Vor einiger Zeit war ich mit einem der nettesten Menschen, die ich kenne, zum Lunch verabredet, einem Mann, den ich sehr schätze. Er ist von so untadeliger Integrität, dass es sich verbietet, seinen Namen zu nennen. Er war einmal mein Therapeut, und er ist mir zum Freund geworden. Er ist einer der besten Therapeuten, die ich je kennengelernt habe.
Mittlerweile war er erheblich älter geworden, und ich besuchte ihn als Kollege. Wir verbrachten den Nachmittag in einem Restaurant und sprachen sehr offen über unsere berufliche Arbeit, unser Leben und uns selbst. Im Laufe dieses Gesprächs fragte mein Freund mich irgendwann: »Fickst du eigentlich noch?«
Ich bekam einen fürchterlichen Lachanfall und wäre fast von meinem Stuhl gefallen. Ich konnte kaum noch atmen! Nach einigen Minuten fand ich schließlich die Fassung wieder, und ich antwortete: »Ja. Und wie steht es mit dir?«
»Nein«, antwortete mein Freund. »Jedenfalls nicht mehr so wie früher. Ich nehme zu viele Medikamente. Meine gesundheitlichen Probleme haben ihren Tribut gefordert, und ich werde allmählich alt. Aber ich kann dir sagen, ich vermisse es! Du solltest noch ein Buch schreiben, eines über das Ficken. Das ist der Punkt, an dem so viele Paare Hilfe brauchen.«
Diese ganze Szene erschien mir als so kurios und komisch, dass ich einfach nicht aufhören konnte zu lachen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein ganzes Buch über das Ficken schreiben kann, aber ich schreibe gerade etwas Neues, und vielleicht kann ich ein Kapitel über dieses Thema verfassen.«
»Tu’ das«, sagte er und lächelte. »Es gibt so viele Menschen, die nicht wissen, was sie verpassen. Ich weiß es!«
Dies war ein kleiner Teil einer wunderbaren Begegnung beim Lunch, eines Gesprächs mit vielen wichtigen und auch komischen Aspekten. Als wir uns schließlich verabschiedeten, kam mein Freund noch einmal auf das Thema zurück. Mit großem Ernst flehte er mich an: »Schreibe über das Ficken. Schreibe es für junge Paare. Sie verlieren so viel Zeit!«
Wieder musste ich lachen. Doch diesmal blieb mein Freund ernst.
»Dir ist es ernst«, stellte ich fest.
»Ganz bestimmt«, antwortete er unverblümt.
Daraufhin wurde auch ich ernst: »Könntest du etwas genauer erklären, was du meinst? Meinst du, ich soll über Sex schreiben, also über Liebemachen, oder meinst du wirklich Ficken?«
»Ich meine Ficken! Das habe ich doch gesagt. Ficken. Das vermisse ich heute. Es ist einfach zu wichtig, um es sang-und-klanglos verschwinden zu lassen.«
»Okay, ich schau mal, was sich machen lässt.«
Wir wussten beide, dass dies vielleicht unsere letzte Begegnung sein würde – und so war es dann auch tatsächlich. Wir brachten einander unsere Liebe zum Ausdruck. Er küsste meinen Kopf. Seine letzten Worte beim Abschied waren: »Paare verlieren so viel Zeit. Bringe ihnen bei zu ficken. Das wird vielen Ehen ungeheuer viel Kummer ersparen!«
Dieses Kapitel habe ich ihm zu Ehren geschrieben.
Mein Freund meinte Paare wie Nicole und Philipp, die mich wegen ihrer Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens aufsuchten. Sie hatten nur noch einmal im Monat Sex. Nicole hatte das schwächere sexuelle Verlangen. Sie sagte, sie sei nicht an Sex interessiert, wisse aber nicht warum. Im Grunde fühle sie sich nicht asexuell. Philipp war sicher, dass er Sex wollte und brauchte; sein Problem war, dass er nicht genug davon bekommen konnte.
Schon bald offenbarte Nicole, dass ihr die Art, wie ihre sexuellen Begegnungen abliefen, nicht gefiele. Daraufhin ging Philipp deutlich in die Verteidigungshaltung. Nicole erklärte, sie empfinde den Sex mit Philipp als langweilig. Sie würden immer das Gleiche wiederholen. Es sei völlig voraussehbar, wie die Situationen ablaufen würden. Philipp erreiche zu schnell den Orgasmus. Der Sex mit ihm sei nicht romantisch und nicht befriedigend, im Grunde nicht der Mühe wert. Nicole gab zu, dass ein Teil der Schuld bei ihr liege. Auch sie sei faul. Sie investierte nicht so viel Energie in den Sex, wie sie es eigentlich tun müsste.
Philipp war es sichtlich unbehaglich, während Nicole erläuterte, worüber sie unzufrieden war. Es gelang ihm mit Mühe, sich zurückzuhalten. Um Philipps gespiegeltes Selbstempfinden zu stärken, hätte ich Nicole fragen können, was ihr am Sex mit Philipp gefalle. Doch vielleicht wäre ihr nichts eindeutig Positives eingefallen, und ich wollte sie auch nicht ermutigen, ihn zu unterstützen.
Stattdessen forderte ich sie auf zu beschreiben, welche Art von Sex ihr gefalle. Mir erschien es im Interesse beider besser, dem Gespräch diese Wendung zu geben. Nicole zögerte zunächst, beantwortete dann aber meine Frage. Während sie beschrieb, was sie sich wünschte, hellte sich ihr Gesicht auf. Ihre Beschreibung war ziemlich detailliert und anschaulich. Als sie damit fertig war und ihr klar wurde, dass ich sie anschaute und lächelte, errötete sie.
»Warum lächeln Sie mich an?«, fragte sie grinsend.
»Ficken Sie gerne?«
»Ich … ich weiß nicht.«
»Das haben Sie gerade beschrieben.«
»Sie meinen, ob ich Sex mag? Ja, ich mag ihn.«
»Nein, ich meine, ob Sie Ficken mögen? Sie haben gerade beschrieben, wie Sie und Ihr Partner ficken. Zuerst machen Sie es ihm, und dann macht er es Ihnen. Während des ganzen Vorgangs, den Sie beschrieben haben, war das, was Sie getan haben, Ficken. Offenbar kennen Sie sich damit aus.«
Nicole nickte. »Offenbar ist das so!« Philipp hatte aufgehört, sich zu winden. Er verfolgte nun sehr aufmerksam unser Gespräch.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet, und das brauchen Sie auch nicht. Aber ich frage Sie trotzdem noch einmal: Kennen Sie sich mit Ficken aus? Wissen Sie, was ich damit meine?«
Nicole warf zuerst Philipp einen Blick zu und dann mir. Dass sie zögerte, war klar zu erkennen. Schließlich atmete sie tief durch, und dann lüftete sie ihr Geheimnis. (Es war ohnehin schon gelüftet.) »… Ja.«
»Woher kennen Sie sich mit Ficken aus? Aufgrund Ihrer Beziehung mit Philipp?«
»… Nein.« Nicole beobachtete seine Reaktion. Ich hielt inne, um dem Raum zu geben.
»Ich verstehe, dann befinden Sie sich in einer Falle, aus der man nur schwer herauskommt. Das gilt besonders für Frauen.«
Nicole beobachtete mich genau. »Was meinen Sie damit?«
»Es klingt, als würden Sie Sex mögen, aber vor Frustration und Langeweile sterben. Sie wissen, was Sie wollen: Sie wollen ficken. Aber das können Sie Philipp nicht sagen, weil er Sie dann fragen würde, woher Sie wissen, dass Sie das mögen. Und dann müssten Sie ihm sagen, dass Sie das mit jemand anderem herausgefunden haben, und Sie fürchten, dass er sich dann bedroht fühlen würde. Deshalb versuchen Sie den Eindruck zu erwecken, Sie seien eine sexuelle Niete, die nicht weiß, was ihr gefallen würde, und das alles nur, weil sie verhindern wollen, dass das gespiegelte Selbstempfinden Ihres Mannes ins Bodenlose abstürzt.«
Nicole wirkte verblüfft. Sie war offensichtlich ziemlich baff. »Woher wissen Sie das alles?«
»Viele Frauen befinden sich in dieser Falle. Und viele schaffen es nie, sich daraus zu befreien – stattdessen geben sie den Sex einfach völlig auf. Oder sie beginnen Affären.«
»Ich glaube, ich bin mit Philipp dem Ficken ein- oder zweimal ziemlich nahe gekommen.« Offensichtlich versuchte sie, einen unterstützenden und optimistischen Eindruck zu erwecken, doch was sie sagte, klang hohl.
»Vielleicht war das wirklich so. Aber Sie haben immer noch nicht verraten, ob das, was ich beschrieben habe, auf Sie zutrifft.«
»Dass ich in einer Falle sitze?« Nicole verfolgte genau, was in Philipp vor sich ging.
»Ja.«
»… Ja. Ich bin in dieser Falle.«
Philipp schüttelte ungläubig den Kopf. »Als Nicole zu reden anfing, dachte ich, ich bin ein Dummfick. Jetzt merke ich, dass ich nicht einmal das bin.«
Ich sagte: »Wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen würden, könnten Sie zu einem Superficker werden.«
Nach einigen Sekunden nickte Philipp. »Also gut. Ich bin bereit, es zu lernen.«
Schon zu Beginn ihrer Beziehung mit Philipp war Nicole beim Sex klar geworden, dass er sie nicht richtig fickte. Anfangs hatte sie dies dem Mangel an Erfahrung zugeschrieben. Sie war bereit, geduldig zu sein. Sie nahm an, es werde sich allmählich ergeben, so wie sie es bei früheren Partnern erlebt hatte. Doch dazu kam es nicht. Nicole bemühte sich vorsichtig, Philipp zu ermutigen, aber er wollte sich offenbar nicht darauf einlassen.
Nicole versuchte herauszufinden, weshalb Philipp vor dem Nehmen und dem Genommenwerden zurückscheute. Allmählich wurde ihr klar, dass das bei ihm nicht nur etwas mit Naivität zu tun hatte. Wenn Nicole manchmal das Gefühl hatte, die Situation entwickle sich in die richtige Richtung, tat Philipp etwas, wodurch das aufflammende Feuer gleich wieder abgekühlt wurde. Zuerst konnte sie sich keinen Reim auf dieses Verhalten machen. Sie nahm an, jeder Mensch wolle ficken, weil es sich so wunderbar anfühlte.
Dann kam sie auf den Gedanken, Philipp halte sich vielleicht zurück, um seiner Neigung, schnell zum Orgasmus zu kommen, entgegenzuwirken und so die sexuellen Begegnungen zu verlängern. Dies hatte sie ziemlich lange geglaubt. Doch nach vielen sexuellen Situationen, die sie mit ihm erlebt hatte, wurde Nicole klar, dass da noch etwas anderes war: Philipp zog sich zurück, weil er sich vor seiner eigenen Aggression fürchtete. Sie versuchte, ihn zu ermutigen, indem sie sagte, sie sei nicht besonders empfindlich und könne einiges vertragen, doch ohne jeden Erfolg. Als Nicole dann Philipps Vater kennenlernte, der völlig unkontrolliert war, konnte sie zwei und zwei zusammenzählen.
Im dritten Ehejahr gab Nicole auf. Sie verkehrte zwar immer noch sexuell mit Philipp, aber das war für sie ziemlich öde. Meist fand sie sich einfach mit dem ab, was Philipp wollte. Oft rang sie mit dem Impuls, eine Affäre zu beginnen.
In vielerlei Hinsicht entsprach Nicole einem sehr verbreiteten Typus von verlangensschwachem Partner: einer feurigen Mutti, die sexuell desinteressiert wirkt, aber in Wahrheit frustriert und wütend ist und gern genommen werden würde. Nicole wollte von Philipp genommen werden, und sie wollte auch damit experimentieren, ihn zu nehmen. Sie wünschte sich, dass Philipp die Art von Mann wäre, den sie gerne nehmen würde. Sein Körper gefiel ihr, einmal abgesehen von ein paar überflüssigen Pfunden. Die entscheidende Frage war: Würde er sich ficken lassen?
Wie viele Männer hatte Philipp große Angst vor weiblicher Sexualität. Seinen ersten Geschlechtsverkehr hatte er auf Initiative einer Highschool-Freundin erlebt. Er reagierte zögerlich, als er später von anderen Frauen dazu aufgefordert wurde. Mit einer sexhungrigen (und vermutlich sexuell erfahrenen) Frau zusammen zu sein, wirkte auf ihn beängstigend. Die wenigen Male, die Nicole versuchte hatte, ihn zu nehmen, war er auch nervös geworden. Philipp wusste, dass allgemein, auch von seiten Nicoles, erwartet wurde, dass er als Mann der Partner mit dem stärkeren Verlangen sei. Doch er glaubte nicht, die hohe Erwartung von Frauen, die Sex wirklich gern mochten, erfüllen zu können.
Vielleicht liegt es an der Eigenart der weiblichen Anatomie, dass es im Grunde keine Begriffe gibt, welche die sexuelle Kraft von Frauen beschreiben. In dieser Tatsache spiegelt sich, wie die westliche Zivilisation die Sinnlichkeit von Frauen herunterspielt.1 Doch zahllose Generationen wussten, dass sie existiert. Indizien für die sexuelle Macht unserer Urmütter sind über die Jahrhunderte zu uns durchgedrungen. Philipp war nicht klar, dass seine Furcht vor weiblicher Sexualität teilweise ein Relikt von Millionen von Jahren menschlicher Fortpflanzung war.
Einem verbreiteten Stereotyp zufolge geht es Männern mehr um das Ficken, während Frauen es vorziehen, »Liebe zu machen«. Auch ich würde dies vermutlich glauben, hätte meine Arbeit mich nicht eines Besseren belehrt. Da ich jedoch zahlreichen Klientinnen geholfen habe, haben sie mir gezeigt, wie sie wirklich sind. Und da ich mit ziemlich vielen Frauen auf diese Weise gearbeitet habe, bin ich mir sicher, dass das obige Klischee nicht zutrifft.
Auf der ganzen Welt sind Frauen an Sex mindestens so stark interessiert wie Männer. Die Anthropologin Helen Fisher weist darauf hin, dass ungeachtet der sehr verbreiteten Ansicht, Männer sollten beim Sex die Initiative ergreifen, eine in den 1970er Jahren durchgeführte Untersuchung, in die 93 Gesellschaften einbezogen wurden, ergab, dass Männer und Frauen in 72 dieser Gesellschaften der Auffassung waren, der Sexualtrieb sei bei den Geschlechtern in etwa gleich stark.2
Aufgrund meiner therapeutischen Erfahrung bin ich sogar davon überzeugt, dass Frauen stärker an Sex interessiert sind als Männer – vorausgesetzt, es ist guter Sex. Frauen geht es mehr um die Qualität von Sex als Männern. Viele sind an Sex interessierter als ihre Männer und verfügen über umfassendere Kenntnisse auf diesem Gebiet.
Ein Aspekt von Sex ist seine Stärke und die Qualität der sexuellen Absicht. Absicht ist Verlangen. Sie ist entscheidend, wenn Sie jemanden umwerben und es sich um Ihre ersten sexuellen Erfahrungen handelt. Ebenso wichtig ist die Intention, wenn Sie mit Ihrem Partner in einer jahrzehntelangen Beziehung sexuell verkehren. Und wenn Sie jemanden ficken, spielen Ihre fokussierten fleischlichen Intentionen eine wichtige Rolle.
Männer und Frauen schauen sich Fotos mit Darstellungen sexueller Aktivitäten unterschiedlich an. Männer betrachten zuerst die Gesichter, Frauen mit einem normalen Monatszyklus (die nicht regelmäßig Verhütungsmittel einnehmen) zuerst die Genitalien und Frauen, die orale Verhütungsmittel einnehmen, zuerst die nichtsexuellen Aspekte des Kontexts.3
Studien über Hinweise auf die Absicht (intention cues) (eine von fünf für die Werbungsphase wichtigen Verhaltensweisen) deuten darauf hin, dass Frauen ihre Intention in stärkerem Maße erkennen lassen: Gewöhnlich ergreifen sie die Initiative, indem sie den Körper des Bewerbers berühren. Aus Untersuchungen, die in Single-Bars durchgeführt wurden, geht hervor, dass Frauen in zwei Dritteln aller Fälle den Kontakt knüpfen.4 Frauen auf der ganzen Welt initiieren häufig aktiv ihre sexuellen Begegnungen.
Eine Spruchweisheit unserer Zeit lautet: »Gute Mädchen machen Liebe, böse Mädchen ficken.« Viele Frauen schimpfen über die darin zum Ausdruck kommende Doppelmoral. Die Vorstellung, dass Frauen nicht ficken sollten, erscheint als besonders merkwürdig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Interesse der Frauen am Ficken auf ihre Urmütter zurückgeht, die ebenso brünstig wurden wie alle anderen Primaten.
Alle weiblichen Primaten haben eine Brunstzeit, wobei Menschenfrauen die einzige Ausnahme zu bilden scheinen. Weibliche Affen haben monatliche Menstruationszyklen wie Menschenfrauen, werden aber außerdem in der Mitte jedes Monatszyklus brünstig. Die meisten Kopulationen finden bei ihnen in dieser Zeit statt. Wird der Menstruationszyklus der Affenweibchen unterbrochen, weil sie ihre Jungen stillen, sind unsere Affenbrüder sexuell weniger »munter«. (Das Gleiche passiert, wenn menschliche Paare ein Baby bekommen, mit dem einzigen Unterschied, dass das gespiegelte Selbstempfinden des Mannes geschwächt wird, weil er mit weniger Aufmerksamkeit bedacht wird. Männliche Orang-Utans werden offenbar besser mit diesem Problem fertig, weil sie kein so manifestes Selbstempfinden haben.)
Jeden Monat erreicht das sexuelle Verlangen einer Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Menstruationszyklus einen Gipfelpunkt. Möglicherweise sind dies Relikte der Brunst unserer prähistorischen Großmütter. Doch das ererbte sexuelle Verlangen der Frauen ist nicht ausschließlich von sich wiederholenden hormonellen Spitzenpegeln abhängig: Aufgrund der vorgeprägten neuronalen Verbindungen in ihren Gehirnen können sie Sex zur sozialen Regulation von Angst nutzen. Dies gilt mit Sicherheit für die Bonobos, die Primatenart, die dem Menschen am ähnlichsten ist.5 Wie Menschen trennen Bonobos Sex und Fortpflanzung. Sexuelle Kontakte beschränken sich bei ihnen nicht auf die Zeit der Brunst.
Weibliche Bonobos kopulieren die meiste Zeit des Jahres, weil sie während drei Vierteln ihres Menstruationszyklus brünstig sind. Doch es gibt bei ihnen noch einen anderen wichtigen Grund für Sex: Bonobo-Weibchen pflegen täglich sexuelle Kontakte, um Spannung abzubauen, Freundschaften zu stärken und Stress in der Gruppe zu verringern. Außerdem setzen sie Sex ein, um ihre männlichen und weiblichen Freunde zu bestechen, damit diese ihnen Nahrung abgeben. Sexualität ist das wichtigste Mittel der weiblichen Bonobos und der Menschenfrauen, zur Welt in Beziehung zu treten.
Das sexuelle Verlangen der Menschenfrauen wurzelt in der Entwicklung des Menschen. Dieses Verlangen wäre äußerst stark, wenn Bonobos und Menschen einander in sexueller Hinsicht ähnelten. Doch die Ähnlichkeit hält sich aufgrund einer Merkwürdigkeit der menschlichen Entwicklung in Grenzen: Wir sind die einzigen Primaten, deren Weibchen nicht mehr brünstig werden!
Wie konnte es dazu kommen? Warum haben Menschenfrauen ihre Brunst verloren?
Könnte die Brunst der Frauen die Männer verängstigt haben? Oder könnten die Männer die Brunst aus den Frauen »herausgezüchtet« haben? Möglicherweise entsprach dies einer Forderung des sich herausbildenden gespiegelten Selbstempfindens. Vielleicht wollten die Männer nicht, dass die Frauen ihnen ständig das Gefühl sexueller Unzulänglichkeit vermittelten.
Die Fähigkeit von Frauen zu multiplen Orgasmen könnte ein Relikt der Brunst sein. Doch vielleicht haben die Männer den Frauen diese Fähigkeit auch »angezüchtet«. Vielleicht wirkten die multiplen Orgasmen der Frauen auf die prähistorischen Männer ichstärkender als brunstgesteuerte sexuelle Aggressivität. Vielleicht gefiel es den Männern, wenn sich die Frauen in orgasmischer Verzückung wanden, während sie ihren riesigen Phallus in die Vagina stießen. Und vielleicht zogen sie es vor, dieses »Drama« mit Frauen aufzuführen, denen es leicht fiel, zum Orgasmus zu kommen, und die dies viele Male in Folge konnten. Hätten Männer Frauen im Laufe von Millionen von Jahren die Fähigkeit zu multiplen Orgasmen »anzüchten« können? Und können deshalb heute 30 Prozent der Frauen beim Koitus zum Orgasmus kommen? Niemand vermag diese Fragen zu beantworten.
Es gibt bei Menschen noch eine andere interessante sexuelle Eigenart: Die meisten Menschen, die in längerfristigen Partnerschaften leben, ficken nicht mit ihrem Partner. Warum ist das wichtig? Weil Mutter Natur nicht Millionen von Jahren damit verbracht hat, eine Fähigkeit in das menschliche Gehirn einzubauen und den Menschen dann zu empfehlen, diese Fähigkeit nicht zu nutzen. Ficken, Nehmen und Genommenwerden beinhalten, dass Ihre tierische Primatennatur mit den am höchsten entwickelten Fähigkeiten Ihres Gehirns kollidiert. Unsere Vorfahren entwickelten einen Präfrontalkortex, der die Entstehung des tantrischen Buddhismus ermöglichte. Dies bedeutet, dass Sie ein Tier sind, das Sex nutzen kann, um zur spirituellen Erleuchtung und zur Selbsttranszendenz zu gelangen. Bezüglich des sexuellen Potentials im gesamten Tierreich steht der Mensch an der Spitze der Hierarchie.
Denken Sie an diese Zusammenhänge, wenn Sie mit Problemen des sexuellen Verlangens kämpfen, denn aufgrund der soeben beschriebenen Entwicklung und der damit verbundenen Fakten ist die Menschheit an diesen Punkt gelangt.
Warum ficken Partner, die in langfristigen Beziehungen zusammenleben, nicht? Dazu fällt mir zunächst eine Gegenfrage ein: Warum gilt das Gleiche für so viele junge Paare? Wären Sie erstaunt, wenn ich Ihnen antworten würde, dass dies mit der Differenzierung zusammenhängt?
Menschen ficken nicht mit ihrem Unterstützungssystem. Paare, die zu Beginn ihrer Beziehung ficken, hören später damit auf. Andere kopulieren jahrelang und kommen trotzdem nie darauf, dass es noch etwas anderes geben könnte. Viele Paare sind völlig unerfahren, was das Ficken angeht. Sie können Ihren festen Partner nicht nehmen, wenn Sie beide von gegenseitiger Bestätigung abhängig sind.
Wahrscheinlich denken Sie: Wenn es einen geeigneten Ort für schamlose Lüsternheit gibt, dann müsste es doch eigentlich die Ehe oder eine feste Partnerschaft sein. Schamloser, »dreckiger« Sex ist genau das, was viele Menschen wollen. Woody Allen sagt: »Sex ist dreckig; deshalb sollte man ihn sich für einen Menschen aufsparen, den man liebt!« Wir mögen über diesen Witz lachen, aber wahrscheinlich glauben wir nicht, dass er zutrifft.
Es ist schwer, im gesündesten erotischen Sinne den eigenen Partner zu ficken. Wesentlich leichter ist dies bei einem relativ fremden Menschen oder einem Partner, mit dem uns ausschließlich Sex verbindet (einem fuck buddy)6 oder bei »verbotenem« Sex. Dies ist das Paradox des Partnertauschs und der Affären: Sie sehnen sich danach, jemanden zu ficken, dessen Partner dies nicht will. Ihre Erotik dieser Person gegenüber zuzulassen, ist für Ihr Selbstempfinden eine weniger große Herausforderung, als Ihren Partner zu ficken.
Sie empfinden es als leichter, das Ficken im Rahmen einer Affäre zu seinem Recht kommen zu lassen, weil (a) beide Beteiligten wegen des Sex zusammenkommen, (b) Ihre Freundin oder Ihr Freund damit beschäftigt ist, Ihr gespiegeltes Selbstempfinden zu streicheln und (c) Sie sich in einer kollusiven Allianz befinden, die beinhaltet, dass Sie den anderen nicht sehen bzw. von ihm nicht gesehen werden. Deshalb kann es sein, dass Menschen, die in ihrer Ehe »sexuelle Blindgänger« sind, in einer Affäre in dieser Hinsicht zur Hochform auflaufen.
Nicole hatte zwar keine Affäre angefangen, doch manchmal wünschte sie sich, sie hätte es getan. Unterdessen drehte sich ihr Sexualleben um Philipps gespiegeltes Selbstempfinden. Ihr war klar, dass es für ihn sehr schwierig werden würde, weil sie andere Männer gehabt hatte. Als sie einander kennenlernten, hatte Nicole geglaubt, ihre sexuelle Vergangenheit gehe sie nichts mehr an. Doch nachdem sie eine sexuelle Beziehung begonnen hatten, fing sie an, sich darüber Gedanken zu machen. Nun wurde Nicole klar, dass Philipp vom Ficken nicht die geringste Ahnung hatte. Unklar war für sie noch, ob dies auch beinhaltete, dass er sich nicht ficken lassen würde. Sie bemühte sich zwar nicht aktiv, ihm einen falschen Eindruck von ihrer sexuellen Vergangenheit zu vermitteln, doch sie korrigierte ihn auch nicht, als sie merkte, dass er von diesem Teil von ihr nicht das Geringste ahnte.
Ficken ist »dreckig« und »unanständig«. Wenn Sie es sich erschließen wollen, müssen Sie Ihre Sexualität in einem sehr umfassenden Sinne akzeptieren. Wenn Sie Ihren festen Partner ficken wollen, befördert das unweigerlich die Konflikte, die Sie bezüglich Liebe, Intimität, Fleischlichkeit und Spiritualität haben, an die Oberfläche. Möglicherweise verbergen Sie deshalb, dass Sie irgendetwas über diese Dinge wissen.
Beim Ficken sind Bedeutungsnuancen insbesondere der wollüstigen, begehrlichen, »fleischlichen« und »dreckigen« Art im Spiel. Man kann es nicht auf bestimmte Verhaltensweisen oder Körperpositionen reduzieren, ebenso wie sich Intimität nicht auf Kommunikationsübungen reduzieren lässt. Das Spiegeln des Geistes spielt dabei eine sehr wichtige Rolle. Ihr Gehirn ist in der Lage, diese Bedeutungen zu schaffen, sie zu entdecken, wenn sie auftauchen (oder nicht) und auf sie zu reagieren. Für Menschen, die gern ficken, ist dies wichtiger, als zum Orgasmus zu kommen. Doch wenn sie eine Wahlmöglichkeit haben, ist dies auch ihre bevorzugte Art, den Orgasmus zu erreichen.
Nach meinen informellen Recherchen zu schließen kennt nicht einmal einer unter vier Menschen sich mit dem Ficken aus.7 Kennen Sie sich damit aus? Hat Sie schon einmal jemand gefickt? Nicht nur zum Orgasmus gebracht, sondern wirklich gefickt? Meist erkenne ich Menschen, die über das Ficken Bescheid wissen, auf Anhieb: Sie verraten sich durch ihre spontane Reaktion: ein (manchmal etwas befangenes) Lächeln. (Lächeln Sie jetzt auch?)
Ficken beginnt schon vor dem körperlichen Vorspiel: Sie senden starke sexuelle Schwingungen aus, noch bevor Sie im Schlafzimmer sind. Das Spiegeln des Geistes Ihres Partners beginnt lange bevor Sie im Bett landen. Beim Sex, angefangen beim Vorspiel bis zum Stadium der Erschöpfung, orientieren Sie sich an der auf dieser Ebene bestehenden Verbindung. Ihre Körperbewegungen – ob langsam oder schnell – sind in jedem Fall höchst erotisch.
Beim Ficken handelt es sich um ein sexuelles Erlebnis, das sich vom »Liebe machen« im traditionellen Sinne stark unterscheidet, da sexuelle Aggression dabei im Mittelpunkt steht. Menschen, die gerne ficken, sind der Auffassung, dass es keine bessere Form des »Liebemachens« gibt. Gefickt zu werden beinhaltet Überantwortung, Einheit und die Macht zu empfangen. Sie müssen sich in das Geschehen hinein entspannen, sich ihm öffnen, ohne in Kitzligkeit zu verfallen und ohne »zurückzuzucken«. Einfach: »Ja, nimm mich!« Weshalb sollten Sie dies nicht mit einem Menschen erleben wollen, den Sie lieben?
Nehmen und genommen werden sind Positionen in einer Beziehung, ebenso wie die Positionen des Partners mit dem starken und desjenigen mit dem schwachen Verlangen. Es handelt sich um Rollen in einer erotischen kollaborativen Allianz, die eine Dosis gesunder Aggression und manchmal einen Spritzer Konkurrenz einschließen. Doch es ist nicht zutreffend, dass verlangensstarke Partner mehr für das Nehmen übrighaben und verlangensschwache Partner es nur mögen, genommen zu werden. Viele Partner mit starkem Verlangen brennen darauf, genommen zu werden, doch ihre verlangensschwächeren Partner kommen diesem Wunsch nicht nach. Wahrscheinlich dreht es sich bei ihnen eher darum, dafür zu kämpfen, dass sie überhaupt in den Genuss von Sex kommen.
Viele Frauen sind verlangensschwache Partner und sexhungrig. Man kann beides zugleich sein, und bei vielen Frauen ist das auch tatsächlich so. Das kann ziemlich irreführend sein. Die meisten Menschen glauben, der Partner mit dem schwächeren Verlangen habe kein Bedürfnis nach Sex. Doch wie Sie bei Nicole gesehen haben, muss das nicht unbedingt zutreffen. Aber wie kann eine Frau kein Verlangen nach Sex mit ihrem Mann haben und gleichzeitig sexhungrig sein? Leider ist das sehr leicht möglich.
Gesunde Aggression spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, einen Menschen zu ficken, den Sie lieben. Dabei geht es nicht um jenen groben und schmerzhaften Sadismus, mit dem Partner einander manchmal begegnen. Gesunde Aggression entsteht, wenn Sie mit Hilfe der Vier Aspekte der Balance auf Ihre »dunkle« Seite einwirken und so schmutzige Aggression und normalen ehelichen Sadismus in etwas Nützliches umwandeln. Bei der Differenzierung geht es um Selbstmodulation – darum, sich anderen nicht aufzudrängen. Es gibt eine Möglichkeit, Ihren Partner im Dienste des persönlichen Wachstums, der Intimität und der Liebe auf eine gute Weise zu nutzen. Diese Möglichkeit erschließt sich, wenn es Ihnen mehrmals gelungen ist, ein emotionales Patt aufzulösen.
Ihr Partner hat die Möglichkeit, das eine oder andere nicht zu mögen. Beim Ficken ist im Allgemeinen die Einstellung »Mir ist es gleich, wie wir das machen« maßgebend. Ihren Partner zu ficken erfordert, dass Sie aggressiv, leidenschaftlich, spielerisch, abenteuerlustig und großzügig sind. Obwohl Sie den Körper Ihrer Partnerin streicheln, geht es Ihnen in Wahrheit um ihren Geist. Ihr Ziel ist es, in einem bestimmten gemeinsam erzeugten, multidimensionalen, gewaltigen intersubjektiven Augenblick der Begegnung eine intensive Verbindung zwischen Geist und Körper zu schaffen.8
Es gibt Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass Ficken liebevoll sein kann, weil sie meinen, der Ausdruck von Aggression sei beim Sex in keinem Fall angebracht. Sexuelle Aggression bei Paaren ist ein sehr schwieriges Thema. Unter der heutigen Diktatur der Political Correctness wurden alle Formen von Aggression aus dem Schlafzimmer verbannt, angeblich zum Wohle der Frauen. Dies hilft jedoch jenen Frauen nicht, die gern genommen werden möchten. Sie wollen das Objekt der »Fleischeslust« ihres Partners sein. Falls Sie Ihren Partner jemals aufgefordert haben: »Mach’ das stärker!«, dann wissen Sie, dass ein Schuss Aggression eine gute Sache sein kann.
Viele Frauen und Männer ziehen Oralsex dem Genitalverkehr vor. Sie kennen sich mit sexueller Aggression, Macht und Unterwerfung aus, und Oralsex gibt ihnen die Möglichkeit, beide Seiten hemmungslos auszuleben. Ihnen gefällt das Gefühl der Macht, das sie erleben, wenn sie einen anderen Menschen zum Orgasmus bringen. Manchmal jedoch gefällt es ihnen auch, einen Partner aus einer unterwürfigen psychischen Haltung heraus zu befriedigen. Oft jedoch gefällt es ihnen, Oralsex auf beide Weisen zu geben und zu empfangen.
Interessant ist, dass einige unter denjenigen, die beim Oralsex gern selbst der aktive Partner sind, nicht bereit sind, auch selbst Oralsex zu empfangen. Man könnte meinen, es müsse ihnen gefallen, die völlige, ungeteilte (sexuelle) Aufmerksamkeit ihres Partners zu erleben. Doch die Betreffenden erleben es völlig anders, »im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen«, wenn sie die Rolle des Empfangenden übernehmen. Sie fürchten sich davor, sich zu entspannen, ihr Defensivradar abzuschalten und zuzulassen, dass ihnen jemand auf diese Weise Aufmerksamkeit schenkt. Das ändert sich auch nicht, nachdem sie ihren Partner eine Stunde lang oral befriedigt haben.
Sich »nehmen« zu lassen ist nicht einfach. Sie müssen dazu in der Lage sein, bei sich selbst zu bleiben, ohne sich zu verkrampfen. Dadurch schaffen Sie die Voraussetzungen für sexuelle Überantwortung. Sie »werfen sich nicht weg«, verletzen nicht Ihre Integrität und geben (in einem umfassenden Sinne) nicht Ihre persönliche Verantwortung auf. Es geht darum, nicht den eigenen Ängsten nachzugeben, damit Sie sich Ihren Empfindungen überantworten und archetypische Beziehungen zulassen können.
Ficken ist für uns Bedeutungen produzierende Tiere »Gehirn-Konfekt«. »Sich das Gehirn aus dem Leib ficken« klingt so, als ob Sie Ihr Gehirn beschädigen würden, und »jemandem das Gehirn ’rausbumsen« klingt, als würden Sie das Gleiche mit Ihrem Partner machen. Nichts könnte – in beiden Fällen – der Wahrheit ferner sein. Ich werde Ihnen erklären, wie Oralverkehr, der Sie völlig »aus dem Häuschen bringt«, Ihnen helfen kann, Ihr Gehirn neu zu organisieren. Zumindest wird er ein Lächeln auf Ihr Gesicht zaubern, Ihre Schritte beschwingen und Sie in einen angenehmen Geisteszustand versetzen.
Oralsex eignet sich wunderbar zur Erzeugung eines vielschichtigen und in jeder Hinsicht angenehmen Erlebnisses. Er kann in Ihrem Gehirn gleichzeitig zahlreiche Schaltkreise aktivieren und bis in Ihre Zehenspitzen hinein wirken (im wörtlichen und im übertragenen Sinne). Oralsex trifft Sie auf vielen verschiedenen Ebenen. Wenn es Ihnen gelingt, sie alle zu nutzen, um die Harmonie zu verstärken, spielen Sie mit etwas sehr Machtvollem und Nützlichem. Sie haben einen ungeheuer angenehmen intersubjektiven somatosensorischen Augenblick der Begegnung erlebt, und Ihre rechte und linke Gehirnhälfte haben Überstunden gemacht, indem sie miteinander kommuniziert und versucht haben, mit dem Geschehen Schritt zu halten.9
Aufgrund meiner beruflichen und persönlichen Erfahrung weiß ich, dass die strategische Verbindung dieser körperlichen Empfindungen mit intensiven Gefühlen und Bedeutungen einzigartige Geisteszustände erzeugt, die in der Informationsverarbeitung zu echten Durchbrüchen führen.
Als Nicole und Philipp anfingen, sich auf Oralsex zu konzentrieren, wirkte sich dies auf ihre gesamte Beziehung positiv aus. Die Dynamik der Beziehung veränderte sich völlig. Ein wichtiger Punkt dabei war, dass Nicoles Unterwürfigkeit nachließ, ohne dass sie aggressiv wurde.
Nachdem sie über einen längeren Zeitraum Umarmen bis zur Entspannung und Köpfe auf Kissen praktiziert hatten, war die physische und emotionale Anspannung zwischen den Partnern deutlich geringer geworden. Doch weil Philipp jahrelang mit vorzeitigem Samenerguss gekämpft hatte, fiel es ihm schwer, sich wirklich zu entspannen, wenn er Nicole körperlich nahe war. Bei ihm stellten sich die Fortschritte nicht ganz so schnell ein wie bei ihr.
Nicoles Verlangen kehrte zurück, wenn auch nicht unbedingt in Form von Verlangen nach Philipp. Aufgrund unserer Gespräche über das Ficken, das Nehmen und Genommenwerden, hatte sie ständig an Sex gedacht. Ihre sexuelle Phantasie wurde lebendig, sie masturbierte häufiger, und ihr kamen anzüglichere Bilder in den Sinn.
Nicole fing an, ihre Sexualität als »toll« zu empfinden. Sie sah sich als eine »tolle Frau«. Sie mochte sich nun mehr. Sie empfand Verlangen, weil sie ihre Bemühungen, eine eigenständige Person zu sein, mehr respektierte. Sie fühlte sich ohne jede einschränkende Bedingung begehrenswert. Das hatte mit Philipp nichts zu tun. Sie fühlte sich nun eins mit sich.
Nicole fragte: »Ich kann mir vorstellen, dass dies merkwürdig klingt, aber nehmen wir einmal an, wir wollten mit dem Ficken experimentieren, könnten Sie uns dann ein paar Empfehlungen geben?«
Ich dachte einen Augenblick lang über Nicoles Bitte nach. Ich hätte sagen können: Nicole, Sie kennen sich mit dem Ficken aus. Darum ging es in unserer ganzen letzten Sitzung. Trauen Sie sich einfach, Philipp zu zeigen, was Sie wissen.
Stattdessen sagte ich ruhig: »Sie könnten es mit Oralsex versuchen.«
»Warum Oralsex?« Nicole war ehrlich überrascht.
»Ja, Doktor. Warum ausgerechnet Oralsex?« Philipp hatte erwartet, dass ich Genitalverkehr empfehlen würde. »Warum beschäftigen wir uns nicht damit, in welcher Hinsicht ich Nicole enttäuscht habe? Ich komme beim Genitalverkehr zu schnell zum Höhepunkt, und wir praktizieren wesentlich häufiger Genitalverkehr als Oralsex. Ich stimuliere Nicole gern oral, aber meist hält sie mich davon ab. Sollten wir es nicht besser mit Genitalverkehr versuchen?«
»Was den Punkt angeht, dass und wie Sie Nicole enttäuscht haben, so ist das genau das, worauf ich hinauswill. Und was die Frage betrifft, dass Sie häufiger Genitalverkehr als Oralsex praktizieren, so könnten Sie vielleicht erwägen, dies zu verändern. Beim Oralsex nähern Sie sich dem Sex als Gleiche. Sie stehen dabei weniger unter Druck, weil Sie keine Erektion zu haben und sich keine Sorgen darüber zu machen brauchen, dass Sie zu schnell zum Höhepunkt kommen könnten, denn selbst in diesem Fall können Sie dafür sorgen, dass Nicole nicht enttäuscht ist. Wahrscheinlich können Sie ihr bessere Dienste leisten, wenn Sie statt Ihres Penis Ihre Zunge benutzen. Vermutlich spüren Sie dann auch besser, was Sie tun. Sie können sich beim Oralsex, sowohl als Gebender als auch als Nehmender, leichter auf Nicole einstellen, und Sie brauchen sich nicht mehr damit abzulenken, dass Sie versuchen, Ihren Höhepunkt hinauszuzögern.«
»Okay, das leuchtet mir ein.« Philipps Antwort klang nicht völlig überzeugt.
»Oralsex verhindert nicht automatisch, dass Sie den Fokus verlieren. Ich möchte wetten, dass Sie sich auch beim Empfangen von Oralsex ablenken. Aber Oralsex nimmt Ihnen die Möglichkeit, diese Ablenkung damit zu erklären, dass Sie sich ablenken lassen, um Ihren Höhepunkt hinauszuzögern. Wenn Sie dann immer noch früher losgehen, dann ist der Grund ein anderer. Es ergeht Ihnen dabei nicht anders als Nicole, die auch abschalten kann, wenn sie die Empfangende ist.« Philipp schaute Nicole an. Nicole zögerte einen Moment, nickte aber dann zustimmend.
»Oralsex ermöglicht Ihnen verschiedene Arten des Zusammenseins: Sie können sich absichtlich auf Ihren Partner einstimmen, statt einander auszublenden. Ihnen beiden wird dabei die Möglichkeit gegeben, sich im metaphorischen Sinne ›halten zu lassen‹.«
Nicole warf ein: »Daran habe ich noch nie gedacht. Aber wo Sie es jetzt sagen, erscheint es mir völlig klar. Ich habe Oralsex noch nie so gesehen. … Philipp hat recht. Gewöhnlich unterbreche ich ihn, wenn er es mir mit dem Mund machen will. Von einem bestimmten Punkt ab fühle ich mich dabei nicht mehr wohl. Ich bin nur noch nie auf die Idee gekommen, dass dies bedeutet, dass ich nicht zulasse, von Philipp gehalten zu werden. Ich bin aber bereit, es einmal damit zu versuchen. Was meinst du, Philipp?«
Philipp zögerte. »Doktor, vielleicht sind wir dazu noch nicht bereit. Was ist, wenn es nicht klappt?«
«Wenn Sie noch nicht dazu bereit oder nicht daran interessiert sind, sollten Sie es nicht tun. Was Sie mit Ihrem Körper machen, ist Ihre Sache; darüber habe ich nicht zu entscheiden. Und ich meine auch nicht, dass Sie einander zum Orgasmus bringen sollen. Wenn es dazu kommt, gut, aber darum geht es nicht. Wenn Sie beide Ihre Aufmerksamkeit fokussieren, erleben Sie etwas, das Ihnen nützlich sein wird, ganz gleich, ob Sie dabei zum Orgasmus kommen oder nicht. Oralsex hat für Menschen wie Sie beide den Vorteil, dass er Ihnen mehr Zeit lässt, sich zu entspannen. Sie haben mehr Möglichkeiten, zur Ruhe zu kommen und sich beieinander wohlzufühlen.«
»Okay, das kapiere ich.« Philipp war immer noch nicht völlig überzeugt.
»Wenn Sie es versuchen, dann nehmen Sie sich die Zeit, um in sich hineinzuschauen und festzustellen, was Sie denken. Wenn Sie sich gegenseitig verrückt machen, können Sie das beim Oralsex leichter erkennen als beim Genitalverkehr. Beispielsweise werden Sie beim Oralsex stärker als beim Genitalverkehr damit konfrontiert, ob Sie in der Lage sind, sich vom Partner halten zu lassen. Sind Sie Ihrer selbst sicher genug, um zulassen zu können, dass Sie etwas empfangen?«
»Okay, das verstehe ich auch.« Philipps Bemerkung klang, als ob sein Interesse immer geringer würde.
»Übrigens ist Oralsex eine ausgezeichnete Möglichkeit, um beim Genitalverkehr eine bessere Kontrolle über Ihre Sexualorgane zu entwickeln. Beim Genitalverkehr selbst ist es schwieriger, das zu erreichen.«
»Sie machen wohl Witze!« Philipp verstand nicht, wie dies vor sich gehen könnte, doch ich hatte bei ihm nun endlich echtes Interesse geweckt.
»Es ist leichter, beim Oralsex die Kontrolle zu verbessern und sie dann auf den Genitalverkehr zu übertragen.«
»Aber beim Oralsex brauche ich länger bis zum Orgasmus. Wie soll mir das beim Genitalverkehr helfen?« Philipp versuchte, dies mit mir zusammen zu durchdenken.
»Sie müssen lernen, beim Sex Ihre Angst zu beeinflussen. Das ist alles. Und Sie können dies leichter lernen, wenn Sie nur in der empfangenden Rolle sind. Außerdem ist die physische Stimulation, die Sie beim Oralverkehr empfangen, intensiver als beim Genitalverkehr. Nachdem Sie eine große Toleranz für intensive Stimulation und eine bessere Kontrolle über Ihre Angst entwickelt haben, sind Sie beim Genitalverkehr besser in der Lage, Ihre Orgasmen zu kontrollieren.«
Philipps Ausdruck veränderte sich völlig. Er sagte: »Okay, Doktor. Jetzt haben Sie meine Aufmerksamkeit gefesselt. Reden Sie weiter.«
Ich gehe nicht davon aus, dass Sie sich beim Oralsex ganz wohlfühlen. Aber Sie können das ändern. Doch tun Sie sich selbst einen Gefallen, und geben Sie sich nicht damit zufrieden, Ihre Zimperlichkeit und Verlegenheit zu überwinden. Anhang B enthält Empfehlungen dazu, wie Sie dies erreichen können. Oralsex kann auf eine ganz besondere und sehr angenehme Weise beruhigend wirken und Ihren Geist köstlich beleben. Ich habe Klienten geholfen, durch Oralsex die Folgen einer sehr schwierigen Kindheit zu überwinden. Sie können Ihr Gehirn durch Oralsex grundlegend verändern.
Manche von meinen Klienten haben in ihrem ganzen Leben noch nie Oralsex praktiziert. Manche konnten auf diese Weise nicht zum Orgasmus kommen. Anderen gelingt es nur so. Einige hatten starke Würgereflexe, und andere bekamen olfaktorisch ausgelöste Flashbacks, was »nicht ohne« ist. Was bringt solche Menschen dazu, mit Oralsex zu experimentieren? Mir fällt dazu ein: In Anbetracht dessen, wie viel wir mit Hilfe des Umarmens bis zur Entspannung erreicht haben, empfehle ich Ihnen, sich einmal selbst vorzustellen, was Oralsex Ihnen bringen könnte.
Saugen ist unser erstes interpersonales Erlebnis. Die angeborene Saugreaktion ist zentral für das menschliche Streben nach Bindung, und sie ist von den ersten Augenblicken des Lebens an aktiv. Außerdem gelangen die Pheromone Ihres Partners beim Oralsex blitzschnell durch Nase und Mund in Ihr Gehirn.10 Im Sinne der interpersonalen Neurobiologie ist Oralsex eine ungeheuer starke olfaktorische Stimulation. In Zusammenhang mit ihm wird im Gehirn eine direkte Verbindung zum somatosensorischen Kortex hergestellt. Das Riechen und Schmecken der Genitalflüssigkeiten Ihres Partners fördert die Bindung an ihn und stimuliert die Produktion bindungsfördernder neurochemischer Stoffe. Und vermutlich wird auch das Reptilienhirn dadurch angeregt.
Wahrscheinlich werden auch später entstandene Teile des Gehirns durch Oralsex in einen positiven Erregungszustand versetzt. Oralsex hat starke Auswirkungen auf das interpersonale Erleben. Eines der besten Beispiele für die Abstimmung von rechter und linker Gehirnhälfte ist die Situation, in der sich die Genitalien Ihres Partners in Ihrem Mund befinden, Sie ihn schmecken und riechen und er wirklich zulässt, dass Sie ihn nehmen. Wenn Sie denken: Wow, das ist der beste Sex, den wir jemals gehabt haben! Ich mag es, wie er schmeckt und wie er sich in meinem Mund anfühlt. Es bedeutet so viel für mich, dass wir dies tun, dann ist schwer zu sagen, ob da Ihre rechte oder Ihre linke Gehirnhälfte spricht. Ich nehme an, dass es sich bei dem, was Sie dann erleben, um ein Anzeichen für bilaterale hemisphärische Integration handelt.
Oralsex ist eine großartige Möglichkeit, Bedeutungen zu schaffen. Sie können ihn zum Ficken ebenso wie für sanften und liebevollen Sex nutzen. Sowohl der Gebende als auch der Empfangende kann dabei dominant oder unterwürfig sein. Sie können Oralsex nutzen, um endlich mit Ihrem Partner Frieden zu schließen oder auch Frieden mit sich selbst.
Oralsex ist praktischer als ein Schweizer Armeemesser, und Sie brauchen sich keine Sorgen darüber zu machen, dass Sie ihn irgendwo liegenlassen könnten. Dieses Vielzweckwerkzeug erfordert nicht die Beherrschung spezieller Techniken wie »Deep Throat«.11 Es ist nichts weiter erforderlich, als dass Sie sich ihm als einer achtsamen Aktivität nähern, einer gemeinsamen mentalen Übung und einem Punkt gemeinschaftlicher fokussierter Aufmerksamkeit.
Achtsamkeit macht Oralsex heiß. Erotisch. Sexy. Pfiffig. Das Spiegeln des Geistes macht Oralsex zur Hauptsache, zu mehr als einem bloßen Vorspiel zum Genitalverkehr.
Sie können Oralsex als Fenster zu Ihrem Sein nutzen, um zu erforschen, wer Sie sind und woher Sie kommen. Sie können ihn nutzen, um zu der Person zu werden, die Sie sein möchten. Die Macht des Oralsex wird lebendig, wenn Sie ihn in ein neues und zutreffenderes Bild Ihrer Vergangenheit einbetten: Sobald sich Ihnen ein neues Detail Ihres autobiographischen Gedächtnisses erschließt, können Sie Ihr Gehirn mit Hilfe von Oralsex dazu bringen, sich neu zu organisieren. Ebenso vermag er »Löcher« in Ihrer autobiographischen Erinnerung zu füllen. Ich werde dies im Folgenden an einem Beispiel erläutern.
Mir ist völlig klar, dass dies alles ziemlich unglaublich klingt. Ich empfehle dies alles nur – und denke mir nur deshalb etwas so Phantastisches aus –, weil ich solche Dinge mit meinen Klienten erlebt habe. Anfangs war ich selbst ein wenig skeptisch, doch als meine Klienten diese sexuelle Praktik ziemlich zuverlässig nutzten, um ihre Vergangenheit zu integrieren, ihre Gegenwart in Ordnung zu bringen und die Zukunft in ihrem Geist zu reorganisieren, fiel es mir leichter, über diese Zusammenhänge nachzudenken. Wenn Oralsex mit zutreffenden autobiographischen Erinnerungen verbunden wird, scheint das Gehirn seine Funktionsweise zu verändern.
Ein kreativer Umgang mit Oralsex kann viele Probleme, die mit dem Verlangen zusammenhängen, lösen. Wie wir gesehen haben, ist dies eine wunderbare Möglichkeit sexueller Aktivität, bei der es nicht zum Orgasmus kommen muss. Allerdings sollte man auch nicht ignorieren, dass dies für Frauen eine der einfachsten Möglichkeiten ist, zum Höhepunkt zu kommen. (Und dazu zählen auch Frauen, die glauben, sie könnten nur durch den Koitus zum Orgasmus kommen.) Außerdem lassen sich mit Hilfe von Oralsex sexuelle Dysfunktionen auflösen. Doch uns geht es hier nicht darum, Häufigkeit, Intensität und Leichtigkeit des Erreichens von Orgasmen zu verbessern. Oralsex konfrontiert Sie mit Ihrem innersten Wesenskern.
Philipp fragte: »Warum stellen Sie das Empfangen so stark in den Vordergrund? Mein Problem ist, der Gebende zu sein.«
»Beim Oralsex mit Nicole können Sie beides sein.«
»Aber ich fühle mich ohnehin egoistisch, weil ich so schnell zum Höhepunkt komme. Wenn ich mich auch noch auf das Empfangen konzentrieren würde, wäre ich ja noch egoistischer. Ich sollte mich darauf konzentrieren, Nicole aktiv zu erfreuen.«
»Wenn Sie sie erfreuen wollen, sollten Sie bereit sein, sich von ihr oral befriedigen zu lassen. Dadurch entwickeln Sie eine bessere Kontrolle über Ihre Ejakulation, und das würde Nicole sicherlich gefallen, wie wir wissen.«
»Das stimmt«, bestätigte Nicole.
»Wenn Sie sich von Nicole nicht beim Oralsex nehmen lassen, entziehen Sie sich ihr genauso, wie sie sich Ihnen entzieht: Sie würden sie gern oral befriedigen, aber sie hält Sie davon ab. Das gefällt Ihnen nicht. Dabei geht es um mehr als Ihr gespiegeltes Selbstempfinden. Wenn Sie Nicole oral befriedigen, ist das für den Teil von Ihnen, dem aufrichtig an ihr liegt, sehr befriedigend. Wenn Sie nicht bereit sind, Oralsex von ihr zu empfangen, enthalten Sie Nicole genau diese Befriedigung vor.«
Philipp kicherte. »Dann ist es also egoistisch von mir, wenn ich nicht zulasse, dass Nicole mir einen bläst?«
»Sie möchten Nicole gern oral befriedigen, aber allein der Spezialist für Oralsex sein. Nicole ist klug und kompetent, aber sie offenbart sich nicht und zeigt nicht, was sie kann, zumindest nicht, was Sex angeht, und wahrscheinlich auch in anderer Hinsicht nicht.«
Wie ich gehofft hatte, ergriff nun Nicole das Wort. »Sie haben recht, Dr. Schnarch, manchmal wäre ich tatsächlich gern diejenige, die gibt. Und ich will auch nicht immer meinen Orgasmus als Erste haben, weil Philipp sich wegen seiner Ejakulation Sorgen macht. Manchmal hätte ich meinen Orgasmus lieber als Zweite. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass ich Philipp genauso gut oral befriedigen kann wie er mich. Ich würde es häufiger machen, wenn er dabei nicht immer so ängstlich wäre. Einem Kerl, der nervös ist, einen zu blasen, macht keinen Spaß.«
Wir schauten uns alle drei mit einem Ausdruck des Erstaunens an. Dies war eine ziemlich überzeugende Demonstration dessen, dass Nicole in der Lage war, sich so zu zeigen, wie sie wirklich war. Philipp war so überrascht, dass er nicht automatisch in eine Verteidigungshaltung wechselte. Er wusste wirklich nicht, was er davon halten sollte. Nicole hatte sogar sich selbst überrascht.
Philipp lachte. »Nun, ich bin bereit zu lernen. Ich glaub’s einfach nicht, dass wir hier zusammensitzen und uns über Blasen und Ficken unterhalten. Das macht mich irgendwie nervös.«
Ich antwortete: »Da Sie es geschafft haben, sich durch Umarmen bis zur Entspannung und bei Köpfe auf Kissen zu beruhigen, werden Sie wahrscheinlich auch mit Oralsex zurechtkommen.«
Philipp nickte ernst. »Danke für Ihr Vertrauen, Doktor. Ich werde das mit dem Oralsex schon nicht versemmeln.« Seine Beteuerung klang komisch, und in ihr schwangen vielfältige Bedeutungen mit.
Ich fragte: »Würden Sie jetzt lieber über etwas anderes reden, oder möchten Sie, dass ich Ihnen helfe, die Sache anzugehen?«
Nicole lachte. »Sie können jetzt nicht einfach aufhören! Das wäre ein Oralsex-Interruptus.«
Philipp fügte hinzu: »Nicole hat recht, hören Sie jetzt nicht einfach auf.«
»Dann wollen wir einmal schauen, womit wir es zu tun haben: Philipp erreicht beim Genitalverkehr schnell den Höhepunkt, und er glaubt, Genitalverkehr sei die einzige Möglichkeit, das Problem zu lösen. Nicole möchte genommen werden, und außerdem ist sie frustriert und will seit Beginn Ihrer gemeinsamen Ehe keinen Sex mehr.« Beide nickten zustimmend.
»Wenn Sie es mit Oralsex versuchen würden, könnten Sie das Problem zunächst umgehen. Philipps Problem des schnellen Orgasmus würde sich dadurch im Laufe der Zeit erledigen, und anschließend könnten Sie beide mit Nehmen und Genommenwerden experimentieren. Aber der Mann ist nicht sonderlich daran interessiert. Er besorgt es ihr zwar gern mit dem Mund, aber sie lässt ihn nicht. Und sie bläst ihm zwar gern einen, aber er lässt sie nicht. Der Mann ist frustriert, weil sie ihn nicht tun lässt, was er gut kann, aber er verbittet sich andererseits das Gleiche von ihr. Beide sind sehr schlecht im Empfangen oder Nehmen!«
»Sehen Sie, Doktor, ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir völlig daneben sind.« Nicole gab zu erkennen, dass sie das Gesamtbild erfasst hatte, und Philipp schloss sich ihr an. Sein ungerührter Gesichtsausdruck unterstrich seine witzig gemeinte Bemerkung: »Ich hoffe, ich habe das alles richtig verstanden: Ich bin egoistisch, weil ich nicht zulasse, dass Nicole mir einen bläst. Die meisten Männer beklagen sich darüber, dass ihre Frauen nicht zum Oralsex bereit sind, und ihre Frauen entgegnen darauf, dass sie immer nur das wollen. Und außerdem soll ich egoistisch sein, weil ich Nicole zuerst zum Orgasmus bringen möchte? Bisher habe ich gedacht, das sei großzügig. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir erklärt haben, wie es wirklich um mich steht!«
Ich lachte: »Kein Problem.« Es gefällt mir, wenn Klienten lebendiger werden.
Als Nicole und Philipp zur nächsten Sitzung kamen, hatten wir viel zu bereden. Sie waren seit der letzten Sitzung sehr beschäftigt gewesen. Eines Nachmittags war es zwischen Nicole und Philipp zum Sex gekommen. Als sie in ihr Schlafzimmer gingen, hatten sie das Gefühl gehabt, einander besonders verbunden zu sein und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Sie hatten dann Köpfe auf Kissen praktiziert und ein gutes Gefühl zueinander gehabt. Dann hatte Philipp angefangen, Nicole oral zu stimulieren. Sie hatte unser Gespräch darüber im Sinn, wer zuerst der Empfänger der oralen Stimulation sein sollte, doch sie machte kein Problem daraus. Sie wollte, dass dies für sie und Philipp ein gutes Erlebnis würde.
Nicole versuchte, ihren Geist zu fokussieren und ihn nicht abschweifen zu lassen. Sie ging immer noch davon aus, dass sie ohnehin nicht den Orgasmus erreichen würde. Sie versetzte sich in die Gegenwart zurück, indem sie ihre Augen öffnete und Philipp anschaute. Dies war die erste Situation in den Jahren ihres Zusammenlebens, in der Nicole zuschaute, wie Philipp sie oral stimulierte. Sie empfand dies als sexy und fühlte sich sehr erwachsen. Ihr kam der Gedanke: Philipp sieht aus, als würde ihm dies wirklich Spaß machen. In diesem Moment lächelte Philipp sie an. Die Wirkung war erstaunlich.
So wie Nicole die Situation beschrieb, ging von Philipps Geist eine Energie aus, die durch seine Augen auf ihre Augen übersprang und von dort ihr Gehirn erreichte. Ein weiterer Impuls verlief durch seine Zunge zu ihrer Klitoris und von dort durch ihre Wirbelsäule ins Gehirn. Nicole war von diesem Augenblick der Begegnung völlig gefesselt. Sie hob ihren Kopf an, um Philipp besser sehen zu können. Nach einigen Minuten entspannte sie den Hals und ließ den Kopf nach hinten sinken. Ihr Hals war nun gedehnt und ihre Kehle geöffnet. Philipp leckte ihre Klitoris, und sie dachte, Himmel, das ist also eine kollaborative Allianz!
Nicole war stark erregt. Sie ließ sich von Philipp nehmen, und es gefiel ihr. Sie war stolz auf sich. Sie erlebte zum ersten Mal, beim Oralsex genommen (»gefickt«) zu werden. Diesmal unterbrach sie Philipp nicht. Sie hätte gerne auf diese Weise einen Orgasmus erlebt, aber es gelang ihr nicht, die vielen neuartigen Reize darauf zu fokussieren. In gewisser Hinsicht war das, was sie erlebte, größer als ein Orgasmus. Sie wusste, wie sich Orgasmen anfühlen. Genommen zu werden war exotischer.
Philipp wusste, dass Nicole Fortschritte machte, weil es ihm diesmal wirklich Freude machte, sie oral zu stimulieren. Das hatte er mit Nicole schon seit langem erleben wollen. Rückblickend wurde Philipp klar, dass er Nicole nehmen wollte und dass er spüren wollte, dass sie es zuließ, genommen zu werden. Er wollte die Erotik sehen, die sie in den verborgenen Bereichen ihres Geistes verbarg. Von Nicoles früherer Promiskuität hatte er vage gewusst, und er hatte sich immer gefragt, wie sie in jener Zeit im Bett gewesen sein mochte.
Als Philipp an der Reihe war zu empfangen, wollte Nicole ihm einen blasen, dass ihm Hören und Sehen verginge. Sie machte Anstalten, sich in die richtige Position dafür zu bringen, doch er unterbrach sie und steuerte auf Genitalverkehr zu. Nicole sagte, sie wolle ihn oral befriedigen, doch Philipp entgegnete, er wolle vögeln. Nicole zögerte einen Moment, weil sie Philipps Geist spiegelte und sah, dass er es vermied, genommen zu werden.
Statt jedoch auf ihrem Vorhaben zu beharren und Philipp gegen sich aufzubringen, folgte Nicole seinem Wunsch. Dabei stand ihr ständig vor Augen, dass Philipp sich drückte. Als er nach weniger als einer Minute »fertig« war, waren beide enttäuscht, obwohl er behauptete, er sei zufrieden.
Am nächsten Morgen stellte Nicole Philipp zur Rede, weil er am Vortag dreimal unter Beweis gestellt hatte, dass er nicht zur Selbstkonfrontation bereit war: zunächst hatte er entschieden, dass er sie zuerst nehmen wollte; dann hatte er auf Genitalverkehr bestanden, statt sich von ihr oral befriedigen zu lassen; und schließlich hatte er sich nicht von ihr zum Orgasmus bringen lassen. Philipp verteidigte sich mit dem Argument, niemand habe ihm gesagt, er müsse sich sofort mit seinen Problemen auseinandersetzen. Doch nach dieser Konfrontation am frühen Morgen war Nicole nicht bereit, es dabei bewenden zu lassen. Sie sagte, es gehe nicht darum, dass er nicht getan habe, was ihm empfohlen worden sei, sondern es gehe um seine Absicht und seinen Mangel an sinnvoller Beharrlichkeit. Sie habe sich ihren Problemen gestellt und sich damit auseinandergesetzt, und auf diese Weise habe Philipp bekommen, was er sich gewünscht habe. Doch statt sich daraufhin selbst ebenfalls mit seinen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, habe er es vorgezogen, den Problemen einfach aus dem Weg zu gehen. Nicole war enttäuscht.
Philipp entgegnete, Nicole habe doch einen wunderbaren Orgasmus gehabt. Doch Nicole blieb bei ihrer Frage: Wieso er sich nicht mit seinen Ängsten auseinandergesetzt habe? Ob er meine, eine echte kollaborative Allianz könne entstehen, wenn sie sich um schwierige Probleme herumdrückten? Philipp sagte, er könne diese Fragen nicht beantworten.
Nicole und Philipp sprachen während der restlichen Woche nicht über das Thema. Doch zu Beginn unserer nächsten Sitzung berichteten sie sofort darüber. Nicole sagte, sie fühle sich recht gut, fürchte sich aber vor dem, was in der Sitzung geschehen könnte.
Philipp sagte, er habe sich gut gefühlt, als er an jenem Morgen nach dem Genitalverkehr aufgewacht sei. Doch das Gespräch beim Frühstück habe ihn innerlich aufgewühlt, und er sei dann tagelang in diesem Zustand geblieben. Nicoles Vorwürfe hätten ihn ziemlich erschüttert, denn aus seiner Sicht sei es am Abend vorher zwischen ihnen wunderbar gewesen. Er beschrieb den Sex in leuchtenden Farben.
»Als Nicole sich von mir nehmen ließ, war das ein phantastisches Erlebnis für mich. Sie war phantastisch. Wir waren phantastisch. Ich fühlte mich phantastisch, wie ein großartiger Liebhaber. Ich hatte das Gefühl, dass wir nun wirklich Fortschritte machten!« Philipps enthusiastische Äußerungen wurden durch das, was sein Gesicht ausdrückte und was in seinem Geist vorging, nicht bestätigt. Ich wusste, was er versuchte, und mir fiel auf, wie geschickt er sich dabei verhielt: Er lobte Nicole, um zu verhindern, dass sich das Gespräch auf ihn konzentrierte.
»Ich bewundere Ihre Fähigkeit, wahre Aussagen zu benutzen, um die Wahrheit zu verzerren. Sie haben es darin zu echter Meisterschaft gebracht. Um mit Hilfe der Wahrheit eine falsche Sicht etablieren zu können, müssen Sie den Geist anderer Menschen unglaublich gut spiegeln können – und Sie müssen verhindern können, dass andere Ihren eigenen Geist spiegeln.«
»Was meinen Sie damit?« Philipps Gesicht wirkte ausdruckslos, und in seiner Stimme schwang Misstrauen mit.
»Sie loben Nicole, weil sie sich hat nehmen lassen und weil sie genossen hat, was Sie ihr haben geben können. Bei alldem versuchen Sie, völlig über Nicoles Wahrnehmung hinwegzugehen, dass Sie sich darum gedrückt haben, genommen zu werden. Sie hat Sie aufgefordert, den Tatsachen ins Auge zu blicken und ihr zu sagen, was Sie davon halten.«
»Ich habe Nicole gebeten, mit mir so zu vögeln, wie ich glaubte, dass es mir gefallen würde.«
»Okay, wenn wir einmal annehmen, dass dies wahr ist, sind Sie immer noch nicht bereit oder in der Lage, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen, auf die Nicole Sie hingewiesen hat.«
»Das kann ich nicht, weil ich es einfach nicht so sehe.« Alles, was von Philipps kollaborativer Allianz mit Nicole oder mit mir noch übrig gewesen war, war nun ebenfalls dahin. Philipp sah das Schlamassel, in dem er sich befand, und versuchte trotzdem weiterhin hartnäckig, es zu vermeiden. Ich merkte mir, welche Methode er zu diesem Zweck anwendete: Er behauptete einfach, er sehe nichts dergleichen.
Philipp stand kurz vor einem Wutanfall, und er versuchte Nicole und mir zu signalisieren, dass wir es besser dabei bewenden ließen. Ich musste nach einer anderen Möglichkeit suchen, sein Interesse zu wecken und ihn zur Kooperation zu bewegen. Ich stellte mir die sexuelle Begegnung an jenem Nachmittag vor. Zunächst schwieg ich eine Weile, um Philipps Anti-Haltung abklingen zu lassen, und dann fing ich langsam und mit leiser Stimme an zu sprechen.
»Sie müssen sehr enttäuscht gewesen sein.«
»Wie bitte? Was meinen Sie damit?« Philipp war auf der Hut.
»Ich meine, als Sie so schnell kamen. Da müssen Sie doch sehr enttäuscht gewesen sein, oder?« Philipp stritt weder etwas ab, noch bestätigte er etwas. Ihm ging es nur um Informationen von mir.
Ich hielt inne, um durchzuatmen. »Ich versuche, Ihnen zu helfen, aber das bedeutet nicht, dass ich Lust habe, mit Ihnen zu kämpfen. Das hier ist mein Beitrag zum Wiederaufbau unserer kollaborativen Allianz: Entscheidend ist nicht, woher ich dies weiß, sondern die Frage lautet: ›Ist es wahr?‹«
Philipp zögerte, um zu überlegen, was er jetzt tun sollte. Dann ließ er ein langes und langsames »… Jaaaaaaaaaa!« ertönen. Ich hatte unsere kollaborative Allianz zur Disposition gestellt, und er hatte sich entschlossen, sie nicht zu gefährden.
»Schnell zu kommen, nachdem man sich vorher darum herumgedrückt hat, zu empfangen, und Oralsex zu vermeiden, muss Sie sehr geschmerzt haben.«
»… Ja.« Philipp ergab sich. Unsere kollaborative Allianz war wiederhergestellt.
»Warum haben Sie gekniffen?«
»… Ich weiß nicht.«
»Nun kommen Sie schon. Sie haben an jenem Tag gekniffen, und was Sie dazu motiviert hat, das muss an jenem Tag, in der Situation geschehen sein. Ihnen war die Bedeutung des Geschehens völlig klar. Warum sind Sie davor zurückgescheut?«
»Ich weiß es nicht.« Philipp sprach nachdrücklich, aber nicht trotzig.»Können Sie sich vorstellen, wie Nicole Sie an jenem Tag oral stimulieren wollte?«
»… Ja, ich sehe es vor mir.«
»Gut. Sehen Sie sich auch mit ihr zusammen?«
»Ja.«
»Gut. Sehen Sie sich selbst in jenem Augenblick?«
»Ja.«
»Gut. Dann sagen Sie mir nun, was dieser Kerl fühlt und denkt.«
Philipp schwieg einen Moment lang. »Er denkt … das wird jetzt wahrscheinlich sehr merkwürdig klingen … er denkt, dass seine Frau ihm jetzt auf die Pelle rückt … so dass er keine Wahl mehr hat … etwa so, dass er es tun muss, weil sie es tun will. Er fühlt sich in die Enge getrieben, und er muss sie tun lassen, was sie tun will … weil sie ihn mit ihrer Therapie erpressen kann.«
»Was halten Sie denn selbst von diesem Gefühl? Meinen Sie, dass Nicole das tatsächlich vorhatte?«
»… Nein.«
»Und was halten Sie davon, dass diese Reaktion bei Ihnen eingetreten ist, als Nicole Ihnen anbot, Ihnen einen zu blasen?«
»… Dass ich wahnsinnig bin?« Das war Philipp ernst. Er verhielt sich kooperativ und orientierte sich an den Tatsachen. »Ich weiß nicht, Doktor. Ich habe das noch nie so klar gesehen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wie sehen Sie die Sache denn?«
»Ich vermute, dass es in der Umgebung, aus der Sie stammen, nicht üblich war, Allianzen aufrechtzuerhalten. … dass Sie sich dort manipuliert und kontrolliert fühlten – erpresst, um diesen Begriff zu benutzen – … in einer Umgebung, in der die Menschen nicht vertrauenswürdig sind … wo emotionale Erpressung normal ist und wo es nicht klug wäre, sich zu entspannen. Eine Umgebung, in der Sie sich niemals von jemandem halten lassen würden, auch wenn Sie sich noch so dringend danach sehnten.«
Philipp vergrub sein Gesicht in den Händen. Nachdem er einige Minuten geschwiegen hatte, ließ er die Hände wieder sinken und seufzte. Dann beschrieb er, wie er bei seinen Eltern und seiner Großmutter aufgewachsen war, die im Haushalt der Familie gelebt hatte. Seine Eltern hatten sich ständig gestritten. Und zu allem Überfluss hatte sich die Großmutter (die Mutter seines Vaters) auch noch eingemischt. Er erinnerte sich, wie er in seinem Zimmer gesessen und versucht hatte, die lauten Streitereien, die durch das ganze Haus schallten, zu ignorieren. Seine Mutter war oft depressiv oder wütend gewesen, und sie hatte sich Philipp gegenüber bitterlich über seine Großmutter beklagt. Die Mutter hatte ihre Depression ausgenutzt, um Philipp zu zwingen, sich ihr Gemeckere anzuhören.
Philipps Blick war nach innen gerichtet. »… Mir ist klar, wie ich Nicole manipuliere und kontrolliere … Ich erpresse sie, mir zu geben, was ich will … oder ich hindere sie daran, mich zu konfrontieren, indem ich die Situation so stark eskalieren lasse, dass sie es vorzieht, sich daraus zurückzuziehen. Mein Vater hat das ständig getan!«
Philipp starrte lange auf den Boden und ließ im Geiste seine Vergangenheit an sich vorüberziehen. Als er aufblickte, hatte sich sein Gesichtsausdruck erstaunlich stark verändert.
»Sie sollten Ihr Gesicht jetzt sehen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob es noch so sein wird wie jetzt, wenn Sie das nächste Mal im Bad in den Spiegel schauen, aber Sie sollten es sich unbedingt anschauen und das jetzige Aussehen mit dem Zustand dann vergleichen.«
»Warum?«
»Ihr Gesicht ist weicher geworden. Ihre Gesichtsmuskeln sind jetzt nicht mehr so angespannt. Ihr Gesicht ist ausdrucksvoller und nicht mehr so teilnahmslos wie vorher.«
Nicole nickte verständnisvoll. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ich sehe es auch.«
Philipp hatte als Kind eine Maske entwickelt, um vor seinem Vater verbergen zu können, was in seinem Geist vor sich ging Als er herangewachsen war und sein Gehirn die beiden Prägungs- und Neuprägungsperioden der Kindheit und Adoleszenz durchlebt hatte, glich sein Gesicht einer Maske.
Menschen verwechseln Schwäche oft mit Macht. Dieser Fehler war Philipp in seiner Beziehung zu seinem Vater unterlaufen. Philipps Vater war Alkoholiker, arbeitete auf einer Bohrinsel und neigte zur Gewalttätigkeit. An Land war er meist betrunken und wurde dann oft bösartig. Philipp hatte während seiner Kindheit versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Er beschrieb seinen Vater als einen starken, meist schlecht gelaunten Mann, der jeden überwältigte, der ihn herausforderte.
In Wirklichkeit war Philipps Vater ein schwacher Mann. Was Philipp fürchten musste, war seine Schwäche. Schwache Menschen sind destruktiv, mächtige konstruktiv. Mächtige Menschen schaffen, fördern und ermöglichen Dinge. Schwache Menschen wie Philipps Vater verbringen ihre Zeit damit, andere einzuschränken und ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Es gibt gute Gründe, schwache Menschen zu fürchten.
Der Unterschied zwischen mächtigen und schwachen, aber dominanten Menschen ist sehr wichtig. Doch die Kinder von schwachen und destruktiven Eltern verwechseln beides oft. Wie viele Männer (und Frauen), deren Väter in Wutanfällen die Kontrolle über sich verlieren, zahlte Philipp einen Preis: Er scheute vor seiner eigenen sexuellen Aggression zurück, so wie viele Männer, die nach dem Teil von sich suchen, der ficken kann. Wenn Ihr Vater häufig Wut bekommt, ist es schwierig, den Unterschied zwischen einem männlichen und einem furchteinflößenden Auftreten klar vor Augen zu haben. Zu lernen, diesen Teil zu erschließen, zu würdigen und zu nutzen – insbesondere in Ihrer Beziehung zu Ihrem Partner –, ist ein Meilenstein im Leben der Betroffenen.
Ich habe mit zahlreichen Paaren gearbeitet, bei denen der Mann der Partner mit dem schwächeren Verlangen geworden war, nachdem die Frau erklärt hatte, sie wolle genommen werden. Diese Art von Sex macht Spaß, wenn man frisch verheiratet ist; doch wenn Männern dann klar wird, dass sie es mit jemandem zu tun haben, der höhere Ansprüche an die Erotik stellt als sie, bekommen es viele von ihnen mit der Angst zu tun, und ihr gespiegeltes Selbstempfinden fühlt sich dominiert.
Ich schaute Philipp und Nicole an und nickte, während ich ausatmete. Auch sie atmeten durch und entspannten sich. Dann wandte ich mich Nicole zu und fragte sie langsam und mit leiser Stimme: »Finden Sie, dass nur Philipp seine Maske abnehmen muss?«
Nicole ging sofort auf meine Bemerkung ein: »Nein, natürlich nicht. Ich habe es satt, mein Leben lang ›zu groß zu sein‹. Bei uns gibt es das Sprichwort ›Die hochgewachsene Mohnblume wird immer abgeschnitten.‹ Mein Vater konnte gemein sein, wenn er trank, aber meine Mutter hat uns so richtig fertiggemacht. Alles, was man gut gemacht hatte oder worauf man stolz war, hat meine Mutter herunterzumachen versucht. Deshalb habe ich ihr gar nicht mehr gezeigt, was mir wichtig war. Ich habe sie daran gehindert zu lesen, was in meinem Geist vor sich ging. Daraufhin hat sie angefangen, ›Katz und Maus‹ mit mir zu spielen. Sie versuchte, mich beim Lügen oder beim Sex mit Jungen zu erwischen. Mit beidem fing ich an, um zu ihr ›Leck mich‹ zu sagen. Ich war klug, weigerte mich aber, für die Schule zu arbeiten und gute Zensuren zu bekommen, weil ich genau wusste, dass sie das wollte.«
Ich beschloss, mich auf Nicoles Fähigkeit statt auf ihren Trotz zu konzentrieren. »Dann gibt es bei Ihnen in sexueller und auch in anderer Hinsicht mehr, als bisher sichtbar geworden ist?«
Nicole schloss die Augen, als würde sie im Geiste eine Bestandsaufnahme machen. Dann nickte sie und bestätigte: »Ja!«
»Demnach können Sie und Philipp nur gewinnen, wenn Sie an Ihrem Sex arbeiten. Sie können Ihr Leben nun verbessern und die in der Vergangenheit entstandenen Probleme in der Gegenwart lösen.«
Nicole fühlte sich nie wohl, wenn sie Philipp oral stimulierte. Gewöhnlich wollte sie es nicht, und wenn sie es doch tat, war Philipp solch ein Nervenbündel, dass es ihr keinen Spaß machte. Sie war besorgt, sie könnte ihn zur Ejakulation bringen, er könnte seine Erektion verlieren oder zu schnell zum Höhepunkt kommen oder sie könnte ihre Sache zu gut machen – ja, sie fürchtete tatsächlich, es zu gut machen zu können. Nicole gelang es nie, sich in Gegenwart von Philipp zu entspannen und ihre eigene Fähigkeit oder das physische Gefühl, den Penis eines Mannes zu stimulieren, zu genießen. Sie hatte Männern oft genug einen geblasen, um zu wissen, dass ihnen dies gefiel; doch es gab auch Männer, die Frauen verachteten, denen es gefiel, dies zu tun. Es waren schon viele Jahre vergangen, seit sie das letzte Mal die Macht und die Fähigkeit gespürt hatte, einen Mann durch orale Stimulation ins Nirwana zu katapultieren.
»Das klingt so, als hätten Sie keine Erfahrung damit, vor Menschen, die Sie lieben, aufrecht zu stehen. Sie könnten das korrigieren, indem Sie dies mit Philipp tun. Dazu müssten Sie bereit sein, ihm ein wundervolles Erlebnis mit Oralsex zu verschaffen, sich dabei entspannen und sich beruhigen und zentrieren. Wenn das allein Sie nicht ausreichend motiviert, können Sie überlegen, ob Sie bereit sind, es für Philipp zu tun.«
»Wie das?«
»Wenn Sie Ihre Kompetenz unter Beweis stellen, helfen Sie Philipp, sich mit sich selbst zu konfrontieren. Wenn offensichtlich ist, dass Sie ihm gern einen blasen, bleibt ihm nichts anderes mehr übrig, als sich mit sich selbst zu konfrontieren. Ihre Fähigkeit, einen Mann gut oral zu stimulieren, zwingt ihn dazu, sich mit seinem Problem auseinanderzusetzen, die Rolle des Empfängers gut zu spielen. Sie genießen, was Sie tun: ihn zu nehmen. Wenn er sich nicht entspannt und sich nicht nehmen lässt, dann ist das nicht ihre Schuld.«
Nicole kicherte. »Wenn es mir gelingt, seinen Schädel zum Platzen zu bringen, darf ich dann die Spinnweben daraus entfernen?«
»Im übertragenen Sinne ganz sicher, und vielleicht auch im wortwörtlichen Sinne. Je stärker Sie ihn spüren, während Sie ihn stimulieren, umso stärker konfrontieren Sie Philipp damit, anzunehmen, was Sie ihm anbieten. Die emotionale und physische Intensität wird ihn zu dieser Konfrontation zwingen.« Philipp nickte.
»Denken Sie, während Sie ihn im Mund haben, daran, womit er sich im Augenblick auseinandersetzt. Und teilen Sie ihm, bevor Sie anfangen, mit, dass Sie daran denken werden. Dann wird Philipp Ihren Geist besser spiegeln können, während Sie ihn stimulieren. Lassen Sie zu, dass er in Ihrem Geist liest. Benutzen Sie Ihren Kopf, während Sie Philipp einen blasen – falls Sie ihm so richtig ›den Kopf verdrehen‹ wollen.«
Nicole lachte und schaute Philipp an. Ihr Lächeln wirkte sehr sinnlich. »Das klingt gut!«
Philipp lachte nervös. »Bin ich verpflichtet, Oralsex zu empfangen, um meine Allianz mit meiner Frau aufrechterhalten zu können?« Seine Frage klang absurd, aber sie war absolut berechtigt.
»Sie klingen wie jemand, der automatisch mit Trotz reagiert, wenn er das Gefühl bekommt, dass seine Partnerin ihn will. Wenn Sie sich dies vergegenwärtigen, während Nicole Sie in den siebten Himmel versetzt, werden Sie vielleicht erleben, dass Ihr Gehirn anders als bisher zu denken beginnt.«
Philipp schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Ich verstehe das jetzt.«
»Bei der letzten sexuellen Begegnung haben Sie Ihre Allianz mit Nicole aufgegeben. Nicole hat Ihnen mehr angeboten als nur, Sie oral zu befriedigen. Sie ist Ihnen entgegengekommen. Sie hatte das Gefühl, dass Ihre Allianz zerbrach, als Sie sich in sich selbst zurückzogen. Sie hätten auch den Oralsex ablehnen und Ihre Allianz trotzdem aufrechterhalten können. Dazu hätten Sie Nicole nur mitzuteilen brauchen, Sie wüssten, dass Sie sich nicht mit Ihren Problemen konfrontierten. Dann hätte sie sich bereit erklären können, mit Ihnen ›freundschaftlich‹ zu vögeln statt als jemand, der mit Ihnen an Ihrem gemeinsamen Sex arbeitet.
»Ich hab’s kapiert!« Philipps Augen wirkten nun so bestimmt, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Sein Gesicht war weich. Er war viel lebendiger geworden, als wäre er zuvor angeschlagen gewesen und nun wieder völlig beisammen.
»Hatten Sie schon einmal eine kollaborative Allianz mit einer Frau durch Ihren Penis?«
Das Bild verwirrte Philipp. »Nein.«
»Sie hatten noch nie eine kollaborative Allianz, wenn Ihr Penis in ihrem Mund war?«
»… Noch nie.«
Nicole wendete sich Philipp zu. »Ich kann damit klarkommen, dass du beim Sex nervös wirst. Ich weiß, wie das ist. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass du den Kontakt zu mir unterbrichst und von mir erwartest, dann so zu tun, als ob du noch präsent wärest. Ich werde das nicht mehr mitmachen, wenn ich die Empfangende bin, und ich werde es auch als Gebende nicht mehr tun. Gestern Nachmittag habe ich beim Sex weitergemacht, obwohl mir klar war, dass du nicht mehr dabei warst. Dazu bin ich nicht mehr bereit. Und ich möchte, dass auch du damit aufhörst.«
Philipp antwortete langsam und bedächtig. »Ich glaube, ich kapiere allmählich, was es für dich bedeutet, wenn ich mich davor drücke, mich meinen Problemen zu stellen. Wenn ich nervös werde, lasse ich unsere Allianz sausen und ziehe mich zurück. Ich rede mir dann ein, dass ich mich sorge, dich zu enttäuschen, obwohl ich dich durch das, was ich in diesem Moment tue, ohnehin schon enttäusche. Aber ich verliere mich völlig, wenn ich mir vorstelle, dass ich dies tue, während du mir einen bläst. Mein Penis ist in deinem Mund, mein Geist ist anderswo, du weißt es, aber du machst weiter, als ob ich nach wie vor da wäre, weil du weißt, dass ich genau das möchte. Was für eine schreckliche Vorstellung! Ziemlich erbärmlich!«
Ich sagte: »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Es ist mir eine Freude, Ihren Geist bei der Arbeit zu beobachten.«
Philipp wurde innerlich deutlich aktiver. Ich beobachtete, was in ihm vorging. Aufgrund meiner Bemerkung wurde ihm klar, dass ich seinen Geist spiegelte. Philipp schaute mich an, und wir erlebten gemeinsam einen Augenblick der Begegnung. Er schaute mich ohne jede Reserviertheit an, und er wirkte stabil und ohne die geringste Spur von Aggressivität.
Nicole rannen Tränen über die Wangen. Sie verfolgte unsere Interaktion. Philipp ließ in dieser Sitzung eine wesentlich tiefere Intimität zu. Dies war für uns drei ein Augenblick geteilter Aufmerksamkeit. Im Raum war es still, und die Atmosphäre vibrierte von Möglichkeiten. Nicole sagte zu Philipp: »Mir gefällt es sehr, wenn du so bist.« Dann wendete sie sich an mich. »Warum schaffen wir es nicht, unsere Schutzpanzer abzulegen und dies miteinander zu tun?«
»Sie sind beide Beobachter, Fährtenleser. Sie sehen Menschen. Sie spiegeln ihren Geist. Das Problem ist, dass Sie beide gegenüber anderen Menschen hypervigilant und sich selbst gegenüber blind sind. Ihre Hypervigilanz und Ihre Blindheit sind eng mit den Löchern in Ihren Kindheitserinnerungen und Ihren Schwierigkeiten, Emotionen zu regulieren, verbunden.« Nicole und Philipp schauten einander an.
»Vielleicht könnten Sie aufhören, Ihren Radar zu benutzen, um sich zu verteidigen, und stattdessen dazu übergehen, einander zu sehen und Zusammensein zu ermöglichen.«
Philipp zögerte nicht. »Mit dem Bild von uns vor Augen, das uns beim Sex zeigt, erscheint es mir nicht als so beängstigend, mit Nicole zusammen zu sein. Nicht mit ihr zusammen zu sein empfinde ich wirklich als beängstigend. Meinen Sie, wenn wir das wirklich richtig machen, würde ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht so schnell ejakulieren?«
Nicole ergriff Philipps Hand. »Vielleicht können wir das herausfinden, nachdem wir hier weggegangen sind.« Sie blinzelte ihren Mann an, und in dem, was sie sagte, schwang eine unverkrampft sexuelle Bedeutung mit.
Philipp und Nicole durchlebten eine emotionale Pattsituation, es gelang ihnen, an sich selbst festzuhalten, und sie entwickelten die Vier Aspekte der Balance. Nach alldem war ihnen klarer, wer sie waren und wer sie sein wollten. Sie waren zuversichtlich, dass sie zu diesen Menschen werden konnten. Ihre Beziehung war ihnen wichtiger, sie waren einander wichtiger, und nicht zuletzt waren sie auch sich selbst wichtiger geworden.
Unzählige Paare wachsen, indem sie sich mit ihren das sexuelle Verlangen betreffenden Problemen auseinandersetzen. Aufgrund meiner beruflichen und persönlichen Erfahrung glaube ich, dass eine emotional tragfähige Beziehung die persönliche Entwicklung fördert. Sexuelles Verlangen, Intimität und Differenzierung sind dabei die primären (aber nicht die einzigen) Antriebe. Sie treten durch ein emotionales Patt in Erscheinung. Und die Auflösung einer solchen Pattsituation ermöglicht die Weiterentwicklung.
Nach meiner Auffassung hat sich die Menschheit auf genau diese Weise zu dem Punkt hin entwickelt, an dem sie sich heute befindet. So wurden wir menschlicher im besten Sinne des Wortes, und so bildete sich unsere »menschliche Natur« heraus. Auf diese Weise hat sich unser Gehirn weiterentwickelt. Ich kann für diese Auffassung zwar keine Tatsachenbeweise vorlegen, doch sie entspricht Erkenntnissen vieler Wissenschaftszweige.
Der Auffassung, dass Sex das Gehirn verändert, sollte man mit gesunder Skepsis begegnen. Ich arbeite mit dem Differenzierungssystem der Ehe bei Paaren seit 30 Jahren, wohingegen ich therapeutische Ansätze, die auf eine Veränderung des Gehirns zielen, erst seit einem Jahrzehnt benutze. In dieser Zeit habe ich erlebt, dass es bei Menschen, denen es durch Fokussieren auf Gefühle, Einsichten und Kommunikation nicht gelang, Fortschritte zu erzielen, zu Veränderungen kam, nachdem sie die hier beschriebenen Lösungsansätze ausprobiert hatten. Wenn die Therapie ihren Körper, den Abruf zutreffenderer autobiographischer Erinnerungen, neue Bedeutungen des Sex und physischen Kontakt zum Partner einbezog, machten viele ähnliche Fortschritte, wie Nicole und Philipp.
Nicole wurde stärker und war nicht mehr unbedingt bereit, grundsätzlich jedem anderen den Vortritt zu lassen. Sie stellte ihre Fähigkeiten nicht mehr als unbedeutend dar. Sie wurde lebendig und munter. Einer der Gründe hierfür war, dass sie sich als begehrenswert erlebte, ein anderer, dass sie sich nun bezüglich ihrer positiven Einstellung zu ihrer sinnlichen Seite sicher war.
Philipp gelang es, seine Tendenz zum schnellen Ejakulieren zu überwinden. Die intensive körperliche und emotionale Stimulation beim Oralsex entfaltete wie vorausgesehen ihre Wirkung, nachdem es ihm gelungen war, sich darauf einzulassen. Philipp erhielt nun auch seine Allianz mit Nicole aufrecht, und er konfrontierte sich mit seinen Problemen, indem er lernte, Nicole direkt zu bitten, ihn oral zu befriedigen und ihn zu nehmen. Die Vier Aspekte der Balance und sein Penis erhielten ein Konditionstraining. Dadurch wurde nicht nur seine Ejakulationsschwelle erhöht (was seine Ejakulationskontrolle beim Genitalverkehr verbesserte), sondern seine reflexhaften Anwandlungen von Wut, Reaktivität und Aggression ließen ebenfalls nach. Er lernte so gut, seine Emotionen zu beherrschen, dass Nicole anfing, ihn »Sweetie« zu nennen.
»Sweetie« war in diesem Fall mehr als nur ein schrecklich rührseliger Kosename: Der Ausdruck war ein Maß für den Erfolg der Therapie. Alle Bemühungen beider Partner, bei sich selbst zu bleiben, waren in diesem einen Wort zusammengefasst. Der Weg von emotionalen Katastrophen und Wutanfällen zu »Sweetie« (»Süßer«) zeigt, dass diese beiden Menschen mehr als nur ein wenig Einsicht entwickelt hatten. Wegen solcher Entwicklungen bin ich auf den Gedanken gekommen, dass in den Gehirnen meiner Klienten neue Synapsenverbindungen entstehen. Vielleicht beeinträchtigt aber auch mein Respekt vor ihnen und meine Bewunderung für sie meine Objektivität. Aber »Sweetie« klingt ein wenig wie das, was Daniel Siegel, der den Begriff »interpersonale Neurobiologie« prägte, als Kriterium für die Effektivität einer Behandlung beschrieben hat:
»[Der] Schluss [liegt] nahe, dass die allgemeine Zielrichtung bei der psychotherapeutischen Behandlung von Traumatisierten darin besteht, die angeborene Bewegungstendenz des Geistes in Richtung Integration zu verstärken, und zwar sowohl innerhalb des Gehirns als auch im Rahmen interpersoneller Beziehungen. Erkennbar würde die Wirksamkeit eines solchen Vorgehens an einer Verstärkung der Selbstregulierung und der emotionalen Verarbeitung. Abgesehen von der Auflösung der vielen und vielfältigen PTBS-Symptome könnte man auch zahlreiche andere grundlegende Veränderungen in der Funktionsweise des Patienten voraussagen. Aus systemischer Sicht wäre eine Verbesserung infolge der Therapie an einem anpassungsfähigeren und flexibleren Geist zu erkennen, der auf Veränderungen in seinem Inneren und in der äußeren Umgebung zu reagieren vermöchte. Die vorherige emotionale Labilität würde durch eine stabile Grundgestimmtheit abgelöst. Außerdem manifestierte sich eine gesteigerte Fähigkeit, ein umfassenderes Spektrum von Emotionen unterschiedlichster Intensität zu erleben, sowie eine größere Toleranz gegenüber Veränderungen. Die Auflösung wäre auch an der Entwicklung differenzierterer Fähigkeiten und an der gleichzeitigen häufigeren Teilhabe der Betreffenden an Erlebnissen der Vereinigung zu erkennen. Diese Steigerung der individuellen Differenzierung und der interpersonellen Integration würde die Bewegung des Geistes zu immer komplexeren Zuständen spiegeln. Insgesamt wären diese Veränderungen nicht nur ein Ausdruck der Freiheit von posttraumatischen Symptomen, sondern auch der größeren Fähigkeit des Patienten, die (innere und interpersonelle) Integration zu erreichen, und somit Niederschlag einer adaptiveren und flexibleren Selbstregulierung.
Die Folge dieser Verbesserung der Integrationsfähigkeit wären kohärentere autobiographische Beschreibungen spezifischer traumatischer Ereignisse und des gesamten Lebens.»12
Als Sie anfingen, das vorliegende Buch zu lesen, hätten Sie wahrscheinlich nicht gedacht, dass Sie am Ende etwas über das Gehirn erfahren würden. Und sicherlich hatten Sie, wenn Sie in Problemen hinsichtlich des sexuellen Verlangens »ertrinken«, auch nicht die Vorstellung, Sie würden beim Geben oder Empfangen von Oralsex das Göttliche finden. Und sicherlich haben Sie auch Probleme bezüglich des sexuellen Verlangens und Oralsex nie als Kokonstruktion und Koevolution verstanden. Doch wie bei allem, womit wir uns bisher beschäftigt haben, gilt auch hier, dass wesentlich mehr geschieht, als man auf den ersten Blick meinen könnte – bis Ihnen klar geworden ist, was Differenzierung ist.
Sie haben die unglaublichen Entwicklungsprozesse kennengelernt, die einfach dadurch initiiert werden, dass Menschen sich verlieben, eine Paarbeziehung eingehen und längerfristig zusammenbleiben. Ich sehe darin den sich selbst organisierenden Prozess am Werk, der in allen ökologischen Systemen zu finden ist. Sexuelles Verlangen ist menschliche Entwicklung pur: Wir sind sowohl die Wissenschaftler als auch das Experiment.
Die Arbeit mit Paaren hat mir gezeigt, wie dunkel unsere dunkle Seite tatsächlich sein kann, insbesondere wenn das Schlimmste in uns unsere Fähigkeit, den Geist anderer Menschen zu spiegeln, kapert. Und doch: Je mehr ich sehe, wie Verlangen, Sex, Intimität und Liebe zusammen das absolut Schlimmste und absolut Beste produzieren können, umso sicherer bin ich, Geist in Aktion zu sehen. Das hat meine persönliche Spiritualität bereichert. Dies ist das Große Einssein, verkörpert im täglichen Leben. Eine solche Sicht Gottes ist für meine linke Gehirnhälfte akzeptabel.
Als ich anfing, als Therapeut zu arbeiten, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich irgendwann einmal über die Schöpfung reden würde. Ich hätte nie Entscheidungsdilemmata, emotionale Pattsituationen und Ficken als heilige Dinge angesehen, die unsere höchsten Fähigkeiten und Bestrebungen verkörpern können. Andererseits hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass es im Herzen des sexuellen Verlangens liegt, das Selbst zu entwickeln und zu erhalten. Sind Sexualität, Spiritualität und Selbstentdeckung eine heilige Dreieinigkeit, welche die Entwicklung des Menschen vorantreibt? Da ich die Vier Aspekte der Balance zu schätzen gelernt habe, neige ich zu dieser Ansicht.
Falls wir es, wie ich annehme, mit dem Großen Einssein zu tun haben, ist es dann möglich, alles auf einen einzigen Punkt zu reduzieren? Etwas Einfaches und Tiefgründiges, das die Essenz der Differenzierung einfängt? Etwas, das Ihre Hoffnung erhält, wenn Sie aufgeben wollen? Etwas, das Ihnen bestätigt, dass Ihre Kämpfe sich lohnen? Etwas, das Ihnen hilft, bei Laune zu bleiben, das Ihren Narzissmus in Frage stellt und Sie im Club willkommen heißt?
Ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht, und Folgendes ist das beste Resümee, das mir zu alldem eingefallen ist:
Sie können an Ihrer Beziehung arbeiten, wie Sie wollen,
aber Ihre Beziehung wird an IHNEN ARBEITEN!