich fundierte Erklärung dafür, dass wir völlig verkorkst sind? Ist ein Patt eine hoffnungslose Situation?«
»Nein, Sie sind nicht verkorkst. Was ich soeben beschrieben habe, ist Ihr Problem, nicht Ihre Prognose.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, und dann fingen beide an zu lachen.
»Ein Patt lässt sich auflösen – wenn Sie die harte Arbeit an sich selbst nicht scheuen. Es ist nicht gerade leicht. Ein emotionales Patt ist keine hoffnungslose Situation. Allerdings fühlen Sie sich in dieser Lage hoffnungslos, weil es Ihnen bisher nicht gelungen ist, ein Problem zu lösen, von dem Sie nicht einmal wussten, dass es existierte. Zum Glück sind Ihre Gefühle nicht der verbindliche Maßstab zur Beurteilung des tatsächlichen Geschehens.«
»Ich habe nicht viel Hoffnung, Doktor. Wir gehen uns doch ständig an die Kehle. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre Single. In anderen Situationen kann ich es nicht ertragen, von Carol getrennt zu sein, und der Gedanke daran, mich von ihr scheiden zu lassen, macht mich völlig fertig. Ich kann nicht mit ihr und nicht ohne sie leben.«
Carol fühlte sich herabgesetzt. »Ich empfinde Randall gegenüber das Gleiche!« Randall reagierte darauf zum Glück nicht.
»Die alte Redensart, dass man nicht mit und nicht ohne jemanden leben kann, hat ihren Grund und ihre Berechtigung.«
Randall wagte sich vor: »Meinen Sie, dass wir uns in unserem Verhältnis zueinander in einer Art Wettstreit befinden und ambivalent sind?« Offenbar war Randall klüger, als er im ersten Moment wirkte. Er war aufmerksam, ein guter Beobachter und kooperativ.
»Ja, Sie sind einerseits ambivalent in Ihrem Verhältnis zueinander und stehen andererseits in einer Konkurrenzbeziehung, aber das ist noch längst nicht alles. Was in Ihrer Beziehung geschieht, ist ein Ausdruck der beiden grundlegendsten menschlichen Antriebe. Sie wollen eine Beziehung, und Sie wollen Ihr Leben selbst gestalten und steuern. In dem Entwicklungsstadium, in dem Sie sich befinden, fühlt sich das an wie: ›Ich kann nicht mit ihm/ihr und nicht ohne ihn/sie leben‹. Wenn Sie zusammenbleiben und die Pattsituation produktiv überwinden, wird sich dies ändern.«
Vielleicht haben Sie schon einmal sagen hören, dass Menschen sich aus eben dem Grund scheiden lassen, aus dem sie geheiratet haben. Wenn die Vier Aspekte der Balance bei Ihnen schlecht entwickelt sind, treibt Sie dies zunächst in eine Liebesbeziehung hinein und später wieder aus ihr heraus. Die Vier Aspekte der Balance sind für die Stabilisierung und Entwicklung einer Beziehung ebenso wichtig wie für die Entwicklung und Erhaltung Ihrer Eigenständigkeit. Ohne diese vier Fähigkeiten ist es schwer, zu überleben und die Probleme, die in einer Ehe auftreten können, durchzustehen.
Die Erhaltung des emotionalen Gleichgewichts wird insbesondere dadurch erschwert, dass wir mit zwei grundlegenden Antrieben jonglieren: Wir wollen einerseits Nähe und Verbundenheit und andererseits Freiheit und Selbstbestimmung. Wird das Verhältnis zwischen diesen beiden Tendenzen in der einen oder anderen Richtung gestört, fühlen wir uns angegriffen. (Je niedriger Ihr Differenzierungsgrad ist, umso leichter sind Sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.) Wenn Sie Ihre Beziehung als beengend empfinden und das Gefühl haben, dass Ihr Partner zu viel von Ihnen fordert, erwacht bei Ihnen der Impuls, sich der drohenden Tyrannei zu widersetzen, und dies führt zur Schwächung des sexuellen Verlangens. Wenn Sie sich Ihrem Partner gegenüber distanziert fühlen (was auch bei einem Zustand emotionaler Verschmelzung möglich ist), kann sich dies auf Ihr sexuelles Verlangen ähnlich auswirken.
Die Stärkung der Vier Aspekte erleichtert es, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen beiden grundlegenden biologischen Antrieben zu schaffen. Ich zeichnete für Carol und Randall ein Diagramm ähnlich dem hier abgebildeten, um das, was ich ihnen erklärt hatte, noch anschaulicher zu machen:
Beachten Sie, dass ich den rechten Zweig des Modells nicht »Autonomie«, sondern »Selbstregulation« genannt habe. Dadurch wollte ich klarmachen, dass Autonomie nicht beinhaltet, dass man tun kann, was immer man will, ohne dass dies irgendjemanden zu interessieren hätte. Sie sind nicht autonom und auch nicht in der Lage, sich selbst zu steuern, wenn Sie Ihre Ängste nicht kontrollieren und Ihre Emotionen nicht beruhigen können oder wenn Sie es nicht schaffen, sich in Ihren Reaktionen zu mäßigen, oder wenn Sie sich nicht dazu aufraffen können zu tun, was Sie tun müssen. Wenn Ihre Vier Aspekte schwach sind, sind Sie nicht frei, und die Menschen in Ihrer Umgebung ebenso wenig. Im vorigen Kapitel haben wir uns damit beschäftigt, dass Menschen, die sich nicht selbst kontrollieren können, die Menschen in ihrer Umgebung zu kontrollieren versuchen.
Autonomie fördert stabile Bindungsbeziehungen. Wenn Sie gern Ihren Frust an Ihrem Partner auslassen würden und er dies tatsächlich verdient hätte, Sie es aber nicht tun, dann ist das echte Autonomie. – Und es ist unglaublich schwierig, sich so zu verhalten.
In Vorträgen, die ich auf der ganzen Welt halte, stelle ich gelegentlich folgende Frage: »Ist irgendjemandem unter den Zuhörern nicht klar, was es in Zusammenhang mit einer Ehe bedeutet, ›sich zu weigern, sich der Tyrannei zu unterwerfen‹?« Daraufhin folgt stets ein tief aus dem Bauch kommendes herzliches Lachen, und ich sehe viele Zuhörer bestätigend nicken.
In Teil I dieses Buches haben wir gesehen, wie der Partner mit dem schwächeren Verlangen Tyrannei versteht: Er fühlt sich unterdrückt, dazu gedrängt, Sex zu wollen und auch tatsächlich zu »haben« und durch das sexuelle Verlangen des Partners unter Druck gesetzt. Auch eine Partnerin mit stärkerem sexuellem Verlangen weiß, was Tyrannei beinhaltet: Sie fühlt sich dazu genötigt, immer dann zum Sex bereit zu sein, wenn ihr Partner dazu bereit ist, weil diese Gelegenheiten selten sein könnten. Außerdem muss sie sich damit abfinden, »glücklich zu werden«, statt gewollt zu werden, und sich auch bei mittelmäßigem Sex dankbar erweisen. Zu allem Überfluss gibt es aber auch noch die vielen Menschen, denen es an einem stabilen und flexiblen Selbst, einem stillen Geist und einem ruhigen Herzen, an maßvollem Reagieren und an sinnvoller Beharrlichkeit mangelt. Deshalb bezeichnet das Wörterbuch des Teufels die Ehe als einen Zustand der Sklaverei, an dem zwei Sklavenhalter und zwei Sklaven beteiligt sind.3
Was wäre, wenn Menschen nur ein Bein hätten und auf dem Boden herumkriechen würden?4 Es würde nicht lange dauern, bis sie herausgefunden hätten, dass sie einander mit ihren Armen umschlingen und so aufstehen könnten. Im Sinne der Anpassung wäre dies eine sehr sinnvolle Errungenschaft. Doch da wir nun einmal so sind, wie wir sind, würden wir sicher über kurz oder lang an einen Ort gehen wollen, an den der andere nicht gehen wollte, so dass er klagen würde: »Warum versuchst du, mich deinen Vorstellungen zu unterwerfen? Du hast mir nicht zu sagen, was ich tun muss!« Trotzdem wäre es in der beschriebenen Situation unbefriedigend, allein zu gehen, denn wir müssten dann ein höheres Funktionsniveau aufgeben. Dadurch entsteht eine Anspannung, die für die menschliche Situation charakteristisch ist, insbesondere für wenig differenzierte Menschen mit einem schwachen Selbstempfinden.
Wenn es Ihnen schwerfällt, Ihre innere Balance aufrechtzuerhalten, fühlen Sie sich durch andere unterdrückt. (Ihr Narzissmus bewirkt, dass Sie sie als Unterdrücker ansehen.) Auch deshalb können sich Liebesbeziehungen in Tyrannei und Unterdrückung verwandeln. Der Grund dafür ist ein geringes Differenzierungsniveau.
Nach jemandem Ausschau zu halten, der das Bein hat, das wir brauchen, und der das Bein braucht, das wir haben, führt zu nichts, weil Sie die Balance mit eigenen Mitteln zustande bringen müssen, nicht durch Ihre Beziehung. Ja, wenn Sie sich an Ihrem Partner festhalten, können Sie aufrechter stehen (d.h., Sie erreichen dann ein höheres Funktionsniveau) als ohne diese Unterstützung. Doch wenn Sie nicht darauf verzichten, aufrechter stehen zu können, oder wenn Sie nicht lernen, selbst das Gleichgewicht zu halten, ist das Leben Ihrer Partnerin nicht mehr ihr eigenes. Sie fordern dann von ihr, dass sie immer für Sie da ist und Sie ständig unterstützt, und dies entspricht dem Zustand emotionaler Verschmelzung und dem Tatbestand geborgter Funktionsfähigkeit bzw. der Funktionsübertragung.
Stellen Sie sich nun vor, zwei Menschen versuchen, als Individuen einen Zustand der Ganzheit zu erreichen. Beide bemühen sich, ihre individuellen Bedürfnisse nach Bindung und Autonomie in Einklang zu bringen. Stellen Sie sich vor, beide stehen ohne Stütze und torkeln, bis sie schließlich lernen, das Gleichgewicht zu halten und ihre Beine zu koordinieren. Wahrscheinlich befinden Sie und Ihr Partner sich im Moment in dieser Situation, wenn Sie versuchen, Ihre Bedürfnisse nach Autonomie und Bindung besser in Einklang zu bringen.
Dann folgt der nächste Schritt: Versuchen Sie sich vorzustellen, was geschieht, wenn diese beiden Menschen zusammenkommen. Weil sie kaum in der Lage sind, jeweils auf sich gestellt das Gleichgewicht zu halten, schlingen sie ihre Arme umeinander und stützen sich gegenseitig ab. Gemeinsam versuchen sie zu verhindern, dass einer von ihnen hinfällt, wobei sie heftig schwanken, weil ihr Gleichgewichtssinn nicht stark genug entwickelt ist. Beide Partner behindern und stören einander, und beide sind nicht bereit, den anderen loszulassen und ohne fremde Hilfe ihren Gleichgewichtssinn zu entwickeln. So unbeholfen und linkisch das Beschriebene auch wirken mag, im Grunde handelt es sich um einen eleganten Prozess: den Prozess der Kokonstruktion – die Art, wie wir uns gemeinsam entwickeln.
Aufgrund meiner Beschreibung könnten Sie den Eindruck gewinnen, dass wir mit unserem Streben nach Bindung einerseits und Autonomie andererseits unablässig auf Kriegsfuß stehen. Und für Menschen in einem Zustand geringer Differenzierung fühlt sich dies tatsächlich so an: Bindung und Autonomie erscheinen ihnen als nicht miteinander vereinbar. Ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft mit anderen und ihr Streben nach Unabhängigkeit wirken auf sie als so unvereinbar, dass sie fürchten, davon zerrissen zu werden. Doch Bindung und Autonomie sind zwei Seiten der gleichen Medaille: der Differenzierung. Beide brauchen einander, um existieren zu können. Bindung und Autonomie sind im Grunde zwei Formen des faszinierenden biologisch fundierten Drangs, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln.
Wenn Sie Ihre Vier Aspekte der Balance stärken, empfinden Sie Ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft mit anderen und Ihr Bedürfnis nach Eigenständigkeit als weniger unvereinbar. (Tatsächlich werden dann beide Bedürfnisse sogar noch stärker.) Die in einer Ehe unvermeidlichen Spannungen, Entbehrungen und Konflikte zu ertragen wird leichter, wenn Sie aufhören, sie als Konflikte mit Ihrem Partner zu verstehen. Tatsächlich entspringen sie zwei unterschiedlichen Tendenzen in Ihnen selbst.
Wie die meisten Menschen mit geringer Differenzierung waren auch Carol und Randall sehr irritierbar. Oft gerieten sie in Krisensituationen, und wenn das passierte, war es um ihr gespiegeltes Selbstempfinden geschehen, und ihre Ängste wuchsen ins Unermessliche. Weil sie sich im Zustand emotionaler Verschmelzung befanden, reagierten sie übertrieben stark auf das, was ihr Partner tat oder sagte.
Differenzierung ist das Gegenteil von emotionaler Verschmelzung. Emotionale Verschmelzung ist Gemeinsamkeit (Verbundenheit) ohne Eigenständigkeit (Autonomie). Differenzierung ist Gemeinsamkeit mit Eigenständigkeit. Je weniger stark die Vier Aspekte der Balance entwickelt sind, umso stärker ist die Wirkung von emotionaler Verschmelzung und Funktionsübertragung.
Der persönliche Differenzierungsgrad steht in unmittelbarer Beziehung zum emotionalen Patt. Die Geschwindigkeit, mit der sich Ihr Patt entwickelt, und seine Intensität hängen mit der Stärke der Vier Aspekte zusammen. Ein geringer Differenzierungsgrad bedeutet:
Wenn Sie sich über diese enge Verbindung im Klaren sind, akzeptieren Sie vielleicht eher, dass ein emotionales Patt kein Indiz dafür ist, dass in Ihrer Beziehung etwas völlig falsch läuft. Das Patt ist die gereifte Frucht der emotionalen Verschmelzung. Das Patt ist eine natürliche Entwicklung, ein Anzeichen für die (Eingeschränktheit der) Differenzierung in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Randall sagte: »Ich habe mir große Sorgen gemacht, weil ich fürchtete, dass unsere Beziehung nicht mehr zu retten sei. Carol und ich streiten uns ständig. Nun sagen Sie, dass wir eine Situation durchleben, in der jeder so streiten würde. Aber wir verlieren manchmal unglaublich die Kontrolle, und unsere Brüllduelle ziehen sich endlos hin. Wir haben einander nie geschlagen, aber es kann trotzdem ziemlich übel zwischen uns werden.« Randall beklagte sich nicht über Carol. Nachdem nun klar war, dass und worüber sie stritten, wollte er meine fachkundige Meinung hören.
»Ich kann Ihnen Folgendes versichern: Starke Konflikte sind nicht unbedingt ein Anzeichen für die Dysfunktionalität einer Beziehung. Entscheidend ist, wie Sie mit solchen Situationen umgehen. Ich kann Ihnen aber folgende Faustregel mit auf den Weg geben: Ihr Patt verhält sich umgekehrt proportional zur Stärke Ihrer Vier Aspekte. Wenn Sie innere Konflikte nicht ertragen können, projizieren Sie sie nach außen, in den Bereich Ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen. Deshalb erleben Paare mit geringem Differenzierungsgrad sehr starke Pattsituationen. Wachsen sie dann an der Situation, werden Intensität und Umfang des Patts geringer.«
Carol scherzte: »Wollen Sie damit sagen, dass wir gesund sind, weil wir offen miteinander streiten können?«
»Nein. Zu verstehen, dass Konflikte normal, unvermeidlich und gesund sind, bedeutet nicht, dass alles in Ordnung ist. Offen zu kämpfen ist kein Problem. Aber häusliche Gewalt ist ein sehr ernstes Problem und leider sehr verbreitet. Sie müssen Konflikte produktiv nutzen, statt sie um ihrer selbst willen zu schüren. Sie geraten aneinander, weil Ihr innerer emotionaler Puffer nicht besonders groß ist. Aufgrund des Eliminationsprozesses bleiben Sie an einigen wenigen Themen hängen. Sie und Randall reden – oder streiten – eigentlich nicht über die Themen, die für Sie wirklich wichtig sind. Deshalb drängen Sie Randall ständig, er solle darüber sprechen, dass er ein Internat besucht hat.«
Randall sprach während der ganzen Behandlung nie über seine Kindheit. Er war erleichtert darüber, dass wir andere wichtige Dinge zu bereden hatten, und er lernte viel über das emotionale Patt und die Vier Aspekte. Auf diese Weise konnte er an der Therapie teilnehmen, ohne dass er sich Carols Bemühungen beugen musste, ihn zur Auseinandersetzung mit seiner Kindheit zu nötigen. Wir befassten uns mit Dingen, die direkteren Einfluss auf die sexuellen Probleme hatten, und auf diese Weise gelang es dem Paar, seine Situation zum Positiven zu wenden.
Randall entwickelte ein stabileres und gleichzeitig flexibleres Selbst, und er merkte, dass es ihm gut tat, die Dinge nicht so wie Carol sehen zu müssen. Außerdem faszinierte ihn der neue Ansatz. Zwischen den Sitzungen dachte er über die Gespräche mit mir nach und versuchte, deren Resultat in seinem Leben umzusetzen. Hätte er sich einfach geweigert, über seine Kindheit zu sprechen, und sonst nichts getan, wäre er lediglich in eine Trotzhaltung verfallen, statt eine bessere Balance zu erreichen. Doch seine Kontrolle über sich selbst zu verbessern, war noch eine völlig andere Zielsetzung.
Carol und Randall wurde klar, dass die Vier Aspekte bei ihnen nicht besonders gut entwickelt waren. Die Folge waren ständige Streitereien, gegenseitige Anschuldigungen, generelle Reserviertheit, Persönlichnehmen, starke Reaktivität, ausgeprägte Verletzlichkeit und die Verzögerung von Heilungsprozessen. Weil sie nun in dem Wahnsinn, den sie tagtäglich miteinander erlebten, einen Zusammenhang zu sehen begannen, beruhigten sie sich allmählich. Dies weckte in ihnen Hoffnung, gab ihnen eine Orientierung und außerdem das Gefühl, dass ihre Bemühungen einem Zweck dienten. Das wiederum ermöglichte ihnen, Situationen, die bisher gewöhnlich »entgleist« waren, eine sehr positive neue Ausrichtung zu geben. Ich werde nun ihre wichtigste Interaktion schildern.
Nach einigen Sitzungen hatte Carol ihren ganzen Mut mobilisiert, um mit Randall über ihre Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens zu sprechen. Randall las seine Zeitung und war sich ganz und gar nicht darüber im Klaren, welcher Kampf in Carol tobte. Sie wurde wütend, weil sie merkte, dass ihm völlig schleierhaft war, worum es bei ihr ging. Doch diesmal dachte sie: Das ist Unsinn! Ich werde wütend auf Randall, weil ich nicht den Mut habe, mich zur Wehr zu setzen. Ich muss mich beruhigen und dann sagen, was ich denke – aber ich darf nicht »um mich schießen«. Sie atmete tief durch.
Danach sprach sie freimütig und ohne in eine Defensivhaltung zu verfallen. Sie verschanzte sich nicht hinter ihrer üblichen kleinlauten und zögernden Art zu reden, die Randall jedes Mal irritierte. Diesmal brachte Carol das Thema Sex klar und direkt zur Sprache. Es war nicht viel, was sie zu sagen hatte. Sie äußerte sehr ruhig: »Ich möchte, dass du mit mir über unser sexuelles Problem redest. Ich werde dieses Thema nicht mehr vermeiden.«
Randall schaute auf und schwieg einen Moment lang. Diese wenigen Sekunden erschienen Carol wie eine Ewigkeit, doch sie blieb bei sich und flüchtete sich nicht in eine Überreaktion. Ihr fiel sofort auf, dass sich an Randalls Blick etwas verändert hatte. Er starrte sie nicht mehr so an wie vorher und ließ sie auch nicht mehr »im Regen stehen«. Er bemühte sich darum, sich in sie einzufühlen, ihren Geist zu spiegeln, indem er sich klarmachte, wie sie sich verhielt und warum sie dies tat. Er merkte, dass sie diesmal nicht wie sonst von ihren Ängsten getrieben wurde.
Randall dachte: Wir befinden uns in einem Patt! Vorher hatte er gewöhnlich gedacht: Sie treibt mich an! Randall war weniger defensiv als sonst, weil er in der gemeinsamen Situation einen neuen Sinn sah und weil sich dies positiv auf seine Ausdauer auswirkte. Ihm wurde klar, dass sein Verlangen nicht nur etwas mit ihrer sexuellen Beziehung zu tun hatte, sondern auch – oder sogar noch mehr – mit Dingen wie dem emotionalen Patt zwischen ihnen und mit der Differenzierung, wohingegen seine Kindheitserlebnisse dabei eine eher untergeordnete Rolle spielten. Für ihn stand nun nicht mehr im Vordergrund, Informationen von Carol fernzuhalten, und stattdessen versuchte er, das Patt zu überwinden. Da er keine Energie mehr auf die Verteidigung seiner Vergangenheit verwendete, lernte er schnell. Er konzentrierte sich nun auf das, was wirklich zwischen Carol und ihm vorging, wobei er ihre Interaktionen aus der Perspektive der Vier Aspekte analysierte. Und all dies geschah blitzschnell.
Randall merkte, dass sein Herz raste. Er atmete tief, um sich zu beruhigen. Ihm war klar, dass dies ein wichtiger Augenblick war. Er wollte nicht überreagieren und Carol in Rage bringen. Er dachte über den förderlichen Aspekt der Frustrationstoleranz nach und setzte dann zum Reden an, bevor er die Möglichkeit gehabt hätte, es sich noch einmal anders zu überlegen.
»Ich weiß nicht so recht, wie ich es ausdrücken soll, aber ich versuch’s einfach mal. … Ich fühle mich in einer Zwickmühle. Du willst, dass ich dich will, aber ich habe das Gefühl, dass du ständig in meine Aktivitäten eingreifst oder mir zu verstehen gibst, was ich tun soll. Ich weiß, dass du es oft gut meinst, aber du machst mich verrückt. … Wenn ich meine Unzufriedenheit über etwas, das du getan hast, ausdrücke – beispielsweise weil du mich gedrängt hast, über meine Kindheit zu sprechen –, fährst du entweder aus der Haut oder fühlst dich verletzt – meist sogar beides gleichzeitig.«
Randall hielt inne, um festzustellen, ob Carol gleich explodieren würde. Weil sie das nicht tat, fuhr er fort:
»Ich bin selbst kein Engel. … Ich bin so aus dem Gleichgewicht, dass ich es selbst kaum ertragen kann. Ich fühle mich nicht besonders gut, so wie ich bin. Wenn du mich nicht anbrüllst, dann – nein, ich muss es anderes sagen: Wenn du brüllst, brülle ich gewöhnlich zurück. … Aber ich kann so viel Viagra nehmen, wie ich will, das Ergebnis ist nie mehr als eine gute Erektion. Ich werde dadurch nicht begieriger darauf, mit dir zusammen zu sein.«
Carol merkte, dass Randall stärker auf das fokussiert war, was er sagen wollte, und weniger auf ihre Reaktion. Er ging nicht »im Namen der Wahrheit« auf sie los, sondern stellte sich dem, was in seinem Inneren vorging. Carol sah, dass Randall die Vier Aspekte im Auge hatte.
Carol und Randall schauten einander an. Dieser Augenblick der Begegnung dauerte fast eine Minute. Randall fühlte sich in Carols Geist ein und erkannte, dass dies nicht der Countdown zu einer erneuten Explosion war. Carols Gesicht wirkte entspannt, ihre Augen waren wach und ließen kein Anzeichen für Verletztheit erkennen.
Dann sagte sie bedächtig: »Du hast recht. Normalerweise wäre ich spätestens jetzt vor Wut an die Decke gegangen. … Aber ich habe mich beruhigt und mich bemüht, nicht übertrieben stark zu reagieren. … Dies ist ein besonderer Augenblick für uns, und ich möchte ihn nicht verderben.«
Etwa eine Minute lang wussten beide nicht, was sie sagen oder tun sollten. Randall ging zu Carol und gab ihr einen Kuss, der ungefähr eine halbe Minute dauerte. »Das ist definitiv besser, als an die Decke zu gehen«, kommentierte Carol die Situation, und Randall lächelte ihr zu. Dann brachen sie zum Lunch auf.
Am Nachmittag gelang es Carol und Randall, sich zu lieben, ohne sich vorher durch einen Streit in Stimmung bringen zu müssen. Im Grunde war nichts wirklich Neues geschehen. Carol hatte nur darauf verzichtet, Randalls Zögerlichkeit allzu persönlich zu nehmen. Nachdem sie miterlebt hatte, wie er sich mit sich selbst konfrontiert und seine Unsicherheit überwunden hatte, war ihr klargeworden, dass er Raum benötigte, um sich mit seinen Schwierigkeiten auseinandersetzen zu können.
Als Randall und Carol zu ihrer nächsten Sitzung kamen, waren sie sichtlich angetan. Randall sagte: »Ich habe mir zugeredet, dass ich mich beruhigen müsste, und ich habe mich dazu durchgerungen, mir die Vier Aspekte zu vergegenwärtigen. Ich gehe damit um wie mit einem Mantra. Ich sage mir: Bleibe bei dir, und behalte im Auge, was wichtig ist. Beruhige deinen Geist. Reagiere nicht übertrieben stark. Bleibe geerdet. Durch sinnvolle Beharrlichkeit erreichst du, was du willst. Das hilft mir auch bei meiner Arbeit. Gestern wäre ich fast auf einen Arbeitskollegen wütend geworden, der eigentlich ein sehr netter Kerl ist. Es ist mir aber gelungen, auf etwas, das er getan hatte, nicht unbedacht zu reagieren. Ich habe es geschafft, das Vorgefallene nicht persönlich zu nehmen.«
Carol sagte: »Für mich ist das auch in Ordnung. Es erleichtert es mir, damit umzugehen, wenn du in einer Pattsituation bist. Zumindest weiß ich dann, was los ist, und ich habe nicht so schreckliche Angst, dass alles in die Binsen geht. Und die Vier Aspekte machen mir klar, was ich tun muss – auch wenn ich es nicht immer schaffe, es tatsächlich zu tun.« Randall lachte und nickte zustimmend.
Ich fügte hinzu: »Entscheidend ist, tatsächlich zu tun, was notwendig ist, statt nur darüber zu reden.«
Carol nickte. »Ich merke, dass Randall jetzt anders ist. Ich sehe, dass er sich zu beruhigen versucht. Das habe ich vorher noch nie beobachtet. Es gefällt mir. Dass er sich bemüht, ist ein wichtiger Fortschritt, auch wenn das, was wir dadurch zustande bringen, noch nicht besonders großartig ist. Zumindest weiß ich jetzt, was in ihm vor sich geht.«
Ich sagte: »Viele fragen mich: ›Wie kann man lernen, sich zu beruhigen? Wie kann man differenzierter werden? Gibt es ein Buch darüber zu lesen, oder gibt es Übungen, die mir helfen, dieses Ziel zu erreichen?‹ Meine Antwort auf solche Fragen lautet gewöhnlich: ›Sie brauchen nur zu heiraten. Dann bekommen Sie genug Gelegenheit zu üben, was Sie üben müssen.‹«
Randall und Carol lächelten und nickten zustimmend.
Randall und Carol gelang es, ihre Probleme nach und nach zu lösen. Da Randall nicht mehr das Gefühl hatte, er müsse etwas verbergen, zeigte er mehr von dem, was tatsächlich zwischen ihm und Carol vor sich ging. Sie hatten nicht untypische Probleme mit der Intimität (ähnlich denjenigen, um die es im nächsten Kapitel geht). Sowie sie diese lösten nahm Randalls Interesse an Sex zu. Carol erzielte die größten Fortschritte durch bewussten Umgang mit Intimität und indem sie lernte, sich zu beruhigen. Sie hörte auf, jenes »elektrische Summen, das Angst signalisiert«, wie Randall es genannt hatte, zu produzieren.
Carol und Randall entwickelten eine stabile kollaborative Allianz (mit der wir uns in Teil IV beschäftigen werden) und nutzten diese zur Erforschung ihres sexuellen Potentials. In den folgenden Monaten rückte der Sex in ihrer Beziehung stärker in den Mittelpunkt, sie wurden dabei wagemutiger, und dies kam ihrer Intimität zugute. Sie hatten nun durchschnittlich ein- bis zweimal pro Woche Sex, und das war für beide so in Ordnung. Aufgrund der Probleme, derentwegen sie sich fast hätten scheiden lassen, entwickelten Carol und Randall nun allmählich Respekt voreinander.
Einige Monate später meldete sich Carol bei mir, um mir mitzuteilen, ihre Situation habe sich sehr positiv entwickelt. Randall habe mit ihr darüber geredet, wie er von seinen Eltern ins Internat geschickt worden sei. Endlich hatte sie bekommen, was sie sich so dringend gewünscht hatte, und ihr war nun auch klar, warum sie dies gewollt hatte: Ihr gespiegeltes Selbstempfinden hatte darin einen Beweis dafür gesehen, dass sie für einen Menschen, an dem ihr viel lag, eine »vertrauenswürdige Person« war. Für Carol bedeutete dies: Ich bin nicht wie meine Mutter.
Randall und Carol nutzten die Vier Aspekte, um einander entgegenzukommen und sich weiterzuentwickeln, und dadurch gelang es ihnen, ihr emotionales Patt aufzulösen. Schließlich kam Carol zu ihrem Ziel, wenn auch anders, als sie es sich vorgestellt hatte: Seit sie Randall nicht mehr bedrängte und nachdem sie gelernt hatte, sich selbst zu beruhigen, versuchte sie nicht mehr, auf Randalls Selbstempfinden einzuwirken. Bei ihm hingegen erwachte aufgrund dessen das Bedürfnis nach Sex mit Carol, und er verhielt sich ihr gegenüber generell offener. Doch blieb die Last, den ersten Schritt zu tun, nicht allein an Carol hängen, sondern Randalls Interesse an Sex wurde stärker, als er emotional unabhängiger wurde.
Carol und Randall entdeckten, dass durch die Stärkung der Vier Aspekte unsere besten inneren Ressourcen für unsere Persönlichkeitsentwicklung aktiviert und genutzt werden. Wir fangen dann an, im Leben das Glück und einen tieferen Sinn zu suchen. Dieses Bemühen ist nicht immer erfreulich, sondern manchmal mit großen Schwierigkeiten und schmerzhaften Selbstkonfrontationen verbunden. Aber es ist der Weg zu Verstehen, Weisheit und Mitgefühl.
Alle Lebenskrisen konfrontieren uns auf ähnliche Weise mit der Notwendigkeit zu wachsen, sei es eine schwere Krankheit, eine Verletzung oder ein persönliches traumatisches Erlebnis, seien es finanzielle Probleme, Schwierigkeiten mit den eigenen Kindern oder mit der näheren Verwandtschaft. Wenn das Beste in Ihnen erwacht und mit der Realität des Lebens konfrontiert wird, manifestieren sich Intimität, Leidenschaft und dauerhaftes Engagement. Hat hingegen das Schlechteste in Ihnen das Sagen, wird aus einem ursprünglich lösbaren Problem eine langfristige Katastrophe.
Es ist traurig, mit ansehen zu müssen, wie Verlangen und Leidenschaft sterben. Doch eine verfahrene Situation wird etwas erträglicher, wenn man weiß, dass eine Beziehung keinen irreparablen Schaden erlitten hat. Denken Sie stets daran, dass schwaches Verlangen und sexuelle Langeweile oft anzeigen, dass Sie auf dem richtigen Weg sind.
Ebbe und Flut des Verlangens in Liebesbeziehungen sind natürliche und gesunde Phänomene, die eine positive Funktion haben. Die gleichen Kräfte, die über Millionen von Jahren die Evolution weitergetrieben haben, steuern auch Ihr sexuelles Verlangen. Diese Kräfte treiben Sie heute dazu, als Person und als Partner in Ihrer Beziehung zu wachsen. Die Vier Aspekte formen Ihre Fähigkeit, Verlangen zu entwickeln, sowie weiterhin die Tiefe und Resilienz Ihres Verlangens. Im nächsten Kapitel werden Sie mehr über dieses Thema erfahren.