7.  Das Verlangen verblasst, wenn Sie aufhören, sich zu entwickeln

Zum Abschluss von Teil II möchte ich Ihnen von einem wunderbaren Paar berichten, das zu mir zur Therapie kam. Regina und Ellen waren beide sehr lebenstüchtige berufstätige Frauen im mittleren Alter. Regina war TV-Produzentin und Ellen erfolgreiche Anwältin. Sie hatten gemeinsam Kinder aus Ellens erster Ehe aufgezogen, die mittlerweile selbst Familien gegründet hatten.

Regina und Ellen kamen zur Therapie, weil ihre sexuellen Aktivitäten seltener wurden und weil sich die Dissonanzen in ihrer Ehe häuften. Beide waren in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich begabt und auch sehr erfolgreich – eines jener Paare, für die typisch ist, dass sie Konflikte vermeiden und »sich nie streiten«. Umso beunruhigter waren sie über ihre zunehmenden Unstimmigkeiten.

Regina war die Partnerin mit dem schwächeren Verlangen, und sie hatte zunächst angenommen, ihr Verlangen sei aufgrund der Menopause schwächer geworden (was sich später als unzutreffend erwies). Die Geschichte von Regina und Ellen veranschaulicht normale Probleme mit dem sexuellen Verlangen, die sich so allmählich entwickeln, dass man sie nicht kommen sieht.

Reginas und Ellens Problem

Die Probleme waren durch Veränderungen in Reginas und Ellens Beziehung und in deren Umfeld hervorgerufen worden. Weil sie sich dem Ruhestandsalter näherten, dachten die beiden darüber nach, in eine exklusive Gemeinschaft in einem anderen Teil des Landes zu ziehen, wo Regina aufgewachsen war. Bisher war es ihnen gelungen, ihre emotionale Balance zu erhalten, indem sie ihre beruflichen Bereiche, ihre Freunde und ihre finanziellen Angelegenheiten bewusst getrennt hielten. Doch der Umzug, über den sie nachdachten, würde Ellen zwingen, ihre Anwaltspraxis, ihre berufliche Identität und den Kontakt zu ihren Kollegen aufzugeben. Regina plante, bei dem Fernsehsender, wo sie ihre Karriere begonnen hatte, eine Teilzeitarbeit zu übernehmen. Sie würde in eine Stadt zurückkehren, in der viele ihrer früheren Arbeitskollegen und Freunde lebten. Ellen hingegen würde dort außer Regina niemanden kennen.

Der angepeilte Umzug brachte die Beziehung des Paars aus dem Gleichgewicht und führte zu Auseinandersetzungen über Dinge, die beide bisher nicht hatten »hochkochen« lassen. Regina und Ellen hatten mögliche Konkurrenzprobleme durch völlig getrennte, aber relativ gleichwertige berufliche Situationen weitgehend ausgeschlossen. Konkurrierende und zur Konfliktvermeidung neigende Paare sorgen oft auf eine geradezu rigide Weise für Gleichheit in allen Lebensbereichen, um ihr gespiegeltes Selbstempfinden zu stützen, und manche von ihnen können diesen diffizilen Balanceakt erstaunlich lange aufrechterhalten. Doch nun befanden sich Regina und Ellen in einer Krise, weil die Umstände, die möglicherweise auf sie zukamen, all dies in Frage stellten.

Zu beschäftigt für Sex? Keine Zeit für die Liebe?

Ellen war anfangs besorgt und etwas verschnupft. »Diese Veränderung ist für mich viel schwerer zu verkraften als für Regina. Ich bin nicht gerade erpicht auf diesen Umzug, zumal Regina nie Sex mit mir will. Natürlich fühle ich mich ein wenig unsicher, weil sie dort, wohin wir umziehen wollen, ihre alten Freunde wiedertreffen wird. Aber ich wäre ja wohl närrisch, wenn ich glauben würde, nach dem Umzug würde zwischen uns alles besser werden.«

Regina wischte Ellens Äußerung elegant beiseite. »Ich glaube, eines unserer Probleme ist, dass wir nicht genug Zeit füreinander haben. Ich bin meist beruflich unterwegs, und Ellen ist entweder bei Gericht oder bereitet sich auf einen Prozess vor. Wir verbringen wirklich nicht viel Zeit zusammen. Wenn das anders wäre, würde es vielleicht auch mit unserem Sex besser klappen.«

»Ich glaube nicht, dass das an der fehlenden Zeit liegt«, erwiderte Ellen.

Ich sagte: »Das glaube ich auch nicht.«

Regina wendete sich mir zu und sagte: »Wieso glauben Sie das nicht?«

»Ich habe noch nie ein Paar kennengelernt, dessen berufliche Verpflichtungen und anderweitige Aktivitäten ein unüberwindliches Hindernis waren, wenn es um die Lösung ehelicher Schwierigkeiten ging. Und ich kenne auch kein Paar, bei dem dies der Hauptgrund für solche Probleme war. Ich kann mich an viele Fälle erinnern, in denen Paare glaubten, dies sei ihr Problem, aber später merkten, dass dies nicht der Fall war. Würden Sie wegen Ihres Berufs auf eine der angenehmsten Seiten Ihres Lebens verzichten, wenn der Sex, der Sie zu Hause erwartete, so gut wäre?«

»Woher wollen Sie wissen, dass unser Sex nicht sehr gut ist?« Regina hatte meine Implikation verstanden. Sie war gut im mentalen Spiegeln. Sie hatte meine Äußerung nicht in Frage gestellt, sondern wollte wissen, wie ich zu meiner Einschätzung kam.

»Wenn der Sex zwischen Ihnen wunderbar wäre, würden Sie sich durch Ihre starke berufliche Belastung nicht daran hindern lassen. Sie sind beide ziemlich willensstark. Deshalb sind Sie beruflich so erfolgreich. Menschen verbringen ihre Zeit dort, wo sie die besten Belohnungen bekommen. Es gibt viele, die lieber zur Arbeit gehen, als sich im Bett zu vergnügen, weil sie glauben, in ihrem beruflichen Umfeld die meisten Streicheleinheiten zu bekommen. Wenn Sex und Intimität für Sie so angenehm wären, würden Sie die Zeit, die Sie getrennt voneinander verbringen müssen, bedauern. Doch für viele Menschen geht es gar nicht um solch ein Entweder-Oder. Wir reden uns einfach gern ein, dass wir keine Zeit füreinander haben, weil unsere gottverdammten Verpflichtungen das verhindern.«

Regina lächelte mich an, als hätte ich soeben ihren Test bestanden. Offensichtlich gab ich mich nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden. Es ist einfach zu simpel, schwierige Themen abzutun, indem man sie einem »hektischen Lebensstil« zuschreibt oder Gründe vorschiebt wie: »Das moderne Leben ist eben zu kompliziert« und: »Meine beruflichen Verpflichtungen lassen keine Zeit für uns übrig.«

Ellen sagte: »Das habe ich gemeint, als ich sagte, ich glaubte nicht, dass unser sexuelles Problem gelöst werden könnte, wenn wir mehr Zeit füreinander hätten. Zum Sex kommt es zwischen uns nur selten, und wenn, ist er meist nicht besonders gut.«

Regina und Ellen streiten über Sex

Dass es Konkurrenz zwischen Partnern gibt, ist eine Tatsache, und wenn die Vier Aspekte der Balance bei ihnen nicht besonders stark ausgeprägt sind, wird die Konkurrenz zum Problem. Sie führt zu ständigem Zank, und das hat einen ziemlich aufreibenden und engherzigen Kampf zur Folge. Allerdings war die Situation zwischen Regina und Ellen deutlich positiver, als ich es bei einigen anderen Paaren erlebt hatte. Sie stritten nicht besonders gemein und herabsetzend, sondern verhielten sich wie zwei sehr ehrgeizige und talentierte Frauen, die bereit waren, sich beim ersten Auftauchen von Schwierigkeiten mit diesen auseinanderzusetzen.

Regina wehrte Ellens Angriff geschickt ab: »Ich halte es nicht für meine Aufgabe, darüber Buch zu führen, wann wir Sex haben oder ob er dich befriedigt hat. Wenn du wolltest, könntest du ja etwas Neues vorschlagen.«

Ellen ging in die Verteidigung, wandte sich mir zu und sagte: »In unserer Beziehung bin immer ich diejenige, die Neues vorschlägt. Regina sagt im Allgemeinen nichts dazu, und wenn ich es tue, tadelt sie mich deswegen. Es ist doch nicht nur meine Aufgabe, unser Sexualleben interessant zu machen. Warum schlägt Regina denn nie etwas Neues vor?«

»Warum machst du denn nicht mal etwas Neues?«, erwiderte Regina.

»Wenn ich es tue, interessierst du dich nicht dafür, oder du kommst wieder mit dem an, was wir sowieso schon machen. Ich fühle mich dann zurückgewiesen und nicht gehört.«

»Ich fühle mich auch zurückgewiesen und nicht gehört«, entgegnete Regina.

»In manchen Dingen sind Sie sich offenbar einig«, sagte ich und legte eine kurze Pause ein. »Sie fühlen sich beide zurückgewiesen und nicht gehört. Sie meinen beide, dass etwas nicht gut läuft und dass jemand die Schuld daran hat. Uneins sind Sie sich nur darüber, wer die Schuldige ist.« Beide lachten. Es war mir gelungen, sie in ihrem Rhythmus gegenseitiger Anschuldigungen aus dem Takt zu bringen. »Nun einmal konkret: Was tun Sie denn tatsächlich beim Sex?«

Beide antworteten nicht. Offensichtlich waren sie verlegen und hofften, die Partnerin würde etwas sagen. Regina und Ellen schauten einander an, aber auch danach sagten beide nichts. Schließlich ergriff Regina das Wort: »Wir reiben uns aneinander, Becken an Becken, bis eine von uns kommt, oder wir stimulieren einander mit den Fingern. Manchmal benutzen wir auch einen Vibrator. Und manchmal bringen wir uns im Beisein der anderen selbst zum Orgasmus.«

Wie aus der Pistole geschossen bestätigte Ellen: »Genau. Das sind die Dinge, die wir tun.« Dann fügte sie hinzu: »Und ich bin das leid. Es ist langweilig!« Wieder stritten Regina und Ellen darüber, wer für den langweiligen Sex verantwortlich sei. Ich musste die Aufmerksamkeit beider durch ein Handzeichen auf mich lenken.

»Natürlich sind Sie gelangweilt. Wie könnte es anders sein? Sie sind normal!« Beide schauten mich an. Regina sagte: »Wenn Sie das der Wirkung wegen sagen, Doktor, dann kann ich nur sagen: Es ist seeeehr wirksam. Uns zu sagen, wir seien normal, damit wir aufhören, uns zu streiten – wirklich seeehr clever, muss ich ehrlich zugeben.«

»Ich sage Ihnen, dass es normal ist, wenn Sie tödlich gelangweilt sind, weil das wirklich so ist!«

Sexuelle Langeweile ist normal

Ellen und Regina hatten eine normale sexuelle Beziehung. Zu Beginn hatte Regina sexuelle Verhaltensweisen ausgeschlossen, bei denen sie sich unbehaglich oder unwohl fühlte. Ellen hatte es genauso gemacht. Sie lernten, von der Partnerin als beängstigend empfundene sexuelle Themen zu meiden, ihr Zögern in Reaktion auf bestimmte Dinge zu registrieren und sich im Bett an den Aktivitäten zu orientieren, die die andere zuließ. Damit fuhren sie so lange fort, bis eine von ihnen nervös wurde oder unbeholfen reagierte. Dann gingen sie zu etwas anderem über und probierten die Dinge, bei denen Probleme aufgetreten waren, nie mehr aus. Dieses Verhalten hatte nichts mit der Tatsache zu tun, dass sie ein gleichgeschlechtliches Paar waren. Heterosexuelle Paare verhalten sich meist nach dem gleichen Muster, bevorzugen allerdings andere sexuelle Verhaltensweisen.

Ellen wollte mit einem Dildo experimentieren (einen Vibrator benutzten sie ohnehin), doch sie nahm an, Regina werde sich dabei nicht wohlfühlen. Sie hatte diese Möglichkeit in den ersten Jahren ihrer Beziehung mehrmals angedeutet, doch Regina hatte sich nie darauf eingelassen. Allerdings hatte Ellen das Thema auch nie direkt zur Sprache gebracht, weil dies ein für sie zu hohes Maß an selbstbestätigter Intimität vorausgesetzt hätte. Stattdessen hatte sie mehrmals indirekt auf Dildos angespielt, und als Regina nicht darauf »angesprungen« war, hatte sie nicht mehr nachgehakt.

Außerdem wünschte Ellen sich, oral befriedigt zu werden, und sie war auch bereit, dies selbst zu tun. Doch Regina sperrte sich dagegen. Die Verhandlung darüber bestand größtenteils in nonverbalen Handlungen, beispielsweise darin, dass Ellen ihren Schritt in die Nähe von Reginas Kopf positionierte, woraufhin Regina passiv wurde oder rasch die eigene Position veränderte.

Wie alle Paare, unabhängig von der sexuellen Orientierung, schufen Regina und Ellen gemeinsam eine mentale Welt des Sex. Ihre sexuelle Landschaft umfasste »die Art, wie wir Liebe machen«, »Tabu!«, »Völlig tabu!« und den »Kampfplatz«. Der Dildo war zurzeit tabu. Oralsex war augenblicklich Gegenstand der Kontroverse und für Regina und Ellen der »Kampfplatz«.

Oralsex war Regina eher bereit zu akzeptieren als den Dildo. Sie hielt Oralsex für allgemein akzeptierter und weniger pervers, weil viele Menschen ihn praktizierten. Dass jemand den Wunsch danach hatte, respektierte sie. Regina erklärte, sie fühle sich dabei definitiv nicht wohl, wisse aber nicht warum. Ellen hatte keine Lust mehr, darauf zu warten, dass Regina den Grund für ihre Reserviertheit herausfand.

Allerdings wünschte Ellen sich sehr von Regina, mit einem Dildo stimuliert zu werden. Und sie wäre auch bereit gewesen, das Gleiche für Regina zu tun. Konkret wünschte Ellen sich ein ganz bestimmtes Erlebnis, wenn sie sich dem Höhepunkt näherte. Es ging nicht darum, dass Ellen ihren Mann oder dessen Penis vermisste; sie wollte nur vor dem Höhepunkt gern etwas in sich spüren. Und Ellen wollte dieses Erlebnis mit Regina teilen. Sie war bereit, sich damit zufriedenzugeben, dass Regina sie oral befriedigte. Dies war der Punkt, an dem sie stehengeblieben waren. In den letzten beiden Jahren, seit sie über einen Umzug zu reden begonnen hatten, war auch das Thema Oralsex immer präsent gewesen. Doch nichts dergleichen war jemals geschehen, weil Regina sich dabei nicht wohlgefühlt hatte.

Regina war seit ihrer Adoleszenz Lesbe, doch Oralsex hatte sie noch nie erlebt, weder mit einer Frau noch mit einem Mann. Sie nahm an, es würde ihr nicht gefallen, und sie wollte sich ein unangenehmes Erlebnis damit ersparen. Abgesehen von eventuellem Unbehagen wegen des Geschmacks und Geruchs der Sexualflüssigkeiten fürchtete sie, »klaustrophobisch« zu werden, wenn sich ihr Kopf zwischen Ellens Beinen befände. Dass es Regina peinlich war, eine eindeutige Stellungnahme hinauszuzögern, machte die Sache nur noch schlimmer.

Auf, in eine neue Richtung!

Regina kam auf Oralsex erst zu sprechen, als Ellen das Thema anschnitt. Als diese während unserer Sitzung davon anfing, beklagte sich Regina: »Warum müssen wir eigentlich ständig über Oralsex reden?« Daraufhin machte Ellen Anstalten, auf jede weitere Diskussion über das Thema zu verzichten. Als Regina merkte, dass ich ihre Frage ernst nahm, reagierte sie bestürzt.

»Sie verhalten sich, als ob Sie eine Frage stellen würden, aber wollen Sie tatsächlich eine Antwort hören?«

»Eine Antwort worauf?«, fragte sie reserviert zurück.

»Auf Ihre Frage: ›Warum müssen wir eigentlich ständig über Oralsex reden?‹ Es gibt eine Antwort auf Ihre Frage.«

»Tatsächlich?« Regina war nicht klar, worauf ich hinauswollte.

»Ja. Und sie lautet nicht, dass Ellen eine Oralsexfanatikerin ist!« Ellen merkte nun, dass ich nicht gegen sie Position bezog. Sie entspannte sich und lächelte.

»Dann beantworten Sie mir meine Frage: Warum müssen wir ständig über Oralsex reden?« Reginas Ton klang herausfordernd.

»Weil das in einer Ehe nun einmal so funktioniert. Das Thema Oralsex zählt bei Ihnen zu denjenigen, über die noch geredet werden muss. Welche Themen das sind, hängt vom betreffenden Paar ab, aber der Vorgang ist immer der gleiche: Sie haben über alle Dinge geredet, über die Sie beide reden wollten. Übrig ist nur noch das, womit Sie nichts zu tun haben wollen.«

Regina wurde klar, dass ich nicht versuchen würde, ihre Abwehr zu unterminieren. Die Umwandlung ihres Angriffs in eine ernste Frage gab ihr die Möglichkeit, sich von ihrer besten statt von ihrer schlechtesten Seite zu zeigen. »Ist das so?« fragte Regina mit etwas zittriger Stimme.

»Ja. Jedes Paar hat ein ›Müssen wir ständig darüber reden?‹-Thema. Ihres ist zufällig Oralsex.«

»Warum muss es bei uns denn ausgerechnet Oralsex sein?« Regina wirkte ernsthaft interessiert.

»Weil das für Sie beide offenbar das passende Thema ist.«

»Wollen Sie damit sagen, dass wir die Art von Leuten sind, die Schwierigkeiten mit Oralsex haben?«

»Nein. Sie sind Leute, die Schwierigkeiten damit haben, mit Oralsex umzugehen. Deshalb ist dies Ihr ›Müssen wir ständig darüber reden?‹-Thema. Die Themen, über die Sie reden und auf die Sie sich einlassen können, sind diejenigen, über die Sie nicht zu reden brauchen. Sie setzen sich einmal damit auseinander, und damit ist die Sache gegessen.«

»Weshalb reden wir dann ständig über Themen, über die ich nicht reden will?«

»Das hängt mit dem Prozess der Auswahl von Möglichkeiten und seiner einschränkenden Wirkung zusammen.«

»Was zum Teufel hat denn der Auswahlprozess mit der Frage zu tun, warum wir uns mit Oralsex auseinandersetzen müssen?«

»Der Prozess der Auswahl von Möglichkeiten ist charakteristisch für die Entwicklung normaler sexueller Beziehungen.«

Sexuelle Beziehungen bestehen immer aus »Überresten«

Einige mit dem sexuellen Verlangen zusammenhängende Probleme treten schlicht und einfach wegen des Eliminationsprozesses auf. In einer normalen sexuellen Beziehung müssen sich die Partner darüber klar werden, wobei sie sich unbehaglich fühlen, und diese Dinge werden dann zum Tabu erklärt. Im Namen von Gleichheit und Fairness muss Ihr Partner sich daran halten. Anschließend begnügen Sie und Ihr Partner sich mit dem, was außer dem Tabuisierten noch an Möglichkeiten sexuellen Verhaltens bleibt. Die sexuelle Praxis von Regina und Ellen bestand aus dem Wenigen, wobei sie sich beide wohlfühlten, und sie mieden Dinge, die sie nervös machten. Deshalb habe ich gesagt, dass sexuelle Beziehungen immer aus Überresten bestehen – aus dem, was übrig bleibt. (Später werde ich Ihnen erklären, wie man solche »Überreste« in einen köstlichen Festschmaus verwandeln kann.)

Dies alles ist wesentlich komplexer, als über zwei Menschen und ihre Fehler und Mängel zu reden. Die Lösung besteht nicht einfach darin, Joy of Sex zu lesen oder Regina und Ellen die Erlaubnis zu geben, Neues auszuprobieren, oder gar eine konkrete Anleitung dazu. Der Prozess der Einschränkung durch Auswahl geht langsam und unmerklich vonstatten, doch er ist nicht aufzuhalten und ebenso machtvoll wie ein Gletscher auf seinem Weg bergabwärts. Die Entwicklungsmaschine der Ehe ist am Werk, und die Natur entwickelt nun einmal keine unausgereiften Mechanismen.

Die sexuelle Praxis reicht immer bis an die Grenzen der Entwicklung der betreffenden Menschen heran

Normale sexuelle Beziehungen entwickeln sich bei den meisten von uns unsichtbar, erfüllen aber auf einfache und elegante Weise ihren Zweck. Sie und Ihr Partner erforschen alles, was Sie beide akzeptieren und wobei Sie sich wohlfühlen, und aufgrund des Prozesses der einschränkenden Auswahl verlieren diese Dinge nach und nach den Reiz des Neuen. Ihre sexuellen Aktivitäten bleiben weiterhin auf die Grenzen Ihres momentanen sexuellen Entwicklungsstandes beschränkt. Im Laufe der Zeit kommt garantiert Langeweile auf. Langeweile ist in einer normalen sexuellen Beziehung unvermeidbar; sie tritt also nicht auf, weil Sie etwas falsch gemacht haben.

Deshalb sage ich immer wieder, dass Menschen mit ihrer sexuellen Praxis innerhalb der Grenzen ihrer sexuellen Entwicklungsstufe bleiben. Dies ist eine Nebenerscheinung des völlig normalen Prozesses, durch den Partner sich von Verhaltensweisen lösen, die sie nervös machen. Wenn Ihre sexuelle Praxis über die Grenzen Ihres momentanen sexuellen Entwicklungsstandes hinausgeht, fühlen Sie sich zwangsläufig unwohl. Auf diese Weise entwickeln Sie sich vom ersten Kuss bis zu Ihrer derzeitigen sexuellen Praxis. Weiterentwicklung im Bereich der Sexualität ist nur möglich, wenn Sie lernen, Angst zu ertragen. Um ein sexuell reifer Erwachsener zu werden, müssen Sie Dinge, die Sie für ekelhaft und pervers gehalten haben, in eine geschätzte Art körperlicher Liebe verwandeln, die Sie genießen.

Das Bewusstsein dessen, dass Menschen in ihrer sexuellen Praxis immer nur bis an den Punkt kommen, der ihrem momentanen sexuellen Entwicklungsstand entspricht, macht verständlich, warum Paare sich über sexuelle Verhaltensweisen streiten. Vorwärtszugehen erzeugt immer eine gewisse Angst. Regina und Ellen mussten ihre sexuellen Präferenzen und Grenzen (im konkreten Fall bezüglich Oralsex) zu respektieren lernen. Doch Regina erwartete von Ellen, dass diese sich mit ihren sexuellen Tabus arrangierte.1 So viel Verständnis Ellen Reginas Gefühlen gegenüber auch hatte, sie konnte nichts daran ändern, dass Liebesbeziehungen den Partnern nicht immer ein Gefühl der Sicherheit vermitteln – was Regina nicht akzeptieren wollte. Außerdem kann man nicht einige Bestandteile einer solchen Beziehung »auf Eis legen«, bis sie einen nicht mehr nervös machen. Um sich zu einem sexuell reifen Menschen entwickeln zu können, muss man hin und wieder Angst ertragen und bereit sein, sich ins Unbekannte vorzuwagen.

Geht Ihre sexuelle Praxis über Ihren aktuellen Entwicklungsstand hinaus? Das ist ziemlich sicher nicht der Fall – jedenfalls ist es nicht anzunehmen, wenn Sie unter sexueller Langeweile leiden. Sie können diesen Zustand nur überwinden, indem Sie Ihr Repertoire an vertrauten sexuellen Aktivitäten durch Ausprobieren neuer Möglichkeiten vergrößern. Allerdings verstärkt das Ihre Angst, stellt Ihre Identität in Frage und ist eine Prüfung für den Bestand Ihrer Beziehung. Außerdem stellt es eine Herausforderung der Vier Aspekte der Balance bei Ihnen dar: Sie müssen an sich selbst festhalten, sich beruhigen, Ihre Gefühle besänftigen, dürfen nicht überreagieren und müssen Unbehagen um der eigenen Weiterentwicklung willen ertragen.

Und wenn hier von Neuem die Rede ist, dann sind damit nicht nur neuartige sexuelle Verhaltensweisen gemeint, sondern es geht um die Chance, andere Aspekte der Sexualität und Erotik Ihrer Partnerin zu erkunden oder einen bisher verborgenen Teil von Ihnen selbst ans Licht zu bringen. Wenn Ihnen klar geworden ist, dass Neuheit in erster Linie ein mentales Phänomen ist, merken Sie, dass Paare, die darüber streiten, ob sie etwas Neues tun wollen, im Grunde darüber streiten, ob sie bereit sind, einander etwas Neues zu offenbaren.

Unser Verlangen nach neuartigen sexuellen Erlebnissen treibt den Entwicklungsprozess weiter

Ein wichtiger Bestandteil dieses Entwicklungsprozesses lässt sich aus der Entwicklung unserer Art herleiten: Unsere menschlichen Urahnen wünschten sich neuartige sexuelle Anregungen und zahlreiche Partner. Die Anthropologin Helen Fisher ist der Auffassung, unser Drang nach »frischen Attraktionen« und nach sexueller Abwechslung sei Gehirnarealen zuzuschreiben, die zur Zeit des Auftauchens der ersten Menschen entstanden seien. Die Spannung zwischen unserem Drang nach neuartigen sexuellen Impulsen und unserem Bedürfnis nach einer Paarbindung haben die Entwicklung des Präfrontalkortex entscheidend beeinflusst. Und die Existenz des Präfrontalkortex ermöglicht es auch, mit ein und demselben Partner in einer längerfristigen Beziehung sowohl das Bedürfnis nach sexueller Abwechslung als auch das Bedürfnis nach einer Paarbindung zu befriedigen. Um dazu in der Lage zu sein, müssen wir jene sexuellen Entwicklungsprozesse durchlaufen, die einerseits unseren Geist erweitern und andererseits unser Gehirn regulieren. Unser inhärentes Bedürfnis nach neuartigen sexuellen Erlebnissen ruft in monogamen Beziehungen ein Bedürfnis nach sexueller Weiterentwicklung hervor.

Vor einiger Zeit vertrat der Anthropologe Donald Symons die Auffassung, Männer seien stärker auf sexuelle Abwechslung fixiert als Frauen. Er führte dies auf Veränderungen der sexuellen Charakteristik beider Geschlechter zurück, die in der Zeit der Jäger und Sammler entstanden seien. Nach Symons gelang es Männern, die sexuelle Abwechslung bevorzugten, besser, ihre Gene zu verbreiten. Auf diese Weise sei bei ihnen, anders als bei Frauen, eine Vorliebe für sexuelle Abwechslung entstanden.

Helen Fishers Auffassung ist eine andere.2 Sie schreibt: »Außerdem legen der biologisch motivierte Trieb der Frau, Ressourcen zu erlangen, eine Versicherungspolice zu erwerben und ihren Nachkommen eine bessere oder abwechslungsreichere DNS zu sichern, die potentiell intensive und langanhaltende Reaktion der Frau beim Geschlechtsakt und die Häufigkeit von Ehebruch bei Frauen in Gesellschaften ohne sexuelle Doppelmoral die Vermutung nahe, dass Frauen regelmäßig auf sexuelle Abwechslung aus sind, vielleicht ebenso regelmäßig wie Männer.«3 Nach ihrer Auffassung ist das Bedürfnis nach Abwechslung das gleiche, nur die Gründe unterscheiden sich. Der Sexualforscher Alfred Kinsey stellte fest, dass Frauen selbst dann regelmäßig außereheliche Beziehungen pflegen, wenn sie in einer Kultur leben, die dies durch strenge Gesetze zu verhindern versucht. Aus anderen Untersuchungen geht hervor, dass Frauen in Gesellschaften, in denen Männer und Frauen rechtlich gleichgestellt sind und es ihnen erlaubt ist, mehrere Sexualpartner gleichzeitig zu haben, ebenso häufig sexuelle Affären haben wie Männer.4

Die sexuelle Anspannung, die unser Bedürfnis nach sexueller Abwechslung erzeugt, ergibt sich also nicht aus geschlechtsspezifischen Unterschieden. Deshalb ist dieses Bedürfnis auch bei weiblichen und männlichen homosexuellen Paaren zu finden.

Falls Sie also vermutet haben, die Reginas und Ellens Probleme mit dem sexuellen Verlangen bestünden, weil die beiden Frauen lesbisch seien, sollten Sie diese Ansicht noch einmal überdenken. Schwule und lesbische Paare haben bezüglich ihres sexuellen Verlangens ähnliche Probleme wie heterosexuelle Paare; in vielen Fällen sind es sogar exakt die gleichen Probleme, und diese treten aus den gleichen Gründen auf wie bei Heterosexuellen. Probleme, die mit dem sexuellen Verlangen zusammenhängen, beruhen darauf, dass Sie ein Mensch sind.

Wenn Ihr Partner für Sie zu wichtig wird, treten sexuelle Probleme auf

Das System, das unsere persönliche Entwicklung fördern soll, ist unglaublich schlau. Sexuelle Langeweile ist unvermeidlich, weil sexuelle Beziehungen stets auf dem basieren, »was übrig bleibt«, und weil man Langeweile nur vermeiden kann, indem man sich in unerforschte Bereiche vorwagt. Allerdings kann auch noch ein zweiter, gleichzeitig stattfindender Prozess die sexuelle Langeweile fördern. Dieser ebenso elegante Mechanismus basiert einzig und allein auf dem Vergehen von Zeit. Nicht die Begrenztheit Ihrer sexuellen Entwicklung ist in diesem Fall die Ursache, sondern liebevolle Zuwendung. Bei Regina und Ellen dauerte es nicht lange, bis dieser Aspekt zur Sprache kam. Ellen sagte: »Ich fühle mich von dir nicht besonders gut umsorgt.«

Darauf antwortete Regina: »Und ich fühle mich von dir auch nicht gut umsorgt. Ich habe nicht das Gefühl, in deinem Leben besonders wichtig zu sein.«

Nun mischte ich mich ein: »Offensichtlich glauben Sie beide, ein Recht auf Ihre Gefühle zu haben; allerdings sind diese meiner Meinung nach keine guten Indikatoren für das, was sich zwischen Ihnen abspielt. Meiner Einschätzung nach besteht eines Ihrer Probleme darin, dass Sie füreinander zu wichtig sind. Sie sind füreinander wichtiger, als jede von Ihnen für sich selbst wichtig ist. Ihre Partnerin ist zu sehr damit beschäftigt, was Sie über sie denken; sie fürchtet Ihre Missbilligung und kann diese kaum ertragen. Wenn Sie sich unwichtig fühlen, bedeutet das nichts anderes, als dass sich Ihr gespiegeltes Selbstempfinden beklagt.«

Ellen reagierte wie von der Tarantel gestochen: »Wie zum Teufel können wir füreinander zu wichtig sein? Wie kann auch nur irgendjemand zu wichtig sein? Es ist doch gut, wenn wir das Gefühl haben, dass andere Menschen sich um uns kümmern.«

»Das ist wahr. Aber für jemanden wichtig zu sein, der nicht auf eigenen Füßen stehen kann, fühlt sich nicht so gut an, wie Sie vielleicht meinen.«

Warum wir uns mit neuen sexuellen Praktiken schwertun

Häufig wird angenommen, in einer guten Beziehung sei es wichtig, für den Partner zu sorgen und sich um ihn zu kümmern. Jeder Mensch möchte sich umsorgt fühlen. Und niemandem ist klar, welche Rolle das jeweilige emotionale Entwicklungsniveau dabei spielt. Wenn Sie Ihre Partnerin umsorgen, sie aber so wichtig für Sie ist, dass die Vier Aspekte der Balance bei Ihnen überfordert sind, treten Verlangensprobleme auf.

Je wichtiger Ihr Partner für Sie wird, umso wahrscheinlicher kommt sexuelle Langeweile auf. Sexuelle Neuerungen einzuführen ist dann schwieriger, denn Sie werden kaum eine Zurückweisung riskieren, weil Ihnen die Meinung Ihrer Partnerin über Sie wichtiger ist als Ihre eigene Sicht. Früher oder später sind Sie dann nicht mehr bereit, die Maske Ihrer Sexualität abzunehmen. Je schwächer die Vier Aspekte ausgeprägt sind, umso schneller erreichen Sie den schicksalhaften Punkt, an dem Sie sich weigern, bisher verborgene Eigenarten zu offenbaren, indem Sie Ihrem Partner vorschlagen, einmal etwas Neues auszuprobieren.

Ellen und Regina rangen mit dieser unvermeidlichen Tyrannei des unablässigen Strebens nach Anpassung. Ellen fürchtete, Regina gegen sich aufzubringen, wenn sie ihr offenbaren würde, welche erotischen Bedürfnisse sie tatsächlich hatte. Sie stellte sich vor, Regina würde sie dann einem langwierigen Kreuzverhör unterziehen, um herauszufinden, »wo sich dies verborgen hat«. Ellen wollte ihre Beziehung zu Regina nicht gefährden und auch nicht von Regina »zur Schnecke gemacht« werden. Sie war auf ihre falsche Persona fixiert, weil sie in ihrer Beziehung zu Regina von Anfang an ihre wahren erotischen Bedürfnisse verborgen hatte.

Viele »Frauen mit schwachem Verlangen« sind in Wahrheit unglaublich sinnlich. Sie sind das Endresultat jener seit Millionen von Jahren stattfindenden Konditionierung der Frauen auf Sex hin. Solche Frauen sind zahlreicher, als Sie glauben mögen. Sie lieben Sex, lassen sich von ihm mitreißen, und »wollen ordentlich geritten und nass gemacht werden«, wie einer meiner Klienten aus Texas es ausdrückte. Sie verbergen dieses Bedürfnis (und entsprechende frühere Erlebnisse mit anderen Partnern), wenn sie eine Beziehung eingehen, und dadurch verstärken sie im Geist ihres Partners einen falschen Eindruck von ihrer Person. Jahre später, von ihrem Partner beim Sex gegängelt, sind sie zu Tode gelangweilt und über ihr Sexualleben völlig frustriert. Sie haben kaum noch Verlangen nach Sex, weil er ihnen nicht mehr verlockend erscheint.

Neue sexuelle Möglichkeiten werden immer von einem Partner eingeführt

Sie und Ihr Partner tun beim Sex ohnehin alles, was für Sie beide akzeptabel ist – Sie geben sich also praktisch mit dem zufrieden, »was übrig bleibt«. Wahrscheinlich hat Ihr Partner kein Interesse daran, etwas Neues auszuprobieren, weil es nicht seinem derzeitigen Entwicklungsstand entspricht. (Anders ist es, wenn Sie etwas vorschlagen, das Ihr Partner schon länger möchte, von Ihnen aber bisher abgelehnt wurde.)

Folglich geht Ihr Partner wahrscheinlich nicht auf Ihre Vorschläge ein. Hier gilt, was wir in Zusammenhang mit Intimität (siehe Kapitel 5) festgestellt haben: Langeweile entsteht in der Sexualität durch Abhängigkeit von fremdbestätigter Intimität. Wenn Sie Ihre Selbstwertschätzung von Ihrem Partner abhängig machen, statt sich auf Ihr eigenes Urteil zu verlassen, können Sie beim Sex mit Ihrem Partner nichts Neues ausprobieren und auch keine neuen Möglichkeiten entwickeln. Falls die Vier Aspekte bei Ihnen schwach ausgeprägt sind, werden Sie beim Sex kaum etwas Neues wie Oralsex (oder die Benutzung eines Dildo) vorschlagen. Es ist dann leichter für Sie, die Situation einfach so langweilig zu belassen, wie sie ist.

Indem Sie neue Möglichkeiten vorschlagen, offenbaren Sie Ihre erotischen Präferenzen

Die große Hürde beim Sex ist nicht, dem Partner den eigenen Körper zu zeigen. Das eigentlich Schwierige ist, Ihre erotischen Vorlieben und Eigenarten zu offenbaren, indem Sie etwas sagen wie: »Warum tun wir das nicht?« Wenn Sie zulassen, dass Ihr Partner Sie so sieht, dass er sich, in welcher Hinsicht auch immer, ein umfassendes Bild von Ihnen machen kann, ist das unabhängig vom speziellen Gegenstand der Offenbarung in jedem Fall beängstigend. Die eigenen erotischen Vorlieben zu offenbaren ist zudem eine besondere Herausforderung für die Vier Aspekte. Wenn Sie Ihre verborgenen sexuellen Gelüste mittels selbstbestätigter Intimität offenbaren, müssen Sie sich auf ein stabiles und flexibles Selbst, einen stillen Geist und ein ruhiges Herz, eine maßvolle Reaktionsweise und auf sinnvolle Beharrlichkeit verlassen können.

Was interessiert Sie? Womit beschäftigen sich Ihre Phantasien? Was bringt Sie so richtig in Fahrt? Die entscheidende Hürde, die Sie überwinden müssen, um Ihren Sex wieder interessant zu machen, besteht darin, Ihrem Partner zu offenbaren, was Sie erotisch »anmacht«, bzw. ihn dies entdecken zu lassen.

Was Ihre Chancen auf Neuentdeckungen einschränkt

Wenn Menschen die Vier Aspekte unzureichend entwickelt haben, beruht das gespiegelte Selbstempfinden der Betreffenden auf dem Handeln, einschließlich ihrer sexuellen Aktivitäten und Nicht-Aktivitäten. Eine Änderung ihres Verhaltens führt zum Verlust der Identität. Sie haben dann das Gefühl, ihr wahres Selbst verraten und ihrem Partner nachgegeben zu haben, und entwickeln deshalb Groll, sind empört und werden rebellisch. Jede Bitte, etwas zu verändern, verstehen sie als Kritik, Beleidigung und Ablehnung ihres momentanen Seinszustandes – womit sie ihre Weigerung, sich zu verändern, rechtfertigen. Weil sich die sexuelle Praxis von Menschen stets am aktuellen Entwicklungsstand orientiert und jede Überschreitung dieser Grenze Ängste hervorruft, werden alle Bemühungen, das sexuelle Einerlei zu verändern, negativ verstärkt.

Dies gilt für jede Situation, in der Ihnen die Bestätigung Ihres Partners wichtig ist, Sie aber keine Veränderung zulassen wollen und Ihr Partner sich nicht damit abfindet, im Rahmen der Grenzen, die Sie vorgegeben haben, zu leben. Dies kann der Fall sein, wenn Ihr Partner sich beklagt, aber er braucht noch nicht einmal unbedingt auch nur ein einziges Wort über das Problem zu verlieren. Wenn Ihnen die Bestätigung von seiten Ihres Partners ungeheuer wichtig ist, reicht es völlig aus, wenn Ihnen klar ist, dass er in bestimmter Hinsicht etwas anderes als Sie will. Falls Ihr Partner für Sie so wichtig ist, dass der Entwicklungsstand der Vier Aspekte es Ihnen nicht ermöglicht, adäquat darauf einzugehen, sehen Sie sich mit Alternativen konfrontiert, von denen Ihnen keine recht sein kann. In einer Ehe oder Partnerschaft gibt es grundsätzlich vier Möglichkeiten: (a) Sie können Ihren Partner dominieren; (b) Sie können sich Ihrem Partner »unterwerfen«; (c) Sie können sich physisch oder emotional von Ihrem Partner zurückziehen; oder (d) Sie können die Vier Aspekte stärken. (Ein Partner mit schwächerem Verlangen bezeichnete seine Alternativen im Rahmen eines Passionate-Marriage®-Couples Enrichment-Workshops als Kämpfen, Erstarren, Fliehen oder Ficken. Was meinen Sie wohl, für welche von diesen vier Möglichkeiten sich die meisten Menschen entscheiden?

Für Regina und Ellen wie auch für viele andere Paare lautet die Antwort: »Alle genannten Möglichkeiten.« Allerdings entscheiden sich die meisten zuletzt für die Stärkung der Vier Aspekte. Regina und Ellen probierten die übrigen drei Möglichkeiten vorher durch. Zuerst versuchte Regina, Ellen zu dominieren, indem sie sich weigerte, über Oralsex auch nur zu reden, wenn Ellen darauf zu sprechen kam. Als Ellen dann weiter darauf beharrte, versuchte Regina es mit der zweiten Option: Sie erklärte sich bereit, darüber zu reden, verhielt sich dabei aber so, als sei dies für sie ein riesiges Opfer und eine Last. Sie führten mehrere kurze Gespräche über das Thema, in denen Regina erklärte, sie fühle sich beim Oralsex nicht wohl, und mehr habe sie dazu nicht zu sagen. Danach wechselte sie zu Option 3: Sie zog sich fast einen Monat lang physisch und emotional zurück. Allerdings löste keine dieser drei Verhaltensweisen Reginas Problem. Ellen war für sie weiterhin zu wichtig. Sie empfand Ellens bloßen Wunsch, ihre gemeinsame sexuelle Beziehung zu verändern, wie eine Forderung.

Regina dachte oft daran, die Beziehung zu beenden, doch letztendlich entschied sie sich dafür, mit Ellen zusammenzubleiben. Nachdem sie alle genannten Möglichkeiten erfolglos ausprobiert hatte, entschloss sie sich, an der Stärkung der Vier Aspekte zu arbeiten. Sie hoffte, auf diese Weise Ellens wachsender Bedeutung für sie etwas entgegensetzen zu können – wobei allerdings anzumerken ist, dass sie ihre Bemühungen zum Zeitpunkt des Geschehens nicht in diesem Sinne sah. Regina gelangte zu der Überzeugung, es sei an der Zeit, Verantwortung für ihre Position zu übernehmen und sich mit ihren sexuellen Ängsten und ihrem Unbehagen auseinanderzusetzen.

Ihr Partner wird zu wichtig für Sie, obwohl Ihre Liebe nicht wächst

Wenn ich sage, dass Ihr Partner immer wichtiger für Sie wird, bedeutet das nicht unbedingt, dass Sie ihn mehr mögen oder lieben als vorher, sondern nur, dass er in Ihrem Leben eine immer zentralere Rolle spielt. Gemeinsame Bankkonten, gemeinsame Kindererziehung und gemeinsame Freunde sowie verbundene Identitäten bewirken dies. Gemeinsames Sorgerecht nach einer Scheidung hat zur Folge, dass Ihr Partner in Ihrem Leben weiterhin eine zentrale Rolle spielt (zumindest wenn Sie weiterhin Kontakt zu Ihren Kindern haben wollen). Wenn Sie das Glück haben, dass Sie Ihre Partnerin lieben, wird sie umso unersetzlicher für Sie, je stärker diese Liebe wird und je länger sie währt.

Je nach Entwicklungsstand der Vier Aspekte bei Ihnen wird Ihr Partner früher oder später für Ihr Verlangen zu wichtig. Wenn Sie versuchen, die ungeheure Wirkung, die Ihre Partnerin zurzeit auf Ihr Leben hat, zu verringern und den Verlust, den Sie bei ihrem späteren Tod empfinden werden, abzumildern, wird Ihr Verlangen geschwächt. Bei Regina und Ellen waren der geplante Umzug und die damit verbundene Veränderung der Lebensweise, des Freundeskreises und der finanziellen Situation insgesamt stärker, als dass die Vier Aspekte diese Wirkung hätten ausgleichen können. Der Umzug würde sie für ihr ganzes weiteres Leben aneinander binden.

Angstregulation durch Entgegenkommen

Ebenso wie zwischen Partnern Dinge geschehen, die das Wachstum anregen und fördern, geschehen zwischen ihnen auch Dinge, die das Wachstum einschränken. Unsere animalische Natur lässt uns Unbehagen vermeiden. Säugetiere entwickelten Gruppenverhalten, um ihre Angst zu verringern (ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist der Herdentrieb). Mit dem Auftauchen unseres gespiegelten Selbstempfindens wurde die interpersonale Angstregulation deutlich komplexer und auch viel wichtiger. Kluge Menschen entwickelten Interaktionen, die zwar ihre Angst regulierten, aber nicht unbedingt ihre Weiterentwicklung förderten.

Menschen regulieren ihre Ängste durch Interaktion mit anderen Menschen, genauso wie sie ihr gespiegeltes Selbstempfinden regulieren. Ich nenne dies Angstregulation durch Entgegenkommen. Durch Nachgeben, also Anpassung, und durch Vermeiden bestimmter Themen kann ein Partner seine eigenen Ängste und die des anderen Partners gleichzeitig regulieren. Aus dem gleichen Grund werden strittige Themen im Zweifelsfall nicht weiter verfolgt. Dieses Muster ist normal; jeder Mensch benutzt es, und manchmal ist es tatsächlich das Beste, was man tun kann. Allerdings haben Paare, die generell Angstregulation durch Entgegenkommen betreiben, große Schwierigkeiten, über sexuelle Langeweile hinwegzukommen.

Es erforderte keine besonders heftige Konfrontation, Ellen dazu zu bringen, ihre Interessen aufzugeben. Ihre Angst davor, Regina gegen sich aufzubringen und sich so in eine Situation hineinzumanövrieren, die ihr peinlich war, reichte dazu voll und ganz aus. Ellen sagte sich, es sei rücksichtsvoll von Regina gewesen, das strittige Thema nicht anzusprechen. Tatsächlich wurde Ellen nicht mit ihrer Angst fertig, wenn Regina sich aufregte und wütend wurde – und Regina regte sich nun einmal oft auf und wurde oft wütend, wenn sie nervös war. Ellen redete sich ein, sie tue genau das Richtige, wenn sie sich in Wahrheit unverantwortlich verhielt. Dies ermöglichte ihr, die Tatsache zu ignorieren, dass sie sich im Grunde um die wirklich wichtigen Probleme herumdrückte.

Durch dieses »Kneifen« wurde Ellen noch abhängiger von Regina. Weil sie es vermieden hatte, sich klar und eindeutig zu zeigen, konnte sie nun nur noch alles in ihrer Macht Stehende tun, um von Regina akzeptiert zu werden. Abhängigkeit von Angstregulation durch Anpassung und Abhängigkeit von einem gespiegelten Selbstempfinden sind in der Regel eng miteinander verbunden, weil beide normale Folgeerscheinungen einer Schwäche der Vier Aspekte sind.

Reflexhafte Angstregulation durch Entgegenkommen ist das Gegenteil dessen, was der zweite und der dritte Aspekt der Balance beinhalten. Der Versuch, die Angst der Menschen in Ihrer Umgebung zu regulieren, ist eine indirekte Form der Selbstregulation.

Angstregulation durch Entgegenkommen spielt mehr oder weniger stark in allen Beziehungen eine Rolle. Doch sich darauf zu verlassen, lässt Beziehungen erstarren und macht sie unflexibel, weil sich alle Aktivität auf die Angstreduzierung um ihrer selbst willen konzentriert. Die Erschließung neuer sexueller Möglichkeiten und die Entwicklung von Intimität sind dann praktisch nicht mehr möglich (denn dadurch würde Angst entstehen), und sexuelle Langeweile wird gefördert.

Man kann der Angstregulation durch Entgegenkommen leicht »auf den Leim gehen«, weil sie so gut »funktioniert«. Auf den ersten Blick wirkt sie wie die Essenz einer liebevollen Ehe. Weil Sie und Ihr Partner sich nach der Anwendung dieser Methode besser fühlen, nutzen Sie sie wiederholt, und dies wird für Sie schließlich zur selbstverständlichen Routine. Sie denken nie darüber nach, dass Sie auf diese Weise etwas in Bewegung setzen, womit Sie sich irgendwann auseinandersetzen müssen.

Früher oder später stürzt das Kartenhaus in sich zusammen

Die Lebensumstände wirken sich auf Ihr sexuelles Verlangen aus, insbesondere wenn sie plötzlich lange verschüttete Probleme aktivieren.

Abgesehen von Fragen der Verpflichtung und des Engagements in ihrer Beziehung, des Machtgleichgewichts und der Kontrolle sowie unabhängig von den logistischen Problemen, die der Umzug mit sich bringen würde, erlebten Regina und Ellen eine starke Identitätskrise. Zu solchen Krisen kommt es immer dann, wenn das gespiegelte Selbstempfinden seinen Halt verliert.

Ellen geriet in eine Krise, als Regina sie drängte, sich völlig zur Ruhe zu setzen. Weil sie sich auf ein gespiegeltes Selbstempfinden verließ, war für sie die Aussicht, ihre berufliche Identität zu verlieren, gleichbedeutend mit einem generellen Identitätsverlust. Ihr Status und der Respekt ihrer Kollegen waren ihr sehr wichtig und für sie eine Quelle der Freude. Ellens Selbstwertgefühl basierte zu einem großen Teil auf ihrer beruflichen Position.

Obgleich weder Regina noch Ellen es wohl jemals zugegeben hätte, waren beide extrem statusbewusst. Auf der Ebene des Bewusstseins waren ihnen Gleichheit und Gerechtigkeit sehr wichtig. Doch sobald es darum ging, wer von ihnen »Oberwasser« oder einen Grund hatte, auf die andere herabzuschauen, ging ihr gespiegeltes Selbstempfinden mit ihnen durch. Dann keiften sie einander an und verfielen später in eisiges Schweigen.

Was das Bedürfnis nach Weiterentwicklung anregt

Regina und Ellen stritten häufig über Sex, und ihre Streitereien verliefen ebenso voraussehbar wie ihre sexuellen Interaktionen. Auch in dieser Hinsicht haben Veränderungen der Routine stets eine starke Wirkung. In meiner Praxis sagte Regina: »Ich glaube, Ellen denkt zurzeit nur an Oralsex.« Sie präsentierte diese Stichelei, als handle es sich um eine wichtige Neuigkeit.

Doch statt daraufhin in die für sie typische Selbstverteidigung zu verfallen, schaute Ellen einige Sekunden lang auf den Boden und sagte dann: »Nein, ich habe über etwas anderes nachgedacht.«

Regina machte sich zum Angriff bereit: »Und über was?«

»Ich habe gedacht, ich möchte, dass du mich mit einem Dildo vögelst.«

»Wie bitte?« Regina war so schockiert wie Ellen erfreut.

»Ich habe mir schon immer gewünscht, dass du es mir mit einem Dildo machst. Als wir uns kennenlernten, habe ich ein paarmal entsprechende Anläufe gemacht, aber du bist nicht darauf eingegangen. Daraus schloss ich, dass du nicht daran interessiert warst. Und ich hatte in der ganzen Zeit unseres Zusammenseins nie den Nerv, es dir direkt zu sagen.«

Regina dachte offenbar nicht darüber nach, wie sie mit dieser Offenbarung umgehen sollte, sondern sie fragte: »Warum hast du denn nichts darüber gesagt, wenn du das wirklich wolltest?« Regina sagte dies, als hätte es nicht das Geringste mit ihr persönlich zu tun, dass Ellen sie nie direkt darauf angesprochen hatte.

»Ich habe es einfach nicht über mich gebracht. Ich habe mich geschämt. Ich war damals noch jung, und ich glaubte, das sei pervers. Damals hatte ich abwechselnd Männer- und Frauenbeziehungen, und ich glaubte, schon allein das sei ziemlich pervers. Ich fürchtete, du würdest mich für eine im Grunde heterosexuelle Frau halten, die unbedingt ›etwas‹ in sich spüren müsste. Heute bin ich sexuell reifer. Deshalb sehe ich meinen Wunsch einfach so, dass ich es eben mag, etwas in mir zu spüren, wenn ich komme. Jetzt kannst du mich verklagen, wenn du willst.«

Die Aufforderung, sie zu verklagen, hatte Ellen perfekt plaziert; darin kam die Anwältin, die sie ja tatsächlich war, zum Ausdruck. Das Ganze war so etwas wie ihre private »Unabhängigkeitserklärung«. Regina antwortete: »Wenn du mich vor die Wahl stellst, entweder Oralsex mit dir zu machen oder es dir mit einem Dildo zu besorgen … also wirklich, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal vor dieser Wahl stehen würde! Ganz ehrlich, ich weiß nicht, für welche dieser beiden Möglichkeiten ich mich entscheiden würde.«

Ellen lachte. »Machst du Witze? Du weißt nicht, für was du dich entscheiden sollst? Ich war mir sicher, dass du dich eher für Oralsex entscheiden würdest als dafür, es mir mit einem Dildo zu besorgen. Mir zumindest fällt es wesentlich leichter, dir Oralsex vorzuschlagen.«

»Da sprichst du wohl über deine Probleme, mein Liebes. Für mich ist beides ein gleich riesiger Schritt!«

Ich mischte mich in das Gespräch ein: »Was für eine Art von riesigem Schritt?«

Regina schwieg einen Moment. »Ich müsste mich dann mit meiner eigenen Erotik und mit dem, was mir schwerfällt, auseinandersetzen.«

»Auf welche Weise?«

Wieder trat Stille ein. Dann antwortete sie: »Ich müsste über das Geschmacksproblem beim Oralsex hinwegkommen. Ich fürchte, der Geschmack könnte mir nicht gefallen. Ich weiß zwar, dass ich solche Probleme eigentlich nicht haben dürfte, weil ich ja Lesbe bin, aber ich habe sie nun mal.«

Ellen ergriff das Wort: »Ich glaube nicht, dass das etwas mit Lesbisch-Sein zu tun hat. Ich hatte das gleiche Problem, als ich anfing, Männern einen zu blasen. Das macht keinen Spaß, solange man sich vor dem Geschmack ekelt. Aber ich bin darüber hinweggekommen, und du kannst es auch. Nachdem mir das gelungen war, wurde ich richtig gut darin. Du würdest wohl etwas ziemlich Angenehmes erleben, wenn du mich nur machen ließest.«

Regina lehnte dieses Angebot nicht rundweg ab, sondern sie sagte: »Wir werden sehen. Ich verspreche dir nichts. Wenn ich gezwungen werde, meinen Kopf da unten hinzubewegen, ist das für mich nicht unbedingt ein angenehmes Erlebnis.«

»Ich verstehe. Ich bin selbst auch schon an diesem Punkt gewesen.«

»Abgesehen vom Geschmack muss ich zuerst einmal damit fertigwerden, dass du sehen würdest, dass mir so etwas Spaß macht.«

»Du möchtest nicht, dass ich sehe, dass dir so etwas Spaß macht?« Ellen war konsterniert.

»Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass ich lieber hinter der Kamera stehe als davor. Ich fühle mich sehr unwohl, wenn mich andere als sexuelles Wesen sehen, wenn ich mich wirklich auf so etwas einlasse. Das ist für mich, als würdest du dann zu viel über mich erfahren.« Regina hielt einen Moment inne. »Aber vielleicht fiele es mir tatsächlich leichter, es mit einem Dildo zu machen.«

Ellen lächelte. »Vielleicht. Wir werden sehen!«

Regina und Ellen erlebten einen Augenblick gegenseitiger Wertschätzung. Ihre sexuelle Beziehung hatte eine neue Stufe erreicht. Es war nicht notwendig, dass sie einander baten, dies zu bestätigen. Alles klang ziemlich authentisch. Beide lasen, was im Geist der anderen geschah.

Was bringt Menschen dazu, ihre Interessen zu vertreten?

Was veranlasst Menschen, sich endlich für ihre Interessen einzusetzen und sich neu zu definieren? Zu sagen, Menschen seien sexuell neugierige Tiere, die sich schnell langweilten, reicht als Erklärung nicht aus. Es geht um das, was uns einzigartig macht. Letztendlich geht es um Integrität und Selbstachtung. Wenn Sie das Gefühl bekommen, dass Sie sich und Ihr Verlangen nach interessantem Sex verraten haben, motiviert Sie dies dazu, eine einschneidende Veränderung vorzunehmen.

Doch wie können Sie sich verändern, ohne Ihre Identität zu verlieren? Die Antwort lautet: So funktioniert es nicht. Sie müssen sich verändern und mit dem Gefühl »Bin das wirklich ich?« ringen. Normalerweise sind Sie dabei nicht ruhig und fühlen sich nicht sicher in sich selbst. Sie müssen etwas tun, das »Sie noch nicht sind« – das aber in etwa dem entspricht, wie Sie sein wollen –, und dies müssen Sie dann durchleben, bis es zu »Ihrem neuen Ich« wird. Die Offenbarung Ihrer geheimen sexuellen Wünsche führt oft zu einem Entwicklungsschub, weil dann die Vier Aspekte bei Ihnen aktiv werden.

Die Notwendigkeit, Angst zu ertragen

Angsttoleranz statt Angstreduzierung steht im Zentrum von Beziehungen und von Sexualität. Angst um der eigenen Entwicklung willen zu ertragen ist unumgänglich, wenn man zu einem sexuell reifen Erwachsenen werden will. Jeder Schritt auf dem Weg dorthin, angefangen vom Zungenkuss über den ersten Verkehr bis zum Oralsex, beinhaltet, dass man etwas tut, wobei man sich zunächst nicht wohlfühlt. Jeder Schritt auf diesem Weg erfordert, dass man Angst überwindet, nicht, dass man von Anfang an keine Angst hat.

Dies ist uns deshalb möglich, weil eine unserer wichtigsten Fähigkeiten darin besteht, dass wir uns selbst beruhigen können – im Gegensatz zu verletzten Kindern. Unsere wichtigste Art der Selbstberuhigung besteht darin, unseren Dilemmata einen Sinn zuzuschreiben. Wenn etwas uns als sinnvoll genug erscheint – und wir im Hinblick auf die damit verbundenen Resultate genügend Angst entwickelt haben –, ertragen wir den Entwicklungsschmerz und konfrontieren uns mit unserer Angst.

Was brachte Regina und Ellen dazu, sich den für sie schwierigen Themen zu stellen, die sie in der Vergangenheit stets gemieden hatten? Die Strukturen, die ihr Leben bisher zusammengehalten hatten, drohten sich aufzulösen. Ellen gelangte zu der Überzeugung, es sei besser, sich mit den sexuellen Problemen ihrer Partnerschaft auseinanderzusetzen, während sie ihr neues Leben zu planen und zu strukturieren versuchten. Außerdem war es im Sinne ihrer Interessen, diese Dinge zu klären, bevor sie sich darauf einließ, ihre alten Wurzeln zu kappen und umzuziehen.

In der nächsten Sitzung berichteten Regina und Ellen detailliert über ihre letzte sexuelle Begegnung. Offenbar hatten sie beide ihren Spaß gehabt. Nachdem Regina sich entspannt hatte, war der Oralsex für sie auch nicht annähernd so unangenehm gewesen, wie sie befürchtet hatte. Ihr Fokus hatte sich dabei vom Vermeiden eines unangenehmen Erlebnisses auf das Bestreben verlagert, Ellen zum Stöhnen zu bringen. Ellen genoss abwechselnd die Empfindungen des sexuellen Erlebens sowie das Bewusstsein der Bedeutung ihrer Interaktion und die Beobachtung Reginas, während diese sie oral stimulierte. Sie sah nun eine Seite ihrer Partnerin, die ihr das Herz wärmte und sie von neuem interessant werden ließ. Sie erlebten gemeinsam einen starken Augenblick der Begegnung, wodurch in ihnen neue Hoffnung auf die Zukunft wuchs. Diese Kombination von Empfindungen reichte mehr als aus, um sie in den siebten Himmel zu befördern. Und das Miterleben von Ellens Orgasmus zauberte Regina ein Lächeln aufs Gesicht.

Unser Widerwillen gegen Weiterentwicklung

Menschen bejahen in der Regel ihren Wunsch, sich ihr ganzes Leben lang weiterzuentwickeln. Angeblich »geht es um die Reise, nicht um das Ziel«. Tatsächlich jedoch glauben wir, sobald wir in einer emotional stabileren Beziehung leben, wir könnten es uns gemütlich machen. An der eigenen Weiterentwicklung zu arbeiten ist oft ziemlich unangenehm. Wir wollen gar nicht unbedingt wachsen, aber möglichst trotzdem in den Genuss der positiven Wirkungen kommen, die eine solche Entwicklung nach sich zieht. Den Wachstumsprozess selbst würden wir uns gerne ersparen. An diesem Punkt kommt der Vierte Aspekt der Balance ins Spiel: die sinnvolle Beharrlichkeit, die unserer inneren Weiterentwicklung dient.

Im gesamten zweiten Teil dieses Buches wurde geschildert, wie Partner einander unablässig – und häufig unabsichtlich – zum Wachstum oder zur Weiterentwicklung (zur Koevolution) antreiben. Die menschliche Natur ist in dieser Hinsicht Teil eines interpersonalen Systems. Es ist normal, dass man in sexuellen Beziehungen Langeweile und emotionale Pattsituationen erlebt und dass man sich zurückgewiesen und nicht gewollt fühlt. Probleme können sogar entstehen, wenn die Partner füreinander zu wichtig werden. Die komplexe Wechselwirkung zwischen Differenzierung und sexuellem Verlangen kann sich in vielerlei Formen manifestieren. Wir müssen uns weiterentwickeln, um das sexuelle Verlangen lebendig zu erhalten.

Sie können für Ihre Partnerin zu wichtig werden, so wichtig, dass sie es nicht wagt, Ihnen ihre sexuelle Seite zu zeigen und Ihnen zu offenbaren, was sie in dieser Hinsicht am liebsten tun würde.5 Das Gleiche kann auch Sie davon abhalten, sich um die Art von Sex zu bemühen, die Sie sich wirklich wünschen. Wir alle wollen für jemanden wichtig sein, insbesondere für einen Menschen, den wir lieben. Aber es führt nicht weiter, für jemanden wichtig zu sein, der nicht in der Lage ist, bei sich selbst zu bleiben. Deshalb heißt es in Country-and-Western-Balladen so oft: »Sie war wichtiger für mich als ich selbst«, und dann jammern die Sänger darüber, dass eher Scheidung an der Tagesordnung ist als Spaß im Bett.

Gedanken zum Weiterdenken