Ein Aspekt ehelicher Beziehungen, der ebenso gründlich missverstanden wird wie das sexuelle Verlangen, ist derjenige der Intimität. Emotionale Intimität spielt bei der Stabilisierung von Liebesbeziehungen eine sehr wichtige Rolle. Allerdings wirkt Intimität in langfristigen Beziehungen in einer Weise stabilisierend, die Sie wahrscheinlich nicht vermuten würden. Intimität ist ebenso komplex wie sexuelles Verlangen und ein weiteres Antriebsrad der ehelichen »Entwicklungsförderungsmaschine«. Intimität und sexuelles Verlangen bringen Sie dazu, ein stabileres und gleichzeitig flexibleres Selbst zu entwickeln. Die gestärkten Vier Aspekte der Balance, zu denen Sie durch adäquaten Umgang mit Intimitätsproblemen gelangen, erzeugen langfristig Stabilität und beständiges sexuelles Verlangen in Liebesbeziehungen.
Paare, die bei mir Hilfe suchen, haben keinerlei Kenntnisse über dieses Wunder. Beispielsweise hatten Sharon und Thomas keine Vorstellung davon, dass ihre Frustration und Angst sowie ihr Kummer ihnen helfen konnten, an der Stärkung ihrer Beziehung und der Vertiefung ihrer Intimität zu arbeiten. Sie sahen nur die wachsende Kluft, die sich zwischen ihnen auftat und die ihre Ehe zu beenden drohte.
Das Beispiel von Sharon und Thomas veranschaulicht, dass ein Partner in einer Hinsicht der verlangensstärkere und in einer anderen der verlangensschwächere sein kann. Sharon war hinsichtlich Intimität der verlangensstärkere und hinsichtlich Sex der verlangensschwächere Partner. Thomas war hinsichtlich Intimität der verlangensschwächere und hinsichtlich Sex der verlangensstärkere Partner.
Sharon klagte, Thomas spreche mit ihr nie über ihre Beziehung. Er teile ihr nie seine Gefühle mit und frage sie auch nie nach den ihren. Ihr Eindruck war, dass er ihr nie zuhörte und sie bei beruflichen Schwierigkeiten nicht unterstütze. Sharon erklärte, sie fühle sich oft wie unsichtbar.
Thomas äußerte, er habe nichts dagegen, über Dinge zu reden, doch Sharon versuche, in seinen Kopf hineinzuschauen. Sie wolle ständig wissen, was er denke und fühle. Abgesehen davon fand Thomas, es stehe Sharon nicht zu, sich als Expertin für Intimität aufzuspielen, da sie nie Sex mit ihm wolle. Er fasste die Situation wie folgt zusammen: »Letztendlich läuft alles darauf hinaus, dass Sharon nicht vögeln und ich nicht reden will.«
»Sie wollen Sharon nicht in Ihren Kopf lassen, und sie will Sie nicht in ihren Körper lassen?«
Thomas lächelte. »So könnte man es auch sagen.«
Ich wendete mich an Sharon: »Kennen Sie zufällig die Frau von Thomas? Wissen Sie, ob und warum sie keinen Sex mit ihm will?«
Sharon antwortete sehr bestimmt: »Ich fühle mich nicht gesehen, nicht gehört, nicht existent für ihn. Warum sollte ich da mit ihm Sex haben wollen?!«
»Meinen Sie, dass Sie nicht das Gefühl haben, in ihm zu existieren?«
»Ja, genau.« Sharon hielt inne und dachte über meine Formulierung nach. Sie hatte sofort gemerkt, dass ich wusste, was sie meinte, und daraufhin hatte sie sich beruhigt. »Ich bin nicht in seinem Geist. Er denkt nie an mich – nicht einmal wenn er bei mir ist. Er ist mit seinen Gedanken ständig anderswo. Manchmal glaube ich, dass er sich mit Absicht so verhält. Ich bin für ihn völlig unwichtig. Es ist, als ob ich nicht existieren würde.«
Thomas fauchte: »Du hast einen Knacks wegen Sex.«
Sharon brauste auf: »Und du hast Probleme mit Intimität.«
Einen Moment später fragte ich Sharon: »Meinen Sie, dass Thomas ein gutes oder ein schlechtes Urteilsvermögen zeigt, indem er Ihnen nicht zuhört?«
»Ein schlechtes«, antwortete sie blitzschnell und sehr nachdrücklich.
»Warum nehmen Sie dann das schlechte Urteilsvermögen Ihres Mannes so persönlich?«
»Ich … ähh … weiß nicht … Ich habe das Gefühl, dass ich für ihn gar nicht existiere.«
»Hören Sie jedes Mal auf zu existieren, wenn Thomas ein schlechtes Urteilsvermögen erkennen lässt? Er hat einen schlechten Tag, und Sie – puff! – verschwinden?«
Sharon runzelte die Stirn. »… So habe ich das noch nie gesehen. … Ich weiß nicht … Ich möchte, dass er mich versteht. Ich muss mir sicher sein können, dass ich ihm wichtig bin.«
Thomas fiel ihr ins Wort: »Wenn ich höre, dass Sharon behauptet, ich würde nie an sie denken, macht mich das wütend. Ich denke ständig darüber nach: Wird das, was ich gerade tue, Sharon wütend machen? Oder wird sie über das wütend werden, was ich nicht tue? Werde ich wieder schlecht dastehen?« Es war ihm peinlich zu gestehen, dass er sich oft Sorgen darüber machte, was Sharon ihm gegenüber empfand.
»Wieso sagst du mir nie etwas darüber? Ich wusste nicht, dass du dich so fühlst.«
»Es kommt mir vor, als ob ich keinen Gedanken für mich behalten darf, dass ich dir alles, was ich fühle und denke, mitteilen muss.«
So wie es bei Paaren oft der Fall ist, drängte Sharon Thomas zu Intimität, weil sie ein positives gespiegeltes Selbstempfinden brauchte, und sie erhielt das Gewünschte, wenn sie mit Thomas über ihre Gefühle redete. Das beruhigte sie und verringerte ihre Ängste und ihre Unsicherheit. Obwohl Sharon sagte, sie wünsche sich Intimität, suchte sie tatsächlich Bestätigung, Empathie und das Gefühl, akzeptiert zu werden. Sie regulierte ihre Angst mit Hilfe von Thomas.
In dieser Hinsicht ähnelte Sharon Thomas im Grunde. Dessen gespiegeltes positives Selbstempfinden hing vom Sex mit Sharon ab. Er drängte Sharon ähnlich zum Sex wie sie ihn dazu, ihr seine Gefühle mitzuteilen. Thomas sagte, er wünsche sich körperliche Intimität und Sex mit seiner Frau, doch tatsächlich ging es ihm um Spannungsabbau und die Versicherung, dass er begehrenswert und ein guter Liebhaber sei.
Sharon sprach oft darüber, wie wichtig es sei, »emotional offen« zu sein. Doch tatsächlich ging es ihr darum, ihr Selbstempfinden zu stabilisieren, indem sie sich dessen vergewisserte, was in Thomas vor sich ging. Ihre Unsicherheit wurde stärker, wenn er sich weigerte, ihr seine Gedanken mitzuteilen. Manchmal sorgte sie sich, was er vor ihr verbergen könnte. Wenn sie das Gefühl bekam, er versuche, sich von ihr abzuschotten, geriet sie außer sich. Es gefiel ihr nicht, sich als einen Menschen zu sehen, den man von sich fernhalten musste. Doch so sah sie sich, wenn sie sich durch Thomas’ Augen sah.
Wenn Sharon und Thomas über ihre Gefühle sprachen, war sie eher bereit, sich auf Sex mit ihm einzulassen. Ihr gespiegeltes Selbstempfinden fühlte sich dann verstanden, akzeptiert und geschätzt. Sharon nannte dies »sich hineingelassen fühlen«. Wenn sie dieses Gefühl hatte, wurde ihr sexuelles Verlangen stärker. Sharon war in dieser Hinsicht kein ungewöhnlicher Sonderfall, vielmehr ist dies eine typische Art, wie Intimität das sexuelle Verlangen beeinflussen kann.
Um aus ihrer Pattsituation herauszukommen, brauchten Sharon und Thomas ein neues Bild von Intimität und davon, was es mit ihr auf sich hat.
Als ich in den 1980er Jahren anfing, mich mit emotionalen Pattsituationen zu beschäftigen, musste ich zwei neue Begriffe definieren: die der fremdbestätigten und der selbstbestätigten Intimität. Ich brauchte diese Begriffe in Verbindung mit dem Begriff der emotionalen Pattsituation, um beschreiben zu können, was ich bei meinen Klienten beobachtete. Fremdbestätigte und selbstbestätigte Intimität sind keine (rein) theoretischen Konstrukte, sondern zwei völlig verschiedene Arten von Intimität, zwei Elemente eines erstaunlichen Prozesses.
Wie bei den meisten Menschen ist wahrscheinlich auch bei Ihnen der Fokus auf die fremdbestätigte Intimität gerichtet. Meine umfassenden Recherchen in der einschlägigen Fachliteratur ergaben, dass auch Therapeuten sich in der Regel auf die fremdbestätigte Intimität konzentrieren.1 Diese ist die erste Form von Intimität, die wir als Kinder erleben. Sie beinhaltet, dass ein Partner seine Gefühle, Wahrnehmungen, Zweifel, Ängste und inneren Wahrheiten offenbart und der andere diese entweder (a) akzeptiert, bestätigt und nachempfindet und/oder (b) sich auf ähnliche Weise offenbart. Fremdbestätigte Intimität hängt von Reziprozität ab. Der Zuhörer muss sich dabei erkenntlich zeigen, indem er sich ebenfalls offenbart oder zumindest das, was der andere gesagt hat, offen aufnimmt und so bestätigt – wobei beides das gespiegelte Selbstempfinden des Sprechers stärkt. Wenn Sie an Intimität denken, haben Sie wahrscheinlich etwas im Sinn, das diesem Modell entspricht.
Wenn Menschen sagen, dass sie sich tiefe Intimität wünschen, stellen sie sich gewöhnlich ein grenzenloses Reservoir bedingungsloser positiver Aufmerksamkeit vor, verbunden mit Vertrauen, Sicherheit und Akzeptiertwerden – mit anderen Worten: fremdbestätigte Intimität. Als Sharon über Mangel an Intimität in ihrer Beziehung mit Thomas klagte, ging es ihr um fremdbestätigte Intimität. Sie wollte über ihre Gefühle reden, und Thomas sollte diesem Bedürfnis entsprechen, indem er ihr seine Wertschätzung versicherte und sich ihr gegenüber offenbarte.
Sharon erklärte offen, sie wünsche sich »emotionale Unterstützung«. Doch tatsächlich ging es ihr um eine emotionale Verschmelzung mit Hilfe von Funktionsübertragung. Fremdbestätigte Intimität richtet sich an Ihr gespiegeltes Selbstempfinden. Doch wie Sie sehen werden, setzt selbstbestätigte Intimität voraus, dass Menschen ein stabiles und gleichzeitig flexibles Selbst haben.
Die Unterscheidung zwischen fremdbestätigter und selbstbestätigter Intimität entspricht der Organisation des Gehirns. Unterschiedliche Zellen ermöglichen grundlegende Unterscheidungen zwischen »Selbst« und »anderem«, die in den ältesten Gehirnbereichen getroffen werden.2 Untersuchungen deuten darauf hin, dass an Bemühungen, sich in den Geist anderer Menschen einzufühlen, andere Bereiche in verschiedenen Gehirnregionen beteiligt sind als bei der Spiegelung der eigenen Gehirnaktivitäten (wobei es allerdings einige Überschneidungen gibt). Diese Unterschiede hinsichtlich der sensorischen Verarbeitung und komplexer kognitiver Prozesse deuten außerdem darauf hin, dass beim Spiegeln einer anderen Person mittels Entwicklung eines Modells ihres Geistes andere kognitive Prozesse im Spiel sind, als wenn man versucht, sich in die Situation des anderen zu versetzen (d.h. bei der »Simulation«).3
Die »selbstorientierten« und »fremdorientierten« Teile des Gehirns, die an der mentalen Einfühlung in andere Menschen und in uns selbst beteiligt sind, spielen auch für die Intimität eine wichtige Rolle. Sie nehmen auf, wie sehr Ihr Partner sich wirklich konfrontiert und offenbart, und in welchem Maße sie selbst dies tun. Beides wirkt sich dramatisch auf die empfundene Intensität der Intimität aus. Fremdbestätigte Intimität ist nicht möglich, wenn wir uns nicht in den Geist unseres Partners einfühlen und nicht einschätzen, wie viel Empathie und Wertschätzung er für uns erübrigt und in welchem Maße er uns akzeptiert. Ebenso wenig ist selbstbestätigte Intimität möglich, wenn wir nicht in der Lage sind, uns in unsere eigenen mentalen Zustände einzufühlen.
Das Folgende wird Ihnen wahrscheinlich als »schwer verdaulich« erscheinen: Intimität mit Ihrem Partner beinhaltet nicht zwangsläufig, dass Sie von ihm bekommen, was Sie sich wünschen. Natürlich möchten wir alle akzeptiert werden, und wir wollen uns nicht zurückgewiesen, sondern sicher und geborgen fühlen. Doch Beziehungen, die auf fremdbestätigter Intimität basieren, geraten in Not, wenn einer der Partner einen schlechten Tag hat. Die Ehe ist eine interdependente Beziehung; ihre Resilienz gelangt in der Fähigkeit beider Partner zum Ausdruck, unabhängig voneinander zu agieren. Hätte sich die Ehe über die Jahrtausende auf fremdbestätigte Intimität verlassen, wäre Tapferkeit keine dominierende menschliche Eigenschaft.
Intimität ist ein interpersonaler Prozess, der Selbstkonfrontation und Selbstoffenbarung im Beisein des Partners beinhaltet. Intimität bedeutet, dass wir unseren eigenen Geist in Gegenwart unseres Partners spiegeln und gleichzeitig zulassen, dass auch unser Partner unseren Geist spiegelt. Manchmal akzeptiert und bestätigt Ihr Partner Sie und manchmal nicht.
Leider manifestiert sich Intimität nicht immer so sanft und gut wie die Milch der eigenen Mutter. Sie kann vielmehr auch schwer verdaulich sein und Sie würgen und nach Luft schnappen lassen. Wenn Sie selbst offen sind, kann Ihr Partner Ihnen Empathie, Bestätigung und Unterstützung bieten und Sie akzeptieren – oder er schaut Sie gelangweilt an, macht feindselige Bemerkungen oder sagt gar nichts.
Wenn Ihr Partner Sie nicht akzeptiert oder bestätigt, Sie jedoch in der Lage sind, sich selbst zu bestätigen und zu beruhigen, erleben Sie selbstbestätigte Intimität. Diese manifestiert sich im Allgemeinen zu einem späteren Zeitpunkt im Leben, oft aufgrund einer Notwendigkeit. Sie ist die Grundlage jeder Liebesbeziehung.4
Selbstbestätigte Intimität basiert auf den Vier Aspekten der Balance. Wenn Ihr Partner nicht akzeptiert, was Sie sagen, wenn er Sie offen kritisiert oder wenn er Ihnen keine Beachtung schenkt, benötigen Sie die Fähigkeit zu maßvollem Reagieren und sinnvoller Beharrlichkeit. Bei der fremdbestätigten Intimität steht Ihr gespiegeltes Selbstempfinden im Mittelpunkt.
Paare in der Werbungsphase und frisch Verheiratete leben von fremdbestätigter Intimität. Die meisten Menschen suchen Intimität, um ein Gefühl der Nähe, des Zusammenseins, ein »Wir-Gefühl« zu erleben. Sharon wollte sich mit Thomas eins fühlen, ohne dass es zwischen ihnen noch irgendwelche Grenzen gäbe.
Allerdings erfordern längerfristige Beziehungen selbstbestätigte Intimität. Die Ehe zwingt uns alle, uns weiterzuentwickeln. Deshalb fühlt sich Intimität oft nicht gut an. Sie ist nicht dazu da, Ihnen ein bestimmtes Gefühl zu garantieren, sondern soll dafür sorgen, dass Sie wachsen. Dies leistet sie auf unterschiedliche Weisen.
Erstens ist fremdbestätigte Intimität – die Art von Intimität, die Ihr gespiegeltes Selbstempfinden unterstützt – in einer Ehe definitiv zeitlich begrenzt. Dafür ist der Prozess der Auswahl von Möglichkeiten (und der damit verbundenen Einschränkung) verantwortlich. Irgendwann müssen Sie mit Ihrem Partner über Dinge reden, von denen Sie wissen, dass sie ihm nicht gefallen werden. Er wird Sie nicht bestätigen, wenn Sie über Themen zu reden beginnen, die bei ihm Gefühle der Angst oder Wut hervorrufen. An diesem Punkt, der unvermeidlich irgendwann eintritt, endet die fremdbestätigte Intimität, und eine emotionale Pattsituation tritt ein.
Zweitens entsteht eine Mini-Identitätskrise, wenn Sie sich ehrlich darüber äußern, wer Sie sind, ohne dass Ihnen eine Bestätigung garantiert wird. Wenn es Ihnen gelingt, mit dieser Herausforderung im Beisein Ihres Partners fertigzuwerden, gewinnt Ihre Persönlichkeit an Stabilität. Die Vier Aspekte werden dann bei Ihnen gestärkt, sofern Sie Ihren eigenen Geist spiegeln und außerdem zulassen, dass Ihr Partner Ihren Geist gleichzeitig ebenfalls spiegelt. Dies ist Intimität.
Drittens beinhaltet Intimität zuzulassen, dass Ihr Partner Sie genau kennt. Schon allein dies verursacht ein Gefühl der Unsicherheit. Wenn Sie sich auf ein gespiegeltes Selbstempfinden verlassen, können Sie nicht sicher sein, dass Sie so, wie Sie sind, okay sind. Es wird Ihnen wohl nur schwer gelingen, geliebt zu werden, wenn Ihr Partner Sie nicht richtig kennt. Und es wird Ihnen schwerfallen zuzulassen, dass Sie von einem anderen Menschen gespiegelt werden, wenn Sie sich darüber täuschen, wer Sie wirklich sind. Doch wenn Sie nicht zulassen, dass Ihr Partner Sie wirklich kennt, können Sie sich niemals wahrhaft sicher und geborgen fühlen.
Viertens lässt es sich oft nicht vermeiden, über schwierige und wichtige Dinge zu sprechen. Dies können Sie aber nicht, solange Sie auf fremdbestätigte Intimität setzen. Selbstbestätigte Intimität hingegen ermöglicht Ihnen dies. Sie vermittelt Ihnen kein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, Akzeptiertwerden sowie positiv empfundener Nähe und Wärme. Sie müssen sich vielmehr selbst Halt geben, weil Ihr Partner vielleicht nicht hören will, was Sie zu sagen haben, und Sie nicht, was er Ihnen zu sagen hat. Tatsächlich bringt eine Ansammlung unausgesprochener Dinge Menschen oft dazu, sich der selbstbestätigten Intimität zuzuwenden.
Streitigkeiten über Intimität und das dadurch verursachte emotionale Patt haben Ihren Vorfahren geholfen, das beste Gehirn zu entwickeln, über das Lebewesen auf unserem Planeten verfügen. Und aus genau dem gleichen Grund werden auch Sie dies auf sich nehmen. Das ist völlig normal! Das Wissen um diese Zusammenhänge könnte Ihnen helfen, die Dinge nicht so persönlich zu nehmen.
Sharon wusste das nicht. Als sie mit Thomas zur nächsten Therapiesitzung kam, hatten die beiden wieder einen Streit um Sex und Intimität gehabt. Das war vor drei Tagen gewesen, und Sharon war allem Anschein nach immer noch »auf dem Kriegspfad«.
»Ich habe zu Thomas gesagt: ›Ich habe keinerlei Bedürfnis nach Sex mit jemandem, der mich ausschließt.‹«
Diesmal bemühte sich Thomas, nicht in eine Verteidigungshaltung zu verfallen, und tatsächlich gelang ihm dies. Als es nicht zu dem typischen verbitterten Wortwechsel zwischen ihm und Sharon kam, ließ die Spannung im Raum nach. Sharon wusste nicht genau, was sie tun sollte.
»Siehst du, du sagst mal wieder nichts«, stellte sie fest. Thomas wartete daraufhin einen Moment und antwortete dann: »Ich sage nichts, weil ich versuche, die Situation zwischen uns zu verbessern.« Seiner Stimme fehlten dabei die sonst typische Schärfe und der herablassende Ausdruck. Erst später erfuhr ich, wie es zu dieser Veränderung gekommen war: Er hatte gehört, dass sein bester Freund sich scheiden lassen wollte.
Ich wendete mich an Sharon: »Sie wollen seinen Geist spiegeln. Deshalb möchten Sie, dass Thomas Ihnen seine Gedanken und Gefühle mitteilt.«
»Das stimmt«, antwortete Sharon und beruhigte sich.
»Aber Sie wollen andererseits nicht, dass er Ihren Geist spiegelt – vor allem nicht beim Sex. Sie wollen die Intimität zwischen Ihnen und ihm auf das Reden beschränken. Er soll nur das sehen, was Sie ihm zeigen wollen. Dies verhindert, dass Sie und Thomas in Situationen körperlicher oder emotionaler Intimität etwas erleben, das sich einer friedlichen und gelassenen Atmosphäre nähert.« Sharon nickte. Sie nahm auf, was ich sagte.
»Deshalb erstarren Sie beim Sex, wenn Thomas Sie fragt, was Sie möchten. Sie möchten dem folgen, was er vorgibt – und sich später darüber beschweren. Sie wollen nicht tun, was Sie wollen, denn das würde selbstbestätigte Intimität erfordern. Selbst wenn Thomas das, was Sie wollen, gefallen sollte, offenbaren Sie sich durch die Preisgabe Ihrer Präferenzen, und genau das wollen Sie nicht.«
Sharon schaute mich ernst an: »Was ist, wenn ich nicht weiß, was ich mag?«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie keine Ahnung haben, was Ihnen beim Sex gefallen könnte?«
Sharon hielt einen Moment inne und lächelte dann. »Ich habe da eine ganz vage Idee.«
»Das reicht völlig. Mehr brauchen Sie nicht. Wenn Sie Ihre vage Idee gemeinsam mit Thomas umzusetzen versuchen, wird Ihnen sicher bald klar werden, was Ihnen gefällt.«
Sharon kicherte: »Und was ist, wenn ich mich mit dem, was mir gefällt, nicht ganz wohlfühle?«
Offensichtlich wusste Sharon mehr über ihre Sexualität, als sie zugeben konnte. Ich schaute ihr in die Augen und dachte: Ich weiß, dass Sie mehr wissen, als Sie zugeben können. Sie verbergen Ihre erotische Seite! Sharon hielt meinem Blick stand, las meine Gedanken und errötete.
Intimität erfordert mentale Einfühlung. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, dass Ihr Partner im Augenblick tief mit Ihnen verbunden ist, dass Sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit genießen, erzeugt das ein Gefühl des »Zusammenseins«. Ebenso ist die Realisation, dass Sie bestimmte Aspekte Ihres Partners nicht kennen, ein Teil der Intimität. Wenn Sie in seinem Geist etwas erkennen, das Sie vorher noch nicht gesehen hatten, werden Sie damit konfrontiert, dass Sie Ihren Partner immer noch nicht vollständig kennen.
Intensive intime Erlebnisse sind »Augenblicke der Begegnung«. Diese sind immer faszinierend, wirken aber nicht immer beruhigend. In diesen Momenten spürt ein Mensch, was im Geist des anderen, der ihm gegenübersteht, vor sich geht. Beide Beteiligten (er)kennen einander. Denken Sie daran, was ich Ihnen an früherer Stelle über die neurowissenschaftliche Hypothese gesagt habe, der Geist entwickle während des ganzen Lebens in Augenblicken der Begegnung (intersubjektiven Zuständen) neue Verbindungen. Dies würde bedeuten, dass Intimität einen Nutzen hat, der weit über alles bisher Vorstellbare hinausgeht.
Reziproke mentale Einfühlung entspricht dem, was die meisten Menschen sich unter Intimität vorstellen. Ein umgangssprachlicher Ausdruck dafür ist, »offen zueinander sein«. Dies verweist auf unsere höchsten Bestrebungen, verstärkt aber auch unser gespiegeltes Selbstempfinden. Was ist, wenn Ihr Partner nicht Gleiches mit Gleichem honoriert? Intimität beinhaltet nicht immer die Erlaubnis, den Geist eines anderen zu spiegeln oder gegenseitige rückhaltlose Offenheit oder auch nur ein freundliches Wort.
Thomas wollte nicht, dass Sharon in seinen Kopf schaute. Er offenbarte weder seine Gefühle, noch forderte er sie auf, die ihren zu offenbaren. Er konnte sie aber nicht daran hindern zu merken, dass es ihm nicht recht war, wenn sie versuchte, sich in seine Gedanken und Gefühle zu versetzen. Sharon war klar, dass er seine Gedanken gegen sie abschirmte, auch wenn sie nicht genau wusste, weshalb er das tat. Manchmal versuchte er zu kaschieren, dass er sich verbarg. In anderen Fällen wollte er Sharon wissen lassen, dass er sie aussperrte, weil ihm klar war, dass dies sie verletzen würde.
Solche Augenblicke ergaben sich, wenn sie morgens zusammen frühstückten. Sharon versuchte dann, mit Thomas ein Gespräch zu beginnen. Er hingegen las demonstrativ Zeitung. Wenn sie ihre Bemühungen trotzdem fortsetzte, schaute er sie mit durchdringendem Blick an und brüllte schließlich: »Versuch’ mir nicht ins Gehirn zu schauen! Lass’ mich in Ruhe!«
Dieser intime Augenblick zwischen zwei Menschen, die einander gut kannten, fühlte sich für Sharon schrecklich an. Thomas wollte nicht, dass sie ihn so kannte, wie er wirklich war, und er versuchte, ihr dies klarzumachen. Er wusste, dass er sie dadurch verletzen würde, und er beobachtete, wie ihr gespiegeltes Selbstempfinden daraufhin in sich zusammenfiel. In diesem Moment sah Sharon die Seite von Thomas, die sie hasste: Obwohl ihm klar war, dass sie dies verletzen würde, tat er es trotzdem. Sharon nahm ihm das übel, und es machte sie fertig. Dieses intersubjektive Erlebnis wirkte sich sehr negativ auf ihre Fähigkeit aus, ihren Alltag zu bewältigen.
In Teil I haben wir festgestellt, dass sexuelles Verlangen mehr als ein Gefühl ist, nämlich ein komplexes System, das in Liebesbeziehungen in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle spielt. Das Gleiche gilt für Intimität.
Intimität ist parallel zum Selbstempfinden des Menschen entstanden. Unsere Vorfahren lernten durch Versuch und Irrtum, dass der Austausch faktischer und emotionaler Informationen einen intersubjektiven Zustand erzeugte, der bewirkte, dass sie sich besser fühlten. Da wir unseren Lebensweg mit einem gespiegelten Selbstempfinden beginnen, war die Entstehung einer fremdbestätigten Intimität praktisch unvermeidlich. Ebenso wie durch die Tatsache, dass ein Partner ein schwächeres und der andere ein stärkeres Verlangen hat, ein Wachstumsprozess initiiert werden kann, kann auch der Konflikt zwischen fremdbestätigter und selbstbestätigter Intimität dies bewirken. Wenn Sie einmal darüber nachdenken, wer die Intimität kontrolliert, werden Sie auch noch andere wichtige Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden genannten Phänomenen feststellen.
Aus Kapitel 1 wissen Sie, dass der Partner mit dem schwächeren Verlangen immer die Kontrolle über den Sex hat. Bei der Intimität verhält es sich genauso: Der Partner mit dem schwächeren Verlangen nach Intimität hat immer die Kontrolle über diese – solange die beiden Partner die Vier Aspekte der Balance nicht entwickeln und deshalb weiter von fremdbestätigter Identität abhängig bleiben.
Auch hier ist der Prozess der Einschränkung von Möglichkeiten durch Auswahl der Grund: Wenn Sie mit einem anderen Menschen eine Partnerschaft begründen, offenbaren Sie einander Dinge, die Sie miteinander verbinden, und Dinge, von denen Sie aufgrund Ihrer mentalen Einfühlung glauben, dass Ihr Partner sie akzeptieren wird. Irgendwann sind diese Offenbarungen »verbraucht«. Sie erneut zu offenbaren erzeugt dann kein Gefühl der Intimität mehr, denn Intimität erfordert, dass Sie im Laufe der Entwicklung Ihrer Beziehung Neues über sich preisgeben.
Irgendwann stehen Sie und Ihr Partner vor der Notwendigkeit, mit Dingen herauszurücken und sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die der jeweils andere nicht garantiert akzeptiert und bestätigt. Einen schicksalhaften Punkt erreichen Sie, wenn der Partner mit dem schwächeren Verlangen nach fremdbestätigter Intimität nicht mehr bereit ist weiterzugehen – wenn er das, was sein Partner ihm zu sagen hat, nicht mehr hören will. Er offenbart sich dann selbst nicht mehr und lässt die Offenbarungen des Partners nicht mehr an sich heran. So entscheidet der Partner mit dem schwächeren Verlangen über das Niveau der Intimität.
Nun sind wir an den Punkt gekommen, von dem ab sich die Wirkungsweisen des sexuellen Verlangens und der Intimität unterscheiden. Beim Sex hat der verlangensschwächere Partner immer die Kontrolle. Durch Arbeit an der Entwicklung der Vier Aspekte lernen beide Partner, mit dieser Tatsache besser umzugehen. Doch ganz gleich, ob sie einen hohen Differenzierungsgrad erreicht haben oder sich noch im Zustand emotionaler Verschmelzung befinden, der verlangensschwächere Partner hat in jedem Fall die Kontrolle über den Sex.
Bei der Intimität verhält es sich anders, weil fremdbestätigter und selbstbestätigter Intimität unterschiedliche Dynamiken zugrunde liegen. Ihr Differenzierungsniveau verändert die Funktionsweise der Beziehung. Bei fremdbestätigter Intimität entscheidet immer der verlangensschwächere Partner über das Intimitätsniveau. Doch wenn beide Partner die Vier Aspekte entwickeln, beginnen sie, die selbstbestätigte Intimität zu erforschen, und dadurch verändert sich die ganze Situation: Der Partner mit dem stärkeren Verlangen nach selbstbestätigter Intimität – also der in dieser Hinsicht verlangensstärkere Partner – bestimmt Zeitpunkt und Häufigkeit intimer Situationen und deren Tiefe.
Bei der fremdbestätigten Intimität verhält es sich genau wie beim Sex: Der Partner mit dem schwächeren Verlangen entscheidet, was geschieht. Wenn Sie ein stabiles und gleichzeitig flexibles Selbst haben und in der Lage sind, sich selbst zu beruhigen, stehen Sie zu dem, was es bei Ihnen zu offenbaren gibt, und Sie können alles sagen, was Sie sagen müssen. Ihr Partner hat dann keinen Einfluss auf Sie oder auf das Niveau der Intimität in Ihrer Ehe oder Beziehung.
Natürlich kann der hinsichtlich der Intimität verlangensschwächere Partner jederzeit aufstehen und weggehen, ebenso wie der Partner mit dem schwächeren sexuellen Verlangen jederzeit den Sex verweigern kann. Doch diese Karte lässt sich nur in gewissen Grenzen ausspielen, wenn man den Bestand der Ehe nicht gefährden will – und vor allem, wenn man weiterhin glücklich verheiratet bleiben will.
In Kapitel 3 ging es darum, dass der Partner mit dem schwächeren sexuellen Verlangen auch das Gefühl des verlangensstärkeren Partners, seinen Ansprüchen gerecht zu werden, kontrolliert. Das ist deshalb so, weil das Selbstempfinden des verlangensstärkeren Partners auf sexueller Aktivität beruht und darauf, dass er sexuell begehrt wird. Tatsächlich hängt es auch hinsichtlich der Intimität vom verlangensschwächeren Partner ab, ob der andere sich wohlfühlt – und zwar aus ähnlichen Gründen wie beim Sex.
Wenn Sie sich von fremdbestätigter Intimität abhängig machen, leidet Ihr Selbstwertgefühl darunter, dass Ihr Partner nicht mit Ihnen reden will. Damit verhält es sich genauso, wie wenn ein Mensch mit starkem sexuellem Verlangen psychisch zusammenbricht, weil sein Partner aufgrund seines schwächeren Verlangens keinen Sex mit ihm will. Sharon fühlte sich gut, wenn Thomas ihr seine Gefühle und Gedanken offenbarte und zuließ, dass sie sich in das, was in seinem Geist vor sich ging, einfühlte. Gestattete er ihr dies nicht, fühlte sie sich zurückgewiesen. Er wollte auf diese Weise verhindern, dass sie Dinge herausfände, die sie verletzt hätten.
Natürlich sah Sharon dies anders. Sie glaubte, Thomas habe Probleme mit Intimität. Sie wollte ihm nur nahe sein. Nach ihrer Auffassung fixierte Thomas sich auf Sex, um Intimität zu vermeiden.
So entstand ein massives Patt. Wenn bei Menschen die Vier Aspekte nicht gut entwickelt sind, können die Betreffenden Intimität nur in sehr begrenztem Maße ertragen. Doch obwohl Sharon so sehr darüber klagte, dass Thomas zu Intimität nicht in der Lage sei, wollte sie doch andererseits nichts von ihm hören, was ihr nicht schmeichelte und sie nicht bestätigte. Außerdem reagierte sie sehr zurückhaltend, wenn Thomas auf sexuelle Intimität zusteuerte.
Tatsächlich war Sharon unwohl dabei, sexuell erkannt zu werden. Sie führte das darauf zurück, dass sie sich bei Thomas nicht sicher und geborgen genug fühle. (Demnach wäre Thomas dafür verantwortlich gewesen, dass sie sich sicherer fühlte.) Sharon verbarg sich beim Sex, weil ihr sexuelle Situationen als zu enthüllend und somit als zu intim erschienen – weil sie über das hinausgingen, was die Entwicklungsstufe der Vier Aspekte der Balance ihr ermöglichte. Sharon wehrte sich dagegen, dass Thomas versuchte, ihre geheimen sexuellen Wünsche und Phantasien herauszufinden. Insofern verhielt sie sich genau wie Thomas, wenn dieser sie daran hinderte, in seinen Gefühlen »herumzuschnüffeln«.
Sharon hatte Thomas gegenüber die Kontrolle über den Sex, weil von ihr auch abhing, ob Thomas sich begehrenswert fühlte. Dies hatte ein Ende, als Thomas sich nicht mehr von Fremdbestätigung abhängig machte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hörte er auf, lautstark zum Gegenangriff überzugehen, und stattdessen senkte er den Blick und sagte ruhig und mit trauriger und ernster Miene: »Weißt du, ich ertrage es einfach nicht mehr, mich wegen Sex zu streiten oder darüber zu diskutieren.«
Dieses Verhalten hatte Sharon bei ihm vorher noch nie erlebt. Wenn er aufstand oder zu Bett ging, war es für sie, als hätte sie einen völlig fremden Menschen vor sich. Dann fühlte sie sich in seinen Geist ein, und ihr wurde klar, dass er die Wahrheit sagte und dass er sie dies auch wissen lassen wollte. Sie spürte, dass sie die Kontrolle über ihn verlor, und das ängstigte sie. Sowohl im Bereich der Intimität als auch in dem des Sex verliert der verlangensschwächere Partner die Kontrolle über die Beziehung, wenn der verlangensstärkere ein stabileres und flexibleres Selbst entwickelt.
Gegen fremdbestätigte Intimität oder dagegen, dass Sharon sich diese wünschte, ist an und für sich nichts einzuwenden. Angesichts ihres gespiegelten Selbstempfindens war dieser Wunsch völlig plausibel. Das Problem ist, dass diese Quelle der Bestätigung nach einer Weile austrocknet. Ihr Partner kämpft um den Erhalt seiner Autonomie, und dieser Kampf gelangt zum Ausdruck, indem er sich weigert, Sie zu jedem von Ihnen gewünschten Zeitpunkt zu bestätigen und zu beruhigen. So ist das nun einmal in einer Ehe.
Wahrscheinlich gefällt Ihnen die Phantasievorstellung, sich in einer Liebesbeziehung zu verlieren. Das klingt zunächst sehr romantisch. Doch wenn die Vier Aspekte bei Ihnen nicht ausreichend entwickelt sind, kommt es unweigerlich zu einem Konflikt zwischen dem Streben nach Autonomie und dem Bedürfnis nach einer Bindung. Ihre eigenen Abhängigkeits- und Autonomiebedürfnisse stimulieren den Differenzierungsprozess. Das Bedürfnis nach Getrenntheit tritt bei Ihnen und Ihrem Partner zutage, wenn die Abhängigkeit von fremdbestätigter Intimität den Weg alles Irdischen gegangen ist.
Wenn Sie sich davon abhängig fühlen, akzeptiert und bestätigt zu werden und der Empathie Ihres Partners gewiss sein zu können – in Verbindung mit dem Gefühl, ein Anrecht auf all dies zu haben –, entsteht ein Zustand emotionaler Stagnation. In längerfristigen Liebesbeziehungen hat fremdbestätigte Intimität nur für begrenzte Zeit Bestand.
Viele Paare erreichen durch gegenseitige Bestätigung und freien Austausch zeitweise ein hohes Maß an Intimität; doch sobald die Funktionsübertragung ihren Dienst versagt, gelingt es ihnen nicht mehr, dieses hohe Niveau aufrechtzuerhalten. Beziehungen, die auf fremdbestätigter Intimität beruhen, geraten in Gefahr, wenn einer der Partner den anderen nicht mehr vorbehaltlos bestätigt oder sich nicht mehr im gleichen Maße wie der andere offenbart.
Sharon forderte von Thomas, sie auf der Basis von Gegenseitigkeit zu akzeptieren, bevor sie sich ihm sexuell öffnen wollte. Es gelang ihr aber nicht, sich das Gefühl, akzeptiert zu werden, zu sichern, bevor sie sich offenbarte. Was sie sich wünschte, erforderte, dass Thomas sie in Kenntnis ihres Zustandes akzeptierte. Dieses inhärente Paradox liegt bei zahllosen Paaren vor, und je schwächer die Vier Aspekte der Balance bei Partnern ausgeprägt sind, umso schneller tritt es ein. Die entscheidende Frage ist, ob Sie weiter auf dem Unmöglichen beharren wollen oder ob Sie erwachsen werden – womit ich meine, dass Sie sich von unrealistischen Erwartungen lösen und sich trauen, Ihre erotische Persona zu offenbaren. Das ist zwar leichter gesagt als getan, aber durch Entwicklung der Vier Aspekte können Sie es schaffen.
Zunächst glaubte Sharon, ein Anrecht darauf zu haben, das, was sie erwartete, zu bekommen, und deshalb schränkte sie ihre Erwartungen nicht ein. »Was ist denn dagegen zu sagen, dass ich mich akzeptiert fühlen möchte? Ich weiß ja nicht, was für eine verkorkste Ehe Sie haben; ich jedenfalls möchte von Thomas akzeptiert werden! Wer will denn schon mit jemandem zusammenleben, der einen nicht akzeptiert?«
Ich wartete einen Moment und sagte dann langsam und mit leiser Stimme: »Ihnen ist wichtiger, akzeptiert und bestätigt zu werden, als wirklich erkannt zu werden. Sie fordern, akzeptiert zu werden, bevor Sie bereit sind, sich zu offenbaren. Sie glauben, das Problem liege bei Thomas. Tatsächlich erzeugen Sie durch Ihre Forderung ein logisches Dilemma und treiben dadurch sich selbst und Thomas zum Wahnsinn.
So sehr Thomas Sie auch akzeptiert und bestätigt, Sie werden sich nie geborgen und akzeptiert fühlen, solange Sie nicht das ganze Bild von sich offenbaren, mit Warzen und allem, was sonst noch dazugehört – ohne bei der Schilderung zu tricksen und ohne etwas zurückzuhalten. Ich weiß nicht, ob Thomas dann Beifall klatschen oder schreiend aus dem Haus laufen wird. Aber Sie verhindern beide, dass Sie einander voll und ganz sehen, wie Sie sind, und damit auch, dass Sie einander vollständig kennenlernen und erkennen. Dass Thomas Sie vorab und ohne jede Vorbedingung akzeptiert, ist unmöglich. Falls Sie sich tiefe Intimität wünschen: Sie befindet sich direkt vor Ihren Augen. Sie brauchen nur die Initiative zu ergreifen und sich so zu zeigen, wie Sie wirklich sind.«
Während ich dies sagte, sammelte Sharon sich. Sie war nun gefasst genug, um zu erkennen, dass sie gegen die Gesetzmäßigkeiten der Situation, in der sie sich befand, keinerlei Chance hatte. Sie nickte und sagte: »Ich habe gehört, was Sie gesagt haben.« Ihre Augen sagten: Ich sehe, was Sie tun, und ich danke Ihnen.
Die Natur hat verschiedene Mechanismen entwickelt, die dafür sorgen, dass Sie bezüglich der Intimität früher oder später in eine Pattsituation geraten. Beispielsweise kann es dazu aus folgenden Gründen kommen:
Partner, die zunächst alles akzeptieren und einander in jeder Hinsicht bestätigen, hören damit auf, wenn sie das Gefühl entwickeln, sich kompromittiert oder verraten und ihre Integrität verletzt zu haben. Die Art, wie wir durch Liebesbeziehungen stolpern und wie wir darin fremdbestätigte Intimität suchen, führt zwingend zu emotionalen Pattsituationen.
Intimitätsprobleme verursachen Schwierigkeiten, die das sexuelle Verlangen betreffen, und umgekehrt erzeugen Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, solche der Intimität. Ist ein Intimitätsproblem entstanden, gehen Menschen mit einem geringen Differenzierungsgrad unabhängig von der Ursache des Problems auf eine Weise damit um, die das Verlangen beeinträchtigt. Wenn Sie hinsichtlich Empathie, Verständnis, Akzeptiertwerden und Bestätigung von Ihrem Partner abhängig sind, müssen Sie damit rechnen, dass in Ihrer Beziehung oder Ehe Probleme des sexuellen Verlangens auftreten werden.
Manchmal ist beim Partner mit dem schwächeren Verlangen bezüglich der Intimität auch das sexuelle Verlangen schwächer. (Dies ist bei dem Paar, das im nächsten Kapitel vorgestellt wird, der Fall.) Der verlangensschwächere Partner verfügt dann über sehr viel Einfluss. Er kontrolliert die körperliche und emotionale Intimität und kann deshalb das gespiegelte Selbstempfinden des verlangensstärkeren Partners nach Belieben manipulieren.
Bei Paarbeziehungen wie derjenigen von Sharon und Thomas jedoch, in denen beide Partner jeweils in einem anderen Bereich die Rolle des verlangensschwächeren Partners spielen, ist die Situation eine andere. Sharon hatte die Kontrolle über Thomas’ Selbstwertgefühl im Hinblick auf Sex. Und Thomas kontrollierte Sharons Selbstwertgefühl im Hinblick auf Intimität. Beide fühlten sich zurückgewiesen, vom Partner kontrolliert und emotional unzulänglich. Beide enthielten dem Partner aus Wut vor, was dieser von ihnen wollte. Doch selbst als sie aufhörten, einander die gewünschte Bestätigung vorzuenthalten, befanden sie sich hinsichtlich Intimität und Verlangen weiterhin in einem Patt.
Thomas ließ Sharon gegenüber nicht erkennen, dass sie in seinem Leben eine besondere Rolle spielte. Er sah sich nicht in der Lage, ihr diese Bestätigung zu gönnen, weil er das Gefühl hatte, sie habe ohnehin zu großen Einfluss auf ihn. Sein Eindruck war, dass er für Sex mit Gesprächsbereitschaft und Selbstoffenbarungen bezahlen sollte.
Sharon war eifersüchtig auf den besten Freund ihres Mannes, Phil. Sie wollte selbst die engste Vertraute von Thomas sein. Sie glaubte, Thomas spreche mit Phil über sie, und sie sorgte sich, was Phil über sie denken mochte. Thomas war klar, dass sie seine Offenheit Phil gegenüber erheblich höher einschätzte, als sie tatsächlich war, doch diese Fehleinschätzung und die daraus resultierende unnötige Aufregung waren ihm durchaus recht. Sie enthielt ihm den Sex vor, und er rächte sich an ihr, indem er ihr gegenüber verschlossen blieb. Menschen, die sich von einem gespiegelten Selbstempfinden abhängig machen, haben oft das Gefühl, ihren Partnern etwas »heimzahlen« zu müssen.
Es gibt noch einen anderen wichtigen Grund für Sharons und Thomas’ Probleme mit dem Begehren: Menschen, die wir ständig bestätigen müssen, begehren wir nicht – zumindest nicht als langfristige Partner. Gegenseitige Bestätigung spielt zwar in der Zeit der Partnersuche eine wichtige Rolle, nicht jedoch in einer Ehe oder einer langfristigen Beziehung: Wenn das Bedürfnis, akzeptiert und bestätigt zu werden, in einer Beziehung die wichtigste Rolle spielt, büßen wir unser Verlangen nach unserem Partner und unseren Respekt vor ihm ein.
Auf Druck können wir reagieren, indem wir ihm entweder nachgeben oder uns dagegen wehren, und beides verstärkt Pattsituationen. Wenn Sie von Ihrem Partner unter Druck gesetzt werden, ihn zu bestätigen und zu akzeptieren, treibt Sie dies möglicherweise dazu, sich dieser Tyrannei zu widersetzen. Das sexuelle Verlangen nimmt ab, wenn Ihr Drang, sich Druck zu widersetzen oder zu entziehen, stärker wird.
Die Regel, dass wir kein sexuelles Verlangen nach einem Partner verspüren, den wir ständig bestätigen müssen, passt auf die Situation von Sharon und Thomas. Dass Thomas sie so sehr brauchte, stieß Sharon ab. Inwiefern auch das Verhalten von Thomas der Regel entspricht, ist nicht so leicht zu erkennen. Er wollte Sex mit Sharon, verspürte ihr gegenüber aber kein Verlangen. Er wollte eindeutig nicht mit ihr reden. Er empfand sie emotional nicht als attraktiv oder begehrenswert, und tatsächlich war sie das auch oft nicht. Thomas war in diesem Fall deshalb der Partner mit dem stärkeren sexuellen Verlangen, weil er nicht bereit war, völlig auf Sex zu verzichten, nicht aber, weil er Sharon wirklich »wollte«. Dies verstärkte die Pattsituation zwischen beiden, weil Sharon es ausgezeichnet verstand, sich in Thomas’ Geist einzufühlen.
Sharon wollte keinen Sex, weil sie den Eindruck hatte, Thomas empfinde ihre »Verfügbarkeit« als selbstverständlich. Sie hatte keine Lust mehr, Thomas das Gefühl zu geben, er sei begehrenswert. Sie fühlte sich durch ihre Abhängigkeit von Thomas kontrolliert – und das war auch häufig der Fall. Sie fühlte sich durch ihn eingeschränkt, unter Druck gesetzt und zum »Mitmachen« verpflichtet.
Zu Beginn ihrer gemeinsamen Beziehung hatte das Verlangen von Thomas nach Sex Sharons Verlangen verstärkt, weil sie sich aufgrund dessen geschätzt und gebraucht fühlte. Manchmal hatten sie in dieser Zeit drei- oder viermal pro Woche Sex gehabt. Doch nach dem ersten Jahr war Sharons Feuer heruntergebrannt. Thomas fing nun an, ihr Schuldgefühle zu vermitteln und sie für seine Befriedigung verantwortlich zu machen. Und Sharon begann, ihm »nachzugeben«. Nach 15 Jahren des Nachgebens hatte sie jeglichen Respekt vor Thomas verloren.
Thomas war es ähnlich ergangen. Anfangs hatte ihm gefallen, dass Sharon so offen über sich sprach. So hatte sie ihn aus der Reserve gelockt und ihn dazu gebracht, mehr von sich preiszugeben als je zuvor. Es gefiel ihm, dass Sharon an ihm interessiert war. Sie war eine gute Zuhörerin. Sie brachte ihn dazu, mehr über sich und sein Leben nachzudenken. Ihm gefiel auch, dass Sharon im Bett wagemutiger wurde. Thomas nahm an, dass sie erotisch aktiver werden würde, wenn sie sich bei ihm geborgener fühlte. Er vermutete, dass dies sehr interessant werden könnte.
Doch jeder Schritt in Richtung einer festen Paarbeziehung verstärkte bei Thomas das Gefühl, er müsse ersticken. Eigentlich hatte das Problem schon mit ihrer Verlobung begonnen. Dass Thomas sich nicht verloben wollte, hatte Sharon verletzt. Das Gleiche wiederholte sich, als sie heirateten. In beiden Fällen hatte er sich verpflichtet gefühlt, seinen Zweifeln keine Beachtung zu schenken und Sharon zu versichern, dass er sie wolle. Thomas schätzte Sharon als emotional sehr abhängig ein. Er wollte nicht mit ihr reden, weil sie, wie er glaubte, von ihm erwartete, dass er »sein Innerstes nach außen kehrte«. Außerdem gefiel ihm nicht, dass Sharon ihm vorwarf, es falle ihm schwer, seine Emotionen zu zeigen.
Es ist schwer vorstellbar, dass in alldem eine produktive Kraft am Werk ist. Doch die Natur hat dem Menschen ein Gehirn gegeben, das mit den traumatischen Situationen des Lebens fertigwerden kann. Die Hirnforschung dokumentiert die neurobiologischen Schäden, die durch Traumata entstehen. Doch vor Millionen von Jahren war das Leben wesentlich traumatischer als heute. Ohne Resilienz hätte sich das menschliche Gehirn aufgrund solcher Erlebnisse zurückentwickelt, statt sich weiterzuentwickeln. Um an den Punkt zu kommen, an dem wir heute stehen, mussten wir Menschen natürliche Systeme entwickeln, mit deren Hilfe unser Gehirn sich selbst reparieren konnte. Vielleicht haben emotionale Patts noch eine andere Funktion, als dass die Natur uns mit ihrer Hilfe dazu antreibt, uns weiterzuentwickeln.
Wissenschaftler wissen, dass das Gehirn während des ganzen Lebens alte dominierende (»eingefahrene«) neuronale Pfade entfernt und neue aufbaut. Dadurch verändert sich die Funktionsweise unseres Geistes bis hin zu den Gedanken, die wir denken, den Emotionen, die wir empfinden, und den Verhaltensweisen, die wir ausführen (oder nicht ausführen). Außerdem verändert diese ständige Regeneration unsere Selbstwahrnehmung sowie unsere Wahrnehmung anderer Menschen und unserer Umgebung. Ich bin überzeugt, dass die Auflösung von Stagnations- oder Pattzuständen bei diesem Prozess eine Schlüsselrolle spielt. Ich nehme an, dass die Natur mit Hilfe von Patts spontan »neuronale Plastizität« erzeugt. Ein Patt spitzt Ihre Situation zu, und Ihr Gehirn wird durch aktuelle Deutungsversuche und durch Angst extrem stark aktiviert, insbesondere wenn es dabei um Verlangen geht. Solche Zustände mögen Ihnen missfallen, doch wahrscheinlich wirken sie sich, klug genutzt, positiv auf die Erzeugung neuer Neuronenverbindungen aus.
Wir sind nicht nur Ausdruck unseres biologischen Erbes. Wir sind Mitschöpfer unseres eigenen Gehirns und Geistes. Wir beeinflussen zunehmend unsere biologischen Grundlagen, statt umgekehrt.5 Wenn wir Liebesbeziehungen als bloßen Ausdruck unserer genetischen Grundlagen oder unserer Kindheit verstehen, verfälschen wir die realen Verhältnisse erheblich.
Bevor Sharon und Thomas zu mir kamen, glaubten sie, das Problem in ihrer Beziehung zu kennen: Sie waren überzeugt, dass sie absolut nicht harmonierten und sich auf zwei völlig unterschiedlichen Wellenlängen befänden. Sharon klagte, zwischen ihnen bestehe keine Verbindung, und sie komme nicht in den Genuss der »Spiegelung«, die sie brauche. Diesen Begriff hatte sie in einem Buch gelesen, in dem beschrieben wurde, was sie sich wünschte: dass sie und Thomas wie eine Person interagierten.
Doch Sharons Vorstellung von »Spiegeln« beinhaltete nichts anderes, als dass ihr gespiegeltes Selbstempfinden aufgebläht und ihr Selbstbild (verzerrt, wie es war) ihr widergespiegelt würde. Das Feedback, das sie stattdessen erhielt, war ein zutreffendes Bild ihrer selbst als einer kontrollbesessenen Person – ein Eindruck, den hervorzurufen sie nie geglaubt hatte.
Tatsächlich »harmonierten« Sharon und Thomas zu sehr. Vielleicht ist Ihnen dies ohnehin schon klar geworden. Die Verbrämung mehrerer Pattebenen, Verweigerungsduelle, gespiegeltes Selbstempfinden und Abhängigkeit von fremdbestätigter Intimität erzeugen eine Art von »Harmonie«, die man sich nicht wünschen kann. Anders als Sharon und Thomas selbst es empfanden, glichen sie siamesischen Zwillingen, die durch ihr gespiegeltes Selbstempfinden, ihre Abhängigkeit von fremdbestätigter Intimität, ihre Probleme mit der Regulierung ihrer Emotionen, ihre Überreaktionen und ihre mangelnde Bereitschaft, sich ins Unbekannte vorzuwagen, miteinander verbunden waren. Sie hatten das Gefühl, nicht im Einklang zu sein, weil ihr Verhältnis so stark vom Zustand emotionaler Verschmelzung bestimmt war.
Fremdbestätigte Intimität ist personenbezogene Synchronizität, der Heilige Gral der nie endenden Suche nach dem perfekten Seelenpartner. Synchronizität bedeutet, dass der eine Partner sich offenbart und der andere dies akzeptiert und bestätigt und/oder sich in gleicher Weise offenbart. Die Bedeutung emotionaler Synchronizität ist wohlbekannt: Potentielle Partner kommen einander durch synchrones Verhalten näher – indem sie einander absichtlich oder unbewusst spiegeln. Wenn sie gemeinsam ausgehen und der eine seine Beine übereinanderschlägt, tut die andere dies auch. Lehnt sich der eine vor, macht die andere es ihm nach. Erzählt der eine Witze, lacht die andere. Untersuchungen haben ergeben, dass es zwischen potentiellen Partnern wahrscheinlich nicht zum Sex kommt, wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Verhalten in erheblichem Maße zu synchronisieren.6
Vor 70 Jahren stand die Synchronizität zwischen Mutter und Kind im Mittelpunkt der psychologischen Erforschung des Lebens von Kindern. Fütterte die Mutter ihr Baby, wenn es Hunger hatte und deshalb weinte? Schaute sie das Kind an, wenn es versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Tröstete sie das Kind, wenn es aufgebracht oder gereizt war? Lange herrschte in Expertenkreisen die Überzeugung, je stärker die Synchronizität, umso besser sei die Bindung zwischen Mutter und Kind und umso besser gehe es dem Baby.
In den vergangenen Jahrzehnten haben Entwicklungspsychologen untersucht, was geschieht, wenn Kinder und ihre Mütter sich nicht im Zustand des Einklangs befinden. Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass heute Zeitspannen, die Mutter und Kind nicht im Einklang miteinander verbringen, nicht mehr als für den Aufbau von Bindungsbeziehungen verlorene Zeit angesehen werden. Vielmehr stellte sich heraus, dass Zeitspannen des Nicht-Einklangs mit der Mutter für die Kinder ebenso wichtig sind wie Zeiten, in denen die Verbindung zwischen Mutter und Kind »synchronisiert« ist. Einklang und Nicht-Einklang sind schlicht die beiden unterschiedlichen Hälften eines Beziehungsganzen.
Babys werden von ihrer Geburt an neuronal darauf vorbereitet, dass ihr Einklang mit der Betreuungsperson unterbrochen werden kann. Und mehr noch: Babys unterbrechen den Einklang mit ihren Betreuern sogar selbst mehrmals pro Minute. Dies tun sie, um bei zu starker Erregung ihre Herzfrequenz und ihre Beziehung zu beeinflussen. Die Zeitspannen des Nicht-Einklangs mit der Betreuungsperson bereiten sie auf die Wiederaufnahme der positiven Beziehung zu ihr vor.7
Sharon und Thomas verfingen sich häufig in sich verstärkenden negativen Regelkreisen und übermittelten einander »disqualifizierende Botschaften«. Schließlich wurde ihnen klar, dass es ebenso wichtig war, in einer negativen Situation den Zustand der Synchronisation zu unterbrechen, wie Einklang im positiven Sinne herzustellen. Sie mussten unabhängiger voneinander agieren können, ihre Muster durchbrechen und einander andere Botschaften zusenden. Dies war der Weg zu einer neuen Art von Einklang, der mit einer tieferen, stabileren und angenehmeren Intimität verbunden war. Sie konnten dies mit Hilfe ihrer Vier Aspekte erreichen.
Für Partner ist es also nicht immer negativ, den Einklang zu unterbrechen, und manchmal ist dies sogar im Gegenteil wichtig: Um ein Patt aufzulösen, müssen Sie absichtlich »aus dem Tritt« kommen und die negativen Echos in Ihrer Beziehung dämpfen. Mehr brauchen Sie nicht zu tun, um ein Patt hinsichtlich Intimität und sexuellem Verlangen zu durchbrechen. Allerdings kann es sehr schwierig sein, dies in die Tat umzusetzen. Hier spielen die Vier Aspekte eine entscheidende Rolle.
Auch die selbstbestätigte Intimität ist hier von großer Bedeutung: Fremdbestätigte Intimität erfordert, dass beide Partner sich im Einklang befinden; bei selbstbestätigter Intimität ist das nicht notwendig. Selbstbestätigte Intimität ermöglicht es sogar geradezu, den Zustand des Einklangs mit dem Partner auf eine positive Weise zu unterbrechen.
Selbstbestätigte Intimität ist ein positives »Nicht-Einklangs«-Erlebnis. Es ist für Sie selbst, für Ihre Beziehung und für Ihren Partner positiv (auch wenn er das zum Zeitpunkt des Geschehens anders sehen mag). Selbstbestätigte Intimität durchbricht die Tyrannei des »Gleichschritt«-Einklangs und unterbindet die Attacken negativer emotionaler Reaktionen. In der Regel werden dadurch Brüllduelle seltener, weil Sie sich von Ihrem Partner nicht mehr kontrolliert fühlen.
An früherer Stelle haben wir uns damit befasst, dass ein Partner das Niveau der Intimität nur kontrolliert, solange der andere sich auf fremdbestätigte Intimität verlässt. Wenn Sie Ihre emotionale Balance von Ihrem Partner abhängig machen, sind emotionale Pattsituationen unvermeidbar. Doch wenn Sie zu selbstbestätigter Intimität wechseln, erlangen Sie die Kontrolle über den Grad der Intimität, weil Sie das Einvernehmen Ihres Partners nicht brauchen, um das Intimitätsniveau zu erhöhen. Selbstbestätigte Intimität beinhaltet, dass Sie sich selbst bestätigen, akzeptieren und beruhigen. Sie verschafft Ihnen die Freiheit zu sagen, was Sie sagen müssen. Sich aus einer Pattsituation zu befreien bedeutet, dass Sie an sich selbst festhalten und auf sich selbst vertrauen: Selbstbestätigte Intimität stellt Ihre Identität und Ihr Selbstwertgefühl auf den Prüfstand. Sie fragt: »Was glaubst du, wer du bist?!«
Selbstbestätigte Intimität sagt Ihrem Partner nicht, wie sehr Sie ihn hassen, lässt Sie nicht Ihr Gift unter dem Deckmantel der Aufrichtigkeit versprühen, sondern stärkt die Vier Aspekte. Es geht um eine Selbstkonfrontation und darum, dass Sie sich mit Dingen auseinandersetzen, die Sie bisher gemieden haben. Dies erfordert, dass Sie sich beruhigen, sich so weit bestätigen, dass Sie der Wahrheit ins Auge blicken können, und dass Sie das Risiko auf sich nehmen, eventuell falsch zu liegen. Sie dürfen dabei nicht in reaktives Verhalten verfallen, weil Ihr Partner auf dieses Handeln im Sinne der Differenzierung in der Regel (defensiv) reagiert.
Wenn Sie ein positives Nicht-Einklangs-Erlebnis initiieren, versucht Ihr Partner wahrscheinlich auf der Stelle herauszufinden, was in Ihnen vor sich geht, weil Ihre Handlungen seinem Bild von Ihnen nicht entsprechen. Die Erkenntnis, dass Sie unabhängig von ihm aktiv geworden sind, ruft bei ihm häufig eine sofortige Reaktion hervor (allerdings manchmal keine positive). Ihr Partner spürt Veränderungen, die den Zustand der emotionalen Verschmelzung betreffen, wenn Sie sich von seinen Reaktionen unabhängig machen, auch wenn er noch nie etwas von selbstbestätigter Intimität gehört hat.
Als Sharon und Thomas zur nächsten Sitzung kamen, standen sie noch unter dem Einfluss eines kürzlichen Streits. Mir wurde klar, dass es an der Zeit war, beide zu konfrontieren. »Sie wissen beide, dass Ihr Partner einen weichen emotionalen Unterbauch hat. Warum verhalten Sie sich dann ständig so, als ob das nicht der Fall wäre?«
Betretenes Schweigen erfüllte den Raum. Es dauerte einige Augenblicke, bis Sharon und Thomas klar wurde, dass meine Frage nicht rhetorisch gemeint gewesen war. Ich erwartete eine Antwort. Doch sie schwiegen noch eine volle Minute. Dann sprach zunächst Thomas zögernd.
»Sharon tut so, als ob sie jederzeit bereit sei zu reden, aber wenn ich mit ihr über schwierige Themen zu sprechen versuche, läuft sie weg. Sie überdeckt ihre eigene Unsicherheit, indem sie mir anhängt, ich hätte Intimitätsprobleme. … Ich weiß genau, was sie im Sinn hat. Aber ich tue so, als ob ich es nicht wüsste, weil ich mich verletzt fühle. Ich tue so, als würde ich nicht merken, dass sie etwas überdeckt, weil auch ich mich unsicher fühle. Mir ist völlig klar, dass sie einen weichen emotionalen Unterbauch hat. Es ist aber leichter für mich, auf ihre harte äußere Schale zu reagieren, weil ich so meine Wut ausdrücken kann. … Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich meine Wut unter Kontrolle halten kann …«
Sharon war schockiert. Dies war eine echte Demonstration selbstbestätigter Intimität. Sie zeigte, dass Thomas eine andere Position als bisher bezog und sich ernstlicher um eine Lösung bemühte. Was er sagte, klang nicht wie eine Anklage. Er sprach sehr sachlich, und seine Stimme wirkte ruhig. Er war nun endlich bereit, sich ernsthaft mit sich selbst und seinem Leben auseinanderzusetzen.
Aber nicht nur deshalb war Sharon schockiert. Thomas verstand offenbar sehr wohl, was es mit Gefühlen auf sich hatte und wie andere Menschen dachten. Es dauerte einige Minuten, bis ihr klar wurde, dass er die ganze Zeit über gewusst hatte, was in ihr vor sich ging. Sie schaute Thomas ununterbrochen an. Schließlich fing auch sie an, bedächtig zu sprechen, als ob sie ihre Gedanken unmittelbar nach deren Auftauchen ausspräche.
»Ich tue das … Ich tue es auch … Ich tue so, als ob ich die sensible Seite von Thomas nicht sehen würde, … weil … weil ich Angst habe … dass er tief innerlich … sensibler ist als ich.«
»Waaas?!« Thomas schaute sie mit weit aufgerissenen Augen fassungslos an.
»Ich habe Angst davor, dass du sensibler bist als ich.« Dies war selbstbestätigte Intimität. Sharon formulierte ihre Aussage als Tatsache. Ihr ging es in diesem Moment nicht um Bestätigung von außen.
Der gesamte Groll, der den Raum zuvor erfüllt hatte, löste sich augenblicklich in nichts auf. Zwei Beispiele für selbstbestätigte Intimität erzeugten Hoffnung. Dies war der erste positive Austausch zwischen ihnen seit langer Zeit.
»Ich habe nicht gewusst, dass du dieses Gefühl hattest!« In der Art, wie er dies sagte, schwang mit: Es muss entsetzlich gewesen sein, dies zu empfinden!
»Ich zeige dir das nicht.« Dies war erneut selbstbestätigte Intimität von seiten Sharons. Ich hörte: Mir geht es nicht um Sympathie. Das hier ist für mich schwierig, aber ich bin bereit, es auf mich zu nehmen. Du magst versuchen, dich in mich einzufühlen, und vielleicht meinst du auch, du könntest in mir lesen wie in einem Buch, aber das kannst du nicht. Es gibt immer noch Dinge, die du nicht über mich weißt.
Sharon folgte Thomas’ Beispiel, indem sie sich offen mit der Situation konfrontierte. Zwischen beiden bestand Einklang. Ihre vorherigen Sticheleien und Streitereien hatten meist einen negativen und verunsichernden Charakter gehabt. Gewöhnlich gelangte in solchen Situationen ihr Ehrgeiz, einander auszustechen, zum Ausdruck. Die soeben beschriebene Reaktion und Gegenreaktion im Sinne selbstbestätigter Intimität war etwas völlig Neues und wurde von beiden als wesentlich stimmiger empfunden als ihr vorheriges Verhalten.
Thomas sagte: »Ich verstehe, warum du das vor mir verborgen hast. Wahrscheinlich hätte ich es benutzt, um dich zum Sex zu drängen.«
Sharon antwortete: »Ich verstehe auch, warum du das getan hättest. Es liegt an mir, dass du mich zum Sex drängst, denn bei uns läuft sonst nun einmal sexuell nichts. Ich fange nie von mir aus damit an.«
»Aber weil ich immer derjenige bin, der anfängt, hast du auch gar keine Chance, es zu tun.«
»Ach, vergiss es. So oder so – ich tue es einfach nie. Du hättest größere Chancen, im Lotto zu gewinnen, als dass ich dich zum Vögeln verführe!« Thomas und Sharon lachten.
Nun war es an der Zeit für mich, das Wort zu ergreifen. »Bei Ihnen geht es ständig um Konkurrenz. Wetteifern Sie jetzt darum, wer von Ihnen ehrlicher ist und wer sich über seine Situation am klarsten ist? Wird das Ihr nächstes Problem sein, wenn Sie hier weggehen?«
Sharon schaute Thomas an, und Thomas blickte zu Boden. Sharon sagte: »Das hier ist zwar nicht so, wie wenn man im Lotto gewinnt, aber ich fühle mich besser als vorher. Ich fühle mich freier und leichter. … Ich muss dies für mich selbst tun. Ich muss aufhören, dich wie einen Trottel zu behandeln, denn ich weiß, dass du das nicht bist. Und ich muss aufhören, dir Sex vorzuenthalten, denn dadurch verletze ich mich nur selbst.«
Thomas blickte auf. Er wartete einen Augenblick, um zu signalisieren, dass er nicht reflexhaft antwortete. »Auf die Gefahr hin, dass es so klingt, als wollte ich dich nur nachahmen, muss ich sagen: ›Ich auch!‹ … Ich muss auf meinen eigenen Füßen stehen und geradeheraus reden, auch wenn du es nicht tust. … Außerdem muss auch ich aufhören, mich von dir zurückzuhalten. … Und wenn das bedeutet, dass ich zu dir in Konkurrenz trete, dann fick mich doch!« »Vielleicht sollte ich dich beim Wort nehmen!«, antwortete sie lachend. Thomas war sprachlos. Er schaute Sharon aus den Augenwinkeln an und lachte ein wenig, weil er kaum glauben konnte, was er da hörte.
Am Ende unserer Sitzung fühlten sich Sharon und Thomas besser, aber verunsichert. Selbstbestätigte Intimität erzeugt intensive Augenblicke der Begegnung, tiefe intersubjektive Erlebnisse. Auf dieser Ebene waren die beiden sowohl sich selbst als auch einander fast völlig fremd. Sie fühlten sich so verlegen wie zwei Menschen, die gerade den ersten Kontakt zueinander aufnehmen.
Auf dem Heimweg waren Sharon und Thomas freundlich zueinander. Beide hingen ihren Gedanken nach und dachten über das Geschehene nach. Als sie meine Praxis verließen, fühlten sie sich wie ein Paar. Das war deshalb so, weil sie sich nun unabhängiger voneinander fühlten und entsprechend handelten. Sie hatten ein stärkeres Gefühl von Verbundenheit und fühlten sich freier. Diese Stimmung war schnell entstanden, und sie konnte ebenso schnell wieder verschwinden. Die zuvor beherrschende Wut war einem Gefühl der Hoffnung gewichen.
Als Sharon und Thomas an diesem Abend zu Bett gingen, lag die Frage in der Luft, ob die Zeit reif war für Sex. Thomas wäre dazu bereit gewesen, wollte aber die positive Entwicklung, die sich zwischen ihm und Sharon anbahnte, nicht gefährden. Er war sowohl von sich selbst als auch von ihr beeindruckt. Sharon wirkte attraktiver auf ihn als gewöhnlich.
Dann entschloss er sich doch, Sharon zu fragen, ob sie Lust auf Sex hätte. Sie antwortete reflexhaft mit einem »Nein«. Sharons Reaktion war weniger aggressiv als sonst, und sie bereute sie gleich anschließend. Sie hatte keinen Augenblick darüber nachgedacht, ob sie Lust auf Sex hatte oder nicht. Ihre eigene Reaktion schockierte sie. Auf dem Weg nach Hause hatte sie selbst gedacht, Sex könnte in dieser Situation schön sein.
Thomas sah beide Seiten von Sharons Reaktion. Er hatte von ihr eine reflexhafte negative Antwort erhalten, aber auch gemerkt, dass sie sich bemüht hatte, sich zu mäßigen. Ihre Stimme hatte nicht wie sonst die Botschaft vermittelt: »Du machst mich wütend! Hör’ auf, mich damit zu belästigen!« Doch für ihn war und blieb das Resultat eine Zurückweisung.
Thomas sank resigniert in sich zusammen. Sharon bereitete sich auf das emotionale Sperrfeuer vor, das sie von ihm gewohnt war. Gewöhnlich reichte eine Antwort wie diese von ihr aus, um bei ihm einen Wutanfall auszulösen. Doch diesmal behielt er die Kontrolle über sich. Nicht nur sein gespiegeltes Selbstempfinden hatte diesmal einen Hieb abbekommen, sondern er fühlte sich auch in seinen positivsten Bestrebungen ignoriert und verletzt. Die Hoffnungen, die er nach der Therapiesitzung geschöpft hatte, hatten sich als nichtig erwiesen. Er war wütend auf sich, weil er so schnell wieder die Initiative ergriffen hatte, also nicht nur weil Sharon sein Angebot abgelehnt hatte. Thomas befürchtete, er habe seine Allianz mit Sharon zerstört, und sie werde nun denken, dass er sich nie verändern werde.
Normalerweise hätte Thomas in einer Situation wie dieser einen Wutanfall bekommen. Er hätte den Impuls verspürt, Sharon anzugreifen. Doch diesmal gab er seinen Tendenzen nicht so wie sonst nach. Zunächst schwieg er eine Weile, und dann sagte er:
»Ist in Ordnung. Ich war mir bei der Frage auch schon nicht ganz sicher. Ich fürchtete, solch ein Vorschlag könnte voreilig sein. Aber ich habe mich einfach schon lange nicht mehr so gut mit dir gefühlt.«
Sharon hörte: Ich fühle mich okay. Es fällt mir einfach schwer, dies zu schlucken. Ich werde die Verantwortung für meine Gefühle übernehmen. Ich bin enttäuscht, aber du hast nichts falsch gemacht. Ich werde nicht zulassen, dass die Situation zwischen uns darunter leidet.
Die Zeit stand still. Dies war ein gewaltiger Augenblick zwischenmenschlicher Kommunikation. Sharon hatte miterlebt, wie Thomas sich mit seinen Gefühlen konfrontiert, wie er sie beruhigt und sie schließlich gemeistert hatte. Sie hatte beobachtet, wie er ein ganzes Spektrum von Reaktionen durchlebt hatte, dann niedergeschlagen gewesen war und mit sich gekämpft hatte, und wie er schließlich gefestigt, wenn auch erschüttert aus der Situation hervorgegangen war. Dies alles war innerhalb weniger Minuten geschehen, statt dass es sich über Tage oder Wochen oder gar Monate hingezogen hatte. Sharon war beeindruckt.
»Sie sagte: »Danke«, und Thomas wusste genau, was sie damit meinte.
Er antwortete: »Kein Problem.« In Wahrheit war dies für ihn ein großes Problem gewesen, aber er war damit fertiggeworden. Er hatte seine Gefühle nicht verleugnet. Er hatte sich bemüht, freundlich zu sein. Und er hatte sich große Mühe gegeben, nicht die Fassung zu verlieren.
Sharon fügte hinzu: »Ich meine das wirklich so«. Weil sie bei dem, was sie sagte, so ernst wirkte, schaute Thomas sie an. Ihre Blicke begegneten sich, und sie sahen einander. Sharon wünschte sich nun, dass Thomas in sie hineinschaute. Beide waren sich der Bedeutung dessen, was zwischen ihnen geschah, ebenso bewusst wie der positiven Auswirkungen dieses Geschehens auf die Verbindung zwischen ihnen. Thomas war bewusst, dass Sharon beobachtet hatte, wie er sich mit sich selbst konfrontiert und dabei die Kontrolle nicht verloren hatte.
Thomas antwortete: »Das weiß ich.« Sharon merkte, dass das, was er sagte, und das, was in seinem Geist vor sich ging, zusammenpasste, und ihr Gesicht und Körper entspannten sich. Diese Interaktion fühlte sich völlig anders an als die vorherigen. Sie hatten einander nicht bestätigt und bestärkt, so wie sie es sonst getan hatten, sondern sie hatten beide auf ihren eigenen Füßen gestanden. Das Verhalten des Partners förderte das Beste in ihnen zutage, doch sie erreichten dies nicht, indem sie einander zu akzeptieren und zu bestätigen versuchten. Sie sprachen für sich selbst, versuchten, ehrlich zu sein, statt sich einzuschmeicheln, indem sie ihrem Partner sagten, was sie glaubten, dass er hören wollte. Dies ist selbstbestätigte Intimität.
Sharon bereute es nun noch mehr, nein gesagt zu haben. Doch sie fand, dass dies nicht der geeignete Augenblick war, um darauf zu sprechen zu kommen. Sie wollte Thomas nicht bei seinem Prozess stören. Er brauchte es nicht, durch Sex unterstützt zu werden, und sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als ob sie ihn für eine erbrachte Leistung belohnen würde. Außerdem war sie über ihre quasi automatische Weigerung immer noch ziemlich verblüfft.
Als sie zu Bett gingen, fühlte Thomas sich aus sich selbst heraus wohl. Er schlief friedlicher als sonst. Sharon hingegen schlief so gut wie gar nicht. Sie war aufgewühlt, sogar verängstigt, weil sie Thomas so automatisch hatte abblitzen lassen. Diese Reaktion hatte nicht das Geringste mit den Gefühlen zu tun gehabt, die sie zum betreffenden Zeitpunkt hatte. Es war einfach so aus ihr herausgebrochen, als wäre in ihrem Gehirn eine schon lange existierende Nervenbahn aktiviert worden. Sharon stellte sich immer wieder vor, wie sie auf Thomas’ Vorschlag reagiert hatte. Als ihr klar wurde, wie schrecklich ihre Reaktion für Thomas gewesen sein musste, rang sie nach Luft. Statt sich von ihm unter Druck gesetzt zu fühlen, empfand sie nun Mitgefühl. Sharon fühlte sich keineswegs im Recht, sondern schrecklich.
Am frühen Morgen ergriff sie die Initiative. Gegen zwei Uhr morgens wachte Thomas auf und merkte, dass sie ihn streichelte. »Träume ich?«, fragte er noch im Halbschlaf. Doch das war kein Sarkasmus, sondern was er erlebte, war ihm sichtlich angenehm.
»Nein, du träumst nicht. Ich wache nur gerade auf.« Thomas war klar, dass dies Verschiedenes bedeuten konnte. Deshalb wollte er sich vergewissern.
»Konntest du nicht schlafen?«
Sharon antwortete: »Ich habe sehr lange geschlafen«, während sie sich auf ihn legte und ihn sanft in ihren Körper geleitete. »Obenauf zu sein« war ganz und gar nicht typisch für sie. Selbstbestätigte Intimität war ganz sicher nicht ihre bevorzugte Art sexueller Aktivität. Sharon schaute auf Thomas hinab und lächelte. »Tut mir leid, dass ich vorhin nein gesagt habe. Ich weiß selbst nicht, warum mir das rausgerutscht ist. Es war völlig automatisch. Es muss schwer für dich sein, wenn ich so reagiere.«
Thomas lächelte zurück. Sharon vollführte mit ihrem Becken kreisende Bewegungen. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.
Selbstbestätigte Intimität gelangt nicht immer in kontroverser Form zum Ausdruck. Im günstigen Fall ist sie durchaus sinnlich. Solche Augenblicke der Begegnung können Ihr Leben verändern. Sie können zu tiefem Verlangen, intensiver Intimität und unglaublich gutem Sex führen. Sie brauchen dazu nur die Vier Aspekte zu nutzen.
Es gibt heute die Auffassung, dass intensive Begegnungen sich auf die neurobiologischen Grundlagen des Gehirns auswirken. Nach allgemeiner Erfahrung wirkt sich nur weniges positiver aus als selbstbestätigte Intimität (worauf als Nächstes das gemeinsame Erleben einer Geburt folgt). Wenn Sie an Sharons und Thomas’ intensiven Augenblick der Begegnung denken, überrascht es Sie vielleicht nicht, dass wir nach neuesten Erkenntnissen die neuronalen Schaltkreise in unserem Gehirn auf eben diese Weise verändern können. Das Erlebnis der beiden umfasste viele Aspekte, von denen angenommen wird, dass sie den Prozess intensivieren.
Erstens war die sexuelle Begegnung von Sharon und Thomas wenig belastend und sehr emotional, und sie fand in einer Atmosphäre des Friedens und der Ruhe statt – perfekte Voraussetzungen für die Entstehung neuronaler Plastizität. Zweitens war sowohl ihr »Körperselbst« als auch ihr komplexes Selbst daran beteiligt. Drittens erforderten die neuen Informationen und Erlebnisse, die sie erwarteten, dass ihr Geist ihre Gedanken, Emotionen, Empfindungen und Verhaltensweisen integrierte. Wahrscheinlich wurden die rechte und linke Hälfte ihres Gehirns zu neuen Arten der Interaktion veranlasst.
Vielleicht erklärt dies, warum Paare solche Ereignisse als zutiefst transformierend erleben. Die beschriebene sexuelle Begegnung veränderte zwar nicht alles, ermöglichte den Partnern aber einen positiven Neuanfang. Wenn eine Anzahl transformierender Erlebnisse ähnlicher Art zusammenkommt, denkt und fühlt man danach in der einen oder anderen Hinsicht anders als vorher. Falls Sie dies anstreben, sollten Sie auf zwei Aspekte achten, die über die Intensität einer solchen Begegnung entscheiden:
Die Bedeutung Ihres Partners. Je wichtiger Ihr Partner für Sie ist, umso schwieriger wird es für Ihr Selbstempfinden, insbesondere wenn er nicht sofort positiv auf das Neuartige der Situation reagiert. Diese Verletzlichkeit verstärkt Ihr Empfinden von Intimität. Auch wenn Sie offen zugeben, wie viel Ihnen an Ihrem Partner liegt, wird die Intimität dadurch verstärkt.
Die Tiefe der Selbstkonfrontation. Selbstkonfrontation ist ein zentraler Bestandteil von Intimität. Je klarer Sie Ihrem Partner offenbaren, wer Sie wirklich sind, ohne sich zu verstellen oder ihm etwas vorzuspiegeln, umso intensiver erleben Sie Intimität. Hingegen ist die Intimität umso oberflächlicher, je stärker Ihre Offenbarung den Charakter einer Selbstdarstellung als den einer Selbstkonfrontation hat. Wenn Sie tiefere Intimität erleben wollen, müssen Sie zulassen, dass Ihr Partner Sie so sieht, wie Sie sind, während Sie selbst sich genau betrachten.
Noch ein letzter Punkt ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Obwohl Intimität ein intersubjektiver Zustand ist, empfinden beide Beteiligten sie nicht unbedingt gleich stark. Wenn Sie die soeben beschriebenen Grundsätze beherzigen, Ihr Partner hingegen nicht, erwartet Sie ein tiefes Erlebnis, das Ihrem Partner verschlossen bleibt. Sie erleben mehr selbstbestätigte Intimität, weil Sie Ihr Erleben selbst bestätigen müssen, wenn es sich vom Erleben Ihres Partners unterscheidet. Intimität entsteht nur, wenn zwei daran beteiligt sind – was allerdings nicht ausschließt, dass nur einer der beiden sie spürt.
Sharon und Thomas durchlebten auf ihrem Weg zu der Ehe, die sie sich wünschten, noch einige schwierige Situationen selbstbestätigter Intimität. Manchmal konfrontierte und offenbarte sich einer von ihnen, doch der andere bewegte sich nicht von der Stelle. Manchmal lenkte ein Partner erst nach fünf oder sechs Interaktionen ein. In einigen Fällen nahm dies mehrere Tage in Anspruch. Doch nun waren sie sich über die positive Wirkung selbstbestätigter Intimität im Klaren. Sie wussten, dass sie sich mit ihrer Hilfe aus emotionalen Patts befreien konnten, und dieses Wissen spornte sie an, sich Mühe zu geben.
Die Entwicklung von Selbstkenntnis und der Bereitschaft zuzulassen, dass andere uns erkennen, ohne dies mit der Forderung zu verbinden, dass wir auch akzeptiert werden, erfordert schwierige Selbstkonfrontationen. Wenn Sie diese Herausforderungen bewältigen, werden die Vier Aspekte der Balance dadurch gestärkt. Ein stabiles Selbstempfinden ist ein flexibleres Selbst. Sie haben dann mehr Spielraum für Kompromisse, weil Ihnen klar geworden ist, wer Sie sind. Und dies eröffnet Ihnen neue Möglichkeiten, Pattsituationen aufzulösen.
Warum entwickelt sich Ihr Selbstempfinden durch Selbstkonfrontation weiter? Herausforderungen wirken stärkend, so wie das Heben von Gewichten die Muskeln stärkt. Wenn Sie Ihr Verhalten oder Ihre Motive hinterfragen, statt sie zu rechtfertigen, stellen Sie Ihr Bild von sich selbst auf den Prüfstand.
Dies bedeutet, dass Sie sich schwer zu beantwortende Fragen stellen wie: »War das, was ich zu meinem Partner gesagt habe, wirklich zutreffend?« oder: »Bin ich wirklich so geduldig (oder besonnen usw.), wie ich zu sein bzw. sein zu müssen glaube?« oder: »Was versuche ich zu vermeiden?« Solche Fragen zu beantworten erfordert schwierige Selbstanalysen, und man darf sich dabei nicht mit simplen Antworten zufriedengeben.
Selbstkonfrontation steht im Zentrum selbstbestätigter Intimität. Sie spielt bei der Entwicklung eines stabilen und flexiblen Selbst eine wichtige Rolle, weil ein stabiles Selbst sich nur durch Selbstkonfrontation entwickelt, nicht indem man die Bestätigung anderer verinnerlicht. Wenn Sie nicht bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen, wer Sie sind, machen Sie sich zeitlebens davon abhängig, wie Sie glauben, dass andere Menschen Sie sehen (d.h., von Ihrem gespiegelten Selbstempfinden).
Manifestationen selbstbestätigter Intimität sind häufig nicht angenehm, und sie bewegen sich weit jenseits der Grenzen dessen, was mit Begriffen wie »Nähe«, »Zusammengehörigkeit« und »Wir-Gefühl« umschrieben wird. Reife Intimität konfrontiert Sie mit der von Ihnen als unangenehm empfundenen Realität, dass Sie und Ihr Partner verschiedene Personen sind. Sie werden auf ungewohnt deutliche Weise Ihrer selbst, Ihres Partners und Ihrer Beziehung gewahr.
Intimität befriedigt Ihre Bindungsbedürfnisse, kann sie aber auch zertrampeln (und tut dies oft). Manchmal lernt Ihr Partner Sie dann auf eine Weise kennen, die Ihnen nicht angenehm ist. Und möglicherweise wird Ihnen mehr über sich selbst klar, als Sie eigentlich wissen wollen. Intimität in Liebesbeziehungen erfordert sinnvolle Beharrlichkeit. Manchmal bedeutet dies, dass wir unsere Kampf- oder Fluchtreaktionen unter Kontrolle und das Reptil in uns in Schach halten müssen, weil es unseren Partner beißen will.
Intimität und sexuelles Verlangen sind nicht unbedingt immer miteinander verbunden. Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, Intimität verringere ihr Verlangen. Einige sind der Auffassung, Intimität mindere die Fokussierung auf reine Erotik – welche für die Betreffenden die einzige Ebene ist, auf der sie zu anderen Menschen in Kontakt treten wollen. Andere sind nicht zu intimem Sex mit einem Menschen, den sie nicht lieben, in der Lage. Und bei einigen verflüchtigt sich das Verlangen, sobald sie in einer Beziehung leben und tiefere Intimität entsteht.
Viele andere Menschen jedoch empfinden, dass die Verstärkung der Intimität beim Sex (und außerhalb des Schlafzimmers) einen hochwirksamen Cocktail fremdbestätigter und selbstbestätigter Intimität erzeugt, der das Verlangen verstärkt. Eine Mischung aus beiden Arten von Intimität ist für langfristige Beziehungen am besten geeignet. Wenn Sie nur zu fremdbestätigter Intimität in der Lage sind, verflüchtigen sich Ihr Verlangen und Ihre Intimität. Selbstbestätigte Intimität ist wichtig, wenn es darum geht, sexuelle Langeweile zu vertreiben und das Verlangen lebendig zu erhalten, denn mit seiner Hilfe können neue Verhaltensweisen entstehen. Doch fremdbestätigte Intimität verbindet Sex mit Wir-Gefühl, Romantik und nährender Zuwendung, und ohne diese Faktoren verkümmert das sexuelle Verlangen bei vielen Menschen.
Intimität beim Sex verbindet zwei der stärksten intersubjektiven Erlebnisse des Menschen. Dabei muss es sich nicht immer um sanften und liebevollen Sex handeln. Auch vulgärer Sex und »Quickies« können mit Intimität verbunden sein, sofern Sie sich nicht einseitig auf diese Formen sexueller Aktivität fixieren.
Intimität beim Sex kann Sie interessanter und begehrenswerter machen und Ihr eigenes Verlangen verstärken, weil die Art, wie Intimität unsere Entwicklung beeinflusst, uns schön macht. Sex an und für sich ist keine spezifische Schönheit eigen; vielmehr entsteht diese durch die daran beteiligten Menschen. Sie müssen die Schönheit in den Sex hineinbringen, wenn Sie möchten, dass er schön ist. Und Sie müssen diese Schönheit in sich selbst finden. Eine wichtige Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht darin, dass Sie den Mut finden, sich selbst wirklich mit allen Unzulänglichkeiten sehen zu lassen.
Intimität hinterlässt in Ihrem Geist und Gehirn eine unauslöschbare Prägung, die Sie Ihr ganzes Leben lang begleiten wird. In dieser Prägung lebt Ihr Partner weiter, auch wenn er schon lange nicht mehr bei Ihnen ist. Ein Teil der Macht der Intimität beruht darauf, dass wir dies akzeptieren.
Eines Abends, als Sharon und Thomas sich liebten, tauchte dieser Gedanke zwischen ihnen auf. Beide lagen auf der Seite und schauten einander in die Augen. Thomas berührte mit den Fingerspitzen Sharons Wange. Er sah, dass sie sich erlaubte, dies zu genießen, während er es genoss, sie zu berühren.
»Ich will dich nicht verlieren«, brachte er heiser hervor, weil seine Stimme vor Rührung fast versagte und ihm die Tränen in den Augen standen.
Verblüfft merkte Sharon, dass sie dachte: »Wir haben zur gleichen Zeit den gleichen Gedanken!«