Bisher ging es darum, weshalb normale gesunde Menschen Probleme mit dem sexuellen Verlangen haben und wie diese zum Ausdruck kommen. Es handelt sich dabei um universelle Probleme, die zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit beitragen können. (Sie werden in diesem Kapitel noch einige andere Probleme dieser Art kennenlernen.)
In Teil III geht es darum, wie sich das, was Sie in der Vergangenheit erlebt haben, auf Ihr sexuelles Verlangen auswirkt. Wir haben uns schon mit dem Beziehungskontext befasst, mit jener Wechselbeziehung, in der wir spezifische Erlebnisse haben. Die Kombination normaler Beziehungsprozesse, besonderer persönlicher Erlebnisse und unserer Reaktion auf sie prägt unser Leben und unser Verlangen. Wir erleben Probleme, die unser sexuelles Verlangen betreffen, vor dem Hintergrund unseres früheren und gegenwärtigen Lebens. Unsere Erlebnisse können Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens wahrscheinlicher machen, ihre Lösung erschweren und ihre Wirkung auf unser Leben verstärken.
Wie kommt es dazu? Auf dieselbe Weise, wie unsere Sexualität einen sehr individuellen Charakter annimmt. Was unterscheidet das menschliche Verlangen vom Verlangen aller übrigen Arten? Was macht unser sexuelles Verlangen zu etwas einzigartig Menschlichem? Was unterscheidet unseren Sex von der tierischen Rammelei auf dem Bauernhof? Die Antwort auf alle diese Fragen lautet: dass wir aufgrund der Evolution des menschlichen Gehirns Sex mit Bedeutungen verbinden könnten. Diese Bedeutungen können unsere sexuellen Beziehungen stark erweitern oder einschränken.
Doch wie werden diese Bedeutungen gefunden? Damit meine ich nicht Ihre sexuellen Wertvorstellungen oder Ihre intellektuellen Erklärungen. Ich meine, wie Sex, Verlangen und Intimität emotional und physisch in Ihrem Gehirn verankert werden. Die Themen, die Ihre Beziehungen und Ihr Sexualleben dominieren, bilden Ihre sexuelle Dynamik – das, was Ihr Verhalten bestimmt. Dies wird großenteils erlernt. Erlebnisse mit anderen Menschen prägen die Bedeutungen Ihrer Sexualität – im guten wie im schlechten Sinne. Wenn Sie sich nicht oder nur wenig mit negativen Lebenserfahrungen auseinandergesetzt haben, ist Ihr Wissen darüber, wie solche Erfahrungen die Bedeutungen beeinflussen, die Sie mit Sex verbinden, entsprechend gering, und dies wiederum kann bewirken, dass Sie keinerlei Einfluss darauf haben.
Aus Teil II wissen wir, dass die Ehe ein Entwicklungsprozess ist. In Teil III werden wir dieses Wissen auf Sie selbst anwenden und Ihnen helfen, ein stärkeres Verlangen zu entwickeln. Verlangen ist eine Fähigkeit, die Sie entwickeln können, also nicht einfach nur ein biologischer Trieb. Es ist jedoch nicht damit getan, dass Sie Ihre sexuellen Probleme beseitigen oder Ihre Libido stärken. Es geht um die Stärkung Ihrer Fähigkeit.
Wir Menschen sind zu einem wesentlich stärkeren und bedeutungsvolleren Verlangen fähig, als uns möglicherweise klar ist. Insbesondere wenn wir älter werden, entwickelt sich unsere Fähigkeit zu sexuellem Verlangen. Manche Paare lösen später im Leben sexuelle Probleme, mit denen sie in jüngeren Jahren nicht fertiggeworden sind. Es besteht sogar eine starke reale Korrelation zwischen dem Älterwerden und dem sexuellen Potential.
Diese Art der Annäherung an das Verlangen könnte Ihnen merkwürdig erscheinen, wenn Sie nicht bereits wüssten, dass Liebesbeziehungen die persönliche Entwicklung von Partnern fördern. Außerdem verändert sich auf diese Weise die Natur Ihres Verlangens.
Wenn hier von der Stärkung des sexuellen Verlangens die Rede ist, geht es nicht nur darum, Sex zu wollen. Das sexuelle Verlangen des Menschen ist Verlangen nach dem Partner, nicht nur Verlangen nach Sex an und für sich.
Sie können Verlangen nach Ihrem Partner verspüren und trotzdem keinen Sex wollen. Sie können aber auch Verlangen nach Sex haben, ohne Verlangen nach Ihrem Partner zu verspüren. Dies gilt zumindest für viele Menschen, und es ist häufig die Ursache für schwaches Verlangen in einer Ehe. Manchmal spiegeln sich in Ihrem schwachen Verlangen die verlangensschwächenden Eigenschaften Ihres Partners. Doch Sie müssen sich damit auseinandersetzen: Spiegelt sich darin Ihre eigene begrenzte Fähigkeit, sich um eine andere Person zu kümmern und sie zu wollen?
Verlangen ist kein biologischer Trieb, der Sie ins Bett zieht, ob Sie wollen oder nicht. Das menschliche Verlangen ist aktiver. Stellen Sie sich Verlangen als Wollen vor.
Hungern Sie nach Intimität, Liebe und einer tiefen Vereinigung? Schmachten Sie auf eine Weise nach sexuellem Einssein, die an spirituelle Sehnsucht grenzt? Wenn ja, dann versetzt die Weiterentwicklung der Vier Aspekte Sie in die Lage, in einem tieferen Sinne zu wollen. Menschen, denen es schwerfällt, ihren Geist und ihre Gefühle zu beruhigen oder mit schwierigen Situationen fertigzuwerden, sind nicht besonders gut im Wollen. Einige empfinden das Unbehagen, das Wollen hervorruft, als so unerträglich, dass sie sich nicht zugestehen, Sex oder ihren Partner zu wollen.
Verlangen ist kompliziert. Der Ausgangspunkt Ihres Wollens kann das Gute und Starke oder das Schlechte und Schwache sein. Bei einigen Menschen ist das mutmaßlich starke Verlangen nichts anderes als das gespiegelte Selbstempfinden, das nach einer Emotionstransfusion schmachtet. Wollen aus Bedürftigkeit ist ein ziemlich automatischer Prozess (sofern Sie überhaupt zulassen, dass Sie etwas wollen). Geht das Wollen von einem stabilen und flexiblen Selbst aus, liegt ihm eine persönliche Entwicklung zugrunde.
Helen und Tom waren ein Paar in den Dreißigern. Als sie das erste Mal zu mir kamen, lebten sie schon einige Jahre zusammen, waren aber nicht verheiratet. Beide hatten schon eine Ehe hinter sich. Sie stritten darüber, wie häufig sie Sex haben sollten, und darüber, ob sie heiraten sollten oder nicht.
Tom war in diesem Fall der Partner mit dem schwächeren Verlangen, Helens Verlangen war das stärkere. Die Qualität ihres Sexuallebens bezeichneten beide als sehr gut. Sie lebten jedoch mittlerweile seit vier Jahren zusammen, und die Zahl der sexuellen Begegnungen war auf weniger als eine im Monat zurückgegangen. Tom erklärte, Sex interessiere ihn nicht, weil sie ständig darüber stritten, ob sie heiraten sollten. Helen hielt dagegen, die jetzige Frequenz habe sich schon vor knapp einem Jahr eingespielt, und damals sei von einer Ehe noch keine Rede gewesen.
Tom sagte, er wolle nach seiner ersten Ehe nicht schon wieder einen Fehler machen. Seine Eltern seien für ihn schlechte Vorbilder gewesen, denn sie hätten sich scheiden lassen, als er 13 Jahre alt gewesen sei. Er wolle sich vor einer zweiten Ehe seiner Gefühle absolut sicher sein.
Helen hatte für Toms Empfindungen Verständnis, weil auch sie nicht noch einmal einen Fehler machen wollte. Allerdings hatte sie Tom im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder gebeten, sich zu entscheiden. Wollte er Sex? Wollte er heiraten? Helen liebte Tom, aber sie war auch bereit, einen Schlussstrich unter die Beziehung zu ziehen, nachdem sie sich drei Jahre lang mit diesen Fragen auseinandergesetzt hatte und kein Ende absehbar war.
Helen fühlte sich durch Toms Unentschlossenheit behindert. Er setzte sich mit solchen Fragen einfach nicht auseinander, wenn sie ihn nicht immer wieder dazu drängte. Und wenn sie dies tat, beklagte er sich darüber. Wenn sie zu ihm sagte, sie verliere allmählich die Hoffnung, hielt Tom ihr vor, sie gebe die Beziehung verfrüht auf. Weshalb sie ihm nicht noch ein wenig Zeit lasse? Tom sagte, er wisse zumindest, was er nicht wolle: Er wolle keinen Sex, er wolle nicht heiraten und sich dann später wieder scheiden lassen, und er wolle Helen nicht aufgeben.
Verlangen hat eine verlockende Qualität: Es beinhaltet eine ungeheuer starke Motivation. Verlangen mobilisiert uns. Es treibt uns dazu, uns zumindest einen Teil von dem, was uns fehlt, zu verschaffen. Es kann uns dazu bringen, Berge zu versetzen, um etwas zu bekommen, das wir wirklich haben wollen.
Doch Wollen kostet Energie. Man muss sich anstrengen, um zu bekommen, was man will. Und nichts garantiert, dass die Bemühungen tatsächlich zum Erfolg führen. Sie müssen zuerst wollen – die Auswirkungen Ihrer Bemühungen sehen Sie immer erst später. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Sex nicht von der Ehe, der Elternschaft oder der beruflichen Karriere. Im Raum des Wollens entfalten sich unsere höchsten Bestrebungen.
Ein wichtiger Aspekt des Wollens – derjenige, den Menschen in der Regel zu vermeiden versuchen – ist Entbehrung. Verlangen ist mit einem Zustand des Unbefriedigtseins verbunden. Das Wollen selbst erzeugt einen Zustand der Entbehrung. Es versetzt in den Zustand des Ohne-Seins. In einem älteren Sinne bedeutet wollen so viel wie »Mangel an etwas leiden«, »etwas nicht haben«.
Wollen birgt in sich das Herbeiwünschen eines anderen Menschen, das Lechzen nach ihm, die Sehnsucht nach jemandem oder etwas. Wollen hat also etwas mit Sehnen zu tun, und Sehnsucht verursacht Schmerzen. Sich-Sehnen ist das ständige Verlangen nach etwas oder jemandem, das oder der dauerhaft unerreichbar oder in der Ferne ist. Wenn Sie Ihren Partner wollen und wenn Sie Sex wollen, haben Sie eine starke sexuelle Motivation. Doch dazu brauchen Sie die Stärke zu wollen.
Das Wollen unterscheidet Ihr menschliches sexuelles Verlangen vom sexuellen Verlangen anderer Spezies. Es erhebt Ihr sexuelles Verlangen über den reinen Hormonansturm oder den Fortpflanzungstrieb.1 Abgesehen von Wollust, Verliebtheit und Bindungsbedürfnissen verfügen Menschen auch über die Fähigkeit, einen anderen Menschen liebevoll zu umsorgen. Dies bedeutet, dass sie bei ihren Handlungen stets das Wohl des anderen im Auge behalten, selbst wenn dies auf ihre Kosten geht, weil sie das Beste für diesen anderen Menschen wollen. An früherer Stelle habe ich bereits gesagt, dass Verlangen nicht unbedingt immer den besten inneren Regungen entspringt. Verwechseln Sie also Wollen nicht mit einem der folgenden vier Dinge:
Wie ich bereits erklärt habe, ist Verlangen eine Fähigkeit, die Sie entwickeln können, indem Sie Tiefe und Umfang der für Sie mit dem Verlangen verbundenen Bedeutungen erweitern. Bei Tom ließ sich die Bedeutung in einem einzigen Satz zusammenfassen: Wenn du mich lieben würdest, würdest du …
Nach der Scheidung seiner Eltern lebte Tom mit seiner Mutter zusammen. Dies war für beide eine schwierige Zeit. Der Mutter gelang es mit Mühe, sich selbst und ihren Sohn zu ernähren und ihnen beiden ein Dach über dem Kopf zu sichern. Sie arbeitete schwer und erwartete, dass Tom ihr bei der Hausarbeit half. Doch wegen ihrer großen Arbeitsbelastung erwartete sie auch, dass er ihr das Leben leichter machte. Dem Heranwachsenden sagte seine Mutter fast täglich: »Wenn du mich lieb hast, tust du jetzt dies oder jenes für mich. Schau dir doch an, wie viel ich für dich tue!«
Tom hasste solche Äußerungen. Als er noch jünger gewesen war, hatte er sich große Mühe gegeben, es seiner Mutter stets recht zu machen. Später ging er regelmäßig aus dem Haus, wenn sie mit ihren Predigten anfing. Alles, was sie sagte, hatte er schon tausendmal gehört. Er entwickelte allmählich immer stärkeren Widerstand gegen Äußerungen seiner Mutter, die mit »Wenn du mich lieb hättest, würdest du …« begannen.
So wurde Tom zu einem jungen Mann, der nicht wollen wollte. Wollen rief bei ihm Empfindungen hervor, mit denen er nicht gut umgehen konnte. Seine Mutter hatte seine Bemühungen, ihr gefällig zu sein, gegen seine Interessen benutzt. Dies hatte ihn anfällig für Manipulationen gemacht. Im Laufe der Zeit war aus seinem Wunsch (seinem Wollen), sie glücklich zu sehen, der Zwang geworden, zu tun, was immer sie sich wünschte.
In unserer ersten gemeinsamen Sitzung sagte Tom: »Ich glaube, das hat mich gegenüber Frauen misstrauisch gemacht. Meine Mutter war ziemlich kontrollbesessen und manipulativ. Das musste sie auch sein. Schließlich musste sie für sich und mich sorgen. Mein Vater hat ihr dabei überhaupt nicht geholfen. Vielleicht zögere ich, zu heiraten – und vielleicht will ich auch keinen Sex –, weil ich fürchte, dass sich Helen dann in meine Mutter verwandeln würde.« Tom glaubte, sich auf sicheren Boden gerettet zu haben.
Ich fragte ihn: »Haben Sie Helen deshalb noch nicht gewählt?«
Tom schaute mich überrascht an. »Auf die Idee, dass ich Helen noch nicht gewählt habe, bin ich bisher nicht gekommen. Vielleicht habe ich sie ja deshalb noch nicht gebeten, mich zu heiraten.«
Ein Teil des Wollens besteht darin zu wählen. Wählen bedeutet, sich für eine Person unter den vielen, die Sie wollen könnten, zu entscheiden. Zu wählen erfordert, eine (hoffentlich wohlerwogene) Entscheidung zu treffen und so zu einer Auswahl zu gelangen. Wählen ist ein bewusster Willensakt und beinhaltet ein Urteil. Zu wählen ist ein koevolutiver Prozess der Selbstdefinition. Zu wählen ist Selbsterschaffung. Indem wir wählen, werden wir zu dem, was und wie wir sein wollen.
Zu wählen bedeutet, dass wir uns für bestimmte Möglichkeiten entscheiden und dadurch auf andere verzichten. Durch die Wahl Ihres Partners geben Sie andere Möglichkeiten auf. Indem Sie eine Wahl treffen und dann entsprechend leben, werden Sie sich darüber klar, wer Sie sind, und werden erfahrener im Umgang mit den Vier Aspekten der Balance. Um zu bekommen, was Sie wollen, müssen Sie unter anderem akzeptieren, dass die Erfüllung Ihres Herzenswunschs mit dem Verzicht auf bestimmte Möglichkeiten verbunden ist.
Vielen Menschen fällt es schwer, zu wollen und zu wählen. Testosteron und Östrogen wählen nicht, und Wählen und Sich-Binden sind verschiedene Dinge: Säugetiere suchen sich den besten Partner, den sie finden können, wenn ihre Hormone sie dazu drängen. Besonders intelligente Tiere verfügen möglicherweise über eine rudimentäre Fähigkeit zu wählen, doch nur wir Menschen sind im Besitz hochentwickelter Wahlmöglichkeiten.
Im Laufe der soziobiologischen Anpassung, die vor Millionen von Jahren Körper und Geist unserer Vorfahren veränderte – was die Veränderung der biologischen Grundlagen der Sexualität bei der Frau einschloss –, wurde die Fähigkeit zu wählen zu einem Bestandteil des sexuellen Verlangens. Im Gegensatz zu anderen Primaten entwickelten Menschenfrauen den versteckten Eisprung, der es ihnen ermöglichte, im Bereich der Sexualität eigenständiger Entscheidungen zu treffen. Aufgrund dieses Zugewinns an Möglichkeiten, ihr Sexualleben zu beeinflussen, entwickelte auch ihr Gehirn entsprechende Kontrollfähigkeiten.3
Für ihre Wahlfähigkeit war ihr gespiegeltes Selbstempfinden wichtig: Sie lernten, ihr Verlangen durch Nuancen des sprachlichen Ausdrucks und des Verhaltens mitzuteilen, statt es nur durch das äußere Erscheinungsbild ihrer Genitalien kenntlich zu machen. Aufgrund dieser Nuancen erlangten sie auch das gewünschte gespiegelte Selbstempfinden.
Aufgrund der Fähigkeit zu wählen konnte das entstehende Selbst des Menschen den Körper formen, den es bewohnte. Im Laufe von Millionen von Jahren der Auswahl ihrer Sexualpartner gelang es den Frauen, Männer hervorzubringen, die über zwei ihnen genehme Fähigkeiten verfügten. Die eine war, dass sie sich auf die in der Entwicklung begriffene Persönlichkeit der Frau einlassen konnten. Dies beschleunigte die Entwicklung des Präfrontalkortex. Die andere bestand – so nehmen einige Anthropologen an – darin, dass Frauen bevorzugt Männer mit langen und dicken Penissen gebaren.4 Indem die Frauen in die Lage versetzt wurden, ihr sexuelles Verlangen bewusst zu steuern, wurde die Grundlage für unsere Fähigkeit geschaffen, Sex mit einer bestimmten Bedeutung (einem Sinn) zu verbinden. Die Wahlfähigkeit ist ein primärer Ausdruck des Selbstseins. Es ist unsere Art, uns zu definieren.
Als Menschen anfingen, sich sexuellen Aktivitäten nicht mehr nur aufgrund von Wollust, Verliebtheit und Bindungsbedürfnissen zu widmen, machten sie es sich aus den genannten Gründen auch zur Gewohnheit, sexuelle Aktivitäten zu unterlassen. Sich dem Sex »von Selbst zu Selbst« zu nähern, statt nur von Genitalien zu Genitalien, erschloss bislang ungekannte Höhen, aber auch Abgründe. Als unser gespiegeltes Selbstempfinden sich herausbildete, gewannen Machtfragen, die bei allen Primaten eine Rolle spielen, eine völlig neuartige Bedeutung. Nun sind wir zwar grundsätzlich in der Lage, einen Partner zu wählen, doch nutzt deshalb noch nicht jeder Mensch diese Fähigkeit auch tatsächlich. In vielen Ehen wählt ein Partner; der andere wird gewählt, was ihm erspart, selbst wählen zu müssen.
Zahlreiche Partner mit schwachem Verlangen haben mir gesagt: »Ich verspüre kein Verlangen nach meinem Partner«, wodurch sie den Eindruck erweckten, dies beziehe sich speziell auf die Person ihres Partners. Bei genauerer Untersuchung stellte sich jedoch häufig heraus, dass ihr Verhalten im Grunde folgender Regel entspricht: Menschen, bei denen die Vier Aspekte der Balance schwach ausgeprägt sind, wollen nicht wollen, weil das Wollen sie nervös macht. Da die Partnerwahl bei ihnen Ängste weckt, wählen sie nicht. Wenn Partner zusammenleben, bedeutet dies nicht zwingend, dass diese Menschen einander gewählt haben. Falls die Vier Aspekte bei ihnen schwach sind, empfinden sie es als zu gefährlich, eine Wahl zu treffen.
Im vorigen Kapitel wurde beschrieben, dass Verlangensprobleme auftreten, wenn Ihr Partner für Sie wichtiger wird, als Sie selbst für sich sind. Wenn Sie eine bestimmte Person wählen, nimmt die Bedeutung dieses Menschen für Sie exponentiell zu. Möglicherweise befinden Sie sich dann plötzlich in einer Situation, der Ihre Vier Aspekte nicht gewachsen sind.
In solch einer Situation befand sich Tom. Er wollte verhindern, dass Helen für ihn wichtiger würde als er selbst für sich war. Außerdem war er von einem gespiegelten Selbstempfinden abhängig. Er konnte mit der realen bzw. vorgestellten Verletzlichkeit, die eine Wahl mit sich bringt, nicht umgehen. Indem er es vermied, Helen zu wählen, gelang es ihm, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Tom beschränkte die Bedeutung, die er Helen in seinem Leben zugestand, um mit seinen Schwierigkeiten, bei sich selbst zu bleiben, fertigzuwerden. Unter den gegebenen Umständen gelang es ihm nur mit äußerster Mühe, sein emotionales Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Hätte er Helen gewählt, hätte er ihr dadurch einen privilegierten Status in seinem Leben eingeräumt. Tom wurde einfach nicht damit fertig, dass sie für ihn so wichtig werden könnte.
Durch das Wählen Ihrer Partnerin bringen Sie deren innere Welt in Ihre eigene mentale Realität. (Dabei ist es wichtig, dass Sie den Geist der anderen Person spiegeln können.) Wenn Sie über Ihr eigenes Leben mit all seinen Komplikationen, Frustrationen und Einschränkungen reflektieren, tragen Sie der inneren Welt Ihrer Partnerin Rechnung. Dies schränkt zwangsläufig Ihre Wahlmöglichkeiten ein (was wenig differenzierte Menschen als Kontrolliert- oder Ersticktwerden empfinden). Sie können Ihren Partner nicht wählen, wenn Sie nicht in der Lage sind, an sich selbst festzuhalten. Deshalb war es Tom unmöglich, Helen zu wählen: nicht, weil er sich nicht entscheiden konnte, sondern weil er mit der emotionalen Wirkung einer solchen Wahl nicht fertiggeworden wäre.
Dies hing mit seiner Vorgeschichte, seiner Beziehung zu seiner Mutter zusammen: Ihre ständige Wiederholung des Ausspruchs »Wenn du mich lieb hättest, würdest du mir geben, was ich will« hatte ihn dazu gebracht, sein emotionales Engagement stets strikt unter Kontrolle zu halten, um zu verhindern, dass es gegen ihn genutzt würde. Weil Helen für ihn im ersten Jahr ihres Zusammenlebens wesentlich wichtiger geworden war, hatte er sich sexuell von ihr zurückgezogen. Das Zunehmen seiner fürsorglichen Empfindungen und Aktivitäten Helen gegenüber, die zu einer zentraleren Gestalt in seinem Leben geworden war, hatte bei ihm die Angst hervorgerufen, sie könnte diese Entwicklung nutzen, um ihn zu manipulieren.
Ein instabiles Selbstempfinden nährt bei Menschen die Furcht, die Partnerin, die sie gewählt haben, könnte sie mit Haut und Haaren verschlingen. Ohne stabiles Selbstempfinden und die Fähigkeit, die eigenen Ängste zu mäßigen, haben Menschen in ihrem Leben nicht viele Wahlmöglichkeiten. Dies gilt auch für die Fähigkeit, einen Partner zu wählen.
Die Art, wie Tom und Helen zueinander fanden, veranschaulicht diesen Prozess sehr treffend. Die erste Freundin, die Tom nach seiner Scheidung kennenlernte, hatte ihm gerade den Laufpass gegeben, und Helen hatte sich kürzlich von ihrem Ex-Mann getrennt. Nach ein paar Kinobesuchen und Essenseinladungen waren beide ein Paar. Weil beide sich noch von ihren gescheiterten Ehen erholten, beschlossen sie, zunächst nur gelegentlich miteinander auszugehen und abzuwarten, was sich daraus entwickeln würde. Beide waren zu einer umfassenden Verpflichtung nicht bereit, und sie wollten die aufkeimende Beziehung nicht durch langwierige Diskussionen ruinieren.
Nachdem sie ihren Kontakt eine Weile in diesem Rahmen gepflegt hatten, erwiesen sich die getrennten Wohnungen als hinderlich. Sechs Monate nach Beginn ihrer Bekanntschaft zog Tom quasi bei Helen ein. Das war unter anderem deshalb kein großer Akt, weil die Hälfte seiner Sachen ohnehin schon bei ihr lagerte. Ein klares Gespräch darüber, was diese Veränderung für sie beide bedeutete, fand nie statt. Helen wollte Tom nicht dazu drängen, und Tom wollte grundsätzlich nicht darüber reden. Er erklärte, er empfinde das Zusammensein mit Helen als wunderschön, und sie sollten diesen Zustand einfach genießen und schauen, was sich daraus entwickeln würde.
Drei Jahre später sah die Situation etwas anders aus. Tom wollte immer noch mit Helen zusammenleben, aber er wollte keinen Sex mehr mit ihr, und er war auch nicht bereit, sie zu heiraten. Da stand Helen nun mit Tom, der zwar in ihrem Haushalt lebte, aber nie bewusst die Entscheidung traf, dass er dort wirklich sein wollte. Rückblickend war ihr klar, wie sie von dem Punkt, an dem sie beide zu Beginn ihrer Bekanntschaft gestanden hatten, zur augenblicklichen Situation gekommen waren: Sie hatten die schwierigen Fragen darüber, was sie einander bedeuteten, einfach ignoriert.
Tom wollte Helen nicht wählen, aber sie auch nicht verlieren. Um dies zu vertuschen, wehrte er Helens Versuche ab, zu lesen, was in seinem Geist vor sich ging. Er sagte bewusst Dinge, die Helen einen falschen Eindruck von ihm vermittelten. Vielleicht fürchtete er, sie würde sich in seine Mutter verwandeln; doch in Wahrheit war Tom selbst derjenige, der durch sein Handeln die Dynamik seiner Mutter verkörperte. Seine Botschaft, die sich durch die gesamte sexuelle Beziehung zwischen ihm und Helen zog, lautete: »Wenn du mich wirklich liebst, bleibst du mit oder ohne Sex bei mir und machst mich glücklich.«
Außerdem brauchte Helen es, sich gewählt fühlen zu können. Ihr gespiegeltes Selbstempfinden basierte darauf, gewählt und gewollt zu werden. Sie brauchte das Gefühl, gewählt worden zu sein, aus den gleichen Gründen, aus denen Tom nicht wählen wollte: aufgrund des niedrigen Entwicklungsstandes der Vier Aspekte der Balance. Dies erklärt, warum Millionen von Menschen Helen gleichen. Aber es erklärt nicht, warum Helen zu ihnen zählt.
In Helens Kindheit und Jugend war es in ihrer Familie ziemlich chaotisch zugegangen. Ihr Vater war glücksspielsüchtig und trank. Ihre Mutter bestritt den Haushalt ausschließlich mit dem Geld, das sie selbst verdiente. Der Vater verjubelte seinen gesamten Verdienst. Helens Eltern stritten die meiste Zeit mit ihrem älteren Bruder. Er war ihre große Hoffnung, weil er sich auch stellvertretend für sie in die familiäre Situation einmischte. Doch er hatte eine Gefängnisstrafe wegen Autodiebstahls bekommen, als Helen 14 Jahre alt gewesen war, und war in einer Schlägerei mit anderen Gefängnisinsassen umgekommen. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts hatte Helen eine Anzahl Liebesaffären gehabt, die alle letztlich gescheitert waren, und darauf waren eine kurze Ehe und eine chaotische Scheidung gefolgt. Zu der Zeit, als sie Tom kennengelernt hatte, hätte sie sich mit jedem Mann zusammengetan, der sie nett behandelt hätte.
Die Bedeutung, die Helen mit Sex verband, war: »Ich bin froh, dass es mir gestattet wird mitzumachen; du brauchst mich nicht zu wählen.« Ihr Bedürfnis, gewollt zu werden, beinhaltete nicht, dass sie nach jemandem Ausschau hielt, der sie wirklich wollte. Ganz im Gegenteil: Sie gaukelte sich bezüglich Tom ebenso etwas vor, wie sie es bezüglich ihrer Eltern getan hatte. In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie gelernt, dass es Vorteile hatte, hilfsbereit zu sein und nicht um viel zu bitten. Ihre Eltern waren ihr gegenüber freundlicher gewesen, wenn sie bei irgendetwas die Hilfe ihrer Tochter brauchten.
Helen war mit Tom im Bett hochzufrieden gewesen. Sie war eine aufmerksame und aktive Partnerin, und es war ihr sehr wichtig, ihrem Partner gefällig zu sein. Sie beklagte sich nicht, wenn sie selbst keinen Orgasmus erreichte, und sorgte in jedem Fall dafür, dass er ihn bekam. Wenn ihm nicht danach war, auch ihr dazu zu verhelfen, war das für sie kein Problem.
Ich sagte zu Helen: »Es klingt ganz so, als ob Sie das Wollen für sich selbst und Tom übernähmen.«
»Ich bin besser darin als Tom.«
Ich fuhr fort: »So wie Sie das sagen, klingt es wie eine Tugend. Meiner Meinung nach übernehmen Sie das Wollen für sich selbst und Tom, weil Sie glauben, Tom könnte das nicht, und weil Sie außerdem von ihm auch nicht erwarten, dass er es tut. Aber Ihr Wollen entspringt nicht den besten Kräften in Ihnen. Es entspringt Ihrer Bedürftigkeit, nicht der Tatsache, dass Sie stärker sind.«
Helen verstand offenbar, was ich ihr mitteilen wollte, reagierte aber defensiv darauf. »Ich bin der Meinung, dass ich Tom gewählt habe. Tom hat mich nicht gewählt.«
»In vielen Ehen wählt ein Partner den anderen, und der andere Partner heiratet, weil er dann nicht zu wählen braucht. Tom hat Sie nie gewählt, weil das nicht nötig war oder weil er es nicht wollte. Sie haben ihn gewählt, um Ihr emotionales Gleichgewicht besser wahren zu können. Er hat Sie nicht gewählt, weil es ihm schwerfiel, bei sich zu bleiben. Viele Paare weichen der schwierigen Frage ›Wer hat wen gewählt?‹ aus.«
»Ich will, dass Tom mich will, und zwar nicht nur wegen des Sex.«
»Sie verstehen offenbar, worum es geht: Sie brauchen, dass er Sie will.«
Helen versuchte, sich zu verteidigen: »Es spricht doch nichts dagegen, dass ich möchte, dass Tom mich will. Das gibt mir das Gefühl, für ihn wichtig zu sein.«
»Genau so ist es. Aber es verhindert, dass Sie bekommen, was Sie, wie Sie sagen, wollen.«
»Wieso?«
»Sie möchten, dass Tom Sie will, dass er Sie wählt?«
»Ja.«
»Und Sie wollen, dass er Sie braucht?«
»Ja.«
»Solange Tom Sie braucht, kann er Sie leider nicht wählen. Er hat dann einfach nicht sonderlich viele Wahlmöglichkeiten.«
»Ohhh …«
»Sie mögen wollen, gewollt zu werden, doch Ihr wankendes gespiegeltes Selbstempfinden braucht die Sicherheit, gebraucht zu werden. Sie machen sich für Ihren Partner unentbehrlich.«
»Ohhh …« Helens Augen wurden groß.
»Wer also verhindert, dass Sie gewählt werden? Letztlich Sie selbst – aufgrund Ihres Bedürfnisses, gebraucht zu werden.«
»Ohhh …« Von diesem Augenblick an setzte Helen sich damit auseinander, dass sie noch nie gewählt worden war. Sie machte sich klar, dass sie Toms Weigerung, sie zu wählen, aus Bequemlichkeit ignoriert hatte. Von diesem Moment an entwickelte Helen unbeirrbar einen Fokus: Sie wollte mit einem Menschen zusammenleben, der den Mumm hatte, sie zu wählen.
»Ich glaube, ich bin mein Leben lang geduldet worden. Ich habe mich auf jeden gestürzt, der mich haben wollte. Ich weiß, dass mein erster Mann mich nie gewählt hat. Er wollte eigentlich eine andere Frau heiraten, doch als sie sich für einen anderen entschied, heiratete er mich. Und ich bin auch eindeutig nicht die Frau, für die sich Tom begeistert entschieden hat. Ich gebe mich mit Männern zufrieden, denen es gefällt, mich zur Gesellschaft zu haben.« Helen schaute zuerst Tom und dann mich an. »Vielleicht mache ich mir etwas vor. Ich weiß selbst, dass ich Fehler und Mängel habe. Aber ich finde, dass ich es verdiene, mit jemandem zusammen zu sein, der mich wirklich will!« Sie klang sehr entschlossen.
Als ich an früherer Stelle schrieb, man könne das Verlangen erweitern, meinte ich das bewusst gewählte, frei angenommene Verlangen. Wählen und Wollen sind wichtige Aspekte des Verlangens.
Eine weitere Ebene des Verlangens betrifft die Intentionalität. Al Jolson, ein Sänger der 1940er Jahre, balzte: »Du hast mich dazu gebracht, dich zu lieben! Ich wollte es nicht! Ich wollte es nicht! Du weißt, dass du mich dazu gebracht hast, dich zu lieben.« Offenbar sind Lieben und Wählen nicht immer miteinander verbunden. Sie können in jemanden verliebt sein und sich wünschen, es wäre nicht so. Sie können Verlangen nach jemandem verspüren und sich wünschen, es wäre nicht der Fall. Sie können aber auch kein Verlangen nach jemandem haben und froh darüber sein. Sie mögen Ihren Partner nicht wollen, wissen aber, dass Sie dies nicht zeigen sollten.
Wenn Sie sich die romantische Liebesgeschichte anschauen, die Ihnen am besten gefällt, werden Sie mit ziemlicher Sicherheit feststellen, dass bewusst gewähltes und frei angenommenes Verlangen in ihr wichtige Rollen spielen. Diese Art von Verlangen wollen wir in uns spüren, und wir wollen auch, dass unser Partner es uns gegenüber hat.
Wollen Sie wirklich ein stärkeres Verlangen? Vielleicht ist das gar nicht so. Ihr Verlangen danach, Verlangen zu haben – und Ihre Absicht, Ihre eigene Situation zu beeinflussen –, entscheidet darüber, ob Sie Erfolg haben werden. Jeder weiß das. Deshalb spiegelte Helen Tom bezüglich seiner Abneigung gegen Sex mit ihr und gegen die Ehe ziemlich zutreffend.
Tom bezeichnete sein Problem als mangelndes Verlangen nach Sex oder nach einer neuen Ehe (d.h., er war nicht dazu motiviert). Das eigentliche Problem war jedoch nicht, dass er keinen Sex wollte oder Helen nicht als Partnerin wollte. Tom wollte ganz einfach nicht wollen. Punkt.
Die Absicht ist bei Problemen, die das sexuelle Verlangen betreffen, ungeheuer wichtig. Partner bewegen sich in einer Art Tanz um diesen Punkt, indem sie einen Wunsch nach Verlangen (nach Sex oder nach ihrem Partner) ausdrücken, wobei sie sich fälschlich so darstellen, als seien sie für die Entwicklung von Verlangen offen, obwohl sie dies gar nicht sind. Dadurch verhindern sie, dass der andere Partner ihr Verhalten persönlich nimmt. Wenn Sie Ihr Verlangen danach, Verlangen zu haben, falsch darstellen, stützt dieses Manöver ihr gespiegeltes Selbstempfinden nur für kurze Zeit.
Tom wollte nicht wollen, weil Wollen ihm das Gefühl vermittelte, verletzlich zu sein. Erlebnisse mit seiner Mutter hatten ihn gelehrt, dass ihre Liebe ihn für ihre Manipulationsversuche anfällig machte. Außerdem konnte er es nicht ertragen, auf Möglichkeiten verzichten zu müssen, die er nicht erprobt hatte. Vielleicht gab es ja irgendwo doch noch eine Partnerin, die sich besser für ihn eignete. Doch überhaupt nicht umgehen konnte Tom damit, etwas oder jemanden zu wollen und dann nicht zu bekommen, was er wollte. Wollen brachte ihn mit einem inneren Gefühl der Leere in Kontakt, das er um jeden Preis zu vermeiden versuchte.
Dies kam in einer unserer Sitzungen zum Ausdruck. Tom hatte das Problem, um das es ging, so dargestellt, als wisse er nicht, was er wolle. Wenn er wüsste, was er wolle, so erklärte er, würde er es auch wollen. Doch tatsächlich erzeugt das Wollen selbst ein beunruhigendes Mangelgefühl.
Ich fragte Tom, ob seine momentane Beziehung die beste sei, die er jemals gehabt habe. Er dachte einen Augenblick nach und bestätigte dies dann. »Vielleicht können Sie es sich nicht leisten, über eine Heirat oder über Sex zu entscheiden, weil Sie sich dadurch anfällig dafür machen würden, die beste Beziehung zu wollen, die Sie jemals hatten.«
Tom versuchte, sich auf vertrauteres Gelände zurückzuziehen. »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich nicht viele gute Beziehungen hatte. Wie soll ich etwas wollen können, das ich gar nicht kenne? Wie ist es bei Menschen, die eine beschissene Kindheit hatten? Können sie Verlangen nach etwas entwickeln, das sie nie gehabt haben?« Tom glaubte, er hätte ein unwiderlegbares Argument gefunden.
Ohne zu zögern antwortete ich: »Na klar!« – wobei ich mich bemühte, möglichst wenig angriffslustig zu klingen. Tom war überrascht. Er war nicht mein erster Klient, der die These entwickelt hatte, er könne nach etwas, das er nie kennengelernt habe, kein Verlangen entwickeln, etwa so wie bei einer Frucht, die man noch nie gekostet hat. Diese Argumentation wird der Essenz menschlichen Verlangens nicht gerecht: Beim Verlangen geht es ausschließlich darum, etwas zu bekommen, das man noch nie hatte, darum, etwas zu tun, das man noch nie getan hat, und darum, etwas zu werden, das man noch nie gewesen ist.
Verlangen mobilisiert und bringt uns so dazu, mehr werden zu wollen, als wir zurzeit sind, nach Dingen zu greifen, die außerhalb unserer Reichweite liegen. Das Verlangen hat uns Menschen vom Jagen und Sammeln zur Erforschung anderer Planeten geführt. Das Verlangen nach etwas bisher noch nie Gekostetem treibt die Heiligen aller Religionen an, die Nationalhelden aller Länder und die Paare, die zu mir in Therapie kommen. Um ihre Probleme lösen zu können, müssen sie alle Stärke entwickeln, etwas zu wollen, das sie nie hatten oder das zu erreichen sie sich nicht vorstellen können. Die Vier Aspekte der Balance können Ihnen helfen, folgende drei Dinge in die Tat umzusetzen:
All dies mussten Helen und Tom tun. Helen musste lernen, an sich selbst zu glauben und so zu handeln, als sei sie es wert, gewählt zu werden. Toms große Herausforderung bestand darin, sein Verlangen und seine Zuneigung offen zu zeigen, sich aber trotzdem weder ausbeuten noch manipulieren zu lassen.
Nach einigen Sitzungen waren Helens und Toms Probleme klarer zutage getreten, und Helen wurde kühner. Sie eröffnete eine Sitzung mit einer Frage, die zu stellen sie lange vermieden hatte: »Vielleicht ist Tom nicht stark genug, um eine Partnerin zu wählen?« Dies war eher eine Selbstkonfrontation als eine Frage an Tom. Sie hatte einen Gedanken zugelassen, den sie vorher gemieden hatte. Dies zeigte, dass ihre Vier Aspekte allmählich stärker wurden.
Auf Tom wirkte diese Frage bedrohlich, und er konnte sie nicht einfach so stehen lassen. Er versuchte Helen zu verunsichern, um sie zu zwingen, zu ihrem vorherigen Status quo zurückzukehren. »Weshalb meinst du, es gehe darum, dass ich nicht wählen könne? Vielleicht habe ich einfach kein echtes Verlangen nach dir.«
Ich schaltete mich ein: »Das steht jetzt außer Frage: Sie haben kein Verlangen nach ihr.«
Tom war bestürzt. Ich hatte ihm seinen emotionalen Knüppel aus der Hand genommen.
»Vielleicht habe ich ja doch Verlangen nach ihr. Das versuche ich doch gerade herauszufinden.«
»Nein, die Sache ist völlig klar. Es geht gar nicht darum, ob Sie auch nur eine Winzigkeit Verlangen nach ihr haben. Es geht darum, ob Sie Massen von Verlangen nach ihr haben. Helen will niemanden heiraten, der sie nur ein wenig will. Und Sie sterben nicht gerade vor Sehnsucht nach Sex mit ihr oder danach, sie zu heiraten.«
»Vielleicht tue ich das ja doch. Ich bin mir nur nicht sicher.«
»Wir reden hier nicht über unterdrückte Gefühle. Offensichtlich sind Sie jedenfalls nicht ›hin und weg‹ von Helen.«
Nun endlich verstand Tom, worauf ich hinauswollte. »Was wollen Sie damit sagen? Dass ich Helen nicht liebe?«
»Eine Möglichkeit ist, dass Sie Helen nicht lieben.« Ich legte eine Pause ein. »Eine andere Möglichkeit ist, dass Sie niemanden lieben können.« Wieder folgte eine Pause. »Drittens könnten Sie sich bewusst eine Frau ausgesucht haben, die Sie mehr will, als Sie sie wollen. Nach dem, was Sie selbst mir berichtet haben, haben Sie es in Ihren bisherigen Frauenbeziehungen immer so gehalten. Sie haben gesagt, Ihre letzte Partnerin habe sich über das völlige Fehlen von Aufmerksamkeit ihr gegenüber beklagt. Indem Sie sich Partnerinnen suchen, die Sie mehr wollen, als umgekehrt Sie Ihre Partnerin wollen, verschaffen Sie sich das Gefühl, begehrenswert zu sein, und außerdem gibt Ihnen dies die Möglichkeit, eine Beziehung zu kontrollieren. Es hilft Ihnen, Ihre Ängste vor emotionaler Erpressung abzuwehren. Sie brauchen es, dass Ihre Partnerin Ihnen nachgibt, und wenn sie das nicht tut, sind Sie schnell durch die Tür.«
»Aber wenn ich sie wirklich nicht wollte?«
»Es ist für Sie nicht ungefährlich, Ihre Partnerin zu wollen. Und Sie versuchen dieses Problem zu umgehen, indem Sie sich eine Partnerin suchen, die Sie weniger wollen, als umgekehrt Ihre Partnerin Sie will. Helen klagt darüber, dass sie nie Ihre Aufmerksamkeit bekommt, obwohl Sie sie ständig beobachten. Sie spiegeln permanent Helens Geist, um abzuschätzen, wie sehr sie Sie will, und um dann Ihr Verlangen so zu manipulieren, dass Sie immer derjenige sind, der weniger will.«
»Was wäre, wenn dies zuträfe und ich mir wünschen würde, es zu verändern? Es wäre gut für uns beide, wenn ich Helen wirklich wollte.«
»Wie Sie sehen, ist Helen frustriert, weil Sie nicht in der Lage sind, hinsichtlich Ihrer gemeinsamen Beziehung eine Entscheidung zu treffen. Wenn sie nicht frustriert ist, setzen Sie sich nicht mit ihr auseinander, und wenn Sie frustriert ist, tun Sie es auch nicht. Aber als Helen heute an den Punkt kam, an dem sie bereit war aufzugeben, und als Sie daraufhin glaubten, sie wolle Sie nicht mehr, da erst brachten Sie den Wunsch zum Ausdruck, ein stärkeres Verlangen zu entwickeln. Das ist alles, was Sie erreichen müssen. Nicht einmal Sex mit ihr ist erforderlich. Was ich soeben beschrieben habe, reicht aus, damit Helen Sie weiterhin will.«
Tom lächelte. Er war erwischt worden. Er sah Helen an, um festzustellen, wie sie reagierte. Helen sagte: »Wir sind beide so erbärmlich!« Ich ging auf Helens Bemerkung nicht ein und redete weiter mit Tom.
Helen schaute an die Decke und versuchte, das Weinen zu unterdrücken. Sie vergegenwärtigte sich, wie sie sich damit zufriedengab, »möglicherweise« gewollt zu werden. Tom saß vorgelehnt auf dem Rand der Couch und versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln. In seiner Stimme schwang jetzt kein Sarkasmus mehr mit. »Was ist denn eigentlich mit mir los, Doktor?«
»Sie wollen gewollt werden, aber Sie wollen selbst nicht wollen. Wenn Sie eine Frau wie Helen finden, kommen Sie mit dieser Haltung eine Weile durch. Aber wenn Sie auf jemanden stoßen, der eher Ihnen selbst ähnelt, wäre Ihre Beziehung zu einer solchen Partnerin wahrscheinlich sehr stark gefährdet, nur von kurzer Dauer und hätte ein unschönes Ende.«
»Sie beschreiben die Beziehung, die ich hatte, bevor ich Helen kennenlernte.« Tom bot mir nun eine andere Art von Allianz an. Ich wusste nicht, ob sie dauerhaft sein würde, aber zumindest war dies ein Wendepunkt.
»Ich habe das in Ihrer Anamnese gesehen. Ich nehme an, dass Sie Helen ausgewählt haben, weil Sie etwas anderes wollten.«
Tom sagte: »Ja! Ich wollte etwas anderes.«
Ein paar Sekunden lang herrschte Stille. Dann fügte Helen hinzu: »Und an diesem Punkt betritt die Närrin die Bühne – damit meine ich mich. Ich fühle mich gedemütigt. Ich bin wütend auf dich, Tom, weil du mich auf diese Weise manipuliert hast. Aber noch wütender bin ich auf mich selbst, weil ich mich so von dir habe behandeln lassen.«
Dies war ein bedeutungsschwerer Augenblick. Ich sprach langsam und versuchte, unsere Sitzung zu einem Abschluss zu bringen. »Wenn Sie es schaffen, an diesem Punkt zu bleiben und sich ein wenig zu beruhigen, gelingt es Ihnen vielleicht, etwas an der Situation zu ändern.«
Ich schaute Tom an. »Wenn Sie etwas sehnlichst ändern wollen, können Sie die schwierigen Entscheidungen treffen, die erforderlich sind, damit Sie bekommen, was Sie wirklich wollen.«
Dann wendete ich mich an Helen. »Wenn Sie wütend genug sind und sich entsprechend gedemütigt fühlen, können Sie sich fragen, warum Sie dies alles zugelassen haben.« Helen und Tom verließen meine Praxis mit ernsten Gesichtern.
Normale Paare haben Verlangensprobleme aufgrund der Entscheidungszwänge, die mit Liebesbeziehungen praktisch immer verbunden sind. Ich bezeichne diese Situationen als two-choice dilemmas, was in etwa dem deutschen Ausdruck »Zwickmühle« entspricht. Gemeint ist damit eine Situation, in der Sie sich gern für zwei Alternativen gleichzeitig entscheiden würden, sich aber mit einer zufriedengeben müssen. Solche Dilemmata entsprechen der bekannten Redensart, dass man »den Kuchen gern essen und ihn trotzdem später noch haben möchte.« In langfristigen Liebesbeziehungen tauchen solche Zwickmühlen massenhaft auf. Helens Äußerung »Ich will, dass du mich willst, aber ich brauche es auch, dass du mich brauchst« und Toms Erklärung »Ich will, dass du mich willst, aber ich will nicht wollen« sind Beispiele für diese Struktur.
Weitere Beispiele sind:
Zwickmühlen dieser Art sind bei Problemen, die das sexuelle Verlangen betreffen, auf Schritt und Tritt zu finden. Klassisch ist in dieser Hinsicht der Ausspruch eines verlangensschwachen Partners »Ich will keinen Sex, aber ich will mit jemandem verheiratet bleiben, der Sex will« und der Ausspruch eines verlangensstarken Partners »Ich will Sex haben, aber ich bin mit jemandem verheiratet, der das nicht will« oder »Mein Partner gibt mir Mitleids-Sex, wenn ich darum bettle, aber er will mich eigentlich nicht.«
Tom schlug sich auch noch mit einem anderen Dilemma herum, nämlich, dass er seine Beziehung zu Helen fortsetzen wollte, ohne sexuell mit ihr zu verkehren und ohne sie zu heiraten. Er wollte, dass die Situation so bliebe, wie sie war, bis er »Klarheit gewonnen« hätte, wohingegen Helen bereit war, allein ihren Weg zu gehen. Tom redete sich ein, Helen seien ihre Beziehung zu ihm und er als Person gleichgültig, denn andernfalls wäre sie ja bereit gewesen – davon war er überzeugt –, ihn so lange gewähren zu lassen, bis er sich entschieden hätte.
Helen kämpfte mit anderen Entscheidungsdilemmata: Einerseits wollte sie ihrer Beziehung mit Tom jede Chance geben, doch andererseits hatte sie diese Beziehung eigentlich schon aufgegeben. Helen hatte sich von Toms mangelnder Bereitschaft lähmen lassen, seine wahre Position klarzustellen oder sich mit seiner Unfähigkeit, sie zu wollen, auseinanderzusetzen.
Das prototypische Entscheidungsdilemma in einer Ehe ist: Sie wollen sich zwei Möglichkeiten (gleichzeitig) offenhalten, müssen sich aber für eine entscheiden. Sie wollen zwei Möglichkeiten, weil (1) Sie die Wahl haben wollen, zu tun, wonach immer Ihnen ist, und (2) Sie wollen infolge Ihrer Wahl keine Angst empfinden. Sie wollen die Resultate Ihrer Wahl vermeiden, ohne Angst zu erleben oder sich mit den Konsequenzen Ihrer Entscheidung auseinandersetzen zu müssen. Sie können dies nur auf eine Art erreichen, nämlich indem Sie Ihre Partnerin davon abhalten, ihre eigenen Wahlmöglichkeiten zu nutzen.
Menschen improvisieren oft Lösungen, indem sie ihren Partnern Wahlmöglichkeiten stehlen. Dies ist eine Art, zwei Wahlmöglichkeiten gleichzeitig zu realisieren. Es ist so, als hätten Sie eine Affäre, würden Ihrer Partnerin aber nichts davon erzählen, weil Sie sonst von ihr verlassen würden. Sie haben zwei Wahlmöglichkeiten (eine Affäre haben und eine monogame Partnerin haben), und Ihre Partnerin hat keine Wahl. Das Gleiche gilt, wenn ein Partner ein Baby will oder in eine andere Stadt umziehen möchte, und nach einer langwierigen Diskussion kann sich der andere »immer noch nicht entscheiden«. (Sie schaffen es, etwas zu vermeiden, das Sie nicht tun wollen, und gleichzeitig gelingt es Ihnen, Ihren Partner trotzdem in der Nähe zu halten.)
Wenn Menschen ihre Entscheidungsdilemmata umgehen wollen, verwenden sie oft hochtrabende Begriffe wie »Kompromiss« und »Verhandlung« – was man ehrlicher als »den Partner um seine Wahlmöglichkeiten bringen« bezeichnen könnte. In solchen Situationen wird auch gern von »Win-Win-Lösungen« geredet, oder es wird geklagt, man »fühle sich gezwungen, eine Entscheidung zu treffen«. Tatsächlich jedoch versuchen diejenigen, die sich nicht mit ihren Entscheidungsdilemmata auseinandersetzen wollen, ihre Partner unter Druck zu setzen.
Der Verweis auf die Möglichkeit einer »Win-Win-Lösung« klingt zwar vernünftig, ist aber in Wahrheit naiv. Menschen mit geringer Differenzierung nutzen keine »Win-Win«-Strategien, wenn sie mit Entscheidungsdilemmata konfrontiert werden, weil dies bedeutet, dass sie etwas »einstecken« und etwas, das ihnen wichtig ist, aufgeben müssen. Wahrscheinlicher ist, dass sie ihrem Partner in solchen Fällen die Wahlmöglichkeiten stehlen. Je schwächer die Vier Aspekte der Balance bei einem Menschen sind, umso eher fühlt er sich zum Stehlen von Wahlmöglichkeiten berechtigt. »Win-Win-Lösungen« liegen ganz einfach außerhalb des Verständnisvermögens vieler Menschen.
Tom vermied seine Entscheidungsdilemmata und stahl auf diese Weise Helen die Wahlmöglichkeit. Statt seine Partnerin freizugeben und sie ihre Vorstellungen vom Leben verwirklichen zu lassen, versuchte er, ihr Schuldgefühle zu vermitteln, weil sie darüber nachdachte, ihn zu verlassen. Statt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und eine Entscheidung zu treffen, bat er sie immer wieder, ihm mehr Zeit zu lassen – die er dann regelmäßig nicht nutzte.
Entscheidungsdilemmata zu umgehen ist im übrigen auch ein Beispiel für das Ausborgen von Funktionsfähigkeit, durch das es zu emotionalen Pattsituationen kommt. Tom konnte deshalb »nicht herausfinden, was er wollte«, weil er genau dies wollte. So reinszenierte er die Dynamik, die seine Kindheit beherrscht hatte. Er erwartete von Helen, dass sie sich seinetwegen aufgab – so wie seine Mutter dieses Opfer von ihm erwartet hatte.
Einige Menschen stehlen ihrem Partner die Entscheidungsalternativen aus Gehässigkeit oder Heimtücke. In anderen Fällen, so wie bei Tom, handelt es sich dabei um einen zentralen Bestandteil der emotionalen Dynamik der Betreffenden. Dies ist die pragmatischste und einfachste Methode, sich Entscheidungsdilemmata zu entziehen, mit denen man sich nicht konfrontieren will. Nun könnte man einwenden, dass zwischen dem Umgehen und Hinauszögern einerseits und dem Stehlen andererseits doch ein riesiger Unterschied bestünde – aber dem ist entgegenzuhalten, dass die Wirkung praktisch die gleiche ist. Selbst wenn es nicht in Ihrer Absicht liegt, Ihrem Partner die Wahlmöglichkeit zu stehlen, läuft das, was in solch einem Fall geschieht, trotzdem darauf hinaus, denn durch das Aufschieben von Entscheidungsdilemmata stehlen Sie Ihrem Partner im Grunde Zeit.
Die neuen Erkenntnisse, die Tom über seine Ursprungsfamilie gewonnen hatte, halfen ihm nicht sonderlich weiter. Er machte seinen Gefühlen seiner Mutter gegenüber gründlich Luft. Wir hörten ihn sogar Wut auf seinen Vater ausdrücken. Trotzdem veränderte er sich nicht sonderlich. Er verwandte zwar mehr Zeit darauf, sich zu fragen, was er eigentlich wollte, gelangte aber nicht zu neuen Antworten.
Manchmal müssen Gespräche in der realen Welt stattfinden, um bei Menschen den Entwicklungsprozess in Gang zu setzen. So erging es Tom und Helen in der nächsten Sitzung. Als Erläuterung zum gerade hinter ihnen liegenden Wochenende erklärte Tom: »Wir sind gute Freunde, aber keine Liebenden.«
Für Helen war das Maß allmählich voll. Sie sagte: »Ich will zwar unsere Freundschaft nicht beenden, aber das ist definitiv nicht, was ich will.«
Ich sagte: »Wir sollten nicht annehmen, dass Sie beide Freunde sind. Das entspricht zwar vielleicht Ihrer Vorstellung von Liebe, aber ganz bestimmt lässt es sich nicht mit meinem Verständnis von Freundschaft vereinbaren.«
Tom behielt seine defensive Reaktion unter Kontrolle. »Wollen Sie damit sagen, dass ich Helen nicht liebe?«
»Ich sage, dass Sie Helen nicht wie eine Freundin behandeln. Und außerdem sage ich, dass dies möglicherweise wirklich Ihre Art zu lieben ist.« Es war schwer einzuschätzen, wer von beiden sich daraufhin betroffener fühlte. Helen fühlte sich erneut maßlos gedemütigt. Und Tom war sichtlich erschüttert.
Wie kann man ein stabiles und flexibles Selbst entwickeln, das so stark ist, dass man es nicht mehr braucht, gebraucht zu werden? Man muss sich an diese Veränderung heranwagen, während man noch an sich selbst zweifelt. Manche Klienten sagen zu ihrem Partner: »Wenn du mich vorher nie gewählt hast, was ist dann jetzt deine Wahl? Wenn du mich vorher gewählt hast, dann hast du jetzt die Freiheit, mich erneut zu wählen. Willst du mich jetzt?« Häufiger allerdings sagt jemand zu seinem Partner: »Du hast einmal gewählt, und jetzt bist du fest mit mir verbunden. Es gibt kein Zurück, ob du willst oder nicht.«
Helen traf ihre Wahl: Mitleids-Sex war für sie nicht mehr akzeptabel. Tom musste mehr tun, als sich nur dafür zu entscheiden, sie zu heiraten. Sie wollte jemanden heiraten, der sie wirklich wollte.
Helen ließ nun an sich heran, was sie ohnehin schon wusste: Tom hatte sie nie gewählt. Er wollte sie nur nicht aufgeben. Seine Unfähigkeit zu wählen war schon zu Beginn ihrer gemeinsamen Beziehung dagewesen; sie hatte sich nur nicht damit auseinandersetzen wollen. Hätte sich Helen diesem Problem aus der Perspektives ihres gespiegelten Selbstempfindens genähert, wäre ihr Gefühl der Demütigung noch stärker gewesen. Doch sie konfrontierte sich aus der Perspektive des Besten in ihr, und dies hatte eine völlig andere Wirkung: Sie fühlte sich nicht gedemütigt. Sie verspürte ein Gefühl der Freiheit, das sie nie erwartet hätte.
Helen durchlebte auch danach einige Tage lang viele emotionale Höhen und Tiefen, wurde mit diesen Herausforderungen aber immer besser fertig. Sie sagte zu Tom: »Ich glaube, ich habe die Lösung zu ›Ich will gewollt werden, aber ich brauche es, gebraucht zu werden‹ gefunden. Du musst dich selbst wollen. Du musst an dir selbst festhalten. Das kann niemand anderer für dich tun.« Als Tom dies hörte, verfiel er in Verzweiflung.
Entscheidungsdilemmata existieren, weil die Wahlmöglichkeiten in einer Liebesbeziehung begrenzt sind. Basiert eine solche Beziehungen auf emotionaler Verschmelzung, wird die Zahl Ihrer Wahlmöglichkeiten geringer, sobald Ihr Partner ein stabileres und flexibleres Selbst entwickelt.
Wie viele Partner mit schwächerem Verlangen fühlte sich auch Tom unter Druck gesetzt. Doch alles war im Wandel begriffen. Helen hielt an den Vier Aspekten fest. Sie sah jetzt, dass sie sich selbst verriet, wenn sie nicht erwartete, gewollt und gewählt zu werden. Schließlich hörte sie auf, Tom anzutreiben, weil sie auf diese Weise ohnehin nie bekam, was sie wollte. Er würde auf diese Weise ohnehin nicht einwilligen, weil er es wirklich wollte – falls er es überhaupt täte.
Helen war nicht mehr bereit, weiter um Sex zu betteln, sowie darum, gewollt zu werden. Sie wollte Tom nicht mehr drängen, etwas zu tun, wozu er offensichtlich nicht bereit war. Nötigenfalls würde sie die Beziehung zu ihm beenden, aber sie würde sich nicht selbst aufgeben. Damit endete jede sexuelle Aktivität zwischen ihr und ihm.
Autonomie ist ein ungeheuer wichtiger Bestandteil des sexuellen Verlangens, und ihre Wirkung ist sehr komplex. Wahl ist ein Akt der Autonomie. Wenn wir das Gefühl haben, wir hätten keine Wahl, verblasst oft unser Verlangen. Doch wenn wir nicht wählen, um nicht die Verantwortung für die Gestaltung unseres Lebens übernehmen zu müssen, leidet auch das Verlangen darunter. Tom erklärte, er fühle sich unter Druck gesetzt, eine Entscheidung zu treffen, weil Helen sich danach möglicherweise von ihm trennen werde.
Ich sagte: »Sie wollen zwar gewollt werden, aber Sie wollen selbst nicht wollen.«
»Ich habe das Gefühl, Sie fordern mich zum Sex mit Helen auf, obwohl ich auf der bewussten Ebene weiß, dass Sie das nicht tun.«
»Wenn ich Sie zum Sex mit Helen auffordern würde, würde sie nicht bekommen, was sie will. Natürlich könnten Sie Sex mit ihr haben, ohne sie zu wollen. Helen will aber, dass Sie sie wollen.«
Tom blickte grimmig drein. »Normalerweise würde ich in einer Situation wie dieser brüllen: ›Ich fühle mich unter Druck gesetzt!‹ Dieses Gefühl habe ich jetzt zwar auch, aber ich will die Beziehung nicht aufs Spiel setzen. Wenn ich meine Situation nicht in den Griff bekomme, wird Helen mich verlassen.« Dies war die erste Situation, in der Tom etwas wollte, wovon er glaubte, dass er dazu niemals in der Lage wäre. Er klang verzweifelt. Ich nickte. Tom gab zu erkennen, dass ich seine schwierige Lage durchschaut hatte.
»Freiheit ist eine harte Nuss, nicht wahr? Wenn Helen der Handel, den Sie Ihr anbieten, nicht gefällt, kann sie gehen. Sie kann diese Entscheidung treffen. Wenn es keine Freiheit gäbe, hätten Sie dieses Problem nicht.«
Tom lachte. »In Situationen wie dieser ertappe ich mich bei einer Vorliebe für gutwillige Diktatoren!«
»Leider ist es nicht charakteristisch für unsere Spezies, dass ein Partner beschließt und der andere sich diesem Beschluss widerstandslos fügt. Das Problem, mit dem Sie sich konfrontiert sehen, ist im Laufe von Millionen von Jahren entstanden, und ich glaube nicht, dass es Ihnen gelingen wird, sich gegen diese ganze Entwicklung durchzusetzen.«
Tom schaute Helen an. »Ich will das hier nicht vermasseln.«
Dann wandte er sich an mich. »Ich möchte, dass Sie mir helfen, diese Sache ins Reine zu bringen. Ich bin in solchen Dingen nicht gut, und ich möchte, dass diese Beziehung anders wird.« Dies war eine authentische Bitte um Hilfe.
»Wollen Sie das?«
Tom wurde der Sinn meiner Frage klar. Er hatte nicht gesagt, er wolle Helen oder die Beziehung, sondern er hatte erklärt, was er selbst wollte. Langsam und wohlüberlegt sagte Tom: »Ja, ich will das!«
»Was kann ich jetzt tun?« fragte Tom.
»Sie brauchen sich nicht aufzugeben und auch nicht alles zu tun, was Helen will – tatsächlich geht es um das genaue Gegenteil. Hören Sie auf, so zu tun, als müssten Sie sich aufgeben. Fassen Sie den Mut auszuwählen, was für Sie am wichtigsten ist. Seien Sie Helen gegenüber schlicht und einfach ehrlich. So würde ein Freund sein.«
Ich stellte gemeinsam mit Tom eine Liste von Dingen zusammen, die er tun könnte, um sich über sich selbst und seine Beziehung zu Helen Klarheit zu verschaffen. Dies erforderte eine Selbstkonfrontation und viel Bemühen um Selbstberuhigung.
Ich half Tom, adäquate Selbstkonfrontationen zu entwickeln. Ungeeignete Arten der Selbstkonfrontation bringen nichts. Beispielsweise erklärte Tom, er wolle sich damit auseinandersetzen, ob er auf Frauen generell wütend sei, weil er eine so schlechte Beziehung zu seiner Mutter gehabt hätte. Ich empfahl ihm daraufhin, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, bezüglich derer er sich sicherer sei – beispielsweise damit, dass er sich an der aus seiner Kindheit stammenden Maxime »Wenn du mich liebst, gibst du auf, was du selbst willst, und tust, was ich will« orientiere. Es ging nicht darum, ob diese Dynamik in seinem Leben wirksam war oder nicht, sondern was er diesbezüglich tun könnte.
Die andere Gewissheit war, dass Helen durch Toms Unentschlossenheit daran gehindert wurde zu realisieren, was sie wollte. Statt sich mit seiner Absicht auseinanderzusetzen, konnte Tom sich auch mit seiner Wirkung konfrontieren.
Natürlich ist diese Art von Selbstuntersuchung für jeden Menschen schwierig und schmerzhaft. Manchmal versetzte es Tom in starke Erregung, wenn er Gedanken darüber zuließ. Er fragte, wie er sich besser beruhigen und ausgeglichener bleiben könne. Daraufhin gliederten wir das Problem in simple Punkte, um seine Bemühungen, sich zu beruhigen, möglichst effektiv zu gestalten:
Dies half Tom einige Wochen lang. Doch in bestimmten Situationen reichte es einfach nicht aus. Manchmal fühlte er sich bei Gesprächen in die Enge getrieben. Es gelang ihm einfach nicht, dieses Gefühl abzuschütteln, während er mit Helen redete, so sehr er sich auch darum bemühte. Deshalb entwickelten wir noch weitere Möglichkeiten, mit deren Hilfe er sich in Situationen, in denen er wirklich die Kontrolle über sich zu verlieren drohte, beruhigen konnte:
Diese Tipps zur Selbstberuhigung halfen Tom, mit Helen und mit Zeiten der Trennung von ihr besser zurechtzukommen. Selbstberuhigung ist nicht nur in einer einzigen Form möglich. Man kann dazu je nach Situation unterschiedliche Methoden anwenden und deren Auswahl vom konkreten Fall abhängig machen.
Als Tom die Kontrolle über sich selbst verbessert hatte, konnte er sich sogar mitten in einem Gespräch mit Helen beruhigen. Er explodierte nicht mehr und brauchte sie auch nicht mehr zu ignorieren, während sie miteinander redeten. Wenn ihm dies nicht gelang, genehmigte er sich eine Auszeit, die er dann nutzte, um sich auf die Rückkehr in das unterbrochene Gespräch vorzubereiten. Eine Situation zu vermeiden ist eine ziemlich ungeeignete Form der Selbstberuhigung.
Tom gelang es allmählich besser, zu wollen, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Wir untersuchten seine Gedanken und Gefühle in Augenblicken, in denen er sich mit sich selbst konfrontierte. So entdeckte er ein tiefes, niederschmetterndes Gefühl der Leere. Wollen bringt Menschen in Bewegung und animiert sie dazu, sich um die Lösung schwieriger Probleme zu kümmern.
Das menschliche Verlangen ist unglaublich: Wir mobilisieren uns, indem wir uns erlauben zu wollen. Was wir wollen, beinhaltet letztendlich, dass wir mehr zu dem werden, was wir sind. Wir lassen uns also nicht von unserem Unbehagen und den Entbehrungen, unter denen wir leiden, antreiben, sondern unser Gefühl, unsere Bestimmung noch nicht erreicht zu haben, treibt uns voran.
Tom durchlebte einige intensive Selbstkonfrontationen. Danach lud er Helen zum Essen in ein ruhiges Restaurant ein, und dort führten beide eines ihrer wichtigsten Gespräche überhaupt. »Ich kann es kaum glauben, dass ich dir antun konnte, was meine Mutter mir angetan hat, und dass ich dies zu allem Überfluss auch noch gar nicht gemerkt habe. Es fällt mir schwer, damit umzugehen, dass ich so etwas getan habe. Ich habe immer geglaubt, mein Problem sei, dass ich mich nicht von dir manipulieren lassen wollte. Dass ich mich dir gegenüber selbst manipulativ verhalten habe, ist mir gar nicht aufgefallen.
Außerdem muss ich dir etwas gestehen: Wenn ich ehrlich bin, kann ich nicht sagen, dass ich dich heiraten will. Du hast eine klare Antwort verdient, und nun habe ich sie dir gegeben. Ich weiß immer noch nicht genau, was ich tun will, aber ich erwarte von dir nicht, dass du weiter auf mich wartest. Da ich weiß, dass du heiraten willst, nehme ich an, dass wir uns trennen müssen. Ich möchte dir auch sagen, dass ich nicht das Gefühl habe, dass du mich aufgegeben hast. Tu’ einfach, was für dich selbst am besten ist. Du hast mir mehr Zeit gelassen, als ich verdient hätte.« Tom wirkte zerrissen, doch er hatte getan, was er für richtig hielt. Er wollte mit Helen zusammenbleiben, aber er war entschlossen, sie wie eine Freundin zu behandeln. Natürlich hatte sein Verhalten eine starke Wirkung auf Helen.
Der Sex der beiden an jenem Abend war phantastisch und mit nichts, was sie vorher miteinander erlebt hatten, zu vergleichen. Tom verspürte Verlangen, und Helen fühlte sich gewollt. Sie liebten sich wie alte Freunde bei einem unverhofften Wiedersehen.
Nach diesem Abend liebten sich Tom und Helen einen Monat lang mehrmals in der Woche. Danach kühlte die Situation wieder ein wenig ab, und die sexuellen Begegnungen gingen auf ein bis zwei pro Woche zurück. Sie verbrachten nun gemeinsam auch mehr Zeit mit anderen angenehmen Aktivitäten, so auch mit Gesprächen darüber, was der Sex jetzt für sie bedeutete. Aufgrund dieser Selbstkonfrontationen verlor Tom allmählich die Angst davor, dass Helen ihn zu kontrollieren versuche. Er fürchtete nicht mehr so sehr, durch ihre Zuwendung manipuliert zu werden.
Drei Monate später fragte Tom Helen, ob sie ihn heiraten wolle. Daraufhin setzte Helen sich mit einigen wichtigen Fragen auseinander: Gab sie sich mit jemandem zufrieden, der sie eigentlich gar nicht richtig wollte? War Tom überhaupt in der Lage, einen anderen Menschen wirklich zu wollen? Würde sie einfach nur deshalb ja sagen, weil er sie darum gebeten hatte?
Helens Bedenkzeit löste bei Tom eine Krise aus. Weil er nicht umgehend eine positive Antwort erhielt, brach er zusammen. Plötzlich wollte er so intensiv, dass er nicht damit umgehen konnte. Der bloße Gedanke an die Möglichkeit, dass Helen seinen Antrag ablehnen könnte, ließ ihn in einen tiefen Abgrund stürzen. Er fragte sich besorgt, ob nun vielleicht Helen das Spiel »Wenn du mich liebst, musst du …« spielte.
Rückblickend sagte Helen sich, falls sie irgendwelche Zweifel daran gehabt habe, Tom zu heiraten, dann seien sie verschwunden, seit sie sah, wie er mit sich selbst umging. Tom sagte nicht: »Wenn du mich liebst, dann heiratest du mich«, sondern: »Helen, du musst tun, was du wirklich willst.«
Dies war das genaue Gegenteil der typischen Reaktion seiner Mutter. Mit Toms Verlangen war nun ein völlig neuer Sinn verbunden, und der war: Du bist mir wichtig. Dieser war Ausdruck der Entwicklung, die die Vier Aspekte bei ihm durchlaufen hatten. Die Ursache hierfür war ein klareres Selbstempfinden und eine Verbesserung der Fähigkeit, mit den eigenen Ängsten umzugehen, nicht in reaktives Verhalten zu verfallen und »am Ball zu bleiben«, um zu bekommen, was er wollte. Toms Wollen war so stark, dass er es schaffte, bei sich zu bleiben, während Helen sich bemühte, ihre Entscheidung zu treffen.
Der für eine Ehe charakteristische Prozess war in Toms und Helens Beziehung schon lange vor ihrer offiziellen Hochzeit in Gang gesetzt worden. Man könnte sagen, der Prozess der Ehe habe Tom und Helen geholfen, sich trauen zu lassen, weil Helen ihm das »Ja!« gegeben habe.
Als Tom und Helen schließlich offiziell heirateten, waren sie in Wahrheit schon einige Zeit verheiratet. In ihrer Beziehung gelangte nun die Tatsache zum Ausdruck, dass Paare, wenn sie den Trauschein haben, »stärker verheiratet« werden. Dabei geht es nicht nur um eine Zeremonie zur Erneuerung des Treuegelöbnisses. Durch ihre Hochzeit bekannten sich Tom und Helen offiziell zu ihrer Wahl. Es ging nicht darum, ihrer Beziehung einen »offiziellen Anstrich« zu geben.5
Paare lernen generell, dass die Eheschließung ein Triumph der Hoffnung über die Erfahrung ist, und dies wird ihnen klar, indem sie gemeinsam eine emotionale Pattsituation durchleben.
Es gibt Untersuchungen, aus denen hervorgeht, dass Paare, die kurz vor der Trennung stehen, aber dann doch zusammenbleiben, zehn Jahre später froh sind, zusammengeblieben zu sein, weil sich ihre Situation im Laufe dieser Zeit in der Regel gebessert hat. Warum das so ist, wissen Sie bereits: Die Ehe selbst ist die beste Ehetherapie, die durch Milliarden von Menschen im Laufe vieler Millionen Jahren »perfektioniert« wurde. Ich empfehle Ihnen dringend, dem Prozess der Ehe treu zu bleiben. Stellen Sie Ihre Bemühungen nicht übereilt ein. Wir schaffen uns selbst durch unser Wollen und Wählen. Bei diesem Entwicklungsprozess sind wir gleichzeitig die Künstler und das Kunstwerk.