10.  Wie lassen sich Dinge wirklich verändern? Sicherheit, Entwicklung und die kritische Masse

Einige Menschen wachsen nicht, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt. Es ist schwierig, sich dazu aufzuraffen, sich mit den eigenen Problemen auseinanderzusetzen. Man kann durchaus wissen, was zu tun wäre, und sich mit den Problemen, die man hat, trotzdem nicht auseinandersetzen, weil man nicht bereit ist, sich mit seinen Ängsten zu konfrontieren. Das ist verständlich. Wer schaut schon gern seinen Dämonen ins Auge? Doch das ist nicht die Frage, die Liebesbeziehungen aufwerfen. Diese lautet: Bist du bereit, dich jetzt zu engagieren, oder ist die Situation noch nicht katastrophal genug?

Alle Tiere vermeiden Schmerz. Was uns nervös macht, vermeiden wir in der Regel, solange wir können. Empfinden wir die Situation als noch irgendwie erträglich, ziehen wir es vor, (sexuelle) Probleme zu ignorieren. Während unsere Beziehung allmählich scheitert, stecken wir weiter den Kopf in den Sand und tun so, als wüssten wir nicht, was im Gange ist. Glücklicherweise berücksichtigt die Wachstumsmaschine Partnerschaft die menschliche Natur. Liebesbeziehungen drängen uns dazu, uns mit den Dingen, die uns ängstigen, auseinanderzusetzen. Sie packen alles, was uns Stabilität gibt, und alles, was uns teuer ist, bis wir das Gefühl bekommen, dass unsere Existenz in ihrem Wesen gefährdet ist.

Was bringt uns dazu, trotz unserer Ängste aktiv zu werden? Was macht uns bereit für die Suche nach einer umfassenden Antwort? Das Rückgrat der Ehe ist die ultimative Manifestation des menschlichen Selbst: Integrität.

In Büchern über sexuelles Verlangen ist von Integrität normalerweise kaum die Rede. Integrität beinhaltet, dass man ethische Prinzipien hat und ihnen gemäß lebt. Es handelt sich dabei um die Kongruenz zwischen dem, was wir glauben, und dem, was wir tun, sowie um die Konsistenz unseres Verhaltens im Zeitkontinuum. Es geht darum, auch in schwierigen Situationen loyal, wahrhaftig und direkt zu sein. Es geht um Verantwortlichkeit und darum, sich nicht von den eigenen Befürchtungen und Ängsten behindern zu lassen.

Das Streben nach Erhalt der Integrität führt uns zurück zu den in Teil I dieses Buches behandelten Themen. Integrität ist ein Teil unseres angeborenen Bestrebens, uns zu entwickeln und uns zu erhalten. Dabei geht es nicht um das gespiegelte Selbstempfinden. Integrität ist ein Teil des stabilen Selbstempfindens, und sie ergibt sich aus Ihrer Beziehung zu sich selbst. Menschen, denen es an Integrität mangelt, mangelt es auch an einem klar definierten kohärenten Selbst. Ihnen fehlen die Vier Aspekte der Balance.

Integrität ist mehr als ein abstraktes Prinzip, nämlich eine zentrale menschliche Empfindung. Integrität ist Ihr Gefühl innerer Konsistenz. Wenn Sie Ihre Integrität verletzen und sich dann eingehend untersuchen, merken Sie, dass Sie sich entehrt, beschämt und herabgewürdigt fühlen. Selbstkonfrontation spielt dabei eine wichtige Rolle. Insoweit Sie sich selbst gegenüber unehrlich sind und die Selbstkonfrontation zu meiden versuchen, mangelt es Ihnen an Integrität, weil Ihr Selbst schlecht definiert ist. Doch wenn Sie sich bezüglich dessen, wer Sie wirklich sind, etwas vormachen, stört Sie Ihr Mangel an Integrität wahrscheinlich nicht besonders. Wie man überall beobachten kann, tun viele Menschen schreckliche Dinge, ohne sich dabei schlecht zu fühlen.

Integrität ist mit selbstauferlegten Verpflichtungen und Grenzen verbunden, die definieren, wer Sie sind: die Ziele und Werte, die Ihnen am Herzen liegen, die Grenzen, die Sie nicht überschreiten, und was Sie, selbst wenn es hart auf hart käme, in keinem Fall tun würden. Es mag zwar wie eine Verurteilung klingen, doch man könnte die Auffassung vertreten, dass es uns umso stärker an Integrität mangelt, je geringer unser Differenzierungsgrad ist. An der Entwicklung der Vier Aspekte liegt es, über wie viel Integrität Sie tatsächlich konkret verfügen. Dies hängt von der Stärke ihres stabilen und flexiblen Selbst ab sowie davon, wie viel Sie erreichen wollen. »Flexibel« hat, so wie es hier verstanden wird, nichts mit einem ethischen Wolkenkuckucksheim zu tun, sondern bedeutet, dass man wieder auf den Pfad zurückkehrt, wenn man einmal davon abgekommen ist. Wenn Sie Ihren Geist oder Ihre Emotionen nicht beruhigen können und Ihnen maßvolle Reaktionen nicht möglich sind, besteht die Gefahr, dass Sie Dinge tun, durch die Sie Ihre Integrität verletzen. Auch ohne sinnvolle Beharrlichkeit kann es mit Ihrer Integrität nicht weit her sein, weil Sie dann Ihre Werte ignorieren und sich einen leichten Ausweg suchen.

Wie ich bereits sagte, ist es nicht gerade üblich, in Zusammenhang mit Problemen, die das sexuelle Verlangen betreffen, über Integrität nachzudenken. Mit Befürchtungen und Ängsten setzt man sich in diesem Rahmen deutlich häufiger auseinander. Viele Menschen glauben, ihnen falle es schwer, Verlangen zuzulassen, weil sie sich in ihrem Zusammenleben mit ihrem Partner oder in ihrer Beziehung nicht sicher fühlen.

Dieser Sicht zufolge mangelt es an etwas: eine Sicherheit wird nicht geboten, Engagement fehlt, und die Folge ist, dass der Partner kein sexuelles Verlangen empfindet. Wenn Paare sich diese Sicht zu Eigen machen, konzentrieren sich die Bemühungen eines Partners (oder beider Partner) darauf, dem anderen mit Geduld und einer akzeptierenden Haltung zu begegnen, ihm ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln und ihn zu ermutigen, damit er sich sicherer fühlt. Viele Paartherapeuten vertreten uneingeschränkt diesen Ansatz, der sich in der Maxime »Sicherheit führt letztlich zur Leidenschaft« zusammenfassen lässt. Leider entsprechen auch hier unsere liebgewonnenen Überzeugungen nicht der tatsächlichen Situation. Wir haben in Teil I gesehen, dass Bindung und Wollust mit völlig unterschiedlichen neurobiologischen Systemen verbunden sind. Und nachdem die hormongesteuerte Wollust abgeklungen ist, können Sie Ihr sexuelles Verlangen wahrscheinlich nur lebendig erhalten, indem Sie sich weiterentwickeln und Ihr Selbst stärken.

Sue und Joe

In Sues und Joes Haus wurde tagtäglich über »Sicherheit« geredet. Die beiden waren seit 14 Jahren verheiratet und hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen im Alter von zwölf und zehn Jahren. Sue war immer extrem unsicher gewesen, seit ihre Eltern sich hatten scheiden lassen. Sie war damals neun Jahre alt gewesen. Sues Mutter hatte es nur mit großer Mühe geschafft, ihre Familie zu ernähren, und sie hatte dies Sue und ihrem jüngeren Bruder ständig »unter die Nase gerieben«.

Sue war in einer Atmosphäre der Furcht und Unsicherheit aufgewachsen. Sues Mutter ließ ihre Frustration häufig an ihren Kindern aus, aber gleichzeitig nahm sie auch deren Unterstützung in Anspruch. Manchmal zog sie sich tagelang mit schweren Depressionen in ihr Bett zurück. Oft verlor sie plötzlich die Beherrschung und bekam beängstigende Wutanfälle. Sue fiel dann die Aufgabe zu, sie zu beruhigen, ihre Stimmung zu verbessern und sie wieder in den normalen Alltag zurückzuholen.

Die Mutter hatte Sue und ihren Bruder ausgebeutet. Sie hatte genügend Zeit und Energie, um mit ihren Freundinnen stundenlang zu telefonieren, doch in ihrem Haushalt herrschten ständig chaotische Verhältnisse, weil sie es den Kindern übertragen hatte, im Haus für Ordnung zu sorgen. Sues Bruder hatte den gemeinsamen Haushalt mit dem Eintritt in die Armee verlassen, und nach Ableistung seiner Dienstpflicht war er nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Sue hatte in der Zeit, in der sie ein College in der Nähe besucht hatte, zu Hause gelebt, um sich weiter um ihre Mutter kümmern zu können. In der High-school hatte sie ein paar Männer kennengelernt, aber keine ernsthafte Beziehung gehabt, und in ihrer Collegezeit waren einige relativ kurze Beziehungen gefolgt.

Als Sue Joe heiratete, lebte sie noch zu Hause. Sie war zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre und Joe 26 Jahre alt. Kennengelernt hatten sie einander durch einen gemeinsamen Freund, und nach einjähriger Bekanntschaft hatten sie geheiratet. Für Sues Mutter war der Auszug ihrer Tochter eine schwierige Umstellung gewesen, obwohl Sue und Joe weiter in der gleichen Stadt lebten. Sue besuchte ihre Mutter regelmäßig und telefonierte mehrmals in der Woche mit ihr.

Als das Paar heiratete, war sich Joe über Sues schwierige Kindheit durchaus im Klaren, und er hatte bereits gelernt, mäßigend auf ihre Unsicherheit einzuwirken. Zwei vorherige Liebesbeziehungen von Sue waren daran gescheitert, dass die Männer irgendwann nicht mehr bereit waren, ihre Ängste und Befürchtungen zu ertragen. Aufgrund des Prozesses der einschränkenden Auswahl hatte Sue dann letztendlich doch einen Mann gefunden, der bereit war, diese Bürde auf sich zu nehmen.

Joe selbst versuchte, mit einem persönlichen Problem fertigzuwerden: Seine erste Frau hatte ihm vorgeworfen, er habe kein Rückgrat. Nach seiner gescheiterten Ehe war Joe grundsätzlich bereit, alles hinzunehmen, was Sue wollte. Er bemühte sich, es ihr in jeder Hinsicht recht zu machen, und er war formbar wie Kitt. Wäre Ihre Kindheit wie die Joes gewesen, würden Sie sich vielleicht ebenso verhalten.

Joes Eltern hatten sich ständig gestritten. Als Kind hatte er sich gefragt, weshalb sie sich nicht scheiden ließen. Dies hatten sie dann getan, als er zehn Jahre alt gewesen war. Doch offenbar ging es ihnen nach ihrer Trennung ebenso schlecht wie in der Ehe, weshalb sie einander 18 Monate später erneut heirateten. Joe hatte nicht gewusst, was er davon halten sollte. Er war deswegen gleichzeitig glücklich, peinlich berührt, wütend und verwirrt. Nach kurzer Zeit begannen die Streitereien erneut, und Joe glaubte, er würde den Verstand verlieren. Nach zwei Jahren ließen seine Eltern sich zum zweiten Mal scheiden. Joe war nun 14 Jahre alt. Er lebte danach bis zum Beginn seiner Collegezeit bei seiner Mutter. Seither hatte er mit seinen Eltern kaum noch Kontakt gehabt.

Sue sah ihre Rolle in Joes Leben als die einer Haushälterin. Ihre Mutter forderte immer noch viel Zeit und Aufmerksamkeit von ihr. Doch Sue war wegen ihrer Kindheitserlebnisse ziemlich wütend auf sie. Dass sie in ihrer eigenen Beziehung ähnliche Dynamiken wie diejenigen, die sie in ihrer Ursprungsfamilie erlebt hatte, wiederholen könnte, kam ihr nie in den Sinn. Die Menschen in ihrer Umgebung mussten ihr gefällig sein, um sie zu beruhigen. In Sues und Jims gemeinsamer Beziehung ging es großenteils um Sues Ängste. Sue hasste den Gedanken, sie könne in irgendeiner Hinsicht ihrer Mutter ähneln, doch tatsächlich war dies so deutlich der Fall, dass sie damit nicht fertigwurde. Jeder entsprechende Hinweis Joes löste bei ihr einen starken Wutanfall aus.

Sues Ängste und Unsicherheiten schränkten ihr Leben und das Leben der Menschen in ihrer Umgebung stark ein. Als ihre Kinder noch jünger gewesen waren, hatten sie ihre Freunde nicht zum Spielen besuchen dürfen, weil Sue fürchtete, ihnen könne dort etwas zustoßen. In den Urlaub fuhr die Familie grundsätzlich mit dem Auto, weil Sue Angst hatte zu fliegen. Diese Reisen waren oft nicht besonders erfreulich, weil Sue sich ständig über Joes Fahrweise beschwerte und weil sie ihre Kinder anschrie, sie sollten aufhören, sich zu zanken.

Sues Unsicherheit war auch im Bett absolut bestimmend. Zwischen Joe und Sue kam es ungefähr einmal im Monat zum Sex, und beide erklärten übereinstimmend, ihr Sex sei gut, wenn er stattfinde. Joe hätte lieber einmal pro Woche Sex gehabt, und Sue hätte lieber bis zum nächsten Mal einige Monate abgewartet. Im Laufe der Zeit hatte Joe gelernt, sexuelle Annäherungsversuche zu unterlassen, weil sie Sue das Gefühl vermittelten, eine schlechte und unzulängliche Ehefrau zu sein. Sue hatte dazu gesagt, Joes Initiative erschwere es ihr, selbst »in Stimmung« zu kommen.

Sex fand zwischen ihnen stets in der Missionarsposition und bei völliger Dunkelheit statt. Joe langweilte sich sexuell zu Tode. Er war es müde, Sue immer wieder zum Sex »herumkriegen« zu müssen. Der Versuch, sie zu animieren, einmal etwas Neues auszuprobieren, lohnte die ganze dazu erforderliche Mühe des Schmeichelns, Versprechens und Bestätigens nicht. Doch er konnte die Sache auch nicht einfach auf sich beruhen lassen, denn er wollte einerseits keine außerehelichen Affären beginnen und andererseits nicht sein gesamtes weiteres Leben lang auf Sex verzichten. Sue war der Ansicht, dass sie legitime Empfindungen und Sorgen zum Ausdruck brachte, die ein guter Ehemann verstehen würde, sofern er nicht nur daran interessiert war, selbst einen Orgasmus zu bekommen.

Sues und Joes Dynamiken gelangten beispielsweise in den wenigen Situationen zum Ausdruck, in denen es zwischen ihnen zum Vaginalverkehr a tergo kam. Auf diese Möglichkeit war Joe zu sprechen gekommen, als sie einmal wieder im Dunkeln in der Missionarsstellung verkehrten. Sue tat zunächst so, als hätte er nichts gesagt, in der Hoffnung, Joe werde nicht wieder darauf zurückkommen. Als er jedoch auf seinem Vorschlag beharrte, erklärte Sue sich widerwillig damit einverstanden. Doch bevor sie sich in diese Position begab, sagte sie, dies sei ihr peinlich, und sie fühle sich dabei sehr unsicher. Joe sollte ihr versichern, dass er an sie denken werde, statt sich in Phantasien über irgendeine andere Frau zu ergehen. Außerdem erklärte Sue, sie empfinde es als entwürdigend, sich hinzuknien, und sie frage sich, ob Joe insgeheim genau dies wolle. Sie wies ihn ausdrücklich darauf hin, dass sie dies nur für Joe zu tun bereit sei und dass er ihr dafür, dass sie ihm in dieser Hinsicht entgegenkomme, etwas schulde.

15 Minuten später hatten sie immer noch nicht begonnen. Mittlerweile hatte Joe nicht nur seine Erektion, sondern auch seine Geduld verloren. Sue warf ihm vor, er sei nicht an ihren Gefühlen interessiert und wolle nur Sex. Ihre eigenen Unzulänglichkeitsgefühle überspielte sie, indem sie darauf verwies, dass er seine Erektion verloren habe und am sexuellen Verkehr von hinten folglich wohl sowieso nicht besonders interessiert sei. Vielleicht, so Sues Vermutung, habe er ja selbst irgendwelche Probleme mit dieser Art von »Hundesex«.

Sue fühlte sich berechtigt, über ihre Ängste und ihre Unsicherheit zu reden, wann und wo immer sie wollte. Sie forderte von Joe, ihre Gefühle stets an die erste Stelle zu setzen und sie zu »unterstützen«. Wie ich bereits gesagt habe, neigen Menschen, die ihre Angst nicht regulieren können, dazu, die Menschen in ihrer Umgebung massiv unter Druck zu setzen. Dies hatte Sues Mutter jahrzehntelang mit ihrer Tochter gemacht.

Wie viele Menschen fühlte sich auch Sue berechtigt, Sicherheit und eine Reduzierung ihrer Ängste zu fordern, bevor sie sich bereit erklärte, ein Risiko einzugehen. Sie sagte immer wieder zu Joe: »Du musst mir ein Gefühl von Sicherheit geben, denn nur dann fühle ich mich in der Lage, mit dir Sex zu haben oder dich zu wollen.« Dies war mehr als nur ein Ausdruck ihres Narzissmus. Menschen wie Sue, die mit chronischer Angst aufwachsen, hoffen und beten darum, dass sie in einer guten Ehe schließlich keine Angst, Unsicherheit oder Verletzlichkeit mehr empfinden werden.

Das Paradox, das darin besteht, die Sicherheit vom Partner zu bekommen

Der Versuch, die eigene Sicherheit vom Partner zu beziehen, perpetuiert die Unsicherheit. Je intensiver Sie sich darum bemühen, umso verletzlicher und unsicherer werden Sie. Das damit verbundene Festhalten und Umklammern des Partners treibt diesen zur Flucht, und die dadurch eingeleitete negative Entwicklung zerstört viele Ehen. Die einzige Sicherheit, auf die Sie wirklich zählen können, ist Ihre Beziehung zu sich selbst. Echte Sicherheit gibt Ihnen nur die Weiterentwicklung der Vier Aspekte der Balance.

Sicherheit und Geborgenheit in der Ehe

Im Rahmen unserer ersten Auseinandersetzung mit der Koevolution haben Sie sich vielleicht vorgestellt, dass Partner einander nähren, akzeptieren und »beeltern«. Doch wie wir gesehen haben, sind Menschen, bei denen die Vier Aspekte nur schwach entwickelt sind, kaum in der Lage, andere zu nähren oder zu akzeptieren. Koevolution findet auf andere Weise statt.

Partner »helfen« einander eher auf viele andere Arten zu wachsen, als indem sie einander bewusst in ihren Entwicklungsprozessen unterstützen. Ihre Mängel und Ihre Weigerung zu wachsen, Ihr gespiegeltes Selbstempfinden und Ihre Probleme mit der Regulierung von Angst spornen Ihren Partner ständig dazu an, sich weiterzuentwickeln. Indem er sich bemüht, Sie zu akzeptieren und mit Ihnen zurechtzukommen, wirkt er ständig auf seine Toleranzschwelle ein. Irgendwann jedoch erreicht er seine Grenzen, und wenn er sich dann weigert, Ihnen noch weiter entgegenzukommen, beeinflusst dies sowohl Ihre als auch seine Toleranzschwelle positiv. Er wird dazu gezwungen, ein »Selbst« zu definieren und eine Position zu vertreten, und Sie dazu, sich weiterzuentwickeln, weil Sie mit seiner Weigerung fertigwerden müssen, Ihnen entgegenzukommen oder Sie zu bestätigen. Die Ehe mobilisiert die besten Kräfte in Ihnen, sie rechnet aber nicht zwingend damit, dass Sie Ihre besten Ressourcen zur Grundlage Ihres Handelns machen werden.

Konflikt und Instabilität sind nicht das Gleiche

Streitigkeiten, Konfrontationen und Weigerungen, Kompromisse einzugehen, ergeben sich oft aus dem positiven Prozess der Differenzierung. Indem Sie in einer intensiven emotionalen Beziehung an sich selbst festhalten, entwickeln Sie Ihre Vier Aspekte, was die Entstehung einer stabilen langfristigen Liebesbeziehung ermöglicht, in der Ihr sexuelles Verlangen erhalten bleibt.

Konflikte an und für sich erzeugen nicht automatisch Instabilität, und sie sind auch nicht zwangsläufig ein Anzeichen für Entwicklung. Paare, die häufig starke Konflikte haben, erhalten stabile Formen von Instabilität aufrecht, die Veränderungen verhindern. Ständiges Bemühen um Sicherheit und Geborgenheit führt zu langfristiger ehelicher Instabilität. Ist die Instabilität jedoch die Folge von Streitigkeiten, bei denen es um Selbstentwicklung geht, können Konflikte und Turbulenzen zu Stabilität und Frieden führen. Konflikte aufgrund von Problemen bezüglich des sexuellen Verlangens sind oft ein Geschenk des Himmels, sofern es Ihnen um emotionale Ausgeglichenheit geht.

Warum Bindung eine Ehe nicht verbessert und den Sex tötet

Angst treibt Menschen in Bindungen. Dies ist bei Säugetieren die wichtigste Reaktion auf Angst. Die Unfähigkeit, die eigenen Ängste zu regulieren und das Selbstwertgefühl zu erhalten, treibt Menschen in Beziehungen hinein und auch wieder aus ihnen heraus. Das ist deshalb so, weil die Mechanismen der Angstregulation, die Menschen in eine Bindung treiben, eine permanent stabile Situation und das Eingehen auf die Unsicherheit des Partners erfordern. Beziehungen werden regelmäßig fade und brüchig und stagnieren emotional. Dies ist einer der Gründe, aus denen Partner starke Intimität nicht ertragen (Kapitel 5) oder in sexueller Hinsicht Neues erkunden (Kapitel 7).

Emotional unausgeglichene Menschen freuen sich, wenn in einer Therapie ihre Bindungsbedürfnisse im Vordergrund stehen, weil dann ihrer Unsicherheit die Priorität vor Selbsterforschung und Selbstentwicklung zugestanden wird. Die sichere Bindung steht dann an erster Stelle. Tatsächlich ist diese Rangordnung bei kleinen Kindern angebracht, nicht jedoch bei Erwachsenen. Häufig ist in Wahrheit genau das Umgekehrte der Fall: Selbsterforschung und Selbstentwicklung bilden die Grundlage für stabile Bindungen. Den Vier Aspekten der Balance liegt die Maxime zugrunde: »Halte vor allem an dir selbst fest!«

Paare müssen gewöhnlich ihre innere Balance verbessern, nicht ihre Bindung, um mit Ängsten fertigzuwerden und produktiv zur Selbstkonfrontation und Entscheidungsfindung überzugehen. Je besser Sie einander beim Treffen lebenswichtiger Entscheidungen unterstützen, umso wahrscheinlicher entscheiden Sie falsch und sind Ihre Interaktionen Ihren Zielen nicht förderlich.

Bindung hat etwas mit Sicherheit zu tun. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass Bindung mit Nicht-Wollen assoziiert ist, damit, sich nicht verletzt zu fühlen und nicht zu hungern. Dieser Sichtweise liegt das Ideal zugrunde, gesättigt zu sein, so wie ein Säugling sich an der Mutterbrust satt trinkt. Einige Menschen wollen nicht wollen, weil sie nur zu gut wissen, dass dies Schmerzen verursacht. Sich dem Erwachsenenalter aus der Perspektive ihrer Kindheit zu nähern, spricht sie (wenn auch nicht das Beste in ihnen) deshalb an, weil es ihnen ermöglicht, das Nicht-Wollen des Wollens zu rationalisieren. Dieser Verständnisrahmen erschwert ihnen die Weiterentwicklung.

Obgleich es nicht völlig ungefährlich ist zu wollen, solange man das eigene Herz nicht beruhigen kann, tun Paare dies ständig. Dies ist gleichzeitig der Triumph des menschlichen Geistes, der Vier Aspekte der Balance in Aktion und der Koevolution.

»Das verzeihe ich dir nie!«

Zwischen Sue und Joe kam es erneut zu einer Folge schwieriger Interaktionen im Bett. Danach erklärte Joe, er bezweifle allmählich, ob seine Ehe mit Sue eine Zukunft habe. Er gestand sexuelle Phantasien über eine Arbeitskollegin ein. Dies bewirkte bei Sue einen gewaltigen emotionalen Zusammenbruch. Zwei Wochen später redete sie immer noch ununterbrochen davon, wie sehr Joe sie verletzt habe. Ihr Glauben an ihre Ehe sei erschüttert. Sie werde sich bei ihm nie mehr sicher fühlen können, und sie werde ihm dies nie vergeben. Man könne Männern einfach nicht vertrauen. Sue machte Joe nach Strich und Faden fertig.

Joe klagte, er sei ein Gefangener von Sues innerer »Sündendatenbank«. Ihre Aufzeichnungen reichten bis in die Zeit zurück, in der sie sich kennengelernt hatten. Täglich kamen neue Eintragungen hinzu, und alte »Verletzungen« wurden nie gelöscht. Mit Hilfe dieser »Datenbank« eroberte Sue bei jedem Streit eine überlegene Position. Lag sie mit ihrer Sicht bezüglich einer aktuellen Situation falsch, kramte sie aus der »Datenbank« irgendein früheres Ereignis hervor und regte sich erneut darüber auf.

Viele Paare können nicht akzeptieren und vergeben

Warum konnten Joe und Sue die Unzulänglichkeiten ihres Partners nicht einfach akzeptieren und einander vergeben, statt die Situation immer weiter eskalieren zu lassen? Das fragten sich die beiden selbst. Sie versuchten es zwar, scheiterten aber kläglich damit. Es war einfach mehr, als sie verkraften konnten. Die Vier Aspekte waren bei ihnen nicht weit genug entwickelt. Man kann nicht vergeben oder akzeptieren,

Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Partner einander zu akzeptieren und zu vergeben versuchen. Probieren Sie es einmal aus; wenn es funktioniert, ist Ihr Problem gelöst. Falls es Ihnen jedoch nicht gelingt oder Sie nicht das erreichen, was Sie zu erreichen hofften, empfehle ich Ihnen, den Ansatz, der in diesem Buch beschrieben wird, einmal ernsthaft zu erproben.

Der Versuch, Paaren mit schlechter innerer Balance Akzeptieren und Vergeben beizubringen, führt zu nichts, weil sie ihre Unfähigkeit zu akzeptieren und zu vergeben als einen zusätzlichen Beleg für ihre Unzulänglichkeit ansehen. Menschen mit schlechter innerer Balance sehnen sich danach, dass ihr Partner ihnen vergibt und sie akzeptiert. Sie glauben an Funktionsübertragung – zumindest solange sie sich auf der Empfängerseite befinden. Wenn Ihr Partner Sie akzeptiert und Ihnen vergibt, verbessert das kurzfristig Ihre Funktionsfähigkeit, doch diese Wirkung hält nicht an, und wenn sie nachlässt, demoralisiert Sie dies letztlich noch stärker.

Wo also kommt »Akzeptieren« ins Spiel? Akzeptieren – und die Fähigkeit dazu – manifestiert sich nach einem Konflikt, nicht davor oder in seinem Verlauf. Einen Konflikt zu akzeptieren ist keine Möglichkeit, ihn zu lösen, sondern diese Haltung stellt sich nach Auflösung des Konflikts ein. Zu akzeptieren beinhaltet, dass der Präfrontalkortex dem limbischen System die Botschaft übermittelt, still zu sein, und dabei spielen die Vier Aspekte eine wichtige Rolle.

Menschen, die sich von einem gespiegelten Selbstempfinden abhängig machen, fällt es schwer, über Dinge hinwegzukommen, weil sie ihre Identität verlieren, sobald sich ihre Gefühle verändern. Sie können nicht akzeptieren und vergeben, weil sie in ihrer Funktionsweise von ihren negativsten Tendenzen bestimmt werden. Allerdings weigert sich manchmal auch das Beste in uns zu akzeptieren und zu vergeben. Diese Weigerung kann ein wichtiges Frühstadium im Prozess der Koevolution von Paaren sein, die im Zustand emotionaler Verschmelzung leben. In der Beziehung zwischen Sue und Joe ging es um mehr als um Sues Ängste.

Ausgewogenheit zwischen Wohlgefühl, Sicherheit und Entwicklung

Man kann sich Beziehungen als aus zwei deutlich unterscheidbaren Modi bestehend vorstellen. Der eine ist der Wohlfühl- und Sicherheitsmodus, in dem Ihre Beziehung Ihnen vertraut bleibt und Sie wenig Angst spüren; der andere ist der Entwicklungsmodus, in dem sich Ihre Beziehung verändert und Ihre Angst stärker ist.1

Alle Lebewesen müssen eine Balance zwischen Stabilität und Entwicklung finden. Dies gilt auch für Menschen und für Beziehungen. Wenn Stabilität und/oder Entwicklung fehlen, fällt alles in sich zusammen.

Im Wohlfühl- und Sicherheitsmodus bleiben Sie bei einer bestimmten, immer gleichen Routine, Ihr gespiegeltes Selbstempfinden wird unterstützt, und Ihre Angst ist gering, weil die Situation generell ruhig ist. Ihr Verhältnis zu Ihrem Partner fühlt sich angenehm und behaglich an, und Sie bestärken einander häufig. Solange Sie sich in diesem Modus befinden, wollen Sie nicht viel. In ihm versuchen Menschen, die nicht wollen wollen, sich zu verbergen. Sie haben kein starkes Verlangen, weil sie alles haben, was sie wollen, und sie wollen nicht wollen, was sie nicht haben. Sie beschränken ihr Leben auf das, was im Rahmen dieses Modus möglich und erreichbar ist.

Im Entwicklungsmodus verhält es sich anders. Diesen empfinden Sie als instabil, weil Sie sich verändern. In ihm wird Ihr Selbst erweitert, so dass es neue Identitätsfacetten, neue Verhaltensweisen und neue Arten zu sein in sich aufnehmen kann. Sie fühlen sich, als wüssten Sie nicht, wer Sie sind. Sie sind nicht sicher, ob Sie das »neue Ich« mögen. Sie wissen auch nicht, wie Sie und Ihr Partner in Zukunft zusammenpassen werden. Vielleicht wünschen Sie sich, von Ihrem Partner bestätigt und beruhigt zu werden, doch er kann Ihnen dies nicht bieten. Er durchlebt selbst Turbulenzen und ringt mit sich, und eventuell ist er vollauf damit beschäftigt, seine eigene labile emotionale Balance aufrechtzuerhalten.

Diese Situation im Entwicklungsmodus war das genaue Gegenteil dessen, was Sue in Beziehungen erlebt hatte. Was sie lernte, könnte man in dem Satz zusammenfassen: »In einem Notfall sollte man die Person unterstützen, die den Bus fährt, denn wenn sie verrückt wird, bekommen wir alle miteinander gewaltige Probleme«. Weil Sue es so bei ihrer Mutter gehalten hatte, erwartete sie von Joe, dass er sich ihr gegenüber so verhielte – im Namen der Liebe.

Den Wohlfühlmodus verlassen

Als Joe und Sue zu mir kamen, war Joe dabei, den Wohlfühlmodus zu verlassen. Er fing an, sich mit seinem unbefriedigenden Sexualleben in seiner Partnerschaft auseinanderzusetzen. Sue spürte, dass sich etwas veränderte, weil Joe sich nicht mehr auf ihre typischen Manöver einließ. Weil sie fürchtete, die Kontrolle über das System zu verlieren, hatte sie sich für eine Paartherapie ausgesprochen.

Sues und Joes Muster ist keineswegs ungewöhnlich. Sue machte sich mit dem Argument für eine Therapie stark, sie wolle ihre ehelichen und sexuellen Probleme lösen. In Wahrheit wollte sie Joe bewegen, in den Wohlfühlmodus zurückzukehren. Sie wollte über ihre Ängste reden, sich die Hilfe des Therapeuten sichern, um Joe zu veranlassen, sich ihr gegenüber wieder empathischer zu verhalten, und um ihm Zusagen abzuringen, damit sie sich wieder sicherer fühlen konnte. Sie glaubte, eine Therapie werde ihre gemeinsame Situation wieder »ins Lot bringen«.

Der Wohlfühlmodus verändert sich

Im Laufe der Zeit verändert sich der Wohlfühlmodus, und er brütet Unzufriedenheit aus. Wenn wir ständig versuchen, eine Situation so zu erhalten, wie sie »immer war«, und wenn wir alles meiden, was uns nervös macht, führt das mit Sicherheit zu tödlich langweiligem Sex, oberflächlicher Intimität und einer starren, sterilen Beziehung. Aufgrund Ihrer Abhängigkeit bemühen Sie sich verzweifelt, Ihre Ehe so zu erhalten, wie sie ist, wobei Sie Ihren überwältigenden Drang, ihr zu entfliehen, verbergen.

Auf diese Weise wird der Wohlfühl- und Sicherheitsmodus allmählich zu einem Vermeidungsmodus. Ihre Unzufriedenheit nimmt zu, obwohl Sie sie vor Ihrem Partner verbergen. Ihre Identität geht verloren, weil Sie sich immer wieder verkaufen, um sich anzupassen und den Frieden zu erhalten. Ihr Bemühen, das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu erleben, treibt Sie schließlich in den Entwicklungsmodus, denn der Wohlfühlmodus wird allmählich unbehaglich.

In Beziehungen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Stabilität und Entwicklung zu erreichen ähnelt dem Bemühen, die Bedürfnisse nach Autonomie und Bindung in Einklang zu bringen. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Keine Ehe kann für immer und ewig im Wohlfühl- und Sicherheitsmodus verbleiben (und gleichzeitig Sex und Intimität lebendig erhalten). Und ebenso wenig können Partner oder ein Einzelner ständig im Entwicklungsmodus verharren. Sie brauchen Zeit, um Ihre Errungenschaften zu sichern, Wäsche zu waschen, den Kühlschrank aufzufüllen und sich mit einem vertrauten Partner, der für Sie in mancher Hinsicht zu einem unbekannten Fremden geworden ist, zu entspannen. Die Frage ist: Wie und wo erreichen Sie die Balance?

Die Antwort hängt vom Zustand der Vier Aspekte bei Ihnen ab. Je stärker sie sind, umso eher sind Sie bereit, sich in den Entwicklungsmodus zu begeben, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Doch je stärker Sie sich auf ein gespiegeltes Selbstempfinden verlassen und je weniger Sie in der Lage sind, Ihre Angst zu regulieren, umso hartnäckiger halten Sie am Wohlfühlmodus fest und umso beängstigender erscheint Ihnen der Entwicklungsmodus. Je schwächer die Vier Aspekte bei Ihnen sind, umso notwendiger und schwieriger ist es für Sie, in den Entwicklungsmodus einzutreten. Und genau das soll Ihre Beziehung Ihnen ermöglichen. Denken Sie stets daran, dass Ihre Ehe anders funktioniert, je nachdem, welchen Entwicklungsstand die Vier Aspekte bei Ihnen erreicht haben.

Koevolution: Der Wechsel von Wohlgefühl und Sicherheit zur Entwicklung

Der Wechsel vom Wohlfühl- zum Entwicklungsmodus in einer Beziehung ist eine weitere Form von Koevolution. Wenn Paare mit guter innerer Balance in den Entwicklungsmodus eintreten, beruhigen sie einander. (Allerdings ist die Fähigkeit zur Selbstberuhigung das »Fleisch« dieses Prozesses und die Fähigkeit, den Partner zu beruhigen, die »Soße«.) Ein Paar mit guter Balance besteht aus zwei Menschen mit guter Balance. Partner mit schlechter Balance können einander beim Eintritt in den Entwicklungsmodus nicht beruhigen.

Ein Wendepunkt tritt ein, wenn Sie aufhören, Ihren Ängsten und Unsicherheiten (und denen Ihres Partners) nachzugeben, und wenn Sie stattdessen tun, was Ihre positivsten Bestrebungen Ihnen nahelegen. Um dies zu können, müssen Sie lernen, sich selbst zu bestätigen und zu beruhigen. Dieser Wendepunkt ist für Ihre persönliche Entwicklung sehr wichtig, weil er Sie dazu anregt, weitere ähnliche Schritte zu tun. Es handelt sich um einen Prozess, der seit den Anfängen der Menschheit im Gange und ein wesentliches Element des Entwicklungspotentials im Rahmen einer Paarbeziehung ist.

Der Wohlfühl- und der Entwicklungsmodus und die Vier Aspekte der Balance

Wenn Menschen nicht in den Entwicklungsmodus eintreten, ist die Folge häufig die Auflösung ihrer Beziehung. Die Stärke der Vier Aspekte der Balance entscheidet darüber, wie lange Sie verhindern können, dass der Wohlfühlmodus irgendwann wie ein Schwarzes Loch implodiert. Die meisten Menschen schaffen dies vier bis sieben Jahre lang. In dieser Zeitspanne folgen in ihrem Gehirn die Phasen der Wollust, Verknalltheit und Bindung einander, und allmählich bauen sich emotionale Patts, Entscheidungsdilemmata und Funktionsübertragung auf.

Wenn Partner ihre Möglichkeiten nicht nutzen und im Rahmen dessen leben, was nach Abzug ihrer beiderseitigen Einschränkungen übrig bleibt, können sie jahrzehntelang auf dieser Grundlage weiterleben. Sexuelles Verlangen und Intimität (und ihre Kinder) sind dann Opfer ihrer Kollusion (ihres insgeheimen Einvernehmens). Zu Seitensprüngen kommt es bei überlangem Verweilen im Wohlfühlmodus sehr oft. Häufig haben Sie dann die Wahl, entweder erwachsen zu werden (wozu Sie in den Entwicklungsmodus überwechseln müssen) oder sich scheiden zu lassen. Die 50-prozentige Scheidungsrate unserer Zeit dokumentiert, wie diese Entscheidung bei erstaunlich vielen Paaren ausfällt.

Erpressungen und Ultimaten

Sue war an gemeinsamer Weiterentwicklung nicht interessiert. Sie wollte es sich weiter gutgehen lassen, auch wenn sie dazu »Randale« machen musste. Sie stellte sich von Beginn der Therapie an als Opfer dar, obwohl tatsächlich sie es war, die angriff. »Wenn ich Joe nicht gebe, was er will, verlässt er mich. Das ist Erpressung. Und es ist nicht fair. Ich lasse mich nicht erpressen!«

Ich nahm meine Aufgabe wahr, Sue aus ihrer überlegenen Position zu befördern. »Wenn er Sie verlässt, weil ihm die Vereinbarung nicht gefällt, ist das noch keine Erpressung, sondern er hat nur seine Rechte wahrgenommen. Sie sind eher die Erpresserin als er.«

Das brachte Sue völlig in Rage, und sie weigerte sich, weiter mit mir zu kommunizieren. Sie wendete sich Joe zu: »Stellst du mir ein Ultimatum?«

Joe antwortete nicht.

Ich sagte: »Meiner Meinung nach stellen Sie Joe in diesem Moment ein Ultimatum.«

»Und was für ein Ultimatum soll das sein?«

»Sie sagen zu ihm: Ich fordere von dir in diesem Augenblick eine Antwort. Wenn du mir nicht antwortest, wirst du mir das fürchterlich büßen.«

Sue beruhigte sich.

»Ich glaube, Sie haben ihm einige schwierige Fragen gestellt, haben aber den Eindruck erweckt, es sei einfach, sie zu beantworten. Sie haben ihn gefragt: ›Tust du hier etwas Ernsthaftes?‹ Und: ›Baust du gerade eine Grenze zwischen dir und mir auf?‹ Und außerdem: ›Wirst du klein beigeben oder nicht? Wagst du es, meinen Zorn herauszufordern?‹ Und zu allem Überfluss verlangen Sie von ihm auch noch, dass er diese Fragen mit einem simplen Ja oder Nein beantworten soll.«

Sue lachte. »Wie schaffen Sie es, aus dem, was ich gesagt habe, so viele Bedeutungen herauszuhören?«

Ich lachte. »Wie können Sie in das, was Sie gesagt haben, so viele Bedeutungen hineinlegen? Sie sind eine exzellente Kommunikatorin.«

Sues Ruppigkeit löste sich in Luft auf. Joe beobachtete sie sehr genau, weil dieses Verhalten ungewöhnlich für sie war. Sue deutete durch Gesten an, dass es ihr nicht behagte, auf diese Weise von ihm beobachtet zu werden. Dann wendete Joe sich an mich und sagte: »Was sollten wir bezüglich Erpressung und Ultimaten tun?«

»Stellen Sie Ihrer Partnerin keine Ultimaten. Und lassen Sie sich von ihr nicht einreden, Sie würden ihr ein Ultimatum stellen.«

Wenn nur ein Partner sich weiterentwickeln will

Wenn es Sinn und Zweck der Ehe sein sollte, Ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, hat sich offenbar niemand die Mühe gemacht, Mutter Natur darüber in Kenntnis zu setzen. Wieso hat sich die Ehe nicht so entwickelt, dass sie den Ängsten der Partner vor dem Verlassenwerden gerecht wird? Eine Ehe überträgt die Kontrolle auf die Person, die wachsen will. Beziehungen bleiben nur aufgrund von Konsens im Bereich des Wohlfühlmodus. Ein Partner reicht, um sie in den Entwicklungsmodus zu treiben. Nicht die Bindung ist in Ehen und Familien von zentraler Bedeutung, sondern die Differenzierung. Deshalb haben wir uns in unseren komplexen Liebesbeziehungen so entwickelt, wie wir uns entwickelt haben, und nicht anders.

Eine Ehe (und eine Therapie) stagniert, wenn nur einer der beiden Partner bereit ist, sich weiterzuentwickeln, sofern sich die Arbeit in der Beziehung darauf konzentriert, denjenigen zu mobilisieren, der sich nicht verändern will. Der Partner, der bereit ist, sich zu verändern, fühlt sich verpflichtet, den anderen Partner dazu zu bringen, den Weg, den er selbst eingeschlagen hat, ebenfalls zu gehen. Er handelt, als würde die Veränderung der Beziehung die Erlaubnis des anderen oder einen Konsens mit ihm erfordern.

Das Gleiche haben wir bereits im Kapitel über Intimität gesehen: Der Partner mit dem schwächeren Verlangen (nach Intimität) kontrolliert in jedem Fall die Stärke der fremdbestätigten Intimität, weshalb der Partner mit dem stärkeren Verlangen (nach Intimität) versucht, Ersteren zu nötigen. Doch wenn der verlangensstärkere Partner sich treu bleibt und zu selbstbestätigter Intimität wechselt, überträgt das System der Person, die sich verändern will, die Kontrolle.

Joe glaubte, er müsste Sue in den Entwicklungsmodus befördern. Doch als er sich schließlich von Sue löste und sich auf die Konfrontation mit sich selbst und die Selbstkontrolle konzentrierte, standen seine Bemühungen plötzlich mit dem Wesen von Beziehungen und dem Verhalten von Menschen im Einklang. Danach hatte Joe eine bessere Kontrolle über sich und in seiner Ehe mehr Verhandlungsspielraum.

Wenn ein Partner in einer Beziehung, in der ein Zustand emotionaler Verschmelzung besteht, bei sich selbst bleibt, fühlt sich der andere Partner kontrolliert. Dass Joe die Kontrolle über sich gewann, wirkte sich unmittelbar auf Sue aus. Er veränderte nicht nur die Beziehung zu ihr, sondern stellte außerdem Sues Realitätsvorstellung in Frage. Und wenn der eine Partner anfängt, ein stabiles und flexibles Selbst zu entwickeln, verliert der andere Möglichkeiten, die ihm vorher offenstanden. Beide haben genau vier Alternativen: den Partner zu dominieren, sich dem Partner zu unterwerfen, sich vom Partner (durch Trennung oder Scheidung) zurückzuziehen oder sich zu entwickeln.

Wenn Ihnen klar wird, dass es in Ihrer Situation keinen Ausweg gibt, befinden Sie sich in der von mir so genannten Feuerprobe. Die einzige Lösungsmöglichkeit besteht in solchen Fällen darin, durch die Situation hindurchzugehen. Manche Probleme sind nicht dazu gedacht, gelöst und dann vergessen zu werden. Lösungen zu einigen Problemen finden wir erst, nachdem wir sie durchlitten haben, weil die Lösung in diesen Fällen unsere Entwicklung ist. Insofern ist die Ehe (und das Ehebett) die Wiege der Entwicklung zum Erwachsenen.

»Wie konntest du!«

Kurz darauf kam es zwischen Joe und Sue zu einer Interaktion, die zu einer wichtigen Zuspitzung führte. Sue sagte, ihr sei nach Sex, doch nachdem beide damit begonnen hatten, entwickelte sich die Situation rasch zum Negativen. Sue rezitierte eine Litanei ihrer Unsicherheiten. Aber Joe gab diesmal nicht klein bei, um Sue zu beruhigen. Darüber war sie schockiert und versuchte, ihn zum Einlenken zu bewegen. Doch diesem Bemühen entzog er sich.

In den folgenden Tagen verfiel Sue in eine agitierte Depression. Sie irrte im Haus umher, sprach über Verlassenwerden und zog über Joe her. Sie verglich ihn mit ihrem Vater, und sie wusste, dass ihm dies nicht gefallen würde. Sue klagte, sowohl Joe als auch ihr Vater hätte sie verlassen.

Vielleicht wäre es nicht zu dieser entscheidenden Zuspitzung gekommen, wenn Sue an diesem Punkt von weiteren Angriffen abgesehen hätte. Doch Joe gelang es erstaunlich gut, bei sich zu bleiben. Er reagierte auf sie anders, als er es bisher getan hatte, und diese Art von Reaktion hätte sie gebraucht, um sich selbst beruhigen zu können. Deshalb entschloss sie sich, einen letzten Schuss auf Joe abzufeuern und ihn damit möglichst zu »erledigen«. Sie sagte: »Ich gebe diese Ehe auf. Ich lasse mich scheiden!«

Sue hatte so etwas noch nie gesagt. Es war eine Verzweiflungstat, durch die sie Joe einschüchtern und zum Einlenken bringen wollte, so dass er sie schließlich wie gewohnt beschwichtigen würde. Doch weder sie noch Joe hatte vorausgesehen, dass sie damit eine Grenze überschritten hatte, über deren Existenz Joe sich gar nicht im Klaren gewesen war. Joe wurde still.

Er wartete ein wenig, bevor er mit ernster Stimme sagte: »Sag’ so etwas nie mehr zu mir, wenn du nicht sowieso schon auf dem Weg aus dem Haus bist!«

Nun endlich hatten sie die »kritische Masse« erreicht.

Die kritische Masse: Der Punkt, an dem es zu einer fundamentalen Veränderung kommt

Was ist erforderlich, um Ihre Beziehung grundlegend zu verändern? Wie erreichen Sie dieses Ziel am besten? Wachstum findet in der Regel außerhalb der »Wohlfühlzone« statt: Ein emotionales Patt muss eine hohe Intensität erreichen, bevor ein Mensch etwas Produktives tut. Dieser Punkt wird kritische Masse genannt.

Die kritische Masse ist das Maß an Angst und Druck, das erforderlich ist, um grundlegende Veränderungen herbeizuführen. Die kritische Masse macht sich als »unbehagliche Ruhe« bemerkbar, nicht als emotionales Aufbrausen. Explosive Kontroversen enden an diesem Punkt. Drohungen, Gebrüll oder Geschrei und Ultimaten gibt es nicht mehr.

Zunächst ist es schwer, dies zu verstehen, weil viele Menschen annehmen, das Erreichen der kritischen Masse sei mit dem schlimmsten Streit verbunden, den sie jemals erlebt hätten. Die kritische Masse beinhaltet aber nicht den schlimmsten, sondern den wichtigsten Streit, den Sie jemals hatten. Sie bedeutet nicht, dass Partner einander durch brutale »Wahrhaftigkeit« und das damit einhergehende Blutvergießen fertigmachen. Sie beinhaltet auch nicht, dass Sie und Ihr Partner einander so schwer verletzen, dass Sie danach beschließen, einander zu küssen, Ihre Wunden zu pflegen und sich nie wieder zu einem solchen Verhalten hinreißen zu lassen.

Gebrüll, Anschuldigungen und Drohungen enden, wenn Sie die kritische Masse erreichen, weil Sie dann merken, dass Sie an der Schwelle zu einer grundsätzlichen Veränderung stehen. Ihr Selbsterhaltungstrieb sagt Ihnen, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist, um etwas Dummes zu tun, das sich auf den weiteren Verlauf Ihres Lebens negativ auswirken wird – etwa Ihren Partner zu verspotten oder herauszufordern.

Bei allem, was lebt (Menschen, Paare, Familien, Organisationen und Ökosysteme), gibt es einen bestimmten Punkt, bei dessen Erreichen es zwangsläufig zu einer Veränderung kommt. Selbst wenn der Druck, sich zu verändern, zunimmt, kommt es vor Erreichen dieses Punktes nicht zu einer fundamentalen Veränderung. Schließlich fungiert ein Auslöserereignis als Katalysator, ähnlich dem sprichwörtlichen Strohhalm, der dem Kamel das Rückgrat bricht. Im Anschluss daran tritt innerhalb kurzer Zeit eine grundlegende Veränderung ein.

In Ihrem Leben können viele Dinge Sie dazu anspornen, sich selbst oder Ihre Beziehung zu verändern, ohne dass Sie diese Impulse umsetzen. Spitzt sich die Situation jedoch so zu, dass Sie die Probleme nicht mehr ignorieren können, führt plötzlich all dies zusammen zu einem fundamentalen Wandel. Manche Paare erreichen die kritische Masse, wenn ein Partner dem anderen eine Affäre gesteht – was in anderen Fällen nicht zum gleichen Resultat führen muss. Bei anderen bewirkt eine schwere Krankheit oder der Tod eines Kindes, eines Elternteils oder eines Freundes das Gleiche.

Sue und Joe erreichten diesen Punkt, als Sue drohte, die Ehe zu beenden. Joe war über diese Drohung insbesondere deshalb empört, weil ihm klar war, dass sie es damit gar nicht ernst meinte. Wie konnte sie zu solch einem Mittel greifen, um ihn zum Einlenken zu bewegen? Joe erinnerte sich in dieser Situation daran, wie seine Eltern ähnliche Äußerungen »strategisch« genutzt hatten.

Sind die Vier Aspekte der Balance schwach, entsteht eine starke kritische Masse

Ihr emotionales Gleichgewicht entscheidet darüber, wie viel Angst und Druck erforderlich sind, damit Sie die kritische Masse erreichen. Je schwächer die Vier Aspekte bei Ihnen sind, umso mehr Angst und Druck sind erforderlich, um Sie zu mobilisieren. Stark differenzierte Paare können die kritische Masse durch ernüchternde Gespräche über schwierige Themen erreichen; wenig differenzierte Paare benötigen dazu eine »Atombombe«.

Bei sehr schwach differenzierten Paaren ist das Zeitfenster, innerhalb dessen sie ihre Probleme lösen, sehr klein: Sie regen sich erst im letzten Augenblick, wenn Druck und Angst ungeheuer stark geworden sind und sie nicht mehr geradeaus denken und sich von automatischen Reaktionen nicht mehr abhalten können. Leider wurden die in diesem Bereich geltenden Gesetze im Laufe von Jahrmillionen menschlicher Entwicklung festgelegt. Je schwächer die Vier Aspekte bei Ihnen sind, umso höher muss die Belastung sein, die zum Erreichen der kritischen Masse führt.

Dieser Tatbestand wurde bereits in Zusammenhang mit dem Hinweis erwähnt, dass die Integrität umso geringer ist, je schwächer die Vier Aspekte sind. Doch wenn sich Ihre Integrität meldet, weil Sie Ihren eigenen Unsinn nicht mehr ertragen können, kommt Ihre Situation in Bewegung. Bei vielen Paaren reicht es aus, wenn die Integrität eines Partners rebelliert. Sie erreichen dann plötzlich die kritische Masse, weil die Toleranzschwelle bereits überschritten ist.

Man kann nicht »schummeln«, wenn man klären will, ob man diesen Punkt schon erreicht hat, denn das Radar des Partners ist in Alarmbereitschaft. Eventuelle Inkonsistenzen zeigen ihm, dass Sie ihm nur etwas vorspiegeln. Durch Brüllen von »Mir reicht’s jetzt!« und Ähnlichem erreicht man deshalb nicht die kritische Masse. Worte führen nicht zuverlässig zu diesem Punkt (nicht einmal »Ich habe eine Affäre gehabt«). Ihr Partner muss Ihren Geist spiegeln und selbst erkennen, ob es Ihnen ernst damit ist, dass Sie den Status quo nicht mehr akzeptieren.

Warum Paartherapien erfolglos verlaufen können

Sue und Joe hatten in einer früheren Therapie nicht viel erreicht. Ihr damaliger Therapeut hatte sie ermahnt, Kompromisse einzugehen und über strittige Punkte zu verhandeln, zu akzeptieren und zu vergeben und um des Bestandes der Beziehung willen nachzugeben. Beide bemühten sich in diesem Sinne und verhielten sich so, wie sie glaubten, dass Paare es tun müssten. Joe bemühte sich, verständnisvoll und mitfühlend zu sein, und Sue versuchte ein paarmal, Joe zum Sex zu animieren. Doch wenn es dann tatsächlich losging, war alles wieder wie vorher.

Diese Bemühungen hatten den beiden nie dazu verholfen, einen Point of no Return zu erreichen. Stattdessen hatte jener erste Therapeut sich in seiner Arbeit darauf konzentriert, Sues Sicherheitsgefühl Joe gegenüber zu stärken, weil er glaubte, dies werde bewirken, dass sie Verlangen und Leidenschaft empfände. Joe hörte ihr zu und wartete, bis Sue nach Sex war – oder, genauer gesagt, bis Sue signalisierte, sie wolle, dass Joe Sex initiiere. Leider erreichte Sue diesen Punkt nie. Deshalb warf sie Joe vor, er bemühe sich nicht genug, ihr ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Der Therapeut ergriff dann, weil er nicht selbst beschuldigt werden wollte, für Sue Partei. Die Moral dieser Geschichte lautet: Der Entwicklungsstand der Vier Aspekte der Balance bei Ihrem Therapeuten entscheidet über die Obergrenze seiner Fähigkeit, Ihnen zu helfen.

Empfehlungen

Ganz gleich, ob Sie der Partner mit dem stärkeren oder mit dem schwächeren Verlangen sind, Sie finden im Folgenden einige Empfehlungen für die Annäherung an den Punkt der kritischen Masse. Diese wirken sich unterschiedlich aus, je nachdem, in welcher der beiden genannten Rollen Sie sich befinden.

Ein Masterplan für die Ehe

Warum muss die Situation in einer Partnerschaft die kritische Masse erreichen? William Brietbart, ein am Sloan-Kettering Cancer Center tätiger Psychiater und Psychoonkologe, hat gesagt: »Wenn das Leben immer glatt läuft, werden wir nie herausgefordert. Leiden ist wahrscheinlich notwendig, damit wir uns weiterentwickeln. Das Bedürfnis, einen Sinn zu finden, ist eine wichtige Antriebskraft, aber manchmal wird diese erst durch eine Konfrontation mit unserer Sterblichkeit mobilisiert.«2

Menschen, die Krebserkrankungen überlebt haben, gehen daraus oft gestärkt hervor und geben ihrem Leben eine neue Struktur. Sie kehren nicht einfach zu ihrem vorherigen Funktionsniveau zurück, sondern erreichen höhere Ebenen der Funktionsfähigkeit. Ein Wissenschaftler, der selbst eine Krebserkrankung überlebt hat, sagte: »Die Entwicklung nach einem Trauma geht darüber hinaus, einen Zustand der Resilienz zu erreichen. Nach einer Krebserkrankung weiterzuleben bedeutet, eine neue Normalität zu erreichen, die für viele Betroffene besser ist als ihre alte Normalität.« Das Office of Cancer Survivorship im National Cancer Institute führt als Beispiel hierzu an, dass sich Beziehungen verändern und dass sie erweitert werden.3 Nach vorliegenden Untersuchungen lassen Menschen, die von einer Krebserkrankung genesen sind, häufig Anzeichen für eine Stärkung der Vier Aspekte erkennen: Tapferkeit, Neugierde, Fairness, die Fähigkeit zu vergeben, Dankbarkeit, Humor, Güte und ein stärkeres Gefühl für die Bedeutung des Lebens.

Krebspatienten überleben teilweise deshalb, weil sie eine Beharrlichkeit entwickeln, die sie persönlich als sinnvoll empfinden und die sowohl eine Paarbeziehung als auch ein Leben retten kann. Dabei geht es darum, Hoffnung zu entwickeln, obwohl die aktuelle Situation alles andere als günstig aussieht. Sinnvolle Beharrlichkeit ist ein Gefühl für Möglichkeiten, das auf der Bereitschaft basiert, der Realität ins Auge zu sehen, weiterhin darauf, dass man vorhandene Gefahren akzeptiert, und schließlich auf der Bereitschaft, Dinge so gut wie möglich zu lösen. Einer Studie zufolge erhöht Hoffnung die Chance, Krebs zu überleben. Dabei geht es nicht nur um Glauben und Vertrauen. Wenn Sie Hoffnung haben, werden Sie aktiv.4

Doch was bedeutet es, die kritische Masse zu erreichen? Menschen, die Dinge vermeiden, empfinden eine gewisse Panik. Sobald sie den entscheidenden Sprung wagen, erleben sie Frieden: Viele Klienten haben dies so empfunden, als befänden sie sich im Zentrum eines Orkans. Sie sahen das Chaos ihres Lebens von einem Ort der Stille aus und fingen an, es zu verstehen.

Joe beschäftigte sich schließlich damit, wie er ständig vor Sues Angst zurückschreckte – eigentlich vor seinen eigenen Ängsten. Ihm wurde klar, wie seine eigene Unsicherheit ihn dazu brachte, sich Sue auf eine Weise anzupassen, die er selbst nicht gutheißen konnte. Aufgrund seiner Lebensgeschichte wurde klar, dass sein Handeln einen tieferen Sinn hatte – dass es notwendig war, um seine Integrität zu aktivieren. Würde er sein Leben lang unter dem Bann dieser Einschränkungen leben müssen? Würde er zulassen, dass Sue ihre Beziehung dominierte, indem sie Konfrontationen so eskalieren ließe, dass es für ihn unerträglich wäre? Diese wichtigen Fragen verstärkten seine Entschlossenheit, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.

Das »Zentrum des Orkans« erlebt man, wenn man einen Vertrauenssprung wagt. Doch wenn Ihre Partnerin diesen Sprung nicht wagt, ist die Situation für sie eine andere. Wenn Sie sich einer gewaltigen persönlichen Herausforderung stellen, wird Ihre Partnerin dadurch ins Zentrum des Orkans versetzt – und wahrscheinlich ist sie dann alles andere als glücklich. Scheinbar aus dem Nichts wird sie mit Problemen konfrontiert, die sie jahrelang erfolgreich vermieden hat.

Sue musste hierfür zu glauben lernen, dass sie anders sein konnte als ihre Mutter. Dies wiederum bedeutete, dass sie in Bereichen, die sie bisher hatte verkümmern lassen, wachsen konnte. Es tut weh, ständig zu wollen und zu hoffen, dass sich die eigenen Eltern verändern werden.

Sues Vertrauenssprung

Ich sprach mit Sue darüber, dass sie die Menschen in ihrer Umgebung für sich benutzte. Sie borgte sich von ihrem Mann und ihren Kindern Funktionsfähigkeit aus und schränkte dadurch deren Leben und Funktionsfähigkeit ein. Ich wies sie darauf hin, dass dieses Muster demjenigen ihrer Mutter ähnele. Sue versuchte, dies abzustreiten. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich beruhigt hatte und zu einem Vertrauenssprung bereit war.

Sue explodierte: »Sie hören mir gar nicht zu!«

»Natürlich höre ich Ihnen zu. Ich stimme Ihnen nur nicht zu. Und ich reagiere nicht auf Sie. Was Sie sagen, wird dadurch, dass Sie brüllen, nicht zutreffender, auch wenn Sie es so empfinden mögen.«

»Sie entwerten meine Gefühle und versuchen, mich zu verunsichern.«

»Es ist nicht meine Aufgabe, Ihre Gefühle zu bestätigen. Ich will Ihnen helfen, mit Ihren Gefühlen zurechtzukommen, weil sie in Ihrem Leben und im Leben der Menschen, mit denen Sie Umgang pflegen, den Ton angeben.«

»Ich weiß nicht, ob ich mich in Ihrer Gegenwart so sicher fühle, dass ich mit Ihnen arbeiten kann.«

»Das sehe ich auch so. Sie fühlen sich in meiner Gegenwart nicht sicher. Aber wenn wir so lange warten, bis Sie sich mir gegenüber sicher fühlen, kann ich Ihnen nicht so helfen, wie es eigentlich nötig wäre. Wenn ich mich nur in den Bereich vorwage, in dem Sie mein Eingreifen gut ertragen können, lernen Sie niemals, mehr zu ertragen. Und wenn ich nicht auf Dinge zu sprechen komme, die Sie nervös machen, bin ich Ihnen ebenfalls keine Hilfe.«

»Wie kann ich mit Ihnen arbeiten, wenn Sie mich nervös machen, statt mir Sicherheit zu vermitteln? Ich fühle mich Ihnen gegenüber nicht sicher!«

»Ich fühle mich in Ihrer Gegenwart auch nicht sicher.« Meine Antwort überraschte Sue völlig.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie Angst vor mir haben?«

Ich ließ einige Augenblicke verstreichen, um die Situation nicht noch weiter aufzuheizen, und sagte dann mit bewusst ruhiger Stimme: »Ich habe Angst um Sie. Es ist nicht einfach, Sie zu konfrontieren. Ich halte es für ziemlich wahrscheinlich, dass Sie dann diesen Raum verlassen und nie mehr wiederkommen. Wenn ich meine Arbeit tue, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie mich an die Luft setzen.«

Darauf reagierte Sue umgehend. »Ich werde Sie nicht an die Luft setzen. Sie sind der einzige Mensch, der keine Angst vor mir hat.« Sue wechselte so schnell ihre Strategie, dass es schwierig war, ihr zu folgen. Zumindest merkte ich mir, dass sie dazu in der Lage war.

»Oh … dann kann ich mich ja sicherer fühlen.«

»Warum fühlen Sie sich deswegen sicherer?«

»Weil ich dann weniger Angst um Sie und um meinen Job zu haben brauche.«

Sue lachte. »Sie haben gar keine Angst davor, Ihren Job zu verlieren. Ihre Praxis läuft doch gut.« Sie hatte sich so schnell wieder aufgerappelt, wie sie vorher zusammengebrochen war.

Ich lächelte. »Das ist wahr. Aber ich habe weniger Angst um Sie, wenn ich sehe, wie Sie sich wieder hochrappeln, nachdem Sie die Kontrolle über sich verloren hatten. Warum haben Sie Angst davor, dass ich Angst vor Ihnen haben könnte?«

»Weil ich andere Menschen tyrannisiere und viel herumbrülle. Ich könnte Ihnen das Gefühl vermitteln, unzulänglich zu sein.« Sues Bekenntnis war atemberaubend.

»Meinen Sie, dass Sie dazu in der Lage sind?«

»In meinen besseren Augenblicken ja.« Dies war tatsächlich einer von Sues besseren Augenblicken. Sie stand vor einem Vertrauenssprung.

»Wenn das einer Ihrer besseren Augenblicke ist, können Sie gerne hin und wieder die Kontrolle über sich verlieren, falls Sie Lust dazu haben, denn es ist eine Freude mitzuerleben, wie Sie sich wieder aufrappeln.«

Wieso hatte Sue sich wieder beruhigt? Ich hatte mich nicht von ihr überrennen oder umgehen lassen. Ich hatte ihr auch nicht gesagt, was sie tun sollte, mich aber andererseits nicht von ihr abgewandt, sondern mir angesehen, was sie tat (und was nicht). Zuerst war sie wütend auf mich. Ich schaffte es, mit ihr in Kontakt zu bleiben und nicht defensiv zu reagieren. Außerdem bot ich ihr eine kollaborative Allianz an, und das hatte sie nicht im Entferntesten erwartet. Ich sprach sehr direkt mit ihr, und sie wurde reflexiver.

Bisher war klar gewesen, dass Sues Reflexionsfähigkeit sehr schnell nachlassen konnte und dass sie häufig in einem miserablen Zustand war. Doch andererseits hatte sie viele Stärken. Sie strahlte eine fundamentale Anständigkeit aus, die wichtiger war als alle ihre Mängel, Ängste und Schwächen.

Als Sue anfing, an der Stärkung der Vier Aspekte zu arbeiten, gelangten ihre Talente und ihre Kreativität endlich zur Blüte. Sie war erstaunlich kreativ, erfinderisch und klug. Wenn sie sich in einer schlechten Verfassung befand, wurde sie ruppig und schwierig. Ließ ich sie in solchen Situationen nicht »abblitzen«, sondern hörte ihr zu und redete mit ihr – was mit einem Maß an Nähe und Direktheit verbunden war, bei dem sie sich nicht wohlfühlte –, normalisierte sich ihr Zustand augenblicklich. Danach fühlte sie sich gewöhnlich einige Tage lang besser, sie sah besser aus, und sie wirkte generell wesentlich präsenter.

Sue ging auf meine Bemühungen recht gut ein, es gelang ihr aber nicht, die ungewohnte Präsenz anschließend selbständig aufrechtzuerhalten. Ihre Selbstzweifel und Gefühle der Leere tauchten bald wieder auf, und sie wurde mit ihren Ängsten erneut schwerer fertig.

Zwei Wochen später waren Sue und Joe wieder in ihre altbekannten Muster verstrickt, und Sue war nun wegen dieses Zustandes mutloser als vorher. Sie hatte einen kurzen Eindruck davon gewinnen können, wie das Leben für sie sein könnte – wie sie sein könnte –, und der Moment, in dem sie dies gesehen hatte, war nun wieder in weite Ferne gerückt. Sie verhedderte sich in ihrer Verzweiflung und drohte, darin zu ertrinken. Unsere Sitzung hatte gerade erst begonnen, als Sue schon lamentierte:

»Alles geht in die Binsen! Diese Therapie hilft uns nicht! Ich hatte gedacht, mein Zustand bessere sich. Aber Sie können mir nicht helfen.«

Hätte ich mich in diesem Augenblick von Sue zurückgezogen, es wäre zu einer Katastrophe gekommen. »Ihnen ist es besser gegangen?«

»Diese Therapie hilft mir nicht. Ich brülle meine Kinder an.«

»Ist es Ihnen besser gegangen?«

»Ich kann das einfach nicht.«

»Ist es Ihnen besser gegangen?«

»Sie helfen mir nicht!«

»Ist es Ihnen besser gegangen?«

Sue fing an zu schluchzen. »Ja, es ging mir besser.«

Nach einer Minute sagte ich sanft: »Sie haben einen kurzen Blick darauf geworfen, wie Sie sein könnten. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn Sie dazu nicht in der Lage wären. Sie können dieses Maß an Präsenz nur noch nicht ohne Hilfe aufrechterhalten – jedenfalls jetzt noch nicht. Aber wenn Sie sich zusammenreißen und aufhören, bei jedem Stolpern in Verzweiflung zu verfallen, wird es irgendwann leichter für Sie sein, diesen Zustand aufrechtzuerhalten.«

Sue tat genau das, was ich vermutet hatte. Nur hatte ich nicht erwartet, dass dies so schnell eintreten würde. Es ging ihr sofort besser. Zwar schniefte sie immer noch, und ihre Wangen waren noch feucht. Aber sie beschimpfte mich nicht mehr. Sie sprach mit mir wie mit einem Menschen, mit dem sie eine Allianz hat.

»Ich habe mich selbst gesehen.«

»Was haben Sie gesehen?«

»Ich sah meine Mutter. Ich beobachtete, wie ich meine Tochter manipulierte, um sie dazu zu bringen, etwas zu tun, das ich wollte. Als sie mir Widerstand leistete, brüllte ich sie an. Ich habe sie verängstigt, und sie hätte alles nur irgend Mögliche getan, um meiner beängstigenden Wirkung nicht mehr ausgesetzt zu sein!« Sue schluchzte: »Ich bin ein Monster

Ich ließ ihr eine Minute Zeit für ihre Trauer. »Auf die Gefahr hin, dass ich Ihren Gefühlen nicht gerecht werde: Das ist etwas anderes als das, was ich sehe. Ich sehe eine Frau, die sich in Rekordzeit aus einem starken emotionalen Zusammenbruch befreit hat. Vermutlich waren Sie selbst erstaunt darüber, wie schnell Sie wieder auf die Beine gekommen sind. Ihnen war offenbar gar nicht klar, dass Sie dies können. Deshalb brechen Sie jetzt zusammen.«

Sue schaute mich durch ihren Tränenschleier hindurch an und kicherte, während sie sich die Nase putzte. »Wissen Sie was? Sie kotzen mich richtig an, wenn Sie so klar sehen, was mit mir los ist!«

Joe behauptet sich

Durch unsere Interaktion hatte Sue einen Halt für ihre Selbstkonfrontation gefunden. Und weil die Art, wie man eine Pattsituation durchsteht, darüber entscheidet, wie man daraus hervorgeht, befand sich Sue in einer guten Lage. Auch bei Joe war etwas in Gang gekommen. Er hatte unsere Interaktion und Sues Reaktion miterlebt. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, dass bei ihr eine Besserung eingetreten war. Und er wendete all die Dinge, die Sue geholfen hatten, auf sich selbst an.

Joe beharrte darauf, dass er sich nicht scheiden lassen wolle. Statt seine Erinnerungen zu blockieren, vergegenwärtigte er sich Szenen aus seiner Kindheit, von der zweiten Heirat seiner Eltern und von ihren beiden Scheidungen. Er erinnerte sich daran, dass er sich in den Schlaf geweint hatte, weil die Welt, in der er lebte, völlig zerbrochen war. Er hatte miterlebt, wie seine Mutter und sein Vater als Eltern und als Menschen erbärmlich versagt hatten. Damals hatte Joe sich geschworen, dafür zu sorgen, dass seine Kinder nie so über ihn denken würden.

Er hatte sich vorgenommen, alles nur Mögliche zu tun, um seine Ehe zu retten – sofern er dabei nicht seine Integrität aufs Spiel setzte. Er musste aufhören, sich aus purer Angst – bzw. wegen Sues Ängsten – zu verkaufen.

Was dachten Sue und Joe während ihrer Feuerprobe?

Sue dachte: Joe wird sich nie mehr um mich kümmern. Er wird in Zukunft mehr von mir erwarten. Ich werde bei ihm nicht mehr mit so vielen Dingen »durchkommen«. Er wird von mir erwarten, dass ich mich selbst um meine Ängste kümmere. Er wird mir nicht mehr nachgeben. Ich habe Angst.

Joe dachte: Wenn ich Sue nicht nachgebe, wird sie so lange die Temperatur erhöhen, bis ich mich doch erweichen lassen. Vielleicht sollte ich jetzt einfach nachgeben. Sobald ich anfange, auf meinem Standpunkt zu beharren und sie so wütend mache, ist die Sache gelaufen. Sue würde mich dann bei lebendigem Leib verspeisen.

Danach kam es eines Abends im Bett zu einem Gespräch. Joe sagte zu Sue: »Ich werde mich mit den Dingen, die dir wichtig sind, auf jede Weise, die du von mir forderst, auseinandersetzen. Ich werde über alles und jedes mit dir sprechen, bis wir blau im Gesicht werden. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um unsere Ehe zu retten. Aber wenn du mich jetzt verlässt, ist es aus mit uns. Ich werde meinen Kindern nicht antun, was man mir angetan hat. Deshalb lasse ich mich keinesfalls auf eine ›versuchsweise Trennung‹ ein. Ich sage das nicht, um dir zu drohen oder dir ein Ultimatum zu stellen. Und es geht mir auch nicht darum, etwas Unsinniges zu tun, um dich wütend zu machen. Ich sage dir dies, damit du merkst, dass ich zwar nicht drohe, dass es mir aber todernst ist: Entweder bleibst du bei mir, und wir arbeiten an der Sache, oder du gehst, und das war’s.«

Sue sagte: »Liebst du mich?«

Joe dachte einen Augenblick lang nach und antwortete dann langsam: »Ich … ich werde darüber jetzt nichts sagen.«

Daraufhin ließ Sue die Situation eskalieren: »Was soll das heißen: Du willst jetzt nicht darüber reden, ob du mich liebst?«

Joe spürte, dass sein Gesicht kreideweiß wurde. Sein Magen machte sich bemerkbar, und sein Herz pochte wie wild. Sein Mund wurde trocken, und sein Unterkiefer zitterte. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten, und er kämpfte darum, die Kontrolle zu behalten. Dann sagte er so ruhig, wie er konnte: »Ich werde mit dir nicht darüber reden, ob ich dich liebe, weil das im Moment nicht unser Thema ist. Wir reden darüber, ob du mich verlassen wirst oder nicht. Ich habe alles gesagt, was ich im Moment zu dir sagen kann. Schau selbst, und stelle fest, ob ich dich liebe.«

Sue empfand eine Mischung aus Wut, Überraschung und Respekt. Sie sagte nichts, doch die augenblicklich eintretende Deeskalation war verblüffend. Der Rüffel, den Joe erwartet hatte, fand nicht statt. Joe wurde von einer Welle des Mitgefühls für Sue überspült. Er sagte: »Wenn du lernen würdest, dich selbst zu lieben, wären wir beide viel glücklicher.«

Joe schaute zu Boden, und seine Hände zitterten. Er streckte sie nach Sue aus. »Das ist eine verrückte Situation. Ich zittere, mein Herz pocht wie wild, und ich habe entsetzliche Angst. Ich fürchte, dass wir uns scheiden lassen werden und dass du mich völlig zur Schnecke machen wirst. Und gleichzeitig habe ich dieses starke Gefühl, dass ich genau das Richtige tue und dass ich in meinem ganzen bisherigen Leben nie so intensiv das Gefühl gehabt habe, ganz zu sein!«

Auch Sue erlebte etwas Ungewöhnliches. Sie sah Joe so energisch auftreten, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte sich ihr gegenüber noch nie so kompromisslos geäußert. Und doch sprach er mit ihr nicht wie ein Kontrahent. Er trat zu ihr wie zu einer Partnerin in Beziehung, wie jemand, der mit ihr etwas durchlebte, das ihrer beider Schicksal verband. Gemeinsam erlebten sie einen tiefen Augenblick der Begegnung.

Sue wusste, dass sie normalerweise dazu neigte, jede Äußerung Joes zu »toppen«. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich Joe entgegenschleudern: »Nun, das werden wir ja noch sehen! Ich gehe!« Sie malte sich in leuchtenden Farben aus, wie sie aus Joes neu entdecktem Ganzheitsgefühl die Luft herauslassen und welchen Spaß ihr das machen würde. Doch Joe hatte klargestellt, dass es für sie dann kein Zurück mehr gäbe. Weil sie Joe sehr gut kannte, wusste sie, dass er jetzt wirklich ernst meinte, was er gesagt hatte.

Abgesehen davon hatte die Interaktion auch Sues Bestreben gedämpft, die Situation eskalieren zu lassen. Es hatte sie beeindruckt zu beobachten, wie Joe sich selbst gemeistert hatte. Sue staunte darüber und war gleichzeitig schockiert.

Sie sagte: »Okay.«

»Okay was?«

»Okay, wir brauchen nicht darüber zu reden, ob du mich liebst.«

»Oh.«

Eine Minute lang trat Stille ein. Dann fing Sue leise an zu schluchzen. »Ich will dich nicht verlassen. Aber ich bin so verzweifelt. Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.«

»Ich will ja auch nicht, dass du gehst. Aber ich will auch nicht, dass du mir jedes Mal, wenn du nicht weißt, was du sonst tun sollst, androhst, dass du gehen wirst. Wenn du ständig mit einem Fuß schon aus der Tür bist, will ich nicht mit dir zusammenleben. Ich werde nicht zulassen, dass wir wieder so leben, und ich lasse auch nicht zu, dass meine Kinder so leben.«

»Das kann ich verstehen.«

Dass Sue nicht bis zum letzten Atemzug kämpfte, überraschte Joe. Die Anspannung, die in der Luft gelegen hatte, verflog. Es war, als hätte sie endlich aufgehört, auf den Zehen zu stehen und die Fersen auf den Boden gesetzt. Sie war nun beim Sprechen wesentlich entspannter. »Ich werde über das, was du zu mir gesagt hast, nachdenken: dass es besser für uns wäre, wenn ich lernen würde, mich selbst zu lieben.« Sue lächelte Joe an, und daraufhin brach auch aus ihm ein Lachen hervor.

Sue fragte ihn: »Warum lachst du?« Dann lachte sie auch.

Joe antwortete: »Ich glaub’s einfach nicht, wie nervös ich bin! Aber ich bin unglaublich erleichtert, dass das hier nicht mit einem Desaster geendet hat.«

»Ich auch.« Sue nahm Joes Hand und lächelte ihn an. Sie weinte wieder.

»Ich fühle mich so lebendig!« Joe war völlig aus dem Häuschen.

»Ich auch.«

Einen Augenblick lang überlegte Joe, ob dies die richtige Situation für Sex sei. Sie war für sie beide ungeheuer positiv, und Joe nahm an, dass Sue nicht abgeneigt sein würde. Doch dann entschied er sich dagegen. Nichts war wichtiger, als Sue die klare Botschaft zu übermitteln: »Das ist nicht mehr die gleiche alte Leier.« Außerdem fühlte er sich schon besser als normalerweise.

Für die Auflösung sind die Vier Aspekte der Balance erforderlich

In den folgenden Wochen veränderte sich die Kommunikation zwischen Joe und Sue deutlich, und sie veränderten sich auch als Individuen sehr stark. Wenn sie in meiner Praxis saßen, waren sie deutlich entspannter als vorher, und Sue wirkte stabiler und aufrichtiger, wenn sie sprach. »Ich sehe einen deutlichen Unterschied. Wir streiten uns zwar immer noch, aber nicht mehr so heftig wie vorher, und unsere Streitigkeiten werden nicht mehr so unerbittlich. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Am wichtigsten ist, dass ich nicht ein einziges Mal gedroht habe, dass ich gehe. Und Joe hat das auch nicht getan. Wir sind netter zueinander. Der neue Joe gefällt mir sehr.«

»Ich gefalle mir auch sehr gut«, bestätigte Joe.

Sue wirkte weicher, als ich sie vorher erlebt hatte. »Wir haben uns innerhalb von zwei Wochen viermal geliebt, ein Rekord für uns. Ich glaube, das hat uns selbst überrascht.«

Sue errötete. »Einmal haben wir es von hinten gemacht, und es hat mir gefallen. Ich brauche noch ein wenig Übung, aber ich glaube, ich könnte mich in dieser Position entspannen.«

Sue gestand mir gegenüber ihre Sexualität auf eine Weise ein, wie sie es noch nie getan hatte. Diese schnelle und geradezu dramatische Verbesserung zeigte, dass sie über entsprechende Ressourcen verfügte. Viele Menschen sind zu ähnlichen Verbesserungen in der Lage, wenn sie erst einmal die Vier Aspekte für sich zu nutzen beginnen. Dadurch schaffen sie eine stabile Grundlage, auf der sich ihre übrigen Fähigkeiten und Talente entfalten können.

Ich bewunderte Sue und Joe einen Augenblick lang und dankte ihnen dafür, dass ich sie bewundern konnte. Es ist faszinierend, Menschen, die von starken Ängsten geplagt wurden, dabei zu beobachten, wie sie plötzlich eine Kehrtwendung vollziehen und völlig neuartig agieren.

Gedanken zum Weiterdenken