Karen blaffte Julian an: »Hast du vielleicht geglaubt, ich würde ewig warten wollen?«
»Ich habe geglaubt, wir hätten vereinbart, monogam zu sein«, entgegnete Julian.
»Und ich hatte geglaubt, wir hätten vor fünf Jahren vereinbart, an unserem Sexualleben zu arbeiten!«, erwiderte Karen.
Julian und Karen hatten sich so aufeinander eingeschossen, dass sie meine Anwesenheit fast vergaßen. Er war in der Angreiferrolle, sie die Verteidigerin. Offensichtlich hatten sie diesen Dialog schon oft durchgespielt. Dies war ein wunderbares Beispiel für eine Pattsituation, aber beide waren zu stark darauf fixiert, um dies zu merken.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass du das getan hast!«, donnerte Julian Karen an.
»Es ist doch völlig normal, dass man Sex will«, parierte sie den Vorwurf. »Außerdem habe ich gehört, dass Monogamie nicht unserem Wesen entspricht. Alle vögeln doch herum, wo sie können. Mach doch nicht so ein Ding daraus.«
»Ich kann aber nicht darüber hinwegkommen. Schließlich habe nicht ich herumgevögelt, sondern du!«
»Und zwar weil du es nicht mit mir getan hast!«
Julian wendete sich nun mir zu: »Sagen Sie es ihr, Doktor. Machen Sie ihr klar, dass nicht jeder einfach herumvögelt.«
Karen nahm Julians Herausforderung auf: »Nein, Doktor, sagen Sie ihm, dass Monogamie nicht natürlich ist. Und sagen Sie ihm auch, dass es nicht normal ist, nie mit der eigenen Frau zu schlafen!«
Ich schwieg einen Augenblick, um die Spannung ein wenig abklingen zu lassen. Schließlich sagte ich: »Ich nehme an, Sie wollen Ihren Streit nicht durch Tatsachen verderben. Was sich zwischen Ihnen abspielt, hat eine Menge mit der menschlichen Natur zu tun, aber Ihnen ist es offenbar wichtiger, aufeinander loszugehen, als sich damit auseinanderzusetzen, was zwischen Ihnen im Gange ist.«
Es wäre sinnlos gewesen, konkreter zu werden, solange Karens und Julians Emotionen so hohe Wellen schlugen. Deren Intensität in Verbindung mit dem, was sie sagten, zeigte überdeutlich, dass sie in einem Zustand emotionaler Verschmelzung und der Funktionsübertragung lebten. Zumindest einer von uns dreien lernte durch ihre Therapie etwas.
Karen, die Partnerin mit dem stärkeren Verlangen, verkaufte sehr erfolgreich Maschinen für Großunternehmen. Julian, der Partner mit dem schwächeren Verlangen, lehrte an einer privaten Highschool Mathematik. Er war der Haupternährer der Familie gewesen, bis Karen wieder in ihren Beruf zurückgekehrt war, nachdem ihre beiden Kinder auf die Highschool gewechselt waren. Karens beruflicher Erfolg hatte beide sehr überrascht.
Karen war immer stärker an Sex interessiert gewesen als Julian, hatte sich aber lange zurückgehalten, weil sie Julian nicht verängstigen und sich nicht blamieren wollte. Julian kämpfte beim Sex seit langem mit dem Problem, dass er den Orgasmus zu schnell (innerhalb von zwei Minuten) erreichte. Er weigerte sich jedoch standhaft, sich damit auseinanderzusetzen, und nachdem Karen ihn zehn Jahre lang immer wieder vorsichtig aufgefordert hatte, sich darum zu kümmern, hatte sie ihm schließlich direkt erklärt, dass sie sich von ihm scheiden lassen werde, wenn er nicht in die Gänge komme. Daraufhin hatte Julian zugesagt, sich um eine Behandlung zu bemühen. Als Karen dann einen Termin bei einem Therapeuten vereinbart hatte, hatte Julian Ausflüchte gesucht, und so war es nie zu einer Behandlung gekommen. Das war vor fünf Jahren gewesen, und seither war zwischen den beiden in sexueller Hinsicht absolute Funkstille eingetreten. Karen hatte jedes Interesse an Sex mit Julian verloren, und beide lebten fast wie im Zölibat. Zu sexuellen Aktivitäten kam es zwischen ihnen nur noch ein paarmal im Jahr.
Karen war bei Julian geblieben, weil sie ihn und ihre beiden gemeinsamen Kinder liebte, doch Sex mit ihm war ihr verhasst. Sie konnte es einfach nicht mehr ertragen, dass sich alles, was passierte, nach seinem Problem mit zu schnellen Orgasmen richten musste, und völlig gegen den Strich ging ihr, dass Julian Sex wie eine Belohnung einzusetzen versuchte. Wenn sie ihn wegen anderer Beziehungsprobleme zur Rede stellte, war danach lange kein Sex möglich.
Obwohl Karen im Rahmen ihrer Ehe so gut wie gar nicht an Sex interessiert zu sein schien, war sie andererseits ständig intensiv mit Sex beschäftigt. Seit Beginn ihrer Adoleszenz hatte sie vier- bis fünfmal pro Woche masturbiert, und bevor sie Julian kennengelernt hatte, hatte sie sexuelle Beziehungen mit vielen Männern gehabt. Männer, die sie im Beruf kennenlernte, fanden sie sehr attraktiv und machten ihr häufig sexuelle Angebote. Vor einem Jahr hatte sie sechs Monate lang eine Affäre gehabt. Julian hatte dies gemerkt, als Karen diese Beziehung gerade beenden wollte. Seither war es zwischen ihr und Julian nicht mehr zu sexuellen Begegnungen gekommen. Kürzlich hatte sie ihm mitgeteilt, sie denke darüber nach, ihn zu verlassen. Deshalb saßen sie nun gemeinsam in meiner Praxis, und Julian brachte seine Wut darüber zum Ausdruck, dass Karen ihm unrecht getan habe, wohingegen Karen erklärte, ihre Affäre sei einerseits die natürlichste Sache der Welt und andererseits allein seine Schuld.
Weil viele Klienten mich über Monogamie, Ehebruch und die menschliche Natur befragt haben, habe ich mich ein wenig über wissenschaftliche Erkenntnisse und Ansichten zu dieser Thematik informiert. So fand ich heraus, dass die Menschen zunächst wahrscheinlich promiskuitiv waren, so wie die sexuell aktiven Bonobos. Doch als vor ca. 350000 Jahren die »menschliche Natur« entstand, veränderte sich die Situation. Wahrscheinlich wechselten die Muster des Sexualverhaltens mehrfach zwischen Promiskuität und Monogamie, während sich die Lebensbedingungen verbesserten und verschlechterten. Die Anthropologin Helen Fisher schreibt: »[Ich] stelle […] die Hypothese auf, dass sich die Formen sexueller Beziehungen des Neuzeitmenschen und seine sexuellen Empfindungen mit der Fortpflanzungsstrategie der seriellen Monogamie und des heimlichen Ehebruchs entwickelten.«1
Jäger-und-Sammler-Gesellschaften sind gegenüber Untreue toleranter als industrielle Gesellschaften, doch auch das gespiegelte Selbstempfinden unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren nahm solche Vorkommnisse schon sehr persönlich. Die gesellschaftlichen Regeln schrieben in solchen Fällen Prügel oder eine hochnotpeinliche Befragung vor, oder die Betreffenden wurden öffentlich lächerlich gemacht. Auch diese frühen Menschen hatten schon ein Gewissen und ein Gefühl für richtig und falsch. Und auch damals schon gab es »sollte« und »sollte nicht« – sowie: »Ich weiß, dass ich das nicht sollte, aber vielleicht komme ich ja trotzdem damit durch.«
Während viele Tierarten Harems bilden, tun Menschen sich mit festen Partnern zusammen. Die Paarbindung ist ein spezielles Merkmal des Menschen. Monogamie ist die Regel (mit wenigen Ausnahmen). Die meisten Menschen heiraten jeweils nur eine andere Person. Unter den 853 von den Vereinten Nationen registrierten Kulturen gestatten 84 Prozent einem Mann, mehr als eine Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt (Polygynie) zu haben. Nur 16 Prozent schreiben Monogamie (jeweils nur eine Frau) vor. Doch wenn in einer Gesellschaft Polygynie erlaubt ist, haben tatsächlich nur fünf bis zehn Prozent der Männer mehrere Frauen gleichzeitig.2 Eine Untersuchung, in die 250 Gesellschaften einbezogen wurden, gelangte zu dem Resümee, dass alle heute bekannten menschlichen Gesellschaften in der Praxis monogam sind.3
Doch Monogamie und eheliche Treue sind nicht ein und dasselbe. Genau genommen bedeutet Monogamie, dass jemand immer nur mit einer Person verheiratet ist. Prinzipiell handelt es sich also um eine exklusive Beziehung – was allerdings insgeheime sexuelle Beziehungen außerhalb der Paarbeziehung nicht ausschließt. »Schummeln« wurde bei 100 Arten monogam lebender Vögel und monogamer Säugetiere unter Einschluss von Affen beobachtet. Aus Darwinscher Sicht »verbessert« Ehebruch die Monogamie.4
Trotz gesellschaftlicher Regeln, Moralvorschriften und unserer Fähigkeit, emotionale und soziale Folgen unseres Handelns (einschließlich der Todesstrafe) vorauszusehen, existiert keine Kultur, in der Ehebruch unbekannt ist. Alfred Kinsey stellte in den 1940er Jahren fest, dass mehr als ein Drittel einer Stichprobe von 6000 verheirateten Männern außereheliche Beziehungen hatte, wobei er vermutete, dass die tatsächliche Zahl näher bei der Hälfte der Untersuchungsteilnehmer liege. Eine unter vier Frauen hatte eine außereheliche Affäre gehabt, wenn sie das Alter von 40 Jahren erreicht hatte. Von diesen hatten 41 Prozent eine einzige Affäre gehabt, 40 Prozent zwei bis fünf Affären und 19 Prozent sogar mehr als fünf.5 Im Rahmen einer in den 1970er Jahren mit Lesern der Zeitschrift Psychology Today durchgeführten Untersuchung gaben 40 Prozent der Ehemänner und 36 Prozent der Ehefrauen an, außereheliche Affären zu haben oder gehabt zu haben. Im Jahre 1974 führte der Playboy eine ähnliche Untersuchung durch, die ergab, dass 40 Prozent der teilnehmenden Männer Affären hatten.6 Einer Umfrage des Frauenmagazins Redbook aus dem Jahre 1975 zufolge hatten fast 40 Prozent der verheirateten Frauen außereheliche Affären.7 Anfang der 1980er Jahre zeigte eine Erhebung des Magazins Cosmopolitan, dass 54 Prozent der verheirateten weiblichen Teilnehmer zumindest einmal eine Affäre gehabt hatten. In einer anderen Umfrage gaben 72 Prozent der Männer, die länger als zwei Jahre verheiratet waren, an, dass sie Affären hätten.8 Obgleich diese Zahlen den Eindruck erwecken, dass mehr Männer als Frauen Affären haben, lassen Schätzungen aus Kulturen auf der ganzen Welt eher vermuten, dass Frauen ebenso häufig außereheliche Beziehungen haben wie Männer – sofern sie dies wollen und sofern ihre Gesellschaften ihnen das gleiche Recht wie Männern zugestehen, dies zu tun (wobei das zweite »sofern« der entscheidende Haken an der Sache ist).
Die Bindung an einen einzigen Partner (Monogamie) und außereheliche Beziehungen sind offenbar ein fester Bestandteil unserer evolutionären Paarbindungsstrategie. Wir mögen einerseits die Hingabe und andererseits die Eroberung.9 An diesem Punkt kommt die Fähigkeit, sich in den Geist anderer Menschen einzufühlen, ins Spiel: Um eine Affäre haben zu können, müssen Sie die Kunst der Täuschung beherrschen (d.h., Sie müssen in den Geist anderer Menschen falsche Überzeugungen einpflanzen können). Die Fähigkeit, den Geist anderer zu spiegeln, macht heimliche Affären erst möglich.
Karen und Julian war in ihrer aktuellen Situation nicht danach, über solche Dinge nachzudenken. Sie hätten nicht würdigen können, wie ihr gespiegeltes Selbstempfinden in ihren Brüllduellen zum Ausdruck kam.
»Du hast mich vor allen unseren Freunden und Bekannten zum Narren gemacht.«
»Warum solltest du ein Narr sein? Ich hatte schlicht und einfach eine Affäre.«
»Schließlich bist du meine Frau.«
»Aber ich gehöre dir doch nicht!«
»Jetzt hör’ mit diesem Scheiß auf. Du weißt genau, was ich meine. Was du tust, färbt doch auf mich ab.«
»Anscheinend interessiert dich nur, wie du vor anderen Leuten dastehst.«
»Das ist nicht wahr. Du bist mir auch wichtig. Ich möchte, dass du so etwas nie mehr tust. Warum kannst du mir das nicht einfach versprechen?«
»Warum hast du dein Versprechen nicht gehalten, an unseren sexuellen Problemen zu arbeiten? Du hast es mir vor fünf Jahren versprochen, und dann hast du doch nichts unternommen. Warum sollte ich mich zu etwas verpflichten, wenn du deine Versprechen nicht hältst?«
»Ich weiß nicht, ob es mir jetzt noch möglich ist, Sex mit dir zu haben. Ich vertraue dir nicht.«
»Ich will auch keinen Sex mit dir.«
Bis zu diesem Punkt hatte Karen es geschafft, Julians Angriffe zu parieren. Doch Julians gespiegeltes Selbstempfinden wollte Karen wirklich verletzen. Julian wollte sie einfach nicht unverletzt aus diesem Streit davonkommen lassen. Er wollte sie unbedingt in Tränen sehen, und er wusste, wie er das erreichen würde.
»Wir müssen jetzt zusammen vögeln, ob es uns gefällt oder nicht, denn wenn wir das nicht tun, bumst du doch nur wieder jemand anderen!« Julians Zug war eiskalt berechnet.
Karen fühlte sich in Julian ein. Er hatte dies gesagt, um sie zu verletzen. Julian brachte nicht nur ein Gefühl zum Ausdruck und machte nicht nur seiner Wut Luft, sondern er »prügelte« emotional auf sie ein, so dass ihr schließlich die Tränen kamen.
Dies war Karens erste außereheliche Beziehung gewesen. Doch bei ihr und Julian waren die langfristigen Auswirkungen von Funktionsübertragung und Unterwerfung unter einen Tyrannen zu erkennen. Zu der Affäre war es gekommen, als Julian darauf beharrte, dass sie nicht über Sex reden sollten. Indem er es vermied, sich mit seinem Problem bezüglich des schnellen Orgasmus auseinanderzusetzen, hielt er seine Angst unter Kontrolle, seine Selbstachtung blieb intakt, und sein Gefühl der Unzulänglichkeit blieb erträglich. Julian unterjochte Karen, indem er ihr Sex, Intimität und Bestätigung vorenthielt und ihr das Gefühl vermittelte, minderwertig und »nuttig« zu sein. Dies gelang ihm einzig und allein deshalb, weil sie eine monogame Beziehung hatten (oder zumindest zu haben glaubten).
Warum verhielt Julian sich so? Er sagte, der unmittelbarste Grund dafür sei, dass er sich durch Karens Erfolg bedroht fühle. Sie forderte mehr Einfluss auf familiäre Entscheidungen, weil ihr Anteil am gemeinsamen Einkommen erheblich größer geworden war. Julian fürchtete, Karen werde ihn irgendwann dominieren. Andererseits sah er auch die Gefahr, dass sie ihn verlassen könnte. Vielleicht würde sie ja einen erfolgreicheren und dynamischeren Mann kennenlernen, als er es war.
Das Skript der beiden war so alt wie das Menschengeschlecht. Konflikte, die durch die persönliche Entwicklung und durch die Monogamie entstehen, haben die Menschheitsgeschichte geprägt.
Vor 10000 Jahren begannen Männer offenbar mit dem größten bekannten Beispiel für Funktionsübertragung in der gesamten Geschichte der Menschheit: Sie fingen an, Frauen zu unterwerfen. Die Folgen wirken noch heute in Ehen und Gesellschaften auf der ganzen Welt nach.
Offenbar war Homo sapiens nach der Steinzeit anders als zu deren Beginn. Soweit uns bekannt ist, waren Männer und Frauen in den Jäger/Aasfresser-Bauern/Sammler-Gesellschaften gleichgestellt.10 Am Ende der Steinzeit jedoch war der Mann der Herr und die Frau sein Besitz.
Wie kam es zu dieser gewaltigen Veränderung? Vielleicht war sie das Resultat der Bemühungen jener frühen Männer, eine emotionale Pattsituation aufzulösen. Oder es war die Reaktion des Mannes auf das Bedürfnis der Frau nach (fremdbestätigter) Intimität. Einiges spricht dafür, dass diese Entwicklung die Folge der Manifestation eines gespiegelten Selbstempfindens war, das Bedürftigkeit signalisierte. Niemand weiß genau, warum es geschah, aber dass es geschah, steht außer Frage. Einige Experten sehen den Grund darin, dass die Jäger-und-Sammler-Kulturen sich in Agrargesellschaften verwandelten, die Tiere domestizierten und den Pflug erfanden. Männer übernahmen in diesem Rahmen die Feldarbeit und die Versorgung des Viehs, und das Ansehen der Frauen sank, weil sie kein Essen auf den Tisch brachten, sondern es nur zubereiteten.
Offenbar erlag das gespiegelte Selbstempfinden des Mannes deshalb dem Größenwahn. Die frühesten Zeugnisse deuten darauf hin, dass die Situation außer Kontrolle geriet. Um 3000 v. Chr. waren Frauen zu mobilem Besitz geworden, und bezüglich sexueller Freiheiten galten für Frauen und Männer unterschiedliche Maßstäbe. Damit war die von Männern dominierte Gesellschaft geboren.11 Zweifellos beruhte die ewige Suche des Mannes nach Aphrodisiaka auf einer Notwendigkeit. Man kann sich leicht vorstellen, dass das sexuelle Verlangen unserer weiblichen Vorfahren sehr geschwächt wurde und dass sie sich ihren Männern sexuell verweigerten, als sie von ihnen zu Eigentum degradiert wurden.
Weil die Menschen in jener Zeit von ihrem Ackerland abhängig waren, erforderte das Leben in der Agrargesellschaft dauerhafte Monogamie. Als später die industriellen Gesellschaften zur dominierenden ökonomischen und sozialen Kraft wurden, erlangten die Frauen ihre Gleichberechtigung teilweise zurück. Heute verfügen wir über mehr Freiheit, unsere ursprüngliche Sex-, Liebes- und Ehedynamik zu entfalten – als Gleichgestellte. Die neuesten Tendenzen der menschlichen Differenzierung haben gezeigt, dass Frauen in immer stärkerem Maße die Wahl – also Entscheidungsfreiheit – haben, im kognitiven und sozialen Bereich ebenso wie bezüglich der Fortpflanzung. Frauen auf der ganzen Welt weigern sich heute zunehmend, sich tyrannischer Willkür zu unterwerfen.
In der Kulturgeschichte der Erotik macht Reay Tannahill die Unterwerfung der Frauen für das gespiegelte Selbstempfinden des Mannes verantwortlich. Sie vertritt die These, in der Steinzeit hätten Männer herausgefunden, dass das Sperma für die Schwangerschaften von Frauen und somit für die Entstehung von Nachwuchs eine wichtige Rolle spielte. Vor diesem Zeitpunkt (und in einigen abgeschiedenen indigenen Kulturen noch heute) habe man Sex für eine isolierte und folgenlose Aktivität von Paaren gehalten, die Befruchtung hingegen für einen Vorgang, an dem nur die Götter und die Frauen beteiligt seien. Als dann das gespiegelte Selbstempfinden des Mannes erkannt habe, dass er der Erzeuger der Babys sei, so Tannahill, sei die Rolle der Frau bei der Fortpflanzung vom Zentrum in die Peripherie gerückt, und Männer und Frauen seien fortan nicht mehr als gleichwertige Partner gesehen worden, die jeweils ihren speziellen Beitrag leisteten, sondern die Frauen wurden zur »Erde«, in die Männer einen vollständigen »Samen« pflanzten.12 Aufgrund dieser Sichtweise sonnte sich das gespiegelte Selbstempfinden des Mannes im Glanze seiner Frau und seines Kindes.13
Bedauerlicherweise kam etwa zur gleichen Zeit wie »mein Sohn« auch der »Hahnrei« in die Welt. Männer fingen an, die Sexualität von Frauen zu kontrollieren, weil diese nicht nur mit der Weitergabe ihrer DNS, sondern auch mit dem, was im Kopf des Mannes vor sich ging, Schindluder treiben konnten.
Vaterschaft ist die andere Seite von dem, was Helen Fisher den »Sex-Kontrakt« genannt hat: Frauen erlangten die Fähigkeit zu multiplen Orgasmen, waren fortan das ganze Jahr über an Sex interessiert und nutzten diese Fähigkeit aufgrund ihrer Freiheit, Sexualpartner nach Belieben zu wählen, um sich mit Männern zu paaren, die bereit waren, sich auf eine Paarbindung einzulassen und sich an der Aufzucht des Nachwuchses zu beteiligen. »Papa« tauchte in der Welt des Homo sapiens auf, und Tausende von Jahren später feiern wir den Vatertag.
Unglücklicherweise verwandelte das gespiegelte Selbstempfinden des Vaters die Vaterschaft in das Patriarchat.
Die Unterwerfung der Frauen veranschaulicht den Prozess der Funktionsübertragung. Das Selbstempfinden des Mannes wurde künstlich verstärkt und das der Frau dementsprechend unterdrückt. Die Keuschheit der Frau wurde deshalb wichtig, weil das gespiegelte Selbstempfinden des Mannes beeinträchtigt und außerdem die Bedeutung der Vaterrolle untergraben wurde, wenn sie mit anderen Männern sexuell verkehrte. Die so etablierten unterschiedlichen Maßstäbe für Männer und Frauen gaben den Männern das, was viele von ihnen wollten: sexuelle Abwechslung für sich selbst und einen Ausschließlichkeitsanspruch auf Sex mit ihrer festen Partnerin.
Frauen werden seit mindestens 10000 (möglicherweise sogar Millionen) Jahren mehr oder minder nachdrücklich dazu angehalten, das gespiegelte Selbstempfinden der Männer zu unterstützen. Dies gelangte in dem Umstand zum Ausdruck, dass sie sich damit abfanden, beim Geschlechtsakt unter den Männern zu liegen und sich somit »unter-legen« zu geben, um das Ego der Männer und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Dieses Phänomen existiert auf der ganzen Welt. Doch obwohl Frauen sich schon so lange so verhalten, haben sie bisher noch keinen Gefallen daran gefunden. Ihr instinktives Aufbegehren gegen tyrannische Bestrebungen äußerte sich immer wieder.
Aber auch Frauen nutzen den Mechanismus der Funktionsübertragung. Sie neigen dazu, Männer von hohem Status, Mächtige, Reiche und Einflussreiche zu ehelichen – oder Affären mit ihnen zu haben. Im Sinne Darwins vergrößern sie dadurch die Chancen ihrer Gene, in nachfolgenden Generationen zu überleben. In Wahrheit jedoch beginnen Frauen Affären, weil sie diese mögen, und sie bevorzugen wohlhabende und einflussreiche Männer, die ihr gespiegeltes Selbstempfinden in vielerlei Hinsicht stärken.
In Kapitel 5 wurde Intimität als ein machtvolles System beschrieben, das in der Ehe wirksam ist und in starkem Maße das Verlangen beeinflusst. Nun werden wir uns in ähnlicher Weise mit der Monogamie befassen. Auch Monogamie kann sich positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken. Bei der Auseinandersetzung mit ihr werden wir das sexuelle Verlangen, das verpflichtende Engagement im Rahmen einer Beziehung und die Weigerung, sich tyrannischen Tendenzen zu unterwerfen, im Blick behalten.
Monogamie ist nicht nur ein Versprechen oder eine Verpflichtung, sondern ein System, genau wie Intimität. Und da sich alle Systeme verändern, fungiert die Monogamie je nach Art der darin wirksamen individuellen Tendenzen, in Abhängigkeit von der Stärke der Vier Aspekte bei einem Paar unterschiedlich. Sie fühlt sich bei stark differenzierten Paaren anders an, sie wirkt anders und sie funktioniert auch anders als bei wenig differenzierten Partnern.
Bei stark differenzierten Paaren fördert Monogamie das Verlangen. Beispielsweise wünschen Sie sich wahrscheinlich eher Sex mit einem Partner, der ein starkes Selbstwertgefühl hat. Bei nur wenig differenzierten Paaren hingegen schwächt Monogamie das Verlangen. Wie wir gesehen haben, wird das Verlangen schwächer, wenn jemand sich aufgrund emotionaler Verschmelzung und Funktionsübertragung klaustrophob fühlt. Die gute Nachricht lautet, dass durch Monogamie verursachte sexuelle Probleme, wenn man richtig mit ihnen umgeht, die Vier Aspekte stärken und auch das Verlangen erheblich stimulieren können.
Es kann aufrütteln, wenn man merkt, dass Monogamie keine statische Verpflichtung ist, sondern ein dynamisches System. Und Monogamie verändert sich nicht nur im Laufe der Zeit als System, sondern auch das Wesen der monogamen Verpflichtung verändert sich. Dies mit den Vier Aspekten in Verbindung zu bringen mag eine kognitive Herausforderung sein, deshalb werden wir es nun ein wenig langsamer angehen lassen und uns diesen ganzen Vorgang im Detail anschauen.
Monogamie schafft ein Monopol, das demjenigen ähnelt, das der verlangensschwächere Partner durch seine Kontrolle über den Sex innehat. Dies gilt für alle Paarbeziehungen. Doch jedes Paar reagiert je nach Stärke der Vier Aspekte anders darauf. Stark differenzierte Paare beherzigen und respektieren die Tatsache, dass Monogamie dem verlangensschwächeren Partner bezüglich des Sex ein Monopol verschafft. Wenig differenzierte Paare handeln ignorant und achtlos und nutzen das Bestehen des Monopols rücksichtslos aus.
Monogamie erzeugt ein »geschlossenes System«. Dies verschaffte Julian (dem verlangensschwächeren Partner) ein Monopol auf Sex. Da es niemand anderen gab, an den Karen sich wenden konnte, musste sie sich mit ihm zufriedengeben, wenn sie Sex wollte. Doch verhandelten beide nicht wie Gleichgestellte, weil er darüber entschied, wo und wie Sex stattfand. Man könnte sagen, dass er den Preis festlegen konnte, der manchmal darin bestand, dass Karen ihm das Gefühl vermitteln musste, jemand »Besonderes« zu sein. In anderen Fällen musste sie ihm Honig um den Bart schmieren. Und in wieder anderen Situationen bestand die Gegenleistung darin, nichts zu sagen, obwohl sie ihn wegen irgendeiner Sache mit Recht hätte zur Rede stellen können.
Wie alle Monopolisten schränkte auch Julian die Verfügbarkeit von »Gütern und Dienstleistungen« (Sex) ein. Dies tat er aus vielen Gründen: Manchmal machte es ihm Angst, dass Karen mehr Geld verdiente als er, und durch die sexuelle Verweigerung sicherte er sich größeren Einfluss in der Beziehung. Manchmal war er über etwas wütend, das Karen getan oder nicht getan hatte. In anderen Fällen versuchte er, sich durch Verknappung von Sex bezüglich anderer Themen eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen. Oder er tat dies, um entweder mehr Distanz zu Karen zu gewinnen oder ihr näher zu kommen. Gelegentlich gefiel es ihm einfach, seine Macht und seinen Einfluss auf sie zu spüren.
Häufig enthielt Julian Karen wegen seiner eigenen Ängste den Sex vor, weil es ihn verunsicherte, »gebraucht« zu werden. Er wollte nicht, dass Karen ihn brauchte, so wie seine Mutter Männer gebraucht hatte. Sie hatte seinen Vater als »Trittbrett« zu »wichtigeren« Partnern benutzt und sich durch Schmeicheleien, Verführung und Sex eine ganze Reihe reicher Männer gewogen gemacht. Das hatte er als Teenager miterlebt, und ihm war dabei übel geworden: Es war für ihn so gewesen, als sauge seine Mutter Männer aus und blicke gleichzeitig auf sie herab. Sie hatte ihr Verhalten stets mit der Bemerkung entschuldigt, sie fühle sich einsam, doch Julian hatte beobachtet, dass sie manipulativ und ausbeuterisch gewesen war und alle anderen Menschen benutzt hatte, um zu bekommen, was sie wollte.
Die Monogamie ermöglichte es Julian, durch »Güterverknappung« Ziele zu erreichen, die er im Rahmen einer »offenen Beziehung« nie erreicht hätte. Wären er und Karen nur unverbindlich miteinander ausgegangen oder hätte Karen die Freiheit gehabt, mit anderen Männern sexuell zu verkehren, hätte sie sich einem anderen Partner zuwenden können, um der Diskrepanz hinsichtlich des sexuellen Verlangens, die zwischen ihr und Julian bestand, etwas entgegensetzen zu können. Doch wie die meisten Paare (und anders als die meisten Primaten) wollten die beiden weder auf die sexuelle Exklusivität der Monogamie noch auf die eheliche Treue verzichten. Dadurch entwickelten sich bei ihnen Monopoldynamiken, die Julians gespiegeltes Selbstempfinden dann ausbeutete.
Der Handel in monopolistischen Ökonomien und unter den Bedingungen des freien Marktes folgt unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten; dies verdeutlichten Karens und Julians Interaktionen. In Systemen, die sich an den Gesetzen des freien Austauschs orientieren, so wie es bei der Kontaktanbahnung der Fall ist, behandeln die Beteiligten einander höflich und stellen sich möglichst vorteilhaft dar. Monopolisten hingegen neigen dazu, mit ihrer Macht zu prahlen, indem sie die Preise hochtreiben und so ihre Kunden beleidigen, weil sie ihnen im Grunde unakzeptable Bedingungen aufzwingen – frei nach dem Motto »Friss oder stirb!«. Dies kommt beispielsweise bei arrangierten Ehen in Verhandlungen über die Mitgift zum Ausdruck, wenn zwischen den beteiligten Familien große ökonomische Unterschiede bestehen. Julian ließ Karen warten, bis ihm nach Sex zumute war, und sie hatte keine Möglichkeit, an diesem Umstand etwas zu ändern. Dieses Fehlen einer Möglichkeit, etwas zu ändern, war in ihrem Versprechen begründet, ihm treu zu sein.
In offenen Beziehungen verfolgt der verlangensstärkere Partner seine sexuellen Interessen im Zweifelsfall einfach anderswo. Doch da die menschliche Natur nun einmal so ist, wie sie ist, ist der verlangensschwächere Partner damit gewöhnlich nicht einverstanden, unter anderem, weil es sein gespiegeltes Selbstempfinden erschüttern würde. Er versucht eine solche Zerrüttung zu verhindern, indem er sich auf das Treuegelöbnis beruft. So kommt es, dass die Monogamie aufhört, förderlich zu wirken. Mit ihrer Hilfe versucht der verlangensschwächere Partner mit zwei Ängsten gleichzeitig fertigzuwerden: Er zwingt den verlangensstärkeren Partner, Sex unter absolut vorrangiger Berücksichtigung seiner Unsicherheit und Unreife zu akzeptieren, und er hält seine Partnerin davon ab, sich andere Partner zu suchen.
Wie vielen verlangensschwächeren Partnern war dies auch Julian intuitiv klar, und er nutzte es aus. Er ließ sich auf Sex mit Karen ein, wann, wo und wie er es wollte. Alle entsprechenden Initiativen Karens und ihre Wünsche nach Abwechslung lehnte er ab, weil er darin Versuche sah, ihn ihrer Kontrolle zu unterwerfen.
Aufgrund der Existenz des Systems der Monogamie rief Julian auch andere Wirkungen hervor, die ihm selbst nicht gefielen. Ihm war nicht klar, dass er durch sein Bestreben, den Sex einzuschränken, seine Ängste bei jeder sexuellen Begegnung verstärkte. Weil es nur selten überhaupt zum Sex kam, wurde der Leistungsdruck, der auf ihm lastete, noch stärker. Und dadurch wurde auch seine Angst davor verstärkt, dass Karen eine Affäre beginnen könnte. Er quälte sich, indem er sie sich beim Sex mit einem anderen Mann vorstellte und sich ausmalte, sie wollte andere Männer, und er machte sich Vorwürfe wegen seiner sexuellen Probleme. Dies verstärkte seine Angst davor, Karen könnte sich insgeheim wünschen, »frei« zu sein. Wie vorauszusehen, wurde Julians Interesse an Sex dadurch noch geringer – teilweise gerade deshalb, weil er sich in Sicherheit wiegen konnte, dass Karen ihn immer noch wollte.
Das Vorspiel ist eine Verhandlung über das Maß an Intimität und Erotik sowie über die Bedeutung des anschließenden Sex. Bei wenig differenzierten Paaren werden im Laufe des Vorspiels die Gefühle der Partner verletzt, und ihr Verlangen verflüchtigt sich.
Julian nutzte sein Monopol bezüglich des Sex (bzw. dessen Verhinderung) durchgehend. Seine Präferenzen und Unzulänglichkeiten entschieden darüber, wer was gegenüber wem tat und welche Bedeutung dem zugeschrieben wurde.
Er wollte nicht, dass Karen beim Vorspiel seinen Penis berührte, weil er dann noch schneller den Höhepunkt erreichte. Oralsex war ebenfalls ausgeschlossen, weil Julian sich nicht wohl dabei fühlte, Karens Vagina zu lecken. Karen hatte ihn zwar dazu aufgefordert, aber er hatte stets Einwände dagegen vorgebracht. Sie hatte nicht darauf bestanden, weil sie fürchtete, Julian würde den Sex noch stärker rationieren, wenn sie ihn durch ihren Wunsch verärgerte. Karen verzichtete auch darauf, Julian oral zu stimulieren, weil er befürchtete, dadurch noch schneller den Höhepunkt zu erreichen. Er hatte gesagt, da er nun einmal so schnell ejakuliere, wolle er wenigstens in Karen sein, wenn dies geschehe.
Julian entschied nicht nur über den Ablauf seiner sexuellen Aktivitäten mit Karen, sondern bestimmte auch das Maß an Intimität und die Stärke der Erotik zwischen ihnen. Außerdem hatte er die Kontrolle über die Bedeutung des Sex und der Botschaften, die sie einander übermittelten. Dies geschah durch mentale Einfühlung in subtile Verhaltenssignale.
Das kann durch etwas so Simples wie einen Kuss geschehen. Julian mochte es nicht, zu »knutschen«. Karen fühlte sich verletzt und zog sich zurück, wenn er seinen Kopf von ihr abwendete. Sie empfing klar und deutlich das Signal, dass Julian sie nicht küssen wollte. Außerdem war es bei ihnen beim Sex grundsätzlich stockdunkel, weil Julian das angeblich als »romantischer« empfand. In Wahrheit fühlte er sich bei echter Intimität nicht wohl. Die Dunkelheit bevorzugte er, weil er sich in ihr geschützter fühlte. Als Karen ihm vorschlug, sich mit ihr zusammen einen Pornofilm anzuschauen, erklärte er zwar, er sei daran interessiert, doch da er auf ihren Vorschlag nie wieder zurückkam, ganz zu schweigen davon, dass er ihn in die Tat umgesetzt hätte, nahm sie an, die Aktion sei ihm letztendlich doch nicht recht. Karen beobachtete Julian ständig, um herauszufinden, wie direkt sie ihm gegenüber das Thema Sex zur Sprache bringen konnte, ohne ihn zu verängstigen oder zu verärgern.
Auch Julian versuchte andauernd, Karens Reaktionen einzuschätzen. Er wusste, dass Karen sich zwar mehr Küsse wünschte, dass sie aber ebenso wenig darauf beharren würde wie generell auf Sex. Und er brauchte nur zu zögern, ob beim Küssen oder beim Sex, und Karen verstand den Wink und trat den Rückzug an. Julians und Karens Verhandlungen über Intimität, Erotik und die Bedeutung sexueller Aktivitäten während des Vorspiels waren von mentalem Spiegeln bestimmt.
Meist reichte dies aus, doch irgendwann wechselte sie zu einer anderen Strategie: Julian hatte überschätzt, wie stark sich Karen an ihr Treueversprechen gebunden fühlen würde. Als sie ihre Affäre hatte, war er völlig schockiert darüber, dass er falsch eingeschätzt hatte, was in ihr vorging.
Dies war unter anderem deshalb passiert, weil Julian nicht klar gewesen war, wie wütend Karen war und wie stark sie sich von ihm kontrolliert fühlte. Dass Julian die Situation falsch eingeschätzt hatte, beruhte zum Teil auf der Stärke von Karens Bemühungen, zu verhindern, dass Julian ihre Gedanken las. Sie wollte nicht, dass er merkte, was tatsächlich in ihr vorging, weil er andernfalls hätte herausfinden können, dass sie eine Affäre begonnen hatte.
In den letzten Jahren hatte Karens Verlangen nach Sex mit Julian deutlich abgenommen. Doch obwohl sie praktisch sexuell abstinent lebten, war Karens Verlangen nach Sex grundsätzlich sehr stark. Sie rang mit ihrem starken Bedürfnis, ihr Verlangen in einer Affäre auszuleben. Sie sah sich im Internet Pornofilme an, nahm an Sex-Chats teil und begann schließlich eine Affäre mit einer Internetbekanntschaft.
Affären sind Pseudo-Differenzierungen – Vorspiegelungen dessen, dass man auf eigenen Füßen steht, obwohl dies nicht der Fall ist. Karens Affäre hatte etwas von der Zerstörung eines Monopols und von der Weigerung, sich einem Tyrannen zu unterwerfen. Doch beide Motive waren im Grunde nichts weiter als verkleideter Trotz. Wenn Sie Ihrem Partner »eine Nase drehen«, stärken Sie dadurch nicht die Vier Aspekte.
Trotz ist nicht gleichbedeutend mit Autonomie, weil die Kontrolle dann weiterhin bei Ihrem Partner und nicht bei Ihnen selbst liegt. »Aus der Tyrannei ausbrechen« gelingt am besten, wenn man die Selbstkontrolle verbessert. Autonomie und Unabhängigkeit beinhalten, sich um sich selbst zu kümmern – nichts zu tun, was einen selbst schwächt. Karen hätte Julians Monopol durchbrechen können, indem sie ihm offen erklärt hätte, sie werde in Zukunft nicht mehr zulassen, dass er ihr Monogamie- und Treueversprechen missbrauche, um sie an den Status quo zu fesseln. Sich zu emanzipieren brauchte nicht zu bedeuten, dass sie ihre Überzeugungen verriet. Sie brauchte »nichts weiter« zu tun, als sich mit Julian direkt auseinanderzusetzen, seinen Zorn zu riskieren und seinen Versuchen, sie zu bestrafen, beherzt entgegenzutreten.
Monogamie ist für niemanden leicht, aber für Menschen mit geringer Differenzierung besonders schwierig. Der Inflation des Selbst und dem Dopamin-Flash einer außerehelichen Affäre zu widerstehen fällt vielen Menschen ungeheuer schwer. Das gespiegelte Selbstempfinden macht das Auftreten von Problemen mit dem sexuellen Verlangen in einer Ehe praktisch unvermeidlich. Dies führt dazu, dass viele Menschen, bei denen die Vier Aspekte der Balance nicht gut entwickelt sind, Affären beginnen.
Ich bin kein genereller Kritiker von Monogamie, sondern versuche zu erklären, was für sie spricht. Sie wird häufig nicht richtig verstanden und schlecht genutzt. Wenn Sie Mutter Natur wären und wollten die psychische Entwicklung von Menschen fördern, wäre es ein ziemlich schlauer Schachzug von Ihnen, die Dinge, die Menschen tun, um Wachstum zu vermeiden, zu dem zu machen, wodurch sie wachsen. Monogamie herrscht, wo wenig differenzierte Menschen sich in Sicherheit zu bringen (d.h., Wachstum zu vermeiden) versuchen.14 Doch Sie müssen die Vier Aspekte stärken, weil Ihre Ehe – oder Ihre sexuelle Beziehung in der Ehe – dies sonst nicht überlebt.
Monogamie kann aber in der Ehe, jener Struktur, welche die menschliche Entwicklung fördert, auch noch auf andere Weise wirken. Implizit gelangt in ihr das Gefühl zum Ausdruck, einen Besitzanspruch auf den Partner zu haben und gegenüber potentiellen Eindringlingen ein »Territorium« verteidigen zu müssen. Wenn die Vier Aspekte bei Ihnen schwach sind, wird dies für Sie wichtiger. Monogamie befriedigt (zumindest am Anfang) Ihr gespiegeltes Selbstempfinden, wenn jemand sich an die Welt wendet und erklärt: »Finger weg! Der gehört mir!« Dies gibt Ihnen das Gefühl, geschätzt zu werden und auserwählt zu sein. Ebenso fühlen Sie sich in der Zeit der Werbung, wenn Ihr Partner Ihnen in die Augen schaut und sagt: »Du bist mein!« Ein solcher Ausdruck von Besitzstreben wird häufig mit Sex belohnt, allerdings nur dann, wenn Ihr Partner liest, was in Ihrem Geist vor sich geht, und wenn er feststellt, dass Sie wirklich meinen, was Sie sagen.
Wenn Sie nach der Eheschließung Ihren Besitzanspruch auf Ihren Partner zum Ausdruck bringen, lernen Sie die Enthaltsamkeit kennen. Menschen, die sich zum selbstverständlichen Besitz gemacht sehen, fühlen sich in ihrer Würde verletzt, ihrer Autonomie beraubt und hinsichtlich ihres gespiegelten Selbstempfindens geschädigt. Es macht sie wütend, rebellisch und fördert ihr Bestreben, sich zu entziehen. Nichts vermag das Feuer des sexuellen Verlangens so nachhaltig zu ersticken wie der Glaube einer Partnerin, sie habe einen Besitzanspruch auf die Genitalien ihres Partners. Und so reagiert jeder Mensch: Sind die Vier Aspekte nicht stark genug entwickelt, wird der »Unabhängigkeitskrieg« ausgelöst.
So viel zu Dingen, die nur im Kopf Ihres Partners existieren! Besitzstreben, Eigentumsanspruch und Berechtigung. Sie können sich nicht »zum Inventar verdinglicht« fühlen, wenn Sie nicht in der Lage sind zu lesen, was in Ihrem Partner vor sich geht. Sie erleben in solchen Fällen nichts weiter als eine andere Art der Auswirkung des mentalen Spiegelns auf Ihre Monogamie.
Zahllose Wiederholungen von »Wenn du mich liebst, tust du …« und »Wenn du mich liebst, bittest du mich nicht …« bringen unsere Erwartung zum Ausdruck, dass unser Partner alles tun sollte, um uns glücklich zu machen. Wenn Ihre Partnerin etwas für Sie tut, das sie eigentlich nicht tun will, oder wenn sie darauf verzichtet, etwas zu tun, das sie eigentlich tun will, schwillt Ihr gespiegeltes Selbstempfinden an. Tatsächlich erwarten Sie von ihr wahrscheinlich, dass sie sich aufopfert, um Sie zu unterstützen. Diese Art von Interaktion bestimmt die Beziehungen wenig differenzierter Menschen. Wir halten dies für die menschliche Natur, doch in Wahrheit ist es etwas, das dem menschlichen Verlangen seinen einzigartigen Charakter verleiht.
Den Begriff »vergemeinschaftete Genitalien« habe ich für Partner geprägt, die den Eindruck erwecken, sie hätten ein Anrecht darauf, den Körper ihres Partners für sexuelle Zwecke zu benutzen. Der Begriff beschreibt, wie Menschen sich fühlen und wie sie handeln. »Vergemeinschaftete Genitalien« klingt wie: »Wenn ich keine Möglichkeit habe, mir andere Partner zu suchen, müssen deine Genitalien mir gehören. Halte sie sauber und jederzeit gebrauchsbereit, und gestatte mir, sie zu benutzen, wann immer ich dies will.«15
Einige Religionen propagieren die auch nicht besonders hilfreiche Idee einer »ehelichen Pflicht«.16 Sobald von sexuellen Verpflichtungen die Rede ist, lässt eine Schwächung des Verlangens nicht lange auf sich warten. Auf den ersten Blick mag es plausibel klingen, wenn es heißt, sexueller Verkehr sei in einer Ehe zu erwarten. Wenn jedoch die Vier Aspekte eines Menschen schwach sind, entstehen durch diese Erwartung Schwierigkeiten. Die übliche Monogamie-/Treue-Vereinbarung schwächt das Verlangen, weil sie ein möglicherweise unsicheres gespiegeltes Selbstempfinden noch stärker beeinträchtigt.
Ganz gleich, ob Ihr eigenes fragiles Selbstempfinden oder das Ihrer Partnerin der Auslöser ist – je schwächer die Vier Aspekte bei Ihnen sind, umso wahrscheinlicher ruft Monogamie bei Ihnen oder ihr ein Gefühl der Tyrannei und des Autonomieverlustes hervor. Dies schwächt sogar bei Menschen, die Sex wirklich mögen, das Verlangen. Kämpfe um das Selbstempfinden beeinflussen das sexuelle Verlangen wesentlich stärker als der hormongesteuerte Sexualtrieb.
Wenn ich hier von »vergemeinschafteten Genitalien« spreche, stellen Sie sich möglicherweise einen Menschen vor, der egoistisch und unreif ist und ein starkes sexuelles Verlangen hat – jemanden, der sich darüber beklagt, dass seine physischen Bedürfnisse nicht erfüllt werden, und der sich so verhält, als ob die Vagina seiner Frau ihm gehöre; jemanden, der selbst dann, wenn sie nicht an Sex interessiert ist, ihren Körper benutzen will, um selbst zum Orgasmus zu kommen.
Doch wie viele Menschen mit einem stärkeren sexuellen Verlangen entsprach auch Karen nicht diesem Bild. Sie wollte mit Julian zusammen sein. Er hingegen hatte die Geisteshaltung »Du willst doch nur meinen Körper« ins Spiel gebracht. Und dies war ihm gar nicht klar. Seit er wusste, dass Karen eine Affäre gehabt hatte, war er sehr verunsichert. Er hatte sich von einer Monogamievereinbarung mehr Sicherheit versprochen. Tatsächlich setzte genau diese Vereinbarung ihn in sexueller Hinsicht unter Druck.
Mutter Natur entwickelt für die primitivsten Bereiche unseres Gehirns immer komplexere Adaptationen. Das ist deshalb passiert, weil sich zahllose Paare über Millionen von Jahren Tag für Tag mit solchen Dynamiken auseinandergesetzt haben. Unsere Vorfahren haben aus Gründen der Selbstverteidigung einen Präfrontalkortex entwickelt.
Manchmal fordern wir Ausschließlichkeit, weil wir fürchten, unser Partner könnte jemand »Besseren« finden. Wir suchen dann Schutz vor unserer eigenen Angst, wir könnten unattraktiv, wertlos und nicht begehrenswert sein. Manchmal wünschen wir uns eine »Verpflichtung«, um mit unserer Angst davor fertigzuwerden, dass wir irgendwann alt und unattraktiver sein werden, oder wir wünschen uns Sicherheit, um einfach in aller Ruhe dick und fett werden zu können. Manchmal versuchen wir auch, unseren Partner zu dem Versprechen zu bewegen, dass er immer für uns da sein wird – bevor er zu viel über uns herausfindet. Wir möchten ihn an eine solche »blinde« Entscheidung gebunden wissen, weil wir nicht davon überzeugt sind, dass er sich auch dann noch für uns entscheiden würde, wenn er genau wüsste, was er sich mit uns eingehandelt hat.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass auch stark differenzierte Menschen sich oft Monogamie wünschen. Allerdings hat das bei ihnen andere Gründe; und die Monogamie »funktioniert« bei ihnen auch anders.
Monogamie verwandelt Probleme, die mit dem sexuellen Verlangen zusammenhängen, in eine Pattsituation, weil sie keine alternativen Möglichkeiten sexueller Aktivität zulässt. Und wenn die Vier Aspekte bei einem Menschen schwach ausgebildet sind, kann er mit dieser Situation nicht gut umgehen. Monogamie verstärkt den »Zusammengehörigkeitsdruck«, der bei Paaren im Zustand emotionaler Verschmelzung besteht. Außerdem erhöht sie die Gefahr, dass in der Beziehung aufgrund anderer Probleme Pattsituationen entstehen. Und weil das emotionale Patt (aus welchem Grund es auch bestehen mag) die Unterschiedlichkeit des Verlangens beider Partner verstärkt, sind sie besonders anfällig für entsprechende Probleme.
Viele Paarbeziehungen beginnen auf diese Weise und bleiben während ihres gesamten Bestehens so. Bei Karen und Julian bestand dieses typische Muster von Anfang an, doch irgendwann schlug Karens Reaktion in ein anderes verbreitetes Szenario um: Indem sie Julian nicht mehr hinterherlief, brachte sie zum Ausdruck: Steck’ dir deinen verdammten Sex doch sonstwohin! Karen hatte genug davon, sich zu demütigen, und wollte Julian nun zeigen, wozu sie fähig war. Ein Aspekt ihrer »besten Seite« meldete sich zu Wort und sagte: Ich werde mir das nicht mehr gefallen lassen! Doch ein anderer wichtiger Anteil von ihr sagte: Ich werde mir das zwar nicht mehr gefallen lassen, aber ich werde ihn auch nicht verlassen. Wenn du Krieg willst, Bürschchen, dann bekommst du jetzt Krieg. Und es wird ein langer und eiskalter Krieg werden.
Wie kann man eine solche emotionale Verschmelzung verringern? Nicht durch eine Affäre oder eine »offene Beziehung«. Sie müssen an den Vier Aspekten festhalten. Behalten Sie im Auge, was für Sie wirklich wichtig ist. Beruhigen Sie Geist und Herz, und entschärfen Sie Ihre Wut. Achten Sie auf maßvolle Reaktionen. Handeln Sie weder impulsiv noch rachsüchtig. Indem Sie die Vier Aspekte stärken, verbessern Sie Ihre Fähigkeit zu gesundem Verlangen und verringern Ihre Bedürftigkeit und Ihre emotionale Abhängigkeit. Den Zustand der emotionalen Verschmelzung zu verringern und das Verlangen vor der völligen Vernichtung zu bewahren erfordert immer ein gewisses Maß an Vertrauen: Um dieses zu entwickeln, müssen Sie sich damit auseinandersetzen, was Sie tatsächlich tun – sich selbst und Ihrem Partner gegenüber.
In der Prähistorie gab es einmal den ersten Mann und die erste Frau, die herausfanden, dass ihr Partner absichtlich auf ihr gespiegeltes Selbstempfinden einzuwirken versuchte, um ihnen Schmerz zuzufügen. Wahrscheinlich ertrugen sie dies eine Weile, weil sie annahmen, dem anderen sei nicht klar, wie schmerzhaft dies für sie war. Sie zogen es vor zu denken, ihr Partner sei unsensibel und emotional taub. Doch wenn jemand sich in den Geist seines Partners einzufühlen versucht und ihm dann klar wird, dass dieser sich absichtlich so verhält, wie er sich verhält, verändert das die Situation meist drastisch. So war es bei Karen und Julian.
Das entscheidende Gespräch zwischen Julian und Karen begann in meinem Behandlungsraum mit Julians mittlerweile altbekanntem Vorwurf: »Wie konntest du bloß eine Affäre anfangen?« Karen antwortete darauf gewöhnlich: »Unsinn! Das sagst du doch nur, um mich einzuschüchtern.« Diesmal jedoch klang die Antwort nicht wie ein Vorwurf, sondern eher so, als hätte sie ihre Aussage endlich als Tatsache akzeptiert. »Du willst dich nicht mit Sex auseinandersetzen.«
»Und du willst dich nicht mit deiner Affäre auseinandersetzen.« Julian versuchte herauszufinden, ob er sie noch »an der Angel« hatte.
»Unsinn, Julian. Du willst dich nicht mit Sex auseinandersetzen.«
Ich deutete auf Karen und sagte: »Sie hören sich selbst nicht zu.«
Julian versuchte, meine Bemerkung zu nutzen, um ihr »noch eins obendrauf« zu geben. »Sie hört mir doch auch nicht zu, Doktor.«
Ich sprach weiter mit Karen. »Warum denken Sie nicht sorgfältiger über das nach, was Sie zu Julian sagen? Sie werfen ihm vor, er benutze die Tatsache, dass Sie eine Affäre hatten, um sich nicht mit seinen eigenen Problemen auseinanderzusetzen.«
»So ist es.«
»Sie geben ihm aber die Möglichkeit, dies zu tun, solange Sie sich weigern, sich mit Ihrer Affäre auseinanderzusetzen. Sie sagen, er versuche, Sie einzuschüchtern, indem er Ihnen Ihre Affäre vorwerfe. Warum nehmen Sie ihm diese Waffe dann nicht ab?«
»Sie meinen, indem ich mich mit meiner Affäre auseinandersetze?«
»Genau.«
Wenn Menschen merken, dass ihr Partner ihr gespiegeltes Selbstempfinden zu manipulieren versucht, bringt sie das aus irgendeinem Grund dazu, aktiv zu werden. Die Situation erreicht dann eine Art »kritischer Masse«. Vielleicht ist Ihr gespiegeltes Selbstempfinden einfach nicht mehr bereit, weiter »mitzuspielen«. Vielleicht empfinden Sie es in solch einer Situation als zwingend, sich vom Einfluss Ihres Partners zu befreien. Aus den unterschiedlichsten Gründen werden viele in dieser Situation aktiv und sind plötzlich bereit, Dinge zu tun, die sie andernfalls niemals getan hätten.
Allerdings kann man sich aus der Umklammerung des Partners befreien und gleichzeitig die eigene Beziehung zu sich selbst stärken. Darum ging es mir mit meiner Äußerung Karen gegenüber: Wenn Sie sich mit sich selbst konfrontieren, kann Ihr Partner Sie nicht mehr manipulieren, indem er Ihnen Ihre Fehler und Mängel vorhält. Sie müssen sich zu diesem Zweck mit sich selbst auseinandersetzen und die Vier Aspekte der Balance beherzigen. Und dies ist der Prozess der Differenzierung.
Karen dachte einige Sekunden lang nach. »Okay, Julian, du möchtest, dass ich mich mit meiner Affäre auseinandersetze? Also dann: Ich hatte eine Affäre. Ich habe dich angelogen … Ich habe mein Gelübde gebrochen …«
Die Worte kamen Karen allmählich langsamer über die Lippen, während sie sich beim Sprechen zuhörte. Sie wechselte vom »Sündenbekenntnis« zum Nachdenken über das, was sie sagte. Ihre Stimme klang trotzig und drückte aus: Ich bin jetzt bereit, mich mit dieser Sache auseinanderzusetzen, und ich akzeptiere die Folgen, die das haben wird. Ich habe zwar Angst, aber ich werde mir dies nicht mehr antun. Julian spürte, dass nun nicht der richtige Zeitpunkt war, sie anzugreifen.
»Du hast keinen Grund, mir jemals wieder zu vertrauen … Ich bin nicht integer … Ich habe den größten Teil meines Bemühens, die Ehe mit dir zu erhalten, verloren … und den Rest habe ich weggeworfen … Ich habe dich betrogen … Ich weiß, dass ich in deinen Augen nicht anders bin als deine Mutter.« In Karens Stimme schwang keine Bosheit mit. Sie war geradezu brutal ehrlich, ohne dass sie versuchte, Julian niederzumachen. Dann hielt sie einen Augenblick inne, um zu überlegen, was es noch zu sagen gab.
»… Ich habe meine Gelübde verraten … Ich habe mich selbst betrogen … ich habe mir meine ganze Integrität geraubt … Ich habe mich darum betrogen, jemanden zu haben, der mich will … Ich … glaube … Ich bin … nur … eine … Schwindlerin!« Karen schluchzte hemmungslos.
Später fiel es ihr nicht schwer, ihren vorherigen Geisteszustand zu verstehen. Wenn Julian ihr Sex und Bestätigung vorenthielt und sie »zu Kreuze kriechen« ließ, ging sie ihm eben aus dem Weg und suchte sich jemanden, der sie wollte. Das war in ihren Augen kein Versuch, jemanden zu finden, der ihr gespiegeltes Selbstempfinden stärkte, und sie glaubte auch nicht, dass ihre emotionale Verschmelzung mit Julian so stark war, dass sie bereit gewesen wäre, sich »wegzuwerfen«, nur um ihm heimzuzahlen, was er ihr angetan hatte. Sie hatte sich gesagt, dass sie jemanden bräuchte, der sich um sie kümmerte. Als Karen sich zum ersten Mal mit dem Mann getroffen hatte, den sie über das Internet kennengelernt hatte, hatte sie gedacht: Ich werde meine Ehegelübde brechen. Ich bin eine Lügnerin und Betrügerin. Und dieser Mann ist das auch. Wer er auch sein mag, ich weiß, dass ich Julian seinetwegen nicht verlassen werde. Ich könnte ihm niemals völlig vertrauen, denn er tut genau das Gleiche wie ich.
Karen war schockiert, als sie merkte, dass sie in der Lage gewesen war, nicht mehr auf sich selbst zu hören. Sie hatte ihre eigenen Gedanken ignoriert. Sie hatte ihren Geist einfach ausgeschaltet und war eingeschlafen. Sie war bereit gewesen, sich scheiden zu lassen, weil Julian ihr nicht zuhörte. Ihr Liebhaber würde ihr ein wenig Aufmerksamkeit schenken. Sie hatte sich aufgegeben, um jemanden zu finden, der sie bestätigte.
Die Selbstkonfrontation mit ihrer Affäre und ihren Aktivitäten im Internet half Karen, mit der Wiederherstellung ihrer Integrität zu beginnen. Außerdem beschloss sie, Julian nicht mehr wegen Sex zu bedrängen. Sie würde »Mitleids-Sex« nicht mehr akzeptieren. Karen hatte Angst, weil sie nicht wissen konnte, wie Julian mit der Situation fertigwerden würde. Doch sie handelte auf eine Weise, die Menschen zu den wunderbaren Geschöpfen gemacht hat, die sie sind: Angetrieben durch ihr Verlangen nach Integrität stellte sie sich ihren Ängsten und zerstörte so Julians Sexmonopol. Sie weigerte sich, bezüglich Sex weiterhin nach seiner Pfeife zu tanzen, und sie würde sich auch nicht mehr mit miserablem Sex zufriedengeben. So brachte sie die beiden mächtigsten menschlichen Antriebe in Einklang: ihr Bedürfnis, ihre Ehe zu erhalten, und ihren Antrieb, sich selbst zu erhalten.
Karens Vorstoß gegen Julians Sexmonopol verängstigte diesen, obgleich sie sich vordergründig auf genau das einließ, was er wollte (keine Affären mehr zu beginnen und keine Porno-Websites mehr zu besuchen). Ihre Selbstoffenbarung und Stellungnahme forderte ihr Mut ab, und das machte sie für ihn attraktiver – doch gleichzeitig ängstigte ihr Verhalten ihn. Da Karen es nun wert war, sie zu halten, wurde Julians Angst, sie zu verlieren, größer. Denn ihr neues Verhalten machte sie auch für viele andere Männer attraktiv. Er glaubte, sie werde schnell einen anderen Mann finden, wenn sie sich von ihm scheiden ließe. Julian hätte nun einen Streit beginnen und eskalieren lassen können, doch da Karen klarer Position bezog, beschloss er, sich stattdessen mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Julian durchlebte in den folgenden Wochen seine eigene Feuerprobe. Karen setzte sich weiter mit ihrer Affäre auseinander, und ganz offensichtlich profitierte sie davon. Sie sah besser aus und wirkte ruhiger und gefestigter. Sie drängte Julian nicht mehr, an seinen Problemen zu arbeiten. Andererseits wusste er, dass sie genau verfolgte, was er tat. Außerdem hatte sie seine Ausrede entkräftet, sie selbst setze sich ja auch nicht mit ihrer Situation auseinander.
In unserer nächsten Sitzung sagte Julian zu Karen: »Ich weiß, du wartest darauf, dass ich mich mit meinem Anteil an unserem Schlamassel auseinandersetze. Ich habe mehr als eine Woche lang darüber nachgedacht. Hier ist das Ergebnis. … Ich fühlte mich von dir betrogen. Mich verfolgen immer noch Bilder davon, wie du mit einem anderen vögelst. Vielleicht wird mein gespiegeltes Selbstempfinden darüber hinwegkommen. Aber was kann ich sonst von dir erwarten, wenn ich nicht mit dir vögele und wenn unser Sex bisher ziemlich mies war? Ich habe dir nicht viele Möglichkeiten gelassen. Und in einem gewissen Sinne war auch ich dir untreu. Mir bleibt nicht viel Grund, mich über deine Untreue zu beschweren.« Karen nickte beifällig, sagte aber nichts.
»Ich bin bereit, mit Dr. Schnarch an meinen schnellen Orgasmen und an der Stärkung meines sexuellen Verlangens zu arbeiten. Kannst du mir versprechen, dass du keine Affären mehr anfangen wirst?«
Karen dachte lange nach und schaute ihm dann direkt in die Augen. »Nein, das kann ich nicht, Julian.«
Julian verfiel offensichtlich in eine Defensivhaltung. Er sagte: »Was meinst du damit?«
Karen blieb ruhig und gefasst. »Ich werde keine Affären mehr anfangen. Aber ich werde dir nicht versprechen, dass ich das nicht mehr tue. Ich gehe nur mir selbst gegenüber eine Verpflichtung ein. Ich möchte mich nicht mehr so fühlen, wie ich mich gefühlt habe.« Karen hielt einen Augenblick inne. »Und ich möchte auch nicht, dass du mir versprichst, an deinen sexuellen Problemen zu arbeiten. Ich werde dir nicht mehr hinterherlaufen und dich zwingen, deine Verpflichtungen einzuhalten. Wenn du dich verpflichten willst, dann verpflichte dich dir selbst gegenüber. Mich interessieren Versprechungen nicht; mich interessiert nur, was du tatsächlich tun wirst. Für mich ist klar, dass ich in meinem Leben Sex haben will. Wenn ich enthaltsam lebe, weil ich so wütend auf dich bin, dann bin ich immer noch auf der Verliererseite. Es wird dir nicht mehr gelingen, mich deiner Kontrolle zu unterwerfen, indem du dich weigerst, mit mir zu vögeln. Wenn es nicht anders geht, werde ich mich von dir scheiden lassen.«
So definierte Karen in Gegenwart von Julian ihre Position. Sie war entschlossen, aber nicht streitlustig. Dies half Julian, nicht weiter in seiner Verteidigungshaltung zu verharren. Er atmete lange und tief durch und antwortete dann: »Bisher habe ich nicht zu meinem Wort gestanden. Und du hast recht: Im Grunde hat das etwas damit zu tun, dass ich mich mir selbst gegenüber nicht ernsthaft verpflichtet habe. Deshalb hast du tatsächlich keinen Grund, mir zu vertrauen, auch wenn ich mich darüber beklagt habe, dass ich dir nicht vertrauen kann. Und du hast mich auf eine Weise in die Klemme gebracht, wie meine Mutter es bei keinem ihrer Männer geschafft hat. Vielleicht können wir gemeinsam daran arbeiten, das Vertrauen zueinander wiederzugewinnen.«
»Ich will dich nicht verletzen, Julian, aber ich bin wirklich nicht daran interessiert, dein Vertrauen wiederzugewinnen. Ich möchte Vertrauen zu mir selbst gewinnen.«
»Ich verstehe«, sagte Julian. Er war schockiert und enttäuscht. »Ich weiß zu schätzen, was du sagst … obwohl ich mir unseren weiteren Weg anders vorgestellt habe.«
Die meisten Paare ringen im Laufe ihrer Beziehung irgendwann mit dem Problem der Verpflichtung. Manchmal geht es dabei um die Exklusivität ihrer sexuellen Beziehung zueinander, manchmal darum, ob sie sich eine gemeinsame Wohnung nehmen sollen; oder sie denken darüber nach, zu heiraten, oder sie wollen Kinder haben. Wenn Paare sich um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bindung und Autonomie bemühen, hört man häufig den Satz: »Warum bist du nicht bereit, eine Verpflichtung einzugehen?« Wenn Ihr Partner Ihre fehlende Bereitschaft, sich auf eine Verpflichtung einzulassen, auf sich persönlich bezieht und sein gespiegeltes Selbstempfinden dadurch verletzt wird, sind nur wenige so geistesgegenwärtig zu fragen: »Verpflichtung wem gegenüber? Verpflichtung bezogen auf was?«
Wie ich bereits gesagt habe, ist Monogamie ein System, kein Versprechen. Doch in dem Maße, wie Monogamie als Verpflichtung verstanden wird, verstehen die Betroffenen den »Wem gegenüber?«- und »Bezogen auf was?«-Aspekt der Monogamie nur unzureichend. Karen lehnte es ab, Julian gegenüber die Verpflichtung einzugehen, die er sich von ihr wünschte. Sie erklärte zwar, sie werde keinen Sex mit anderen Männern haben, aber sie hatte sich dazu sich selbst gegenüber verpflichtet, weil dies ihr Anliegen war. Sie hatte nicht vor, ihre Integrität noch einmal zu verletzen, um sich an Julian zu rächen. Ob Julian darauf zählen wollte oder nicht, war seine Sache. Ob er ihr vertrauen wollte, musste er entscheiden. Ihr Problem war, eine Person zu sein, der sie vertrauen konnte.
Unter Experten gibt es die Ansicht, wir Menschen hätten gelernt, unsere sexuellen Impulse zu beherrschen, weil dies für unser Überleben wichtig gewesen sei. Heranwachsende mussten sich mit der Existenz älterer und mächtigerer Männer arrangieren, um in der Hierarchie emporsteigen zu können. Andere Forscher vertreten die Auffassung, die Fähigkeit unseres Gehirns, Frieden und Ordnung aufrechtzuerhalten, habe zugenommen, als die Gesellschaften komplexer geworden seien. Diejenigen, die ihre sexuellen Impulse nicht hätten kontrollieren können, seien sozial geächtet worden, und durch die sexuelle Partnerwahl sei ihre Zahl kleiner geworden.17
Man kann Monogamie unter anderem als gesellschaftliche Institution verstehen, als von der Gesellschaft aufgezwungenes Verhalten. »Gesellschaft« sind die Regeln, die durch sozialen Druck durchgesetzt werden. Sozialer Druck unterwirft das gespiegelte Selbstempfinden der Kontrolle einer bestimmten Gruppe. Sozialer Druck nutzt Ihre Fähigkeit, die Gedanken andere Menschen über Sie zu enthüllen, und die Belohnungszentren im Gehirn schütten Dopamin aus, wenn diejenigen, die sich über die gültigen sozialen Regeln hinwegsetzen, bestraft werden.18
Bestimmte Aspekte des komplexen Monogamiesystems basieren also auf der interpersonalen Neurobiologie und auf der Funktionsweise des Gehirns. Dieses System verwandelte unsere wilden Vorfahren in Menschen und ermöglichte die Entstehung der menschlichen Kultur. Die Art von Monogamie, die den meisten Menschen bekannt ist, wird von außen aufgezwungen, unabhängig davon, ob wir das Gefühl haben, dass der Anpassungsdruck von unserem Partner oder von der Gesellschaft insgesamt ausgeht. Diese Art von Monogamie basiert darauf, dass die Vier Aspekte nicht besonders entwickelt sind – wodurch wiederum die Probleme entstehen, mit denen wir uns in diesem Buch bisher befasst haben.
Es gibt noch eine zweite Art von Monogamie, die auf Selbstkonfrontation, Selbstberuhigung, Nicht-Defensivität und Frustrationstoleranz basiert. Sie resultiert aus einem stabilen und flexiblen Selbst, einem stillen Geist und einem ruhigen Herzen, einer maßvollen Reaktionsweise und sinnvoller Beharrlichkeit. Dabei geht es um etwas, das Sie für sich selbst tun. Diese Art von Monogamie ist selbstauferlegt, und sie wirkt anders als die von außen auferlegte Monogamie. Sie regt zu Großzügigkeit an, statt dem anderen etwas vorzuenthalten, und sie führt zur Freiheit statt zur Tyrannei.
Julian und Karen hatten nun wieder häufiger Sex – und dieser war besser als vorher. Karen ergriff wieder die Initiative, und Julian rang länger mit sich, bevor er nein sagte. Er ließ Karens Initiative nicht mehr einfach ins Leere laufen, und er behandelte seine Partnerin auch nicht mehr herablassend. Er war beim Sex stärker präsent, als dass er nur der äußeren Form nach »dabei« war. Und Karen reagierte verständnisvoller und weniger defensiv, wenn Julian sich nicht auf Sex einlassen wollte.
Auch Julian initiierte nun häufiger sexuelle Begegnungen. Seine Probleme mit Frauen im Allgemeinen, seine Tendenz zu verächtlichen Reaktionen und dazu, sich kontrolliert zu fühlen, existierten zwar noch, aber ihm wurde allmählich klar, dass sein Hang, Karen Sex vorzuenthalten, ebenso viel mit ihm selbst wie mit Karen zu tun hatte.
Einmal ertappte Julian sich dabei, wie er darüber nachdachte, dass Karen ständig Sex von ihm fordere und ihn so ausbeute. Ihm wurde klar, dass er diese Gedanken hatte – und gleichzeitig wusste er, dass sie nicht zutrafen! Daraufhin ging er gleich zu Karen und animierte sie zum gemeinsamen Sex. Zu seiner Überraschung und Freude wurde die sexuelle Begegnung, die sich daraus ergab, sehr schön und angenehm. Danach gelang es ihm, allmählich seine Gedanken und Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Sein Selbstwertgefühl und sein sexuelles Verlangen wurden stärker, und dies spornte ihn dazu an, Karen gegenüber großzügiger zu sein. Weil Karen Julian während dieses Prozesses miterlebte, entwickelte sie ihm gegenüber mehr Respekt, und auch ihr Verlangen nach ihm wurde stärker.
Das Vorspiel der beiden wurde abwechslungsreicher und ausgiebiger. Oft war es langsamer, weniger hastig und zärtlicher, und beide Partner nahmen sich die Zeit, einander zu angenehmen Empfindungen zu verhelfen. Andere Situationen waren spielerischer, aufregender oder abenteuerlustiger. Generell waren Intimität und Sinn des Geschehens tiefer und facettenreicher als vorher. Das Vorspiel war ein Ausdruck der Botschaft »Was wollen wir heute spielen?« statt »Mit wie wenig Zuwendung komme ich heute aus?«
Monogamie bei einem hohen Differenzierungsgrad stärkt das sexuelle Verlangen. Sie wollen Ihrem Partner das Beste geben. Trotzdem müssen Sie mit Ihrer Faulheit und Ihrem Egoismus kämpfen. Dabei hilft Ihnen eine »kaufmännische« Perspektive: Ihnen wird klar, dass Ihr Partner ein Kleinod ist – jemand, den andere sich auf dem Markt der Kontaktanbahnung blitzschnell schnappen würden. Er ist ein »wertvolles Gut«, mit dem auch viele Ihrer Freunde nur zu gern ins Bett gehen würden. Insofern liegt es schlicht und einfach in Ihrem eigenen Interesse, Ihren Partner sexuell glücklich zu machen. Wenn Sie ihm absichtlich Sex vorenthalten, schaden Sie letztendlich sich selbst. Und einer Partnerin Sex vorzuenthalten, die sich selbst gegenüber eine Verpflichtung zur Monogamie eingegangen ist, ist besonders unklug. Wenn sie selbst sich nichts vormacht, ist sie kaum bereit, sich von Ihnen etwas vormachen zu lassen.
Aus guten und logischen Gründen wirkt Monogamie anders, wenn sie von den Vier Aspekten bestimmt wird. Julian fühlte sich nicht mehr von Karens sexuellem Verlangen unter Druck gesetzt. Und Karen setzte Julian nicht mehr unter Druck, weil sie Sex mit ihm wollte. Das wäre nicht klug gewesen, und es bestand auch keine Notwendigkeit dazu, denn Julian ergriff nun selbst häufiger die Initiative und ging kreativer mit solchen Situationen um.
Das Beste in uns wünscht sich aus guten Gründen Monogamie. Viele Menschen ziehen es vor, sexuelle Aktivitäten auf eine Person, die sie lieben, zu beschränken, insbesondere wenn dies für sie keine sexuelle Frustration zur Folge hat. Wenn wir die Wahl zwischen sehr gutem Sex und Intimität haben, bleiben wir lieber zu Hause, statt auszugehen. Auf der Suche nach einer heimlichen Romanze kann man eine Menge Zeit und Energie verschwenden, und viele von uns können gut darauf verzichten, sich das Leben besonders kompliziert zu machen. Intimität ist oft schon an und für sich schwierig genug. Wir möchten nicht, dass noch mehr Dinge es uns erschweren, eine möglichst tiefe Verbindung zu unserem Partner aufzubauen und zu erhalten. Auf Sorgen wegen eventueller ansteckender Krankheiten können wir auch gut verzichten. Der Romantiker in uns ist durchaus in der Lage, eine Vorliebe für sexuelle Exklusivität zu haben, ohne dass er den Fehler macht, zu glauben, dass sein Partner sein fester Besitz sei. Nach meinen Erfahrungen gelangen die meisten Menschen, wenn sie sich die Mühe machen, ihre Vier Aspekte zu stärken, zu der Überzeugung, dass außereheliche Affären sich nicht lohnen.
Ich habe wohlgemerkt nicht gesagt, dass sie ihr Verlangen nach Sex mit neuen Partnern verlieren. Die Vier Aspekte machen Sie nicht blind für attraktive Menschen, denen Sie begegnen. Aufgrund ihres phylogenetischen Ursprungs fühlen sich selbst die differenziertesten Persönlichkeiten von bestimmten anderen Menschen sexuell angezogen. Das Erreichen eines hohen Differenzierungsgrades beseitigt nicht die dadurch entstehenden inneren Spannungen. Die Vier Aspekte helfen Ihnen jedoch dabei, sexuelle Anspannung zu ertragen und adäquat damit umzugehen. Auch in Bezug auf Ihren Partner werden Enttäuschungen abgemildert, und dies versetzt Sie in die Lage, Ihrem Partner deswegen keine Vorwürfe zu machen. So halten Sie Ihr gespiegeltes Selbstempfinden an der kurzen Leine. Das gleiche stabile Selbstempfinden, das Sie dazu veranlasst, gibt Ihnen auch die Kraft, sich mit sexuellen Problemen auseinanderzusetzen und Ihre sexuelle Beziehung zu bereichern.
Karen und Julian durchlebten ihre Feuerprobe und gingen mit einem stabileren Verlangen nach ihrem Partner und nach Sex daraus hervor. Die Tyrannei der Monogamie treibt uns, unseren Partner und unsere Familie dazu an, sich zu entwickeln. Dies kann ein weiteres Wunder der Koevolution in der Ehe sein.
Vielleicht ist die Monogamie eine Strategie der Natur, die Sie dazu bringen soll, Ihre Beziehung zu sich selbst zu verbessern. Sofern Sie adäquat damit umgehen, entwickeln Sie dadurch ein klareres Bild davon, wie attraktiv Sie für andere sind; außerdem können Sie besser bei Ihren Bedürfnissen bleiben, wenn Ihr Partner Sie drängt, sich seinen Wünschen zu beugen; Sie können Ihre Enttäuschungen und Ängste besser beruhigen; Sie verhalten sich Ihrem Partner gegenüber weniger defensiv; und Sie stehen Schwierigkeiten durch, statt aufzugeben.
Vielleicht ist der folgende Satz die beste Möglichkeit, den Inhalt dieses Kapitels zusammenzufassen: Zur Monogamie gehören sinnvolle Beharrlichkeit und das Ertragen von Unbehagen um der Weiterentwicklung willen. Das Gleiche gilt für echte Liebe.