Was Sie durch dieses Buch lernen, kann Ihre Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens und Ihr gesamtes Leben verändern. Allerdings erleben Paare, die sich einer Behandlung unterziehen, ein vielschichtiges Geschehen intensiver und fokussierter, als ich es in einem Buch darstellen kann. Ihre Spiegelneuronen im Präfrontalkortex feuern jedoch trotzdem. Mit anzusehen oder sich vorzustellen, wie jemand anders etwas erlebt, erzeugt in Ihrem Gehirn die gleiche Reaktion, als hätten Sie das Erlebnis selbst. Wenn Sie versuchen, sich in Paare hineinzuversetzen, über die Sie etwas lesen, erzeugt das in Ihnen die gleichen Gefühle und Reaktionen, als würden Sie die betreffende Situation selbst erleben.
Bei der Nutzung des so Gelernten werden Sie merken, dass Sie noch mehr gelernt haben, als Ihnen klar war. Vielleicht stellen Sie dann aber auch fest, dass dies immer noch nicht reicht, um ihre Probleme zu lösen. Bleiben Sie dran! Gehen Sie das Buch noch einmal durch. So stellen Sie sicher, dass Sie in den kommenden Jahren davon profitieren werden.1
Sie werden nun einen weiteren Schritt unserer Vorgehensweise kennenlernen. Für viele Menschen ist es wichtig, dass Sex sowohl liebevoll als auch »heiß« ist. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit sanftem und liebevollem Sex, im nächsten und letzten werden wir die Temperatur ein wenig erhöhen. Sanfter und liebevoller Sex braucht jedoch nicht »lauwarm« zu sein. Sie werden feststellen, dass er auf eine Weise angenehm sein kann, von der Sie sich bisher keine Vorstellung gemacht haben.
Zunächst möchte ich klarstellen, dass das, was hier mit sanftem und liebevollem Sex gemeint ist, keine bestimmte sexuelle Praxis ist, sondern eine Atmosphäre, die das sexuelle Erleben prägt. Sanfter und liebevoller Sex lässt sich nicht auf bestimmte Techniken reduzieren. Falls Sie nicht besonders liebesfähig sind oder es nicht ertragen können, zärtlich und sanft zu sein, werden Sie sich sanften und liebevollen Sex nicht erschließen können.
Allerdings können Sie Ihre Fähigkeit, liebevoll und zärtlich zu sein, mit Hilfe Ihrer sexuellen Beziehung weiterentwickeln und verbessern. Sie können sich emotional heilen, Ihre Seele wiederbeleben und Ihre Beziehung stärken. Sie können das Gesicht, das Sie der Welt zeigen, verändern und die Kontrolle über Ihre Emotionen und insbesondere über Ihre Launen erlangen. Sanfter und liebevoller Sex kann aus Ihnen einen neuen Menschen machen. Und wahrscheinlich wird auch Ihr Gehirn dadurch »neu verdrahtet«.
Kate und Paul waren wegen Problemen mit dem sexuellen Verlangen zu mir gekommen. Sie waren seit acht Jahren verheiratet, und für beide war dies die zweite Ehe. Beide glaubten, sexuelle Probleme seien der Hauptgrund für ihre erste Scheidung gewesen. Doch Paul war auch in seiner zweiten Ehe frustriert darüber, dass es nur selten zum Sex kam, nämlich etwa einmal im Monat. Zwischen Kate und Paul bestand eine starke emotionale Verschmelzung, und die sexuellen Probleme machten ihnen sehr zu schaffen.
Kate hatte als Heranwachsende Sex mit vielen Partnern gehabt, doch in ihrer Ehe mit Paul war ihr Interesse an sexuellen Aktivitäten ebenso wie in ihrer vorigen Ehe schnell zum Erliegen gekommen. Sie hatte zwar gelegentlich Orgasmusprobleme, doch glaubte sie nicht, dass sich dies negativ auf ihr Interesse an Sex auswirkte. Vielmehr fühlte sie sich durch Pauls Orgasmusprobleme wesentlich stärker beeinträchtigt.
Paul kam häufig nicht zum Orgasmus, und wenn es ihm gelang, dauerte es 30 Minuten oder länger. Die Aufmerksamkeit beider Partner war dann ausschließlich darauf konzentriert, ihn zum Orgasmus zu bringen. Im Anschluss daran fühlten Kate und Paul sich oft erschöpft und stellten deshalb unmittelbar nach der Ejakulation jede weitere Aktivität ein. Wenn Paul nicht zum Höhepunkt kam, rollte er sich irgendwann im Bett auf die Seite und brach den Kontakt zu Kate ab. So oder so war Sex für beide nicht besonders erfreulich, und sie fühlten sich danach noch schlechter als vorher. Kate lernte, dass Erregung sich nicht »auszahlte«, weil die Situation für sie letztendlich sowieso enttäuschend enden würde.
Beide Partner hatten auch Schwierigkeiten damit, ihre Emotionen zu regulieren. Paul hatte »emotionale Ausbrüche«, und Kate litt häufig unter plötzlich auftretenden depressiven Episoden. Dies ging einher mit einer erheblichen Schwächung ihres Selbstwertgefühls und starken Unzulänglichkeitsgefühlen. Beide Partner fühlten sich meist sehr unruhig und angespannt. Paul hatte in seinem ganzen Leben Emotionsausbrüche in Form von Wutanfällen, heftiger Verteidigung sowie Anklagen und Beschuldigungen gehabt.
Dass zwischen Kate und Paul eine starke Anspannung bestand, war von Anfang an deutlich und erschwerte die therapeutische Arbeit. Beide waren sehr zurückhaltend. Schließlich ergriff Kate die Initiative, indem sie erklärte, warum sie zum Sex mit Paul nicht bereit sei: Sie sei zu wütend auf ihn und habe kein Interesse daran, sich weiter mit sinnlosen und frustrierenden Versuchen abzumühen. Sie erklärte, ihre Beziehung befinde sich im Grunde eher in der Phase des »Händchenhaltens« als in der reifer sexueller Aktivität. Diese Äußerung quittierte Paul mit einem gequälten Auflachen.
Daraufhin sagte ich, es könne sehr nützlich sein, einander an den Händen zu halten, je nachdem, wie man dies mache. Dann fragte ich beide, ob sie bereit seien, einander in diesem Moment die Hände zu halten. Kate hielt das für abwegig und Paul hielt es für kindisch – doch schließlich erklärten sich beide dazu bereit.
Zunächst forderte ich sie auf, einander einfach die Hände zu halten, ohne dass ich konkretere Anweisungen gab. Mir fiel auf, dass das Händehalten bei ihnen etwas hölzern und mechanisch wirkte. Es war, als versuchten sie die Tatsache, dass sie einander berührten, zu ignorieren. Weder bestand eine positive emotionale Verbindung zwischen ihnen, noch machten sie Anstalten, eine solche Verbindung herzustellen. Sie achteten nicht einmal auf ihre physischen Empfindungen in den Händen und wirkten generell nervös und unbeholfen. Als ich nickte, ließen sie einander los.
Nun fragte ich sie, ob sie auch bereit seien, ihre Hände ein wenig anders zu halten. Kate und Paul erklärten sich dazu bereit. Sie sollten beim Ergreifen der Hand des Partners tief atmen und sich auf die Selbstberuhigung konzentrieren. Zunächst wirkten sie dabei sehr unbeholfen, doch später gelang es ihnen. Als sie anfingen, sich zu entspannen, lenkte ich ihre Aufmerksamkeit auf den Punkt des physischen Kontakts zwischen ihren Händen. Daraufhin wurde Kate wieder nervös, und sie kicherte, während Paul zuckte. Deshalb wiederholten wir den Prozess der Selbstberuhigung.
Kate und Paul bestätigten übereinstimmend, das Halten der Hand des Partners sei wesentlich angenehmer für sie gewesen, nachdem sie sich beruhigt hätten. Ich erklärte ihnen, dies sei im Kleinen der Effekt, den sie wahrscheinlich auch beim Sex erleben würden. Auch dabei könnten sie sich wesentlich besser fühlen als bisher – und wenn ihnen dies gelinge, werde es sich auch sehr positiv auf ihre Orgasmusfähigkeit auswirken.
Diese Anwendung der Vier Aspekte der Balance im Rahmen der Therapiesitzung und insbesondere die Nutzung von Stiller Geist, ruhiges Herz war für Kate und Paul eine Offenbarung. Statt darauf vertrauen zu müssen, dass es mir gelänge, ihnen zu helfen, hatten sie selbst ein Experiment durchgeführt, um herauszufinden, wie es weitergehen könnte. Am Ende unserer ersten Sitzung waren Kate und Paul bereit, Umarmen bis zur Entspannung auszuprobieren. Dies überraschte Kate, weil Paul Umarmungen normalerweise nicht mochte. Paul erklärte sich bereit, die Übung auszuführen, weil ihm das Händehalten gefallen hatte, was es normalerweise nicht tat.
Paul fragte, ob ihm dies bei der Überwindung seiner Orgasmusprobleme helfen werde. Ich antwortete, das könnte der Fall sein, er und Kate könnten aber gemeinsam noch wesentlich mehr dafür tun, wenn sie ihren Körper, ihren Geist und ihr Gehirn einbeziehen würden. Sich mit den Problemen auf diesen drei Ebenen auseinanderzusetzen mache es sehr wahrscheinlich, dass Paul seine Orgasmusprobleme und Kate ihre Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens überwinden werde. Möglicherweise wirke sich dies auch positiv auf Pauls problematische Emotionsausbrüche und auf Kates Angst- und Depressionsanfälle aus. Paul und Kate schauten einander schweigend an.
Dann äußerte ich meine Ansicht, dass sanfter und liebevoller Sex ihnen helfen werde. Allerdings müssten diese sexuellen Begegnungen ihnen beiden viel bedeuten, und beide Partner müssten den Geist des anderen spiegeln. Wie sich herausstellte, war es für beide schon allein ungeheuer wichtig, beim Umarmen bis zur Entspannung und bei Köpfe auf Kissen den Geist des Partners zu spiegeln.
Im Laufe der nächsten Sitzungen führten Kate und Paul die Übung Umarmen bis zur Entspannung auf verschiedene Arten aus. Zunächst konzentrierten sie sich darauf, Geist und Gehirn zu beruhigen, während sie einander umarmten. Ich empfahl ihnen, sich einen Punkt in ihrem Kopf vorzustellen, der in der Mitte zwischen beiden Ohren (also im emotionalen Zentrum des Gehirns) lag, und darauf zu fokussieren.
Nachdem sie dies ein halbes Dutzend Mal getan hatten, beruhigten sie sich und waren in der Lage, sich schneller und tiefer zu entspannen. Sie selbst nahmen den Unterschied wahr. Mit dem Partner zusammen zu sein und zu spüren, wie er sich beruhigte, statt dass er immer aufgebrachter wurde, war für sie ein wichtiges Erlebnis.
Ich forderte sie auf, von diesem Punkt aus weiterzugehen. Mit Hilfe von Umarmen bis zur Entspannung wurden sie der noch in ihrem Körper verbliebenen Anspannung gewahr, entspannten die betreffenden Bereiche bewusst und gelangten so gemeinsam in einen tieferen Entspannungszustand. Ich erklärte ihnen, wenn es ihnen gelinge, sich gemeinsam zu entspannen und sich in ihrem Körper zu zentrieren, würden ihnen die Atemzüge des Partners bewusst werden, ohne dass sie die Fokussierung auf den eigenen Atem aufzugeben bräuchten. Und wenn ihnen das gelungen sei, hätten sie eine wichtige Lektion darüber gelernt, wie Beziehungen wirklich funktionierten.
Als Kate und Paul zur nächsten Sitzung kamen, berichteten sie, das soeben Beschriebene sei ihnen mehrmals gelungen. Kate sagte, aufgrund meiner Vorbereitung hätte sie sich stärker auf sich selbst konzentrieren können. Mehrmals sei sie gleichzeitig ihrer selbst und Pauls gewahr gewesen. Einmal sei dies auch Paul gelungen. Ich erklärte ihr, sie hätte den Aufbau einer positiven körperlichen und emotionalen Verbindung zu ihrem Partner erlebt, ohne die Verbindung zu sich selbst zu verlieren. Es war ein Zeugnis der Vertiefung ihrer kollaborativen Allianz.
Kate und Paul berichteten auch über einen besonderen Augenblick, in dem sie ihrer selbst und ihres Partners sehr bewusst gewesen seien und gemeinsam eine bestimmte Erlebensweise zugelassen hätten. Beiden war klar, dass ihr Partner daran interessiert war, dass ein solcher Augenblick entstand, und dass er dies genoss. Beide hatten ihr eigenes subjektives Erlebnis, das gleichzeitig ein sehr intensives gemeinschaftliches Erleben war.
Ich erklärte Kate und Paul, das Beschriebene sei ein »intersubjektives Erlebnis«, ein Augenblick der Begegnung. Solche Erlebnisse spielten in Beziehungen zwischen Menschen von ihrer Geburt an eine wichtige Rolle und insbesondere beim Sex. Kate und Paul bestätigten die Einschätzung, dass es sich um ein Erlebnis von anderer Qualität handle, und sie sagten, sie hätten beim Sex ganz sicher noch nichts Derartiges erlebt.
Kates und Pauls Körper, Geist und Gehirn hatten sich auf friedliche und sehr wirkmächtige Weise miteinander verbunden. Beim Genitalverkehr waren sie im Geiste gewöhnlich Millionen von Meilen voneinander entfernt gewesen. Kate sagte, ihr gefalle es besser, mit Paul zusammen Umarmen bis zur Entspannung auszuführen, als mit ihm Sex zu haben. Paul war sich da nicht so sicher. Ich äußerte die Vermutung, wenn Kate sich auf Augenblicke der Begegnung beim Sex freue, finde sie wahrscheinlich auch am Sex selbst Gefallen.
Wir entwickelten ein neues und sinnreicheres Bild dessen, was beim Sex zwischen den beiden und in ihnen geschah. Als Kate und Paul sich am Ende unserer Sitzung verabschiedeten, sahen sie ihre Schwierigkeiten in einem günstigeren und hoffnungsvolleren Licht. Dieses Bild brachte alles, was sie gemeinsam erlebt hatten, in einen Zusammenhang und eröffnete ihnen Möglichkeiten, ihre Situation durch physische Handlungen zu verbessern. Statt sich dem Lauf der Dinge ausgeliefert zu fühlen, konnten sie nun ihrem Willen Ausdruck geben.
Das Bild, das Sie entwickeln, ist wichtig. Sie müssen etwas tun, um Ihr Gehirn zu veranlassen, anders zu denken. Dazu ist mehr erforderlich, als nur positivere innere Selbstgespräche zu führen und jeden Morgen Selbstaffirmationen zu rezitieren. Sie müssen Ihre Erlebnisse im Zusammenhang verstehen – insbesondere Ihre Erfolge. Wie Sie Dinge verarbeiten und organisieren, ist von erheblicher Bedeutung. In Anbetracht der Myriaden existierender psychologischer Theorien und Ansätze können Sie Ihr Erleben praktisch auf jede beliebige Art organisieren. Doch leider sind die Erklärungen, die Ihrem subjektiven Erleben entsprechen und Ihnen intuitiv einleuchten, nicht unbedingt zutreffend.
Wenn Sie wissen, warum Sie in bestimmten Fällen erfolgreich waren, können Sie Ihre weiteren Bemühungen gezielter organisieren. Wenn Sie die entscheidende Zutat erkennen, können Sie diese beim nächsten Mal gezielt einsetzen. Beispielsweise hätten Kate und Paul ihren intersubjektiven Augenblick in dem Sinne verstehen können, dass sie sich während ihrer Begegnung sicherer und geborgener fühlten. Nun ist dies zwar eine sehr verbreitete Deutung, doch sie führt häufig zu einer Katastrophe. Würden Sie dann nämlich das nächste Mal versuchen, den Zustand zu erreichen, in dem Sie sich »sicher und geborgen« miteinander fühlen, so würde dies zur Stärkung ihrer emotionalen Verschmelzung und ihrer Funktionsübertragung sowie zu unangenehmen Empfindungen führen, die noch demoralisierender wirken.
Ich erinnerte Kate und Paul daran, wo sie ihren Weg begonnen hatten und wie sie den angestrebten Punkt erreichen würden. Dann geleitete ich sie zu ihrem eigenen physischen Prozess zurück, und nun verstanden sie: Für ihren Erfolg war entscheidend, dass sie begonnen hatten, ihren eigenen Zustand zu regulieren, während sie ihrem Partner emotional und physisch näher waren. Sie nahmen sich vor, dies beim nächsten Anlass besser zu machen.2
Als Kate und Paul sich bereit fühlten, den emotionalen und physischen Kontakt zueinander zu verstärken, wandten sie sich, nachdem sie mit Umarmen bis zur Entspannung schon einiges erreicht hatten, Köpfe auf Kissen zu. Dabei fördert das Halten von Blickkontakt eine zentralere »Ich-zu-Ich«-Verbindung. Auf diese Weise erreichten sie die gleiche tiefe Verbundenheit, die sich Menschen durch Sex mit offenen Augen erschließen (womit wir uns später in diesem Kapitel beschäftigen werden), jedoch ohne die Ablenkung und Angst, die mit Sex im eigentlichen Sinne verbunden sein kann.
Einander anzuschauen erfordert die Aufmerksamkeit beider Beteiligten; dadurch entsteht für kurze Zeit das Gefühl, ihr Geist sei mit dem des Partners verbunden. Blickkontakt ist ein wichtiger Bestandteil sozialer Wahrnehmung und Interaktion und spielt beim Spiegeln des Geistes eines anderen Menschen eine zentrale Rolle. Brain-imaging-Studien haben gezeigt, dass mentales Spiegeln und Blickkontakt die gleichen Gehirnregionen aktivieren.3
Dem Blick anderer Menschen zu folgen (gaze-following) scheint in unserem Gehirn, das spezielle Neuronen enthält, die selektiv auf Gesichter, Körper und den Blick reagieren, fest verdrahtet zu sein. Bestimmte Zellverbände im Kortex reagieren gezielt auf Blickkontakt. Dieser Teil des Gehirns analysiert biologische Bewegungen auf Signale hin, die über die Handlungen anderer Menschen Aufschluss geben. Das betreffende System wird durch die Bewegungen der Augen, des Mundes, der Hände und des Körpers eines anderen Menschen sowie durch statische Bilder eines Gesichts oder Körpers, die Bewegung erkennen lassen, aktiviert.4
Neugeborene verbringen mehr Zeit damit, sich ein Foto von einem Gesicht mit geöffneten als eines von einem Gesicht mit geschlossenen Augen anzuschauen. Möglicherweise ist bei ihnen ein neuronaler Mechanismus auf Reize spezialisiert, die an Augen erinnern, und lenkt die Aufmerksamkeit auf sie.5 Ist die Aufmerksamkeit beider Partner durch gegenseitiges Anschauen aktiviert, wird die visuelle Aktivität in beider Gehirn gesteigert und beschleunigt. Blickkontakt kann somit sehr schnell einen Augenblick der Neuroplastizität erzeugen, durch den die visuelle Informationsverarbeitung im extrastriatalen Kortex verändert wird.6
Je nachdem, ob Sie Blickkontakt herstellen oder nicht, und in Abhängigkeit von Ihren Erwartungen im Hinblick darauf, wie sie diesen erleben werden, werden in Ihrem ventralen Corpus striatum (Streifenhügel) dopaminerzeugende Neuronen aktiviert (insbesondere in der rechten Hemisphäre), und das zentrale Belohnungssystem des Gehirns wird einbezogen. Wenn Sie Blickkontakt zu einem Gesicht herstellen, das Sie als attraktiv empfinden, wird dadurch die Dopaminproduktion verstärkt. Bei Unterbrechung des Blickkontakts sinkt die Dopaminproduktion wieder. Das Gegenteil geschieht, wenn Sie erwarten, einen Blickkontakt als negativ zu erleben.7
Sie benötigen nicht nur einen mehrere Ebenen umfassenden Fokus, sondern einen Fokus, der fokale Aufmerksamkeit erzeugt. Im Zustand fokaler Aufmerksamkeit ist ein Mensch sehr aufmerksam, er fokussiert bewusst auf etwas, und er nutzt bewusst sein Kurzzeitgedächtnis (anders als im Falle automatischer Aufmerksamkeit, die keine bewusste Anstrengung erfordert). Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten, befördern Sie das Objekt Ihrer Aufmerksamkeit ins Arbeitsgedächtnis. Fokale Aufmerksamkeit ist die Kreidetafel Ihres Geistes. Ein gewisses Maß an fokaler Aufmerksamkeit ist auch erforderlich, damit Ihr Gehirn Informationen speichern und sie später wieder abrufen kann, so dass Sie noch einmal darüber nachdenken können. Köpfe auf Kissen richtet Ihre Aufmerksamkeit während einer sehr bedeutungsvollen interpersonalen Begegnung auf Prozesse, die in Ihrer rechten und linken Gehirnhälfte stattfinden. Der Aufmerksamkeitsfokus erfasst dann viele Dinge: das, was Sie sehen, die mentale Spiegelung Ihres Partners und die Gefühle, Körperempfindungen und autobiographischen Erinnerungen, die in Ihrem Geist auftauchen. Worauf auch immer Sie Ihre Aufmerksamkeit richten, irgendetwas kommt Ihnen in jedem Fall in den Sinn, wenn Sie und Ihr Partner einander sehr nahe sind und sich in die Augen schauen.
Einen optimalen Rahmen zu entwickeln ist wichtig. Könnten Sie Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens lösen, indem Sie Umarmen bis zur Entspannung, Köpfe auf Kissen und Spüren und Berühren wie simple Verhaltenstechniken (also etwa wie »Übungen«) benutzen würden? Möglicherweise ja. Aber warum sollten Sie das wollen? Auf Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, einzuwirken, ist schwer genug. Ein integrierter, viele Ebenen umfassender Ansatz erhöht die Erfolgschancen.
Meinen Klienten gefällt es zu erleben, wie die verschiedenen Arten therapeutischer Aktivitäten zusammenwirken und miteinander harmonieren. Dabei geht es um mehr als intellektuelle Neugier. Die unterschiedlichen Dinge, die vor sich gehen, zu verstehen und sich darüber im Klaren zu sein, was Sie zu erreichen versuchen, hilft Ihnen, die positiven Resultate Ihres Handelns zu würdigen und in umfassender Weise für sich zu nutzen. Dies stärkt Ihre Bereitschaft, um Ihrer Entwicklung willen Unannehmlichkeiten zu ertragen.
Jedem dürfte klar sein, dass es Ihrer Beziehung zugutekommt und Ihr sexuelles Verlangen stärkt, wenn Sie Ihren Partner umarmen und sich mit ihm gemeinsam entspannen. Doch Umarmen bis zur Entspannung, Köpfe auf Kissen, Spüren und Berühren und die Heilung von Kitzligkeit eignen sich auch wunderbar, um Ihr Gehirn zu beruhigen und zu regulieren.
Ich arbeite oft am spontanen sexuellen Verhalten von Klienten. So war es auch, als ich Kate und Paul zum Händehalten anleitete. Mit dem Küssen mache ich es ähnlich. Küssen, Händehalten und andere spontane Verhaltensweisen erzeugen interpersonale somatosensorische Erlebnisse. Sie stimulieren die Bereiche des Gehirns, die verfolgen, was der Körper erlebt (z.B. physische Empfindungen, die Position im »Raum«, die physische Orientierung), sowie Bereiche, in denen die so gewonnenen Informationen in einen Sinnzusammenhang gebracht werden. Dieser Austausch ermöglicht ein Lernen, das zahlreichen Dimensionen des Erlebens Rechnung trägt. Kitzligkeit zu heilen bewirkt das Gleiche.
Nach neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung und im Einklang mit dem Erfahrungswissen der jahrtausendealten buddhistischen Weisheit ist bewusst fokussierte Aufmerksamkeit ein sehr wirksames Werkzeug zur Beruhigung von Geist und Gehirn. Doch was geschieht, wenn Sie Geist und Körper gleichzeitig nutzen und so die Macht des Sex, die Feuerproben der Ehe, die Vier Aspekte der Balance und das Wissen über die Funktionsweise des Gehirns zusammenfassen? Nach meiner Auffassung verfügen Sie damit über eine Methode der Weiterentwicklung und Veränderung, deren Kraft derjenigen eines Atome zerschmetternden Zyklotrons gleicht.
Es ist bemerkenswert, dass so viele Ebenen in etwas so Einfachem (und gleichzeitig Komplexem) wie einer Umarmung zusammenwirken. Zunächst haben wir festgestellt, wie es dazu gekommen ist, dass die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines stabilen und flexiblen Selbst bei der Formung des sexuellen Verlangens von Menschen eine so wichtige Rolle spielt. Davon ausgehend entdeckten wir, warum natürliche Differenzierungsprozesse Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, auch bei normalen und gesunden Paaren unvermeidbar machen und die Vier Aspekte der Balance Ihrem Selbstempfinden zugrunde liegen, wie sie Ihre Funktionsfähigkeit verbessern, Ihnen helfen, Pattsituationen aufzulösen und direkt oder indirekt sexuelle Probleme zu beheben.
Parallel zu diesen Prozessen, die sich auf das Selbst und die Differenzierung auswirken, finden auch im Gehirn zahlreiche Aktivitäten statt. Sie alle sind Teile eines einzigen großen Pakets. Die Vier Aspekte der Balance entscheiden darüber, ob und wann die Regulation in Ihrem Gehirn versagt, wodurch Ihr Geist funktionsunfähig wird. Durch Fokussieren auf die Vier Aspekte der Balance können Sie in Ihrem Kopf Klarheit schaffen. Tun Sie dies wiederholt, erfüllt Ihr Gehirn auch unter Stress seine Aufgaben besser. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, alle Elemente »unter einen Hut zu bringen« und sich so selbst zu helfen – Möglichkeiten, die ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels erläutern werde.
Durch Köpfe auf Kissen und Umarmen bis zur Entspannung wurden Kates und Pauls Vier Aspekte der Balance aktiviert. Umarmen bis zur Entspannung war eine Herausforderung für Pauls Selbstempfinden. Er war bezogen auf Sex der verlangensstärkere, bezogen auf Umarmungen jedoch der verlangensschwächere Partner. Bei Umarmungen fühlte er sich weniger wohl als Kate. Auf den ersten Blick erschien es ihm als vielversprechend, dass Umarmen bis zur Entspannung ihm helfen könnte, seine Orgasmusprobleme zu überwinden. Allerdings wurde dadurch sein Problem offenkundig. Als er die Umarmung schließlich ausführte, musste er viel Mühe darauf verwenden, Geist und Herz zu beruhigen.
Für Kate bestand die Herausforderung in der Konfrontation damit, dass sie nach Beginn ihrer Beziehung zu Paul das Interesse am Sex verloren hatte. Umarmen bis zur Entspannung erforderte stärkeres emotionales Engagement. Ihr typisches Muster bei Nachlassen ihres Verlangens war der Rückzug gewesen. Sie musste ihre Ängste davor überwinden, dass sie Paul gegenüber zum Sex verpflichtet sei. Beide mussten daran arbeiten, auf ihren Partner nicht übertrieben stark zu reagieren, und sie mussten eine Beharrlichkeit entwickeln, die sie selbst als sinnvoll empfanden, um in ihrer Beziehung gemeinsam wachsen zu können.
Als Kate und Paul mit Köpfen auf Kissen fortfuhren, machten sie Fortschritte der Art, die ich erwartet hatte: Kates depressive Stimmungen wurden seltener, und auch Pauls manchmal explosive emotionale Ausbrüche ließen deutlich nach.
Dass Kate sich verändert hatte, war für Paul offensichtlich. Zum ersten Mal schimpfte sie ihn während eines ihrer Zusammenbrüche nicht mehr aus. Beispielsweise war sie einmal ohnehin schon über den Verlauf des betreffenden Tages irritiert gewesen, als im Haus etwas geschah, das sie völlig frustrierte. Als Paul Kate weinen sah, machte er sich auf das Schlimmste gefasst. Sie wirkte, als ob sie völlig fertig wäre. Doch statt Paul zu beschimpfen, weil er sich nicht genügend um sie kümmere, unterbrach sie die Interaktion, ging aus dem Haus und umrundete mehrmals den Häuserblock. Bevor sie aufbrach, sagte sie noch: »Das ist nicht deine Schuld. Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen. Ich muss allein damit fertigwerden.« Draußen tobte und weinte sie. Als sie zurückkam, fühlte sie sich immer noch schlecht. Entscheidend aber war, dass sie nicht über Paul hergefallen war, während sie sich schlecht fühlte.
Auch Kate selbst fiel auf, dass sie Fortschritte erzielt hatte, und sie war stolz auf sich. Allmählich lernte sie, ihre Zusammenbrüche zu mäßigen und unter Kontrolle zu bringen. Mehrmals gelang es ihr in solchen Situationen, sich aus dem Automatismus des Zusammenbruchs zu befreien. Zwar war diese Fähigkeit noch nicht sehr ausgeprägt, doch ein wichtiger Schritt war offensichtlich getan. Nicht nur Kates Selbstachtung war gestärkt worden, sondern auch ihr »Selbst«. Auch Pauls emotionale Ausbrüche ließen nach, und er wurde nicht mehr so oft wie früher wütend.
Auch Kates und Pauls Aussehen veränderte sich. Ihre Gesichter wirkten heller und ihre Gesichtszüge weicher. Sie strahlten Lebendigkeit, Energie und generell Gesundheit aus. Frauen in diesem Zustand wirken so, als hätten sie sich Botox spritzen oder sich liften lassen, und Männer wirken sanfter und attraktiver. Es ist kein Geheimnis, weshalb viele Partner in späteren Jahren wieder mit sexuellen Aktivitäten beginnen: Sie finden sich dann attraktiver, sehen besser aus und fühlen sich stärker zueinander hingezogen. Und auch andere Menschen spüren, dass sie attraktiver und zugänglicher sind.
Menschen, bei denen diese allgemeine Aufhellung der Ausstrahlung zu erkennen ist, haben das Gefühl, ihre Augen wirkten klarer und heller, ihr Geist sei schärfer und ihre allgemeine (und emotionale) Intelligenz nehme zu. Der Effekt des Brightening stellt sich in unseren Sitzungen häufig nach schwierigen Konfrontationen ein, die von den Partnern kollaborativ bewältigt werden. Der Vorgang geht zu schnell vonstatten und ist zu dramatisch, als dass man schlicht von »Lernen« sprechen könnte. Nach meiner Überzeugung spiegeln sich darin Veränderungen der Funktionsweise des Gehirns.
Brightening erkennen auch unvorbereitete Beobachter – so erging es mir, als ich das Phänomen zum ersten Mal bemerkte. Etwa am vierten Tag meines neuntägigen Paar-Workshops Passionate Marriage®sagten die Teilnehmer plötzlich zueinander: »Du siehst ja völlig anders aus! So blendend!« Die Paare, bei denen schon früh im Laufe eines solchen Workshops das Brightening auftritt, sind immer diejenigen, die den übrigen Teilnehmern am ersten, zweiten und dritten Tag der Veranstaltung besonders leid taten, weil sie sich zu dieser Zeit mit ihren Problemen auseinandersetzten und bei Außenstehenden einen schrecklichen Eindruck erweckten. Am vierten Tag sind die anderen Teilnehmer dann neidisch auf sie und betrachten ängstlich ihre eigenen Partner. Dieses Muster beobachte ich seit zehn Jahren regelmäßig bei Paar-Workshops, und auch aus meiner therapeutischen Arbeit mit einzelnen Paaren ist mir dieses Phänomen wohlbekannt.
Paare, bei denen Brightening erkennbar wird, denken aufgrund dessen auch anders und gehen besser mit ihren Emotionen um. Ihre Ehen werden stabiler und stehen in geringerem Maße unter dem Einfluss von Ängsten. Die Beziehungen der Partner zu ihren Kindern, Eltern und Freunden werden facettenreicher, tiefer und robuster. Diese Veränderungen sind relativ immun gegen Stress, im Gegensatz zu dem, was man erwarten könnte, wenn sich bei den Partnern die Funktionsweise des Gehirns verändert.
Kate wurde ausgeglichener, und ihre Ausbrüche starker Emotionalität wurden seltener. An manchen Tagen war sie zwar immer noch niedergeschlagen, doch es gelang ihr besser, ihre Tiefs nicht mehr so stark ausufern zu lassen wie vorher. Nicht nur Kates Gesichtsausdruck, ihre emotionale Grundstimmung und ihr Verhalten hellten sich auf, sondern auch die Menschen in ihrer Umgebung reagierten positiver auf sie. Paul sagte, er könne nun entspannter mit ihr umgehen und mache sich weniger Sorgen wegen des nächsten Emotionsausbruchs. Ihr Sohn, ein Teenager, meinte, er habe den Eindruck, seine Eltern kämen besser miteinander aus. Paul und Kate waren erstaunt über diese Bemerkung, und ihnen wurde dadurch klar, dass ihr Sohn genau verfolgte, was mit ihnen los war, dass er ihr Verhalten beobachtete und dass er spiegelte, was in ihrem Geist vor sich ging. Aufgrund seines äußeren Verhaltens hätten sie nie geglaubt, dass er ihnen überhaupt Beachtung schenkte.
Ebenso wichtig war, dass sich Kates sexuelles Verlangen änderte. Dass sie und Paul einander im Geiste näher kamen, wenn ihre Körper einander berührten, verstärkte Kates Verlangen nach Sex. Trotz der zahlreichen sexuellen Erfahrungen, die sie vor ihrer Beziehung mit Paul gemacht hatte, war dies etwas völlig Neues für sie. Die Veränderung von Kates Verlangen bezog sich nicht ausschließlich auf ihr Verhältnis zu Paul. Vielmehr spürte sie in sich ein Verlangen, das von ihren Gefühlen Paul gegenüber unabhängig war. Sie fühlte sich zwar auch zu ihm stärker hingezogen, aber da war auch noch etwas anderes: Sie spürte, dass ihr Verlangen zutage trat. Sie verglich es mit dem Knallen des Korkens einer Champagnerflasche.
Es war sicher kein Zufall, dass Kates Kindheitserinnerungen nun deutlicher wurden. Zu Beginn unserer Sitzungen hatte sie gesagt, sie könne sich nur an wenige Details erinnern, doch nach diesem Wenigen zu schließen sei ihre Kindheit wohl ziemlich normal verlaufen. Ihre Mutter hatte sich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder gekümmert. Ihr Vater hatte hart gearbeitet und war oft nicht zu Hause gewesen. Ihre Eltern waren gut miteinander ausgekommen. Sie und ihre Schwester hatten eine normale Schullaufbahn hinter sich. Einmal war ihr Vater ziemlich wütend geworden, als er sie beim Rauchen erwischt hatte. Sie war bei den Girl Scouts aktiv gewesen. Ihre Mutter hatte ihr geholfen, Abzeichen auf ihre Pfadfinderuniform zu nähen. Also wirklich nichts Ungewöhnliches, sondern völlig normale Dinge.
Kates revidiertes Bild sah völlig anders aus: Ihr Vater war häufig nicht zu Hause gewesen, und wenn er da war, dann oft betrunken. Ihre Mutter war nicht bereit oder in der Lage gewesen, sich um Kate und ihre ältere Schwester zu kümmern. Oft hatte sie mit ihrer Schwester zusammen wichtige Hausarbeiten erledigt, um ihre Mutter zu unterstützen. Wenn die Mutter aus irgendeinem Grund erschöpft gewesen war, hatte sie sich tagelang in ihr Zimmer zurückgezogen. Außerdem war sie eine egozentrische und brutale Frau gewesen, der es Freude gemacht hatte, das Lächeln auf den Gesichtern ihrer Kinder erstarren zu lassen. Das einzige, was sie wirklich gut konnte, war Nähen. Die Situation verschlimmerte sich, als Kates Schwester mit 18 Jahren heiratete und auszog. Danach hielt auch Kate sich von der elterlichen Wohnung möglichst oft fern; doch die Mutter spielte mit ihr mentale Katz-und-Maus-Spiele, um sie an sich zu fesseln. Wenn es Kate gelang auszubrechen, verbrachte sie einen großen Teil ihrer Zeit auf Partys und mit Sex.
Wie hatte sich Kates Bild so radikal verändern können? Bisher war ihre autobiographische Erinnerung sehr unvollständig gewesen. Lücken im autobiographischen Gedächtnis treten oft nach traumatischen Erlebnissen oder nach dem Erleben überwältigender Umstände auf. Die Art, wie Kate die Dinge vorher gesehen hatte, gelangte in ihrem Bild der verbliebenen Details zum Ausdruck. Weil etliche wichtige Teile fehlten, konnte Kate die Einzelheiten arrangieren, wie es ihr gefiel. Das Bild eines Menschen von seinem Leben ist so ungenau, dass es ihm gelingt, seiner Angst Herr zu werden, und andererseits so genau, dass der »Blödsinnsdetektor« nicht aktiviert wird. Letzteres galt insbesondere für Kates große Lücken im autobiographischen Gedächtnis.
Auch Paul durchlief eine Wandlung. Ihm wurde klar, dass er mit einem hohen Wutpegel lebte. Dies war seine automatische Reaktion auf fast alles in seinem Leben. Was Paul beunruhigte, ließ in ihm Wut aufwallen. Als ihm dies klar wurde, ängstigte seine generelle Reaktion ihn. Dass Kate sich all die Jahre über seine Wut beklagt hatte, gewann für ihn nun eine völlig neue Bedeutung. Bisher hatte Paul diese Vorfälle unter der Rubrik Kate ist ein verrücktes Miststück verbucht. Nun sorgte er sich und fragte sich: Was zum Teufel ist nur mit mir los?
Paul konfrontierte sich mit seiner Wut, in der er die typische Reaktion seines Gehirns auf Angst und Stress erkannte. In Situationen, die ihn emotional überbeanspruchten (was oft der Fall war), kam seine Wut zum Vorschein. Aufgrund seines Wandlungsprozesses verfing er sich nicht mehr so leicht in seinen Gedanken und Gefühlen, wenn er wütend wurde. Er merkte nun, wenn seine Emotionen außer Kontrolle zu geraten drohten und dass es dann wichtig war, sich zusammenzureißen und den eigenen Zustand wieder unter Kontrolle zu bringen. Wenn ihm dies nicht gelänge, wäre es auch unnütz, intellektuell zu verstehen, weshalb ein bestimmter Reiz ihn in Rage gebracht hatte. Statt seine Gefühle auszudrücken, musste Paul lernen, sie zu tolerieren.
Wie anderen Klienten gelang es auch Paul allmählich, mit Hilfe der Vier Aspekte der Balance seine Wut zu mäßigen. Im übrigen wurde er nun ganz generell seltener wütend. Seine Ehe wurde stabiler und seine Allianz mit Kate noch stärker. Paul und Kate vermochten ihre Emotionen besser zu ertragen, sie gerieten nicht mehr so leicht in eine Krise, wurden in Krisen mit ihren Gefühlen besser fertig und ertrugen es, wenn andere Menschen in einer Krise waren.
In einer Sitzung sagte Paul: »Wissen Sie noch, dass ich gesagt habe, ich könnte mich nicht an meine Kindheit erinnern? Nachdem mir meine Wut bewusster geworden ist, erinnere ich mich auch wieder daran, dass mein Vater schreckliche Wutanfälle bekam. Ich habe das irgendwie immer gewusst, dieses Wissen aber nicht zugelassen. Jetzt ist mir klar, dass ich es nicht wissen wollte. Es ist, als hätte ich diese Informationen in der falschen Rubrik abgespeichert. Obwohl sie sich unmittelbar vor meinen Augen befanden, konnte ich sie nicht sehen.
Soweit ich mich erinnere, musste mein Vater immer lange arbeiten. So hieß es jedenfalls in meiner Familie. Er war ein wichtiger leitender Angestellter, und wir mussten Verständnis für den Stress haben, unter dem er ständig litt. Dies war die Erklärung für alles. Doch wenn er seine Wutanfälle bekam, standen wir jedes Mal unter Schock. Wir verbargen das, weil man sofort zum Sündenbock wurde, wenn man auch nur im Geringsten anklingen ließ, dass er sich wie ein Arschloch verhielt. Einmal habe ich mitangesehen, wie mein Vater meinen Bruder schlug, weil dieser ihm Widerworte gegeben hatte. Das war für mich, als ob ich selbst geschlagen würde – als würden wir beide gleichzeitig geschlagen. Als meine Mutter das Verhalten meines Vaters zu entschuldigen versuchte, war ich darüber so frustriert und wütend, dass ich glaubte, ich würde explodieren.
Rückblickend entspricht mein Bild von meiner Kindheit dem familiären Konsens: ›Vater arbeitet für die Familie, und wir müssen würdigen, wie hart er arbeitet. Ja, er hat ein Problem mit seiner Wut, aber das ist in Anbetracht dessen, dass er ständig unter starkem Stress steht, nur zu verständlich.‹ Es macht mich wirklich verrückt, dass meine Familienangehörigen über meinen Vater genau das Gleiche gesagt haben, was Sie über meine Wut sagen. Und ich empfinde es als unheimlich, dass diese Äußerungen mit so unterschiedlicher Zielrichtung benutzt wurden. Meine Familie hat dies gesagt, um die Wut meines Vaters zu entschuldigen, und Sie benutzen es mir gegenüber, um mir zu helfen, meine Wut unter Kontrolle zu bringen.«
Paul und Kate machten so gute Fortschritte, dass es für sie wieder möglich und auch wünschenswert wurde, miteinander zu schlafen. Dies machte den erfolgreichen Abschluss ihrer Therapie wahrscheinlicher. Die schwierigsten Hürden hatten sie bereits überwunden: die Entwicklung einer tragfähigen kollaborativen Allianz und die Erschließung neuer Arten der Nutzung physischen Kontakts. Dies gelang ihnen durch Arbeit an der Weiterentwicklung der Vier Aspekte der Balance. Sie waren nun auch eher bereit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sogar auf die Gefahr hin, dass ihnen das, was ihnen dadurch bewusst wurde, nicht besonders gefiel. Ihre Angst davor, von ihrem Partner gehalten und gesehen zu werden, nahm ab. Die Schreiduelle zwischen ihnen hörten auf. Sie führten schwierige – aber notwendige – Gespräche, die sie bisher stets vermieden hatten.
Die Fähigkeit zu sanftem und liebevollem Sex ist eng mit den Vier Aspekten der Balance verbunden. Man muss an sich selbst festhalten, um sich tief auf den Partner einlassen zu können. Man muss sich damit auseinandersetzen, wer man ist (sowohl sexuell als auch in anderer Hinsicht), und man muss sich darüber klar werden, ob man das als okay empfindet oder nicht. Es kann sehr schwierig sein, sich in diesem Maße – und insbesondere auf diese Weise – er-kennen zu lassen. Die erotische Beziehung zu einem Partner zu überprüfen ist schwerer, als dies im Falle eines One-night-Stands zu tun, doch eben dies macht sanften und liebevollen Sex mit einem festen Partner so wertvoll.
Sehen Sie dies in Zusammenhang mit den Vier Aspekten der Balance: Sanfter und liebevoller Sex erfordert ein stabiles und flexibles Selbst, das dadurch andererseits erweitert und gefestigt wird. Wenn Sie zulassen, dass zwischen Ihnen und Ihrem Partner sowohl emotional als auch physisch eine Verbindung entsteht, werden dadurch Ihre Selbstkontrolle, Ihr Selbstwertgefühl und Ihr Gefühl, persönlich handlungsfähig zu sein, auf den Prüfstand gestellt. Alle Ängste vor dem Verschlungenwerden oder vor dem Verlust der Autonomie werden dadurch wiederbelebt.
Sanfter und liebevoller Sex verbessert die Fähigkeit, Geist und Herz zu beruhigen. Es fordert Ihnen viel ab, Ihren Radar für Gefahrenwahrnehmung abzustellen, sich selbst zu vertrauen und sich zu entspannen – und dann zuzulassen, dass Ihr Partner Sie so sieht, wie Sie sind, und Ihnen nahe ist. Ein solches Maß an Er- oder Gekanntwerden kann sehr belastend wirken. Geben Sie Ihrem Drang aufzugeben nicht nach, wenn Ihre Angst geweckt wird.
Sanfter und liebevoller Sex erfordert, dass Sie die Reaktionen Ihres Partners maßvoll beantworten. Allerdings gibts es keine Garantie dafür, dass die Reaktion Ihres Partners »Ja! Lass es uns machen!« sein wird. Wenn er nervös wird oder sich bedroht fühlt, reagiert er wahrscheinlich über, wird wütend und verhält sich Ihnen gegenüber herabsetzend, herablassend, abweisend oder streitlustig. Bei sanftem und liebevollem Sex sind in jedem Fall die Vier Aspekte der Balance aktiv, unabhängig davon, ob Sie tatsächlich Liebe machen oder sich deswegen streiten.
Sanfter und liebevoller Sex erfordert sinnvolle Beharrlichkeit und die Bereitschaft, um der eigenen Entwicklung willen Unbehagen zu ertragen. (Damit meine ich nicht, dass Sie einen schmerzhaften Koitus ertragen müssen.) Manchmal müssen Sie sich auf schwierige Diskussionen oder enttäuschende sexuelle Begegnungen einlassen, um Ihre Ausgangsposition zu verbessern. Falls Sie sanften und liebevollen Sex nicht gewohnt sind – insbesondere mit Ihrem festen Partner –, verhalten Sie sich möglicherweise ungeschickt, nervös oder sogar ein wenig verängstigt.
Sind Sie vielleicht gut in »vulgärem, dreckigem« Sex, scheuen aber davor zurück, sich beim Sex von Ihrem Partner halten zu lassen? Je tiefer Ihre Verbindung zu ihm reicht, umso wahrscheinlicher treten unaufgelöste Probleme zutage. Sanfter und liebevoller Sex erfordert selbstbestätigte Intimität statt einer Bestätigung, die von Ihrem Partner abhängig ist.
Und sanfter und liebevoller Sex erfordert manchmal mehr persönliche Integrität, als Sie haben. Sanfter und liebevoller Sex kann nicht nur Ihr Sexualleben intensivieren, Ihre Beziehung zu Ihrem Partner und Ihre Einstellung verbessern, sondern sich auch sehr positiv auf Ihr Gehirn auswirken. Wenn Sie Ihren Körper auf diese Weise benutzen, schaffen Sie dadurch sieben wichtige Voraussetzungen, die ebenso wie Umarmen bis zur Entspannung, Köpfe auf Kissen, Spüren und Berühren und Auflösen von Kitzligkeit Veränderungen im Gehirn fördern. Sie sind auf den Seiten 334 und 364f. zusammengefasst.
Probleme bezüglich Ihres sexuellen Verlangens könnten durch die Entwicklung Ihrer Fähigkeit zu sanftem und liebevollem Sex gelöst werden. Im Folgenden werden zwei Möglichkeiten beschrieben, dies zu erreichen.
Gewöhnlich hatte Kate sich beim Sex an Pauls Initiativen orientiert. Er vögelte am liebsten vor dem Einschlafen. Sexuelle Aktivitäten fanden grundsätzlich im Liegen und im Bett statt, und zwar in der Regel unter der Bettdecke. Selbst wenn Kate ihre Augen öffnete, konnte sie nicht viel sehen. Der Raum war dunkel, und es war still. Paul hielt die Augen beim Sex gewöhnlich geschlossen. Sie schauten einander nie an, und sie küssten einander ebenso selten, wie sie miteinander redeten. Statt das Klatschen der Wellen oder den Wind in den Bäumen zu hören, wie Kate es bei ihren sexuellen Eskapaden als Jugendliche erlebt hatte, hörte sie nur das Ticken einer Uhr, während Paul sie »begrapschte« und versuchte, sie in Erregung zu versetzen. Standard war bei ihnen die Missionarsstellung. Sex in Hündchenstellung erschien Paul als ziemlich gewagt. Dies alles war weit von dem Sex mit offenen Augen entfernt, von dem Kate träumte.8 9
Kate berichtete mir von einem Sextraum, den sie gehabt hatte. Ohne dass es ihr klar gewesen war, hatte sie sich Sex mit offenen Augen vorgestellt, bei dem es zu einem eindrucksvollen intersubjektiven Erlebnis kommt. Natürlich kann man beim Sex mit offenen Augen den Partner anstarren und die eigenen Gedanken abschirmen. Doch in ihrem Traum hatte sich Kate einem anderen Menschen bewusst geöffnet, und sie hatte ihn in ihrem Geist lesen und einen intersubjektiven Zustand hervorrufen lassen, in dem sie den anderen erkannte und auch selbst zuließ, von ihm erkannt zu werden, während auch er dies zuließ.
Wir können Sex mit offenen Augen noch effektiver nutzen, wenn uns klar ist, dass er uns ermöglicht, etwas über uns selbst zu lernen, während wir zulassen, dass unser Partner uns erkennt. Effektiv bedeutet nicht, dass dies ohne Schwierigkeiten möglich ist. Sex mit offenen Augen stellt die Vier Aspekte der Balance auf die Probe. Effektiv bedeutet, (a) zu verstehen, warum und inwiefern sich Sex mit offenen Augen wunderbar oder unangenehm anfühlt, und (b) dieses Wissen zu nutzen, um die Aufmerksamkeit zu fokussieren, wenn man erneut bewusst Sex mit offenen Augen praktiziert. Auf diese Weise kann man das Lustempfinden stärken, das Unbehagen verringern und die Vier Aspekte der Balance besser nutzen und sie dadurch verstärken.
Man kann Sex mit offenen Augen sogar praktizieren, ohne den Partner auch nur zu berühren. Man kann sich einfach selbst stimulieren und dabei dem Partner in die Augen schauen! So vermitteln Sie ein klares Bild davon, wer Sie sind, fordern sich selbst heraus, beruhigen sich, reagieren nicht über und tun einen großen Schritt in Richtung sexueller Reife.
Die meisten Menschen schließen beim Sex die Augen und löschen das Licht. Warum? Jedenfalls nicht, weil das romantischer ist, sondern eher, weil sie fürchten, sie würden nicht geliebt, wenn jemand sie wirklich erkennen würde. Sie unterbrechen den Kontakt, weil sie fürchten, ihrem Partner so nahe zu kommen, dass sie seinen Geist berühren und spiegeln können. Menschen, die nicht in der Lage sind, bei sich selbst zu bleiben, lassen nicht zu, dass andere sie sehen.
Viele Menschen tun das nicht. Im Rahmen einer Umfrage, die auf der Website passionatemarriage.com durchgeführt wurde und an der 10500 Personen teilnahmen, gaben 23 Prozent an, sie würden beim Sex nie zu ihrem Partner in Blickkontakt treten, weil entweder sie selbst die Augen schlossen oder ihr Partner stets die Augen geschlossen halte. Weitere 14 Prozent stellten beim Sex nie Blickkontakt zum Partner her, obwohl beide Partner die Augen geöffnet hielten. Nur 52 Prozent gaben an, beim Sex gelegentlich in Blickkontakt zum Partner zu treten. (Bei den restlichen zehn Prozent kam es überhaupt nicht zum Sex.)
Menschen, die beim Sex die Augen öffnen, haben ihre Augen nicht in jedem Augenblick offen. (Es geht nicht um einen Wettbewerb im Augenoffenhalten, und natürlich dürfen Sie zwischendurch blinzeln oder die Augen schließen.) Manchmal ist es einfach angenehm, sich zurückzulehnen, die Augen zu schließen und sich vom Partner in den »siebten Himmel« befördern zu lassen. Doch das Schließen der Augen dient in diesen Fällen nicht dazu, den Partner zu vermeiden.
Aufgrund dessen, wie jemand Sie »nimmt«, können Sie Rückschlüsse auf den Geist des Betreffenden ziehen, denn dadurch entsteht eine spezielle Verbindung. Darum geht es bei sanftem und liebevollem Sex. Doch wenn Ihr Partner nicht einmal die Augen öffnet oder Sie nicht sehen will, wissen Sie, dass er nicht besonders stark an Intimität interessiert ist und wahrscheinlich auch nicht daran, sich selbst zu sehen.
Falls das soeben Beschriebene Ihrer persönlichen Situation entspricht, könnte Sex mit offenen Augen Ihnen helfen, denn diese Praxis stellt Ihre Identität auf den Prüfstand, Sie werden nervös und sind wahrscheinlich eher bereit, aktiv zu werden. Außerdem wird so wahrscheinlich Ihre Emotionalität aktiviert, und Sie können sich dadurch weiterentwickeln. Möglicherweise fühlen Sie sich anfangs etwas unwohl, doch ein wenig sinnvolle Beharrlichkeit hilft Ihnen in diesem Fall, darüber hinwegzukommen. Sex mit offenen Augen verlangsamt die sexuelle Aktivität und verlängert somit die Begegnung, verringert außerdem Ängste und stärkt das Gefühl emotionaler Verbundenheit. Raum zum Atmen entsteht, und die Entspannung wird gefördert – mit anderen Worten: Kaninchenhaftes Gerammel ist passé. Mit der Zeit wird Sex mit offenen Augen für Sie zur Normalität werden.
Wenn Ihre sexuelle Praxis sich verändert, verändern auch Sie sich.
Sex mit offenen Augen erweitert und vertieft die Bedeutungen, die Sie mit Sex verbinden. Es wirkt ziemlich elektrisierend, wenn Blickkontakt (eye contact) zum Kontakt von Ich zu Ich (»I to I« contact) wird – zur Begegnung Ihres Selbst mit dem Selbst Ihres Partners. Nach dem zu schließen, was ich bei meinen Klienten erlebt habe, steigert dieser Augenblick der Begegnung mit einem Menschen, den Sie lieben, die Plastizität Ihres Gehirns und fördert Veränderungen zum Positiven.
Wenn Sie den Sprung wagen und sich zum Sex mit offenen Augen entschließen, sollten Sie Folgendes bedenken: Was Paare konkret erleben, ist unterschiedlich, es entspricht aber in jedem Fall den Beteiligten. Einige empfinden Sex mit offenen Augen als sehr anregend, andere stößt er eher ab. Manche empfinden Sex mit offenen Augen als sehr bedeutsam und sanft, andere als beunruhigend oder peinlich. Manche fühlen sich dadurch zu sehr entblößt. Sex mit offenen Augen ist der Ausdruck einer kollaborativen Allianz, und wenn eine solche Allianz nicht besteht, wird sich dies in irgendeiner Weise bemerkbar machen. Sex mit offenen Augen lädt Ihren Partner ein, in Ihr Herz und Ihre Seele zu schauen und Ihre gemeinsame Beziehung zu untersuchen.
Falls Ihnen dies zu fremd ist, können Sie mit Köpfe auf Kissen beginnen. Dies hilft Ihnen, von Anfang an eine emotionale Verbindung zu Ihrem Partner herzustellen. Besteht diese, erfordert Sex mit offenen Augen nichts weiter, als »der Verbindung zu folgen«, die beim Vorspiel hergestellt wurde, und sie bei allem, was danach geschieht, aufrechtzuerhalten. Wenn Ihr Partner in Ihren Augen Interesse erkennt und Ihre Absicht spürt, ist das die Vorbereitung darauf, ihn zu nehmen. Spüren und Berühren kann die Situation entscheidend verbessern. Schauen Sie in Ihren Partner hinein, lassen Sie zu, dass er in Sie hineinschaut, und verbinden Sie dies mit dem Austausch von Zärtlichkeiten. Dies ist eine wunderbare Möglichkeit, den für Blickkontakt bzw. für geistiges Spiegeln zuständigen Schaltkreis in Ihrem Gehirn zu nutzen.
Falls Sie sich in der Rolle des oder der Empfangenden (bzw. »Nehmenden«) befinden, können Sie Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf den Punkt des physischen Kontakts zu Ihrem Partner richten, um sich auf seine Berührung einzustimmen. Fokussieren Sie »von innen«, indem Sie mit Ihrem Geist den Bewegungen des Empfindungsmusters folgen. Für den Fall, dass Ihnen dies Schwierigkeiten bereitet, hier der Hinweis, dass einige es als nützlich empfinden, »von außen« zu fokussieren, indem sie ihren Partner dabei beobachten, wie er sie berührt. Wenn Sie leicht ablenkbar sind oder Ihr Geist beim Sex häufig abdriftet, können Sie sich einfach darauf konzentrieren, die Verbindung durch die Berührung weiter aufrechtzuerhalten. Sie erreichen dann einen Punkt, an dem Sie die Berührung Ihres Partners »von innen« verfolgen und gleichzeitig Blickkontakt herstellen können. Das Spiegeln seines Geistes verringert so nicht Ihre Empfindungen, sondern wird zu einer weiteren Dimension der Verbundenheit. Schließlich vereinigen sich Ihre physischen Empfindungen und der Klang Ihrer Emotionalität zu einer großen Symphonie, statt dass es bei einem merkwürdigen Gemisch aus Kammermusik und MTV bleibt. Die visuelle, emotionale, physische, sensorische und kognitive Vereinigung mit Ihrem Partner wird dann zu einem integrierten Ganzen. Dieser bedeutungsvolle somatosensorische Augenblick der Begegnung, der durch ein hohes Maß an neuronaler Plastizität gekennzeichnet ist, kann sich auf Ihr sexuelles Verlangen sehr belebend auswirken.
Achten Sie beim Praktizieren von Köpfe auf Kissen darauf, dass nur Ihr linkes Auge geöffnet ist. Sie sehen dann Ihren Partner, ohne das Gefühl zu haben, selbst gesehen zu werden. Vielleicht finden Sie später irgendwann den Mut, auch das andere Auge zu öffnen. Wenn Sie wollen, können Sie auch ein wenig »Kuckuck« spielen!
Sobald Sie sich beim Sex mit offenen Augen wohlfühlen, können Sie sich dem Orgasmus mit offenen Augen zuwenden. Es ist ein sehr eindrucksvolles Erlebnis, einem Menschen, den Sie lieben, vor, während und nach dem Orgasmus in die Augen zu schauen. Unter den intensiven Augenblicken der Begegnung, die Sie erleben können, ist dieser einer der besten.
Beim Orgasmus mit offenen Augen kommt alles zusammen, womit wir uns bisher befasst haben: Spüren und Berühren, Augenblicke der Begegnung, gesehen, gespürt und gekostet werden, zulassen, dass Ihr Partner die Vorgänge in Ihrem Geist spiegelt, ihm Zugang zu Ihrem Innersten gewähren. Dies alles zusammen ist eine der schönsten und körperlich authentischsten Demonstrationen des Wollens überhaupt. Man muss dazu das Wollen (bzw. das Begehren) wollen, und gleichzeitig ist bewusst gewähltes und frei entwickeltes Verlangen erforderlich.
Orgasmen bei geöffneten Augen gleichen Mr. Spocks »vulkanischer Gedankenverschmelzung« in Star Trek: eine sehr tiefreichende Form des Sich-Einlassens auf den Partner und der emotionalen Transparenz. Die Gegenwart Ihres Partners beinhaltet einen Rahmen emotionaler Bedeutung, ohne dass Sie von Ihren physischen Empfindungen abgelenkt werden. Dies ist nur möglich, wenn Sie sich so akzeptieren, wie Sie im betreffenden Augenblick sind, denn das, was Sie momentan sind, ist die Person, die Ihr Partner sieht. Sie müssen an sich selbst festhalten und Ihren Partner einladen, in Sie hineinzuschauen, während Sie zum Orgasmus kommen.
Fühlen Sie sich nicht unzulänglich, wenn Sie den Orgasmus mit geöffneten Augen nicht auf Anhieb erreichen, denn das schaffen nur wenige. Unter den 10500 Teilnehmern der weiter oben erwähnten Umfrage, die auf der Website passionatemarriage.com durchgeführt wurde, berichteten nur 13 Prozent, dass sie oder ihr Partner Orgasmen bei geöffneten Augen hätten. Insofern wäre es naheliegend zu behaupten, Orgasmen mit geöffneten Augen seien (statistisch gesehen) die absolute Ausnahme. Doch wenn Sie wollen, können Sie lernen, solche Orgasmen zu bekommen. Dieses Ziel erreichen Sie ebenso zuverlässig wie Heilung von Kitzligkeit, und zwar mit Hilfe einer sehr ähnlichen Methode.
Paul fing an, sich damit auseinanderzusetzen, weshalb er nicht zum Orgasmus kam. Warum fühlte er sich unwohl beim sanften und liebevollen Sex mit einer Frau, die diesen wollte? Und zwar mit seiner eigenen Frau, zum Teufel! Was für eine noch umfassendere »Erlaubnis« wünschte er sich denn noch? Welche Bedingungen mussten noch erfüllt sein, um dies möglich zu machen? Paul wurde klar, dass er sich aus seinem Gefängnis befreien wollte.
Eines Tages traf Paul auf Kate, als sie sich nach einem Bad abfrottierte. Paul betrat das Badezimmer, nahm Kate schweigend das Frottiertuch aus der Hand und stand dann regungslos da. Kate schaute ihn neugierig an. Offenbar verstand sie nicht, was da vor sich ging. Paul nahm sie bei der Hand, führte sie zum Toilettentisch und forderte sie auf, sich mit dem Rücken zum Spiegel zu setzen. In diesem Moment glaubte Kate, Paul wolle mit ihr über etwas Wichtiges reden.
Paul lehnte sich vor und legte seine Hände auf die Innenseiten ihrer Oberschenkel. Nun ging Kate blitzartig auf, was Paul im Sinn hatte. Sie schaute ihn ungläubig von der Seite an. Paul lächelte und erwiderte ihren Blick. Langsam schob er ihre Oberschenkel auseinander. Er trat vor, so dass er über ihr stand. Kein Teil seines Körpers außer seinen Händen berührte sie. Während er die Innenseiten ihrer Oberschenkel streichelte, unterbrach er nie den Blickkontakt. Kate grinste ihn an. Dann brach Paul das Schweigen.
»Wolltest du das etwa, du unartiges Mädchen?«
Kate glaubte, sie sei gestorben und in den Himmel gekommen. »Ja. … Bist du ein unartiger Junge?«
»Das werden wir sehen.« Paul antwortete umgehend und bestimmt. Kate kicherte.
Paul nahm Kate bei der Hand und geleitete sie auf den weichen Teppich. Sie war begeistert darüber, dass sie nicht im Bett gelandet waren. Dann praktizierten sie zuerst Umarmen bis zur Entspannung, wobei Kate auf Pauls Brust lag.10 Es folgte Köpfe auf Kissen, wozu sie einen Stapel Frottiertücher benutzten. Nachdem sie dies eine Weile intensiv praktiziert hatten, leckte Paul zwei Finger ab und berührte damit Kates Schamlippen. Kate lächelte und schaute ihn erfreut an.
Paul öffnete die Schamlippen mit einer Hand, leckte zwei Finger der anderen ab und führte sie zur Klitoris. Bei alldem unterbrach er nie den Blickkontakt zu Kate. Kate spiegelte unterdessen die Vorgänge in Pauls Geist. Sein Geist stimulierte ihre Klitoris und schaute ihr gleichzeitig in die Augen. Kate »las« Paul. Er meinte es ernst!
Dann leckte Paul seine Finger erneut ab und befeuchtete die Klitoris mit mehr Speichel. Kate dachte: »Oh Gott, er meint es wirklich ernst!«
Paul blickte Kate weiter an, während er mit den Fingern ihre Klitoris stimulierte. Er strahlte Entschlossenheit aus, und seine Augen funkelten. Entscheidend war nicht, wie er seine Finger bewegte, sondern was in seinem Geist vorging. Das törnte Kate unglaublich an. Es ging nicht nur um die Empfindungen in ihrer Klitoris. Die sexuellen Schwingungen, die von Paul ausgingen, rissen sie mit sich. Außer Kates Stöhnen war kein Geräusch zu hören.
Stöhnen aus Lust war für Paul und Kate neu. Paul las, was in Kates Geist vorging. Als sie sich dem Orgasmus näherte, schlossen sich ihre Augen allmählich. Paul lachte und sagte: »Bleib bei mir.« Kate schaute Paul an, und ihr Blick war voller Liebe.
Beim Orgasmus mit offenen Augen geht es um die Öffnung der »emotionalen Rollladen« sowie darum, dass Sie Ihren Partner in sich aufnehmen und ihm Zugang zu Ihrem Geist gewähren. Kate schaute Paul an und »trank ihn«. Mehr war nicht erforderlich, um ihr »den Rest zu geben«. Ein Ausdruck von Ehrfurcht erfasste ihren Blick. Ihr Körper krümmte sich reflexhaft, und sie atmete aus, »Ahhhhhhhh!« Paul gluckste in sich hinein.
Dann lachte Kate, und Paul mit ihr.
»Oh Gott, ich habe nicht nur einen Orgasmus mit offenen Augen bekommen, sondern ich habe während meines Orgasmus auch noch gelacht!«
»Das kann man sagen«, bestätigte Paul.
Paul entspannte sich, um Kate wieder zu Atem kommen zu lassen. Doch sie ließ keinen Augenblick ungenutzt verstreichen und legte sich auf ihn.
»Ich dachte, du wärest tot«, sagte Paul.
»Ich bin tot, was das Genommenwerden angeht. Jetzt bist du an der Reihe.«
»Willst du dir nicht eine Minute Zeit lassen, um dich zu entspannen?«
Statt zu antworten, setzte Kate sich auf Pauls Hüften. Sie umgriff mit ihren Händen seinen Nacken und benutzte ihre Arme, um das Gewicht ihrer Oberschenkel zu verringern. In dieser Position konnte sie ihre Hüften frei auf und ab bewegen. Paul legte sich ein Kissen unter den Kopf, so dass es ihn nicht anstrengte zu sehen, wie Kate sich ihm näherte. Kate dachte: Er macht es sich bequem und zieht sich nicht zurück. Also los! Kate veränderte die Position ihrer Füße so, dass es für sie leicht wurde, sich zu bewegen. Dann nahm sie seinen Penis in ihre Vagina und fing an, sich zu bewegen – langsam und rhythmisch auf und ab, auf und ab. Bei einigen Abwärtsbewegungen stieß sie sanft gegen seinen Körper. Der Aufprall resonierte durch ihr Becken.
Während Kate diesen Rhythmus beibehielt, schaute sie sich im Raum um. Die Atmosphäre in ihm wirkte leicht und luftig. Er wirkte wie ein gemaltes Stillleben, eine Momentaufnahme des Lebens. Kate dachte: Es ist genauso wie in meinen Phantasien. Wir machen Sex im normalen Alltag. Während sie weiter ihren Rhythmus beibehielt, fing sie leise an zu summen. Sie schaute Paul an und lächelte.
»Was machst du?«
»Ich liebe dich.«
»Ja, ich weiß. Aber du summst.«
Kate lächelte. Sie behielt den Rhythmus bei, summte weiter und unterbrach das Summen nur, um zu sagen: »Vielleicht summe ich beim Liebemachen.« Paul fand das umwerfend komisch. Er fing nun auch an zu summen. Das wieder fand Kate total witzig.
Nach einer Weile begann Kate, einige Abwärtsbewegungen stärker zu betonen. Diese Stöße erzeugten in Pauls Summen eine kurze Akzentuierung. Als Paul klar wurde, was sie machte, lachte er mit ihr zusammen. Sie spielte auf ihm wie auf einem Kazoo! Eigentlich taten sie dies gemeinsam. Sie machten zusammen wunderbare Musik. Sie waren Freunde. Kate und Paul schauten einander an und lächelten.
Kate ging es nicht nur um Pauls Penis, sondern sie hatte es mit ihrer ganzen Energie und ihrer Essenz auf seinen Geist abgesehen. Ihr war klar, was sie wollte: beobachten, wie Paul sich endlich nehmen ließ. Sie wollte spüren, wie er sich in sie ergoss. Sie wollte miterleben, wie er sich verausgabte und erschöpfte. Paul schaute Kate weiter an, während sie ihre Energie in ihn hineintrieb. Sie dachte: Ich habe ihn doppelt in mir: In meinem Körper und in meinem Geist. Ich nehme ihn ganz in mich auf, absorbiere ihn, umgebe ihn, liebkose ihn.
Kate spürte, dass es für Paul nicht mehr weit bis zum Orgasmus war. Sie waren beide nassgeschwitzt und stärker »auf Touren« als jemals zuvor. Kates verstärkte Abwärtsbewegungen verwandelten Pauls Summen in Grunzer. Oh mein Gott!, dachte Kate, Wir machen wirklich Liebe!
Dann fing Kate an, Paul bei der Aufwärtsbewegung zu nehmen. Nachdem sie seinem Geist ihren Rhythmus eingeprägt hatte, hielt sie bei der Aufwärtsbewegung manchmal inne und nahm anschließend die rhythmischen Auf-und-Ab-Bewegungen wieder auf. Paul wusste nicht, wann Kate innehalten und wie lange eine solche Pause dauern würde. Klar war ihm jedoch, dass Kate mit seinem Geist spielte. Sie nahm seinen Penis und seinen Geist. Sie hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Kate und Paul blickten einander in die Augen. Der Glanz in Kates Augen wurde stärker, und sie begannen einen Dialog, den Liebende zu allen Zeiten geführt haben, ein Gespräch von großer Bedeutung, das nur wenige Worte erforderte.11
Kate sagte: »Ich liebe dich!«
Paul antwortete: »Ich liebe dich.«
»Nein, ich liebe dich.«
»Nein, ich liebe dich.«
»Ich mache Liebe mit dir.« Kate hielt inne, als sie den obersten Punkt ihrer Bewegung erreicht hatte, um zu unterstreichen, was sie meinte.
»Ohhhhhh!« Paul schnappte nach Luft. Kate genoss ihr neu entdecktes Machtgefühl.
»Du liebst mich!«
»Ich liebe dich!« Kates Abwärtsbewegung wurde stärker und ihre Stimme lauter. Ihre Augen waren weit geöffnet und fest auf Paul gerichtet.
»Ja!« Paul brachte sein Gesicht ganz dicht an das ihre heran. Seine Augen waren weit offen, und seine Nasenflügel bebten. Kate gefiel, wie er sich anstrengte, um sich ihr zu nähern.
»Oh Gott, ich komme!« Kate bemerkte einen schockierten Ausdruck in seinen Augen. Mit einem letzten kräftigen Stoß ließ sie ihre Hüften auf ihn herabsinken. Pauls Orgasmus donnerte durch seinen Geist und seinen Körper.
»Jaaaaaaa!!!« Die Atemluft entwich zischend aus seiner Lunge, während seine Arme sich um Kates Hüften legten und sie krampfartig zu sich hinzogen. Er war tief in ihr und fühlte sich vollständig gehalten, voll und ganz willkommen geheißen, völlig zu Hause und in Frieden. Er hatte das Gefühl, dass seine Gedanken einige Minuten lang rasten, während die Zeit stillstand. Der Raum, in dem er sich befand, verschwamm. Er war seiner selbst und seiner Endlichkeit überaus gewahr. Und er war mit einem anderen endlichen, von ihm getrennten Selbst zusammen, das ihm näher war, als er jemals einen anderen Menschen an sich herangelassen hatte. Kate hatte ihm zu diesem Augenblick des Selbstgewahrseins verholfen.
Paul kam der plastische Gedanke, dass Kate ihn in ihrer Vagina hielt, wie eine Mutter ein Kind hält. Als würde sie ihn halten und wiegen. Kates Summen nahm nun eine völlig andere Bedeutung an. Unterdessen drückte sie unablässig abwärts. Paul spürte, dass sie sich in ihre Verbindung hinein lehnte. Sein Bizeps schmerzte, doch er zog sie noch näher zu sicher heran. Die Intensität der Vereinigung bewegte sich an der Grenze zwischen Lust und Schmerz.
Plötzlich wurde Paul klar, dass er wieder bei Kate war. Es war, als hätte er sie nie verlassen. Er war nur nicht mehr so sehr in seine eigenen Gedanken vertieft. Was ihm wie eine kleine Ewigkeit erschienen war, hatte tatsächlich nur eine Minute gedauert. Er merkte, dass er weinte. Eine Welle der Liebe und des Mitgefühls gegenüber Kate überflutete ihn. Er wollte ihr von seiner Reise durch seinen Geist berichten. Als er zu reden begann, merkte er, dass ihr Gesicht glühte. Er hatten einen Blick auf den Zustand positiver Plastizität des Gehirns werfen dürfen, ohne es zu merken.
Es ist unglaublich, wie eine Paarbeziehung funktioniert. Probleme hinsichtlich des sexuellen Verlangens stimulieren die Vier Aspekte der Balance. Könnte der Fluch Ihres Lebens ein Teil des Großen Plans sein? Hat die Natur in die Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen einen Mechanismus eingebaut, der Traumata aufzulösen vermag? Ist dies die Art, wie das Menschengeschlecht seit prähistorischer Zeit sein Gehirn repariert und weiterentwickelt hat?
Wird das auch bei Ihnen so funktionieren? Das hängt davon ab, wie Sie dies alles sehen und nutzen. Der Eingang lockt. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als wirklich Liebe zu machen.