Die Brücke aus Stein

Bis sechs Uhr hörten wir weder Schüsse noch das Trappeln der Pferdehufe. Wir standen alle im äußeren Hof, um so nahe wie möglich an der Straße zu sein. Trotzdem hörten wir die Soldaten nicht einmarschieren. Erst als es dunkel zu werden begann, wurden in der Ferne Geschrei und Beifallsrufe laut.

»Sie haben lange gebraucht. Jetzt sind sie endlich da«, sagte Romero.

Wir sahen die Soldaten nicht, aber das Schreien der Menge wurde immer lauter.

»Tod den chicheras!« Deutlich hallten die Worte durch den Abend. Und unmittelbar darauf:

»Dieses Mannweib, die Doña Felipa!«

In diesem Augenblick ging die elektrische Straßenbeleuchtung an – ein paar schwache, rötlich schimmernde Lampen, die nur die Schatten stärker hervorhoben.

Die Schüler drängten sich im Flur.

Aber kein einziger Schuß war zu hören.

»Der Oberst lebe hoch«, schrien die Leute.

»Das ruhmreiche Regiment!«

»Ein ganzes Regiment gegen ein paar cholas?« fragte Valle.

»Die chicheras sind schlimmer als Männer, und es gibt mehr chicheras als Soldaten«, bemerkte Chipro.

»Der Mythos der Rasse! Auch die cholas sterben, sie sterben genauso wie die Indios, wenn man sie mit Maschinengewehren beschießt.«

Valle sprach immer so; man wußte nie, ob er eigentlich seine Zuhörer oder seine Gesprächspartner oder sogar die Dinge, von denen er sprach, beleidigen wollte.

»Hast du nicht gehört, was der Pförtner sagte? Doña Felipa hat sich geweigert, die Gewehre herauszugeben.«

»Zwei Mausergewehre«, antwortete er. »Zwei Mausergewehre! Schwere Artillerie gegen ein ganzes Regiment!«

Die Glocken begannen zu läuten.

»Das Regiment besteht aus cholos« – Romero mußte schreien, um sich Gehör zu verschaffen.

»Wieder der Mythos der Rasse! Sollen sie sich umbringen bis ans Ende der Zeiten. Ich bin nur ein Zuschauer, der vom Fatum verfolgt wird.«

»Vom Fatum verfolgt? Was soll das heißen? Jeder cholo kann dir das austreiben.«

»Kann er. Natürlich kann er das. Aber die Söhne der Söhne meiner Söhne werden immer noch spielen … und ihnen auf dem Kopf herumtrampeln.«

»Und wenn sie dich kitzeln? Wenn sie dich reizen?« fragte ihn Chipro.

»Dann müßte ich nur lachen.«

»Tränen lachen, bittere Tränen«, rief Chipro spöttisch.

»Kugeln«, schrie Palacitos.

»Hörst du denn nicht den Unterschied, du dummer cholo? Das sind Knallfrösche zu Ehren der Soldaten.«

Das Knallen kam von hoch oben und übertönte das Geschrei und die Rufe der Leute. Die Truppen mußten vor der Präfektur angekommen sein und würden jetzt wohl in die Kaserne marschieren, die in der Nähe der Avenida de Condebamba lag. Es war ein altes leeres Gebäude, dunkelgrau, mit Zinnen und Türmchen an den Ecken. Die Leute behaupteten, daß man in Mondnächten die Stimmen der Wachen höre, die Nummern aufriefen. An Samstagabenden pflegten die Gendarmen ein paar Häftlinge in die Kaserne zu bringen, die dann die inneren Höfe von Unkraut säubern mußten; die Gemeindeverwaltung sorgte für die umliegenden Straßen. Aber nach außen zeigte die Kaserne nur ihre Mauern, Zinnen und Bogen. Sie war das größte Gebäude der Stadt und flößte den Leuten Angst ein, weil sie leer und verlassen war. Niemand wagte, die Mauern zu beschmutzen, denn außer den Gendarmen, die Wache hielten, wimmelte es dort von Kröten, die plötzlich die nackte Haut berührten.

Die Glocken läuteten noch immer.

Wir hörten die Schritte vieler Leute, die sich dem Schultor näherten.

»Kein einziger Schuß«, sagte Palacitos freudestrahlend.

»Das muß der Pater Rektor sein, der zurückkommt«, warnte Romero.

Wir liefen auf den Hof.

Der Pater Rektor öffnete die Tür und kam schnell auf uns zu. »Es ist alles ruhig, meine Söhne. Der Oberst ersetzt von nun an den Präfekten. Morgen ist wieder Schule. Hört nicht auf die Prophezeiungen der cholos. Sie sind von Furcht und Schrecken erfüllt«, sagte er im Näherkommen.

»Werden sie niemanden erschießen?« fragte Peluca.

»Das fragst du noch einmal? Alle in die Klassenzimmer!« befahl er.

Ich wagte in diesem Augenblick nicht, ihn nach Doña Felipa oder Lleras zu fragen. Die Schüler gingen in die Klassenzimmer. Der Pater schickte sich an, in sein eigenes Zimmer hinaufzugehen. Am Fuß der Treppe, hinter einer Säule, holte ich ihn ein; der dunkle Flur schien mir Schutz zu gewähren.

»Väterchen«, sagte ich. »Und Doña Felipa?«

»Diese Nacht wird man sie verhaften«, antwortete er aufbrausend.

»Sie hat Gewehre, Vater.«

»Eben deshalb. Wenn sie sich wehrt, wird man sie erschießen.«

»Sie wird sich wehren, Vater.«

»Gott möge es verhüten. Die Soldaten werden sie niedermachen. Sie ist schuldig.«

»Auch sie kann töten! Vielleicht sollte ich zu ihr gehen! Vielleicht würde sie mir die Gewehre geben!«

»Dir? Warum dir?«

Er kam ganz dicht an mich heran. Trotz des trüben Lichts sah ich seine Augen und sein Gesicht, seine Backenknochen und das weiße Haar.

»Warum dir?«

Er wirkte größer. Sein weißes Gewand leuchtete, als spiegelte es die große Ungeduld wider, die ihn bedrängte; ich spürte seinen keuchenden Atem im Gesicht.

»Ich, Vater, ich habe sie gekannt … Ich könnte sie darum bitten, mir die Waffen zu geben … ich könnte ihr sagen …«

»Was, mein Sohn? Was könntest du ihr sagen? Du bist ihr nachgelaufen wie ein Hund. Komm, gehen wir hinauf.«

Eilig lief er die Stufen hinauf. Der Hof war leer.

»Bruder Miguel könnte mich begleiten«, sagte ich fest und trat im Gang des ersten Stockwerks ganz dicht an ihn heran.

»Weißt du was? Wenn dein Vater noch in Chalhuanca wäre, würde ich dich noch heute dorthin schicken; leider ist er nach Coracora gegangen, hundert Meilen weit von hier.«

»Sie können mich trotzdem schicken«, antwortete ich. »Ich möchte gehen, Väterchen. Hundert Meilen! Ich kenne die Berge. Schicken Sie mich, Vater, ach, lassen Sie mich doch gehen. Was sind hundert Meilen für mich? Das Himmelreich, die Seligkeit!«

»Um Himmels Willen! Ich weiß, daß du meinen Schutz nötig hast. Warum läufst du nur hinter den cholos und Indios her? Niemand wird der Felipa etwas antun. Niemand! Ich werde dafür sorgen. Ich selbst werde ihr sagen lassen, mein Sohn, daß sie die Gewehre herausgeben soll.«

»Ich will mit Bruder Miguel zu ihr gehen«, beharrte ich und trat noch näher zu ihm hin.

Er führte mich in den Empfangsraum, der mich an das Zimmer des Alten in Cuzco erinnerte. Ein roter Teppich bedeckte fast den ganzen Boden. Ein Klavier und hohe Polstermöbel standen darin. In diesem Zimmer fühlte ich mich plötzlich unsicher. An der Wand glänzten zwei große Spiegel in goldenen Rahmen. Das tiefe Licht der Spiegel hat mich schon immer beunruhigt – ich habe das Gefühl, ich könnte durch sie aus der Welt heraussehen. In den Kirchen in Cuzco hängen viele solcher Spiegel unerreichbar hoch an den Säulen.

Der Vater strich mir über den Kopf. Er bot mir einen mit Seide überzogenen Sessel an.

»Es macht nichts, daß dein Vater so weit fortgegangen ist! Du bist ja bei mir«, sagte er.

»Warum hat er mir nicht gesagt, daß er nach Coracora gehen wollte? Dann hätte ich wieder ein anderes, ein weit entferntes Dorf kennengelernt. Werden Sie Doña Felipa verteidigen?« fragte ich ihn.

»Nein, mein Sohn. Ich habe dir schon gesagt, daß sie schuldig ist. Aber ich werde ihr ausrichten lassen, daß sie fliehen soll … Irgendwie werde ich für sie eintreten.«

»Und dann will ich fort. Sie müssen mich gehen lassen, Vater! Ich werde in jedem Dorf nach meinem Vater fragen, bis ich ihn gefunden habe. Ich werde weinen wie ein Engel, wenn er plötzlich vor mir steht. Ist dieses Dorf sehr weit vom Pachachaca entfernt? Sehr weit vom Ufer des Flusses?«

»Sehr weit.«

»Dann hat sich der Gesang des winku verloren«, rief ich. »Und jetzt geht es nicht mehr, weil ihn der Bruder gesegnet hat.«

Der Priester sah mich lange an.

»Willst du deinem Vater und mir wirklich ungehorsam sein? Er möchte, daß du etwas lernst. Wovon redest du überhaupt?«

»Aber Sie, Vater, sagten Sie nicht, daß Sie mich wegschicken wollten?«

»Aber nicht jetzt, mein Kleiner. Du redest wirres Zeug. Du wirst hier bleiben und ein braves Kind Gottes werden, das schwöre ich.«

Er ließ mich allein. Er ging in sein Schlafzimmer und kam mit einem Glas zurück.

»Hier, trink«, sagte er.

Es war ein bitteres Gebräu.

»Ich habe auch davon getrunken.«

»Ich bleibe, Vater«, sagte ich. »Natürlich. Es ging ihm in Chalhuanca wohl nicht gut. Und er hat Sie beauftragt, es mir zu sagen.«

»Und er hat schon Geld aus Coracora geschickt. Du kannst dir einen neuen Anzug kaufen.«

»Darf ich mit Antero ausgehen, Väterchen?«

Ich ergriff die eine seiner Hände.

»Mit Antero, Vater?«

»Warum nicht, mein Sohn? Du kannst am Samstagnachmittag mit ihm weggehen, und ich gebe dir ein gutes Taschengeld.«

Ich wagte nun, aufzustehen und auf den Teppich zu treten.

»Komm, gehen wir«, sagte der Vater.

Er legte seinen Arm um meine Schulter. Ich roch den Duft des Wassers, das er sich ins Haar rieb. Wir gingen hinaus. Vom Gang des ersten Stockwerks sahen wir zwei Feuerwerkskörper, die in den Himmel stiegen und zerplatzten.

»Tod den chicheras! Sie sollen sterben!« schrien die Leute auf der Straße.

»So wird die Welt immer bleiben«, sagte der Priester. »Wenn die einen Feste feiern, dann müssen sich die anderen verstecken.«

»Und Lleras?« fragte ich.

»Er wird verloren sein! Er wird zugrunde gehen, denn er ist weggelaufen. Ja, mein Sohn. Warum nur rede ich mit dir über so ernste Dinge? Von jetzt an sollst du nur noch lernen und spielen, nichts anderes.«

»Ja, Vater. Vielleicht hat sich Lleras selber verdammt, weil er die kleinen Jungen so grausam gequält hat.«

»Ruf jetzt die anderen Lehrer, lauf«, bat er mich. »Läute, läute die Glocke dreimal.«

Er ging die Stufen hinunter, und ich läutete die Glocke. Die Priester und der Bruder eilten in den Empfangsraum.

Añuco kam nicht zum Essen. Der Rektor beaufsichtigte uns während der Mahlzeit. Eigentlich wollte ich am Abend im inneren Hof zusammen mit Añuco den winku tanzen lassen, um meinem Vater noch einmal eine Botschaft zu senden. Ich wollte den winku in die Luft werfen, seinem Surren lauschen und ihn dann in der ausgestreckten Hand auffangen. Wie gern hätte ich ihm in einem Winkel des dunklen Hofes beim Tanzen zugesehen!

Keiner von den anderen Schülern ging nach dem Essen in den inneren Hof. Wir sahen, daß Añuco mit den Vätern in den Eßsaal kam. Sie paßten auf ihn auf, und ich konnte nicht mit ihm sprechen. Mit gesenktem Blick ging er zwischen zwei Priestern. Ich wagte nicht, ihn zu rufen. Sein Gesicht war starr. Er kam nie mehr zu uns.

Ich rief Romero.

»Romerito«, bat ich. »Könntest du dort im inneren Hof auf deinem rondín das Lied vom Apurímac spielen?«

»Warum?« fragte er.

»Abancay ist so schwer wie der Himmel. Nur die Stimmen des rondín und des zumbayllu erreichen die Gipfel. Und ich möchte meinem Vater eine Botschaft nach Coracora senden. Hast du nie gesehen, daß die Wolken über den Zuckerrohrfeldern wie zäher Honig aussehen? Aber der Gesang des zumbayllu dringt hindurch. Das Lied des winku erhob sich am Mittag, und mit Anteros Hilfe blies ich es in Richtung Chalhuanca.«

»Das geht auch mit Wasser«, antwortete Romero. »Mit dem Wasser der Schule. Es kommt aus einer Quelle, nicht aus dem Marino. Du legst einfach den Mund auf den Strahl und sprichst zu ihm.«

»Das glaube ich nicht, Romerito. Das kann ich nicht glauben. Die Kordillere ist härter als Stahl. Wenn man ruft, kommt die Stimme zurück.«

»Das Wasser dringt durch den Stein hindurch. Hast du nie gesehen, daß aus den Felswänden Wasser tropft?«

»Aber wie soll das Wasser in das Haus eindringen, in dem sich mein Vater aufhält?«

»Wie seltsam du bist, Fremder. Ist dein Blut nicht auch Wasser? Deshalb spricht das Wasser, das es überall unter der Erde gibt, zu unserer Seele.«

»Das glaube ich nicht, Romerito. Blas lieber deinen rondín.«

»Den rondín? Siehst du denn nicht, daß Blech an ihm ist? Der winku ist anders. Der winku summt mit einer Kraft, die niemand bändigen, die man ebensowenig aufhalten kann wie das Funkeln der Sterne.«

»Ja, das ist wahr. Aber als ihn der Bruder in der Kapelle segnete, hat er ihn gezähmt und ihm seine Kraft genommen.«

Palacitos, der merkte, daß wir ein Geheimnis hatten, kam zu uns gelaufen.

»Glaubst du, daß der Gesang des rondín hundert Meilen zurücklegen kann, wenn man ihn darum bittet?« fragte Romero.

»Ich möchte meinem Vater im Gesang des rondín eine Botschaft senden, Palacitos«, sagte ich. »Romero soll Apurímac mayu spielen, und ich will das Lied bitten, auf die Gipfel zu steigen und in das Herz meines Vaters zu dringen. Er wird spüren, daß es meine Stimme ist. Wird sie ihn erreichen, Palacitos? Wird die Musik bis nach Coracora fliegen, wenn ich sie auf Quechua darum bitte? Du weißt mehr von diesen Dingen als ich.«

»Und das Blech auf dem rondín? Das muß zuerst abgerissen werden.«

»Warum?«

»Das Holz des rondín muß frei sein. Weißt du das nicht?«

»Ja«, sagte Romero, »ja, ich weiß es.«

Mit den Zähnen riß er das Blech heraus, auf dem die Fabrikmarke stand. Er war stark, er war ein großherziger Indio aus Andahuaylas.

»Jetzt«, sagte ich.

Wir gingen allein in den dunklen Innenhof. Er spielte das Karnevalslied.

Die Musik würde durch die lichten Wälder schweben, die die Hänge am Pachachaca bedecken, dann würde sie über die Brücke und durch das Tal ziehen. Wenn sie erst einmal die Höhe erreicht hätte, würde sie leichter vorwärtskommen. Im Schnee würde sie kräftiger werden; sie würde mit den Winden fliegen und zwischen den Seen auf der Steppe im trockenen Gras klingen, das in der großen Stille auch das kleinste Geräusch weitergibt.

»Wenn dich die Stimme des winku nicht erreicht hat, dann erreicht dich dieses Lied«, sagte ich und dachte an meinen Vater, als Romero auf dem rondín zu spielen begann. »Und wenn die ganze Welt gegen mich ist, und wenn sie mich besiegen will – es soll ihr nicht gelingen!« Mit wachsender Begeisterung fuhr ich fort: »Weder die glühende Sonne noch der stickige Staub des Tals, weder der Pater noch das Regiment … Ich werde gehen, ich will weggehen, allem zum Trotz …«

»Diese Musik ruft zum Kampf«, sagte Chipro, der am anderen Ende des Hofes die Böschung hinaufkam.

»Sieh! Die Schwachsinnige!« rief Palacitos und zeigte auf die Frau, die über den Hof lief und nun stehenblieb.

»Raus!« schrie Chipro.

Romero spielte weiter. Nun kam auch Peluca. Mit Schlägen und Püffen versuchte er, die Frau in die Latrinen zu zerren, aber sie wehrte sich verzweifelt.

»Ein Vieh, dieser Peluca«, sagte Chipro.

Wir sahen, wie er sie trat, und wir hörten seine Flüche.

Romero hörte auf zu spielen.

»Entweder du verschwindest, Peluca, oder ich schlage dir den Schädel ein«, schrie er.

Peluca hielt inne, und als er sich umdrehte, um zu sehen, ob Romero seine Drohung ernst meinte, entwischte die Frau. Er wollte ihr nach. Romero stampfte mit den Füßen auf den Boden. Peluca zögerte einen Augenblick, und die Frau verschwand im Gang.

»Ein Vieh, dieser Peluca«, wiederholte Ismodes. »Ein verdammtes Vieh.«

Einen Augenblick später wurden wir gerufen.

Am nächsten Tag kamen die Externen nicht zur Schule. Der Pförtner öffnete das Tor zur üblichen Zeit. Später aber befahl Pater Augusto, es wieder zu schließen. Der Rektor hatte mit den Angelegenheiten der Stadt zu tun.

Añuco erschien nicht auf dem Hof. Am Morgen hatte man sein Bett, seinen Koffer und eine kleine Kiste, in der er getrocknete Insekten, Samen, huayruros, Murmeln und farbige Stoffetzen aufbewahrte, aus dem Schlafsaal geholt. Er verschloß die Kiste immer mit einer Kette, und einige von uns konnten darin nur von weitem das farbige Gemisch von merkwürdigen Gegenständen erspähen. Wir wußten, daß Añuco eine Sammlung Murmeln besaß, die wir daños, Schädlinge, nannten, weil sie so groß waren. Alle Murmeln, die er kaufte, hatten rote Ringe – rot in allen Tönungen. Wenn er spielte, suchte er sich immer die ungeschicktesten und schwächsten Partner aus, und so verlor er nie eine Kugel. Er hob sie zusammen mit den Insekten in der Kiste auf. Uns fesselten die tiefen farbigen Ringe an den kleinen Kugeln; die einen waren dünn und schlängelten sich in vielen Windungen, andere liefen in der Mitte der Kugel zu einem Bündel zusammen und wurden zum Rand hin dünner. Die Ringe in den neuen Murmeln waren leuchtend rot, aber auch in den angeschlagenen, trüben Kugeln waren sie noch immer zu erkennen – seltsam und unerklärlich! Nun wurden Añucos Sachen in die Zelle Pater Augustos gebracht.

Gegen zwölf Uhr lehnte sich Añuco über das Geländer im Flur des ersten Stocks. Aber er rief niemanden. Seine Augen schienen noch tiefer in den Höhlen zu versinken. Er war bleich, fast grünlich. Seine Haut war immer von einem zarten, nicht sehr männlichen Weiß gewesen. Diesmal stand ihm die Blässe gut. Die Internen achteten seine Einsamkeit, und nach kurzer Zeit verschwand er wieder. Valle lächelte. Er las neben dem Wasserbecken.

Ein Externer, ein Freund Iño Villegas’, kam vom Pförtner begleitet durch den Flur in die Schule. Am Ende des Ganges trafen wir mit ihm zusammen.

»Die Soldaten verprügeln die chicheras im Gefängnis«, sagte er. »Einige haben laut geschrien, es war ein großer Aufruhr. Die Leute sagen, daß man ihnen die Röcke hochhebt und sie vor den Augen ihrer Männer auspeitscht, und weil sie keine Hosen tragen, sieht man alles. Sie haben den Oberst auf Quechua und auf Spanisch beschimpft. Ihr wißt ja, daß niemand so gut fluchen kann wie diese Weiber. Darauf hat man ihnen Exkremente in den Mund gestopft. Und sie haben noch mehr geflucht. Flüche gegen Peitschenhiebe! Das ist ein Streit …«

»Homerisch. Das ist homerisch«, rief Valle. Niemand achtete auf ihn.

»›Dieser miese kleine Oberst! Dieser Schweinehund! Er war schon immer ein Schwein und wird auch immer eines sein! Und jetzt haben sie uns diesen Mistkerl auch noch aus Cuzco hergeschickt! Großartig! Hoch soll er leben! Dieser Verbrecher!‹ Das hat eine der chicheras gesagt, eine von denen, die nach Patibamba gingen. Und die Leute lachen heimlich auf der Straße.«

»Über wen?«

»Über die cholas wahrscheinlich. Aber in Huanupata und an allen Straßenecken stehen Soldaten mit Gewehren. Die Gendarmen suchen die geflohenen chicheras in den Dörfern auf der Höhe und in den Zuckerrohrfeldern.«

»Und Doña Felipa?« fragte ich.

»Sie soll in der Nacht geflüchtet sein. Aber man hat sie gesehen. Sie sind hinter ihr her, ein Unteroffizier und viele Gendarmen. Sie ist zum Pachachaca hinuntergeritten. Man sagt, sie habe Verwandte in Andahuaylas.«

»Hat sie wirklich Gewehre?«

»Deshalb sind ja so viele hinter ihr her. Sie ist mit einer anderen auf zwei Maultieren davon. Man hat die beiden gesehen, wie sie mit dem Gewehr über der Schulter zum Fluß geritten sind. Die weißen Hüte geben ein gutes Ziel ab, und man wird die beiden sicher am Hang erwischen, denn die Gendarmen haben Pferde der Armee.«

»Sind es Gendarmen oder Soldaten?« fragte Valle.

»Wie soll ich das wissen? Aber einholen werden sie die beiden bestimmt.«

»Wenn es Gendarmen sind, nicht. Wenn es richtige Soldaten oder guardias sind, dann vielleicht …«

»Warum sind die Externen nicht gekommen?«

»Weil jeder unruhig ist. Das Geschrei der cholas hat die ganze Stadt in Aufregung versetzt. Den Oberst haben sie wie Verdammte in der Hölle beschimpft. Diese Weiber haben keine Angst. Jetzt können die Indios und die cholos getrost einen Aufstand machen. Ein Sprecher verliest heute den Erlaß des Präfekten, ob die beiden chicheras umgebracht werden …«

»Niemand wird es erfahren«, sagte Valle lächelnd, »weil sie die Leichen in den Fluß werfen werden.«

»Wenn es Indios wären, dann ja. Die Indios sterben einfach so«, sagte Romero. »Aber eine chichera mit einem Gewehr? Hast du schon vergessen, was am Samstag geschehen ist?«

»Nein. Aber jetzt sind die Soldaten hier. Und die chicheras stehen mit dem Rücken zur Wand oder mit nacktem Hinterteil im Gefängnis. Jetzt wird nichts mehr geschehen.«

Der Pförtner befahl Iños Freund, zu gehen. Die Internen zerstreuten sich.

Die Sonne brannte auf den Hof. Wir saßen auf der schattigen Galerie und schauten auf die glühenden Steine. Wenn die Strahlen der Sonne am Mittag auf den Grund der steinigen Schluchten fallen, in denen nur Büsche und keine Bäume wachsen, wird es still.

Hummeln summten von einem Ende des Ganges zum anderen. Mit den Augen folgte ich dem langsamen Flug dieser Insekten, deren schwarzer Körper gegen Feuer geschützt zu sein und es abzustoßen scheint. Ich sah ihnen nach. Sie bohrten ihren Stachel in das Holz der Säulen, ihre Flügel sangen. Vielleicht zielte Doña Felipa, hinter einem Busch versteckt, in diesem Augenblick auf die Soldaten. Weil es so viele Soldaten waren, würden sie sie schließlich erwischen; sie würden sie töten und irgendwo in der Schlucht begraben. Vielleicht aber schoß sie hinter einem Wall von Steinen auf ihre Verfolger, vielleicht hatte sie in einem Felsgang oder einer Höhle am rechten Ufer des Flusses, das in der Nähe der Brücke steil und felsig ist, Schutz gesucht. Dort schallt die Stimme der wandernden Papageien von den Felswänden zurück. Jetzt suchte sie vielleicht mit scharfem Blick, dem keine Ameise entging, den gegenüberliegenden Weg ab, während ich hier mit den Augen dem langsamen Flug der Hummeln folgte. Vielleicht zielte sie in diesem Augenblick und kniff das eine ihrer kleinen Augen zu, die in ihrem großen pockennarbigen Gesicht wie Diamanten geleuchtet hatten. Dann könnte man sie nur am Kopf verletzen, und sie würde über die Felswand in den Pachachaca stürzen. Man würde ihre Leiche nie finden. Und das wäre wichtig. Denn wenn die wütenden Gendarmen den zerschossenen, gehaßten und entstellten Körper fänden – was würden sie wohl alles damit tun?

Dann erfuhren wir, daß die Verfolger mitten auf der Brücke über den Pachachaca eines der Maultiere gefunden hatten. Man hatte ihm den Kopf abgeschnitten und seine Eingeweide auf der Brücke ausgebreitet. Man hatte die Därme des Tieres über den Weg gespannt und sie auf beiden Seiten an den Kreuzen festgemacht. Viele Reisende waren stehengeblieben, hatten diese seltsamen Schnüre betrachtet, aber nicht gewagt, sie durchzuschneiden. Von einem der Steinkreuze war ein Halfter in den Fluß gefallen. Und oben auf dem Kreuz flatterte ein Tuch.

Die Guardias durchschnitten die Därme, die den Weg versperrten, und als sie das Halfter aus dem Fluß fischten, hörten sie einen Chor von Frauenstimmen, die, am anderen Ufer versteckt, ein Lied sangen:

Schieß nicht, huayruro,

schieß nicht auf die Brücke;

töte nicht, huayruro.

Warte auf der Brücke,

setz dich und hab keine Angst.

Die Guardias bestiegen ihre Pferde, überquerten die Brücke im Galopp und folgten dem ebenen Weg, der am Abgrund entlang führt. Sie waren den steilen Hang bereits ein Stück hinaufgeritten, als sie Schüsse hörten; auf der Brücke wirbelte Staub auf, und die Guardias hielten an. Ganz in ihrer Nähe fiel ein Schuß. Sie stiegen ab und beobachteten den gegenüberliegenden Hang, der mit Büschen bewachsen und genauso steil war wie der, den sie hinaufritten. Die Zuckerrohrfelder reichten fast bis an den Fluß hinunter, und am Rand der Felder wuchsen pacae und guayaba-Bäume. An den besonders steilen Stellen standen die molles dicht beisammen.

»Die cholas sind auf der anderen Seite, hinter den Büschen«, sagte der Unteroffizier.

»Sie wollen uns den Rückweg über die Brücke abschneiden; sie haben es gut berechnet.«

»Sie schießen von zwei Seiten.«

Der Unteroffizier befahl den Rückzug.

»Die sollen nur nicht glauben, daß sie uns zum Narren halten können«, sagte er. »Im Galopp hinüber, einer nach dem anderen. Woher sollte eine chichera auch zielen können!«

Weitere Schüsse fielen. Als die Guardias den Fuß der Felswand erreichten, auf der ein Ende der Brücke ruht, hielten sie an, um die Gegend zu beobachten und auf verdächtige Geräusche zu lauschen. Der Pachachaca dröhnte in der Stille; das Geräusch des fallenden Wassers breitete sich wie ein Mantel aus, unter dem man die Insekten, ja selbst die Heuschrecken hören konnte, die zwischen den Büschen herumhüpften.

Es fielen keine Schüsse, als die Guardias an der Biegung des Weges anhielten, dort, wo das gerade Stück beginnt, das auf die Brücke führt. Der Unteroffizier sprengte im Galopp über den Weg und die Brücke; die Männer folgten ihm. Im Trab ritten sie den Hang hinauf. Weiter oben fanden sie die beiden Gewehre, die an einem molle hingen.

»Sie haben uns zum Narren gehalten«, sagte einer der Männer. »Es sind gar nicht die Führerinnen. Die sind wohl über alle Berge. Sie werden zu Fuß gegangen sein. So erreichen sie den Gipfel schneller als zu Pferd.«

»Du und noch einer, ihr geht den beiden nach, und wenn ihr bis nach Andahuaylas reiten müßt. Ich bringe die Gewehre zurück. Die Gefahr ist vorbei. Denkt daran, daß eine chichera verletzt ist«, befahl der Unteroffizier dem ältesten Guardia, der Zamalloa hieß und den man Machete nannte.

Diese Geschichte erzählten sich viele Leute in Abancay. Und es gab sogar Zeugen dafür – die Reisenden, die auf der Brücke aufgehalten worden waren und den Rückzug der Guardias beobachtet hatten, die cholas, die auf dem Hügel sangen und dann schossen, als die Soldaten den Fluß beobachteten, und schließlich die Guardias selber.

Lange Zeit sangen die Frauen nachts in Abancay und den umliegenden Dörfern dasselbe Lied: »Schieß nicht, huayruro …«, aber sie fügten noch eine weitere Strophe an:

Sie fanden an einem Baum die Gewehre,

die niemanden töteten.

Nur das Blut der Maultiere

tropfte von der Brücke,

tropfte von der Brücke.

Sie sangen das Lied meist in den Außenvierteln, doch sollen sie eines Nachts fast bis auf den Platz in der Mitte der Stadt gekommen sein.

Am Samstagnachmittag besuchte mich Antero. Wir redeten im inneren Hof miteinander.

»Die Männer der chicheras sind mit Schlägen und Stößen aus dem Gefängnis entlassen worden; vorher aber mußten sie die Straße reinigen«, erzählte er. »Es waren zehn. Zwei von Doña Felipa. Man gab ihnen einen Besen und ein paar Lumpen und befahl ihnen, den Bürgersteig zu säubern. Und während sie arbeiteten, hat man sie getreten. Am Ende der Straße ließ man sie laufen. Knallfrösche platzten, als sie sich davonmachten. All das geschah auf Anraten des Gefängniswärters.«

»Sag mal, Antero, stimmt es, daß die Männer der chicheras nichts zu sagen haben?«

»Die von Doña Felipa. So heißt es jedenfalls. Sie hatte zwei. Die Leute erzählen, daß sie den Gefängniswärter einmal mit Gewalt aus ihrer chichería hinauswarf, weil auch er bleiben und dort schlafen wollte. Er war betrunken, und sie ließ ihn auf der Straße liegen. Nun hat er sich gerächt. Aber Doña Felipa hat versprochen, über Abancay herzufallen. Manche sagen, sie sei in die Wälder gegangen. Sie hat gedroht, mit den chunchos über den Fluß zurückzukommen und die Haciendas in Brand zu stecken. Lleras hat sich mit einer Mestizin aus Huanupata davongemacht. Sie sind in Richtung Cuzco geritten. Die Mestizin war Schneiderin und besaß eine Kantine in Huanupata. Aber Lleras hat den Fluch, der auf ihm lag, in Abancay zurückgelassen. Er hat erzählt, er habe den Bruder zu Boden geworfen und ihn dann mit den Füßen getreten. Die Leute wissen schon alles, und die bigotten Tanten und die vornehmen Damen beten für den Bruder. ›Auch wenn er ein Neger ist, trägt er doch das Kleid des Priesters‹, sagen sie. Aber sie möchten, daß er Abancay verläßt. Die Tante, bei der ich wohne, hat zu mir gesagt: ›Wir werden den Pater Rektor bitten, ihn wegzuschicken; ein Mönch, der so beschämt worden ist, kann nicht länger hier bleiben; er sollte nicht einmal auf die Straße gehen.‹ Rondinels Mutter will den Jungen nicht mehr in die Schule schicken; er wird in ein Internat nach Cuzco gehen. ›Dort, wo man Gott beleidigt hat, soll mein Sohn nicht hin‹, sagte sie. Sie läßt ihn nicht fort. Der Dünne hat geweint, ich habe ihn gesehen.«

»Wohin wird Lleras gehen?« fragte ich Antero. »Wenn er dem Apurímac folgt, wird ihn die Sonne in Quebrada Honda3 verbrennen. Sein Körper wird auf dem Rücken des Pferdes wie Wachs schmelzen und auf den Weg tropfen.«

»Verfluchst du ihn?«

»Nein. Die Sonne wird ihn verbrennen. Sie wird nicht erlauben, daß sein Körper Schatten wirft. Er ist selber schuld. Über Abancay ist Unheil hereingebrochen, aber das Internat wäre verschont geblieben, wenn Lleras nicht schon seit langem den Fluch in sich getragen hätte.«

»Und Añuco?«

»Er ist halb tot. Ich habe ihm den winku geschenkt und er lebte wieder ein wenig auf. Als uns der Bruder seinen Segen erteilte, segnete er auch den zumbayllu und nahm ihm seinen Zauber. Doch er sang und tanzte wie vorher. Añuco aber wird ihn schließlich zähmen; der winku ist geboren, um frei zu sein, und nun ist er wie sein neuer Besitzer in einer Zelle eingesperrt. Auf seinem Stachel und in seinen Augen wird Schimmel wachsen, und sein Geist wird erlöschen wie die Seele Añucos. Ich glaube, die Priester haben beschlossen, aus Añuco einen Geistlichen zu machen, weil er Waise ist. Deshalb sind sie zusammengekommen. Und nun lassen sie ihn nicht mehr zu uns.«

»Dann gibt es in der Schule keinen Verfluchten mehr«, rief Antero. »Um so besser. Heute sollst du Alcira sehen. Auch in der Stadt herrscht Ruhe. Aber es wird erzählt, daß man auf allen Haciendas von Doña Felipa spricht und überall Angst hat. Denn wenn sie mit den chunchos zurückkäme und die Haciendas in Brand steckte, könnten sich die colonos auf ihre Seite schlagen.«

»Die colonos? Niemals, Markask’a, niemals!«

»Auf meiner Hacienda gibt es nur wenige colonos«, erzählte er. »Und immer ist jemand mit der Peitsche hinter ihnen her. Meine Mutter leidet darunter, aber mein Vater muß seine Pflicht tun. Auf den großen Haciendas werden die colonos im Hof an den Stamm eines Baumes gebunden oder an den Händen an einem Ast aufgehängt und dann ausgepeitscht. Man muß sie schlagen. Danach weinen sie mit ihren Frauen und Kindern. Sie weinen nicht wegen der Schläge, sie weinen wie verlassene Waisen. Es ist traurig. Und wenn man sie hört, möchte man selber weinen; als ich klein war, habe ich auch geweint, Bruder. Ich weiß nicht, warum man mich hätte trösten sollen, aber ich weinte, als suchte ich Trost, und nicht einmal meine Mutter konnte mich in ihren Armen beruhigen. Jedes Jahr kommen Franziskanermönche, um in den Haciendas zu predigen. Du solltest sie sehen, Ernesto. Sie sprechen Quechua, trösten die Indios und lehren sie traurige Lieder. Die colonos rutschen auf den Knien durch die Kapelle der Hacienda, sie wimmern mit dem Gesicht auf dem Boden und weinen Tag und Nacht. Und wenn die Mönche dann weiterziehen – das solltest du sehen! Die Indios laufen ihnen nach. Die Mönche reiten schnell davon, die Indios hinterher, sie rufen, springen über Hecken, Büsche und Wassergräben, um den Weg abzukürzen; sie schreien, fallen hin und stehen wieder auf, sie laufen die Hänge hinauf. Spät in der Nacht kommen sie zurück und drängen sich noch immer weinend vor der Tür zur Kapelle. An diesen Tagen versuchte meine Mutter, mich zu trösten; es gelang ihr aber nie.«

»Ich habe die colonos von Patibamba gehört, Markask’a.«

»Wenn man als Kind erwachsene Leute zusammen weinen hört – das ist wie eine Nacht ohne Morgen, die das Herz erdrückt; sie erstickt es, sie zeichnet es für immer.« Antero war sehr aufgeregt.

»Markask’a«, sagte ich. »In den Dörfern, in denen ich mit meinem Vater gelebt habe, sind die Indios keine erk’es. Aber hier scheinen sie niemals erwachsen zu werden. Wie kleine Kinder haben sie immer Angst. Dieses Gefühl des Erstickens, von dem du sprichst, habe ich nur bei den Stierkämpfen empfunden, wenn die Stiere Brust und Bauch der betrunkenen Indios aufreißen oder wenn die Leute bei Einbruch der Nacht am Ende des Dorfes von den Kondoren Abschied nehmen, die sie den wilden Stieren auf den Rücken gebunden haben. Dann singen sie alle verzweifelt, Männer und Frauen, und die Kondore versuchen vergeblich, sich in die Luft zu erheben. Aber dieses Singen bedrückt nicht; es reißt dich eher mit, es treibt dich dazu, jemanden, irgendeinen Verfluchten zu suchen, um dich mit ihm zu schlagen. Dieses Gefühl greift dich an, klammert sich mit Klauen in dir fest.«

»Ernesto«, rief Antero. »Wenn die chunchos mit Doña Felipa zurückkehren, auf wessen Seite würden sich die colonos schlagen, wenn sie die Felder brennen sähen? Vielleicht würden sie die Kasernen und die noch nicht verwüsteten Felder in Brand stecken und danach wie erschrecktes Vieh die Hänge zum Fluß hinunter laufen, um bei den chunchos Schutz zu suchen. Ich kenne sie, Ernesto, ich weiß, wie wütend, wie rasend sie werden können. Was glaubst du?«

»Ja, Markask’a«, rief ich laut. »Doña Felipa soll kommen! Ein Mann, der weint, weil man ihn seit Jahren ins Gesicht geschlagen hat, kann rasender werden als ein Stier, der Dynamit explodieren hört oder den harten Schnabel des Kondors im Nacken spürt. Komm, gehen wir, Markask’a! Wir wollen nach Huanupata!«

Antero sah mich lange an. Seine Muttermale glänzten, und seine tiefschwarzen Augen senkten sich in meine Augen. »Bruder, wenn sich die Indios erheben, dann werde ich ohne zu zögern schießen«, sagte er.

»Ich verstehe dich nicht, Antero«, antwortete ich entsetzt. »Und eben hast du noch gesagt, daß du weintest?«

»Natürlich habe ich geweint. Wer hat nicht geweint? Aber die Indios müssen gebändigt, sie müssen unterworfen werden. Das kannst du nicht verstehen, weil du keine Hacienda hast. Laß uns lieber nach Condebamba gehen.«

Es war Samstag, und wir durften ausgehen. Der Pater Rektor hatte mir bereits einen neuen Anzug gekauft.

»Nach Condebamba? Wozu?«

»Alcira und Salvinia warten auf uns. Sogar ich beneide dich um deinen neuen Anzug. Alcira wird leiden.«

»Ist deine Hacienda weit, sehr weit von der Brücke entfernt?« fragte ich.

»Von welcher Brücke?«

»Der über den Pachachaca.«

»Ja. Sehr weit, zwei Tagereisen.«

»Und die chunchos

»Drei Tagereisen von meiner Hacienda.«

»Den Apurímac hinunter?«

»Von Abancay aus gesehen den Apurímac hinauf.«

»Was glaubst du, für wen der Pachachaca Partei ergreifen würde?«

»Wen meinst du? Dich und mich, Salvinia und Alcira?«

»Nein, Candela. Ich meine die colonos und die chunchos und Doña Felipa gegen euch und die Guardias.«

»Er wäre wohl auf Doña Felipas Seite. Sie hat die Guardias aufgehalten, und ihr Schal flattert noch immer am Kreuz der Brücke. Der Fluß und die Brücke sollen jeden in Schrecken versetzen, der den Schal herunterholen will. Der Wind wird ihn eines Tages forttragen.«

»Geh allein nach Condebamba, Candela.«

»Warum nennst du mich Candela?«

»Sagen nicht alle Candela zu dir?«

»Du nie. Du hast mich immer Markask’a genannt, seitdem ich dir vor Lleras’ Nase den zumbayllu schenkte.«

»Geh nach Condebamba, Antero. Ich möchte an den Fluß.«

»An den Fluß?«

»Ich werde ihm von dir, von Salvinia und von Doña Felipa erzählen. Ich werde ihm sagen, daß du auf die colonos schießen willst, daß du sie, genau wie dein Vater, eines Tages schlagen wirst, nachdem du sie an den pisonayes deiner Hacienda aufgehängt hast.«

»Was sagst du?«

»Stimmt es nicht?«

»Du bist nicht bei Trost, Ernesto. Was ist mit dem winku? Warum hast du ihn Añuco geschenkt?«

»Ich habe ja noch den anderen, den ersten. Ich will ihn auf einem Stein in Pachachaca tanzen lassen. Und sein Gesang wird sich im Himmel mit der Stimme des Flusses vereinen. Er wird zu deiner Hacienda fliegen, das Ohr deiner colonos und ihr unschuldiges Herz erreichen, das dein Vater schlägt, damit es niemals wachse, damit es für immer das Herz eines Kindes bleibe. Ich weiß es. Du hast es mir ja selbst gesagt. Und im Gesang des zumbayllu werde ich eine Botschaft an Doña Felipa senden. Ich will sie rufen, damit sie kommt und die Felder von Schlucht zu Schlucht, vom einen Ufer des Flusses zum anderen in Brand steckt. Und der Pachachaca wird ihr helfen. Du selbst hast gesagt, daß er auf ihrer Seite ist. Vielleicht macht er kehrt und fließt zurück, um die Boote der chunchos zu tragen.«

»Du bist krank, du bist völlig verwirrt, Brüderchen. Nur die winkus können Botschaften bringen. Nur die winkus! Und du hast gesagt, daß ihn Bruder Miguel in der Kapelle gesegnet und ihm so den Zauber ausgetrieben hat. Komm, wir gehen nach Condebamba! Was würde Salvinia sagen, wenn sie wüßte, daß du den Pachachaca bitten willst, die chunchos zu bringen, damit sie das Tal in Brand stecken? Damit wir alle sterben, alle, Menschen und Tiere? Damit alles verbrannt wird, während du feierst? Du bist verrückt! Alcira wird dich beruhigen. Schon allein sie zu sehen …«

Er legte einen Arm um meine Schulter und zog mich auf die Straße. Meine neuen Schuhe glänzten, und ich fühlte mich in meinem neuen Anzug unbehaglich.

»Laß uns zum Fluß gehen, Markask’a«, bat ich auf Quechua. »Der Pachachaca weiß, in welcher Stimmung die Geschöpfe sich ihm nähern und warum sie zu ihm kommen.«

»Ja, gewiß. Dafür bleibt uns noch der ganze Sonntag. Ich möchte ihn bei der Brücke durchschwimmen. Und du wirst sehen, wie der Herr mich achtet. Diese Tat werde ich dir widmen. Ich will dort ins Wasser gehen, wo die größten Wirbel sind. Dann mußt du es Salvinia erzählen.«

»Ich begleite dich, Markask’a. Der Fluß kennt mich.«

»Nicht, wenn du hineingehst. Und nicht, wenn du die Strömung nicht achtest. Dann reißt er dich mit und zerschmettert deine Knochen an den Felsen. Etwas ganz anderes ist es, wenn du demütig am Ufer zu ihm sprichst oder wenn du ihn auf der Brücke betrachtest.«

»Ich will ihn durchschwimmen, genau wie du.«

»Vielleicht.«

»Die Mitte der Strömung ist am fürchterlichsten; dort ist der Pachachaca ein Teufel, nicht der ruhige Herr, der er zu sein vorgibt, wenn du ihn betrachtest. Dort ist er wirklich ein Teufel, und du spürst in seiner Kraft, daß alle Geister nach dir greifen – die Geister von den Felswänden, aus den Höhlen, aus den unterirdischen Gängen und von den Kakteen mit den aufgespießten Tieren, die im Wind hin und her schwanken. Du darfst nicht hineingehen, nein, du nicht. Ich ja, denn ich bin einer seiner Söhne.«

Markask’a nahm mich mit nach Condebamba. Auf den Maulbeerbäumen sangen die Lerchen, als hätten sie es gelernt. Sie saßen auf den obersten Ästen und flogen von dort manchmal auf die Gipfel der wenigen Weiden, die zwischen den Maulbeerbäumen wachsen. Die Indios nennen die Lerche tuya. Sie ist wunderschön, hat einen starken Schnabel und sitzt meist auf den obersten Ästen. Sie singt auf den Gipfeln der dunkelsten Bäume, dem lúcumo, dem lambra, dem palto, besonders auf dem lúcumo, dessen Stamm glatt ist und dessen Äste oben eine breite Krone bilden. Der kleine gelbe Körper der tuya mit den schwarzen Flügeln hebt sich gegen den Himmel und die dunklen Bäume ab; sie fliegt von einem hohen Ast zum anderen und singt immer neue Lieder. In den kalten Gegenden gibt es keine tuyas, ihr Gesang verrät die Geheimnisse der tiefen Täler. Seit jeher haben die Peruaner Musik komponiert, indem sie der tuya lauschten und zusahen, wie sie durch die Weite, an den Bergen vorbei und unter den Wolken flog, die an keinem anderen Ort der Welt so vielfältig und gegensätzlich sind. Tuya, tuya! Während ich ihrem Gesang zuhörte – ihr Gesang war das, woraus ich gemacht bin, die ferne Gegend, der man mich entriß, um mich unter die Menschen zu bringen –, sahen wir auf der Allee die beiden Mädchen.

Alcira war fast das getreue Abbild eines anderen jungen Mädchens, das ich mit zehn Jahren geliebt hatte. Ich hatte sie in Saisa kennengelernt, einem Dorf, in dem Ziegenhirten lebten und das in einer trockenen Gegend lag, durch die kein Bach floß und wo nur Kürbisse wuchsen. Dieses junge Mädchen aus Saisa hatte Haare von der Farbe frischen Gerstenstrohs. Ihre Augen waren blau wie die meines Vaters, aber unruhig wie die eines Vogels aus den Bergen, sie waren sehr groß und glichen zwei Quellen. Sie trug baumwollene Kleider und hohe Stiefel. Ihr Bräutigam war ein Schnapsschmuggler, ein grober Bursche mit großen schwieligen Händen, die innen weiß wie Wachs waren. Sie hieß Clorinda. Ich hatte nur zwei Tage Zeit, um sie zu bewundern, dann setzten wir unsere Reise fort. Auf dem Ritt durch die weite Wüste, die Saisa von einem Hafen im Süden trennt, sagte ich immer wieder ihren Namen vor mich hin.

Alciras Gesicht glich dem Clorindas so sehr, daß ich sie zuerst für das junge Mädchen aus meiner Kindheit hielt. Vielleicht war sie aus ihrem Dorf geflüchtet und ihrem Bräutigam davongelaufen.

In Gegenwart der beiden Mädchen wurde ich noch verwirrter, und ich beschloß, mich zu verabschieden. Ich mußte an den Fluß, auch wenn ich erst nachts zurückkäme. Salvinia blickte mich erstaunt an, sie betrachtete mich prüfend, als hätte sie mich noch nie gesehen. Alcira hob nur zweimal die Augen. Sie schien vor Salvinia Angst zu haben. Wir standen im Schatten eines dichtbelaubten Maulbeerbaums, der uns beschützte. Einmal wagte ich, Alcira ganz anzusehen, und ich entdeckte, daß ihre Waden sehr dick und ihre Beine sehr kurz waren. Als ich ihr Gesicht noch einmal betrachtete, fühlte ich Erleichterung.

»Ich muß nach Patibamba«, sagte ich.

»Von hier aus? Jetzt?« fragte Salvinia.

»Ja. Ich muß gehen. Auf Wiedersehen. Wo wohnen Sie, Alcira?« fragte ich.

»An der Straße, die vom Platz zum Elektrizitätswerk führt.«

Ich gab erst Alcira, dann Salvinia die Hand. Ich sah Antero nicht an. Ich rannte. Er lief ein paar Schritte hinter mir her, aber ich hörte nicht, was er sagte.

Ich lief wie gehetzt durch die Allee. Dann kehrte ich um.

Ich wollte die Kaserne sehen. Sie wurde neu angestrichen. Mit Pinseln, die lange Stiele hatten, bemalten zehn Männer die Wände. Zwei Soldaten standen am Tor Wache. Ein Unteroffizier lehnte sich gegen die Wand im Schatten und blickte auf das Feld hinaus. Durch das offene Tor konnte ich ein paar große Pferde und verschiedene Offiziere sehen, die über den Hof gingen. Die Büsche um die Kaserne waren gestutzt worden. Eine Weile blieb ich vor dem Tor stehen. Dann lief ich nach Huanupata.

»Alcira, Alcira«, sagte ich vor mich hin, »Clorinda.«

Die chicherías waren geöffnet. Ich ging hinein. Soldaten aßen die scharfen Speisen und tranken große Gläser chicha. Die Mädchen bedienten sie.

›Bald werden sie Musik machen‹, dachte ich, ›und die Soldaten werden tanzen. Es ist Samstag.‹

Die Soldaten sprachen Quechua, erzählten schmutzige und fröhliche Geschichten, machten Späße und lachten. Und die Mädchen lachten mit.

Das Viertel war laut und geschäftig, viele Leute standen herum. Ich ging zu der chichería, vor der ich am Tage des Aufstandes, als ich aus Patibamba zurückgekommen war, chicha getrunken hatte. Sie war geöffnet. Es war die chichería Doña Felipas. Ich trat ein. Hier saßen noch mehr Soldaten. Ich suchte keinen Tisch, sondern ging sogleich in den Hof. Dort fand ich einen Hund, der an einen Pfahl gebunden war und zwischen Abfällen auf dem schmutzigen Boden lag. Die Fliegen summten in Schwärmen und verdunkelten das Licht. Der Hund knurrte nicht einmal. Ich ging zu ihm. Ein Soldat kam und ließ an der Wand Wasser. Dann sah er mich an.

»Dein Hund?« fragte er.

»Nein. Er gehört Doña Felipa«, antwortete ich.

»Die ist erledigt. Die wird eine Kugel bekommen, eine hübsche kleine Kugel.«

»Man sagt, sie wird mit den chunchos zurückkommen«, wandte ich ein.

Der Soldat begann zu lachen.

»Ihre Seele vielleicht. Aber sie, sie ist tot. In San Miguel. Bestimmt.«

Er war betrunken.

»Die Armee, zum Donnerwetter. Wir, ich, wir sind die Herren. Die Frauen hier, sie weinen und weinen; aber man nimmt sie einfach. Sie sind gut, die von hier, und es ist hübsch, wenn sie weinen, zum Donnerwetter!«

Ich ging hinaus und fragte eine der Mestizinnen, wer die chichería geöffnet habe.

»Der Mann Doña Felipas«, antwortete sie und zeigte auf ihn.

Er saß mit zwei cholas an einem Tisch. Seine Haut war rot wie die der Leute, die die scharfen Pfefferschoten essen. Gerade zerschnitt er eine große gelblich-grüne Schote. Er schnitt sehr sorgfältig, auf seiner Stirn stand der Schweiß.

»Stimmt es, daß Doña Felipa tot ist?« fragte ich die Mestizin und schaute ihr in die Augen.

»Ach was«, rief sie und lachte. »Betrunkene Soldaten träumen. Betrunken ist betrunken. Aber du, geh weg von hier, Junge«, und sie schob mich hinaus.

Ich trat auf die Straße. Der Soldat, der im Hof mit mir gesprochen hatte, suchte schwankend einen Tisch.

Der Weg zum Fluß begann hier ganz in der Nähe. Ich sah das kleine, bunte Kreuz, das den Beginn der weiten Wege anzeigt; es war am Ende der Gasse auf einem Stein festgemacht, und das weiße Schweißtuch flatterte im Wind.

Ich begann zu laufen. Ich mußte den Fluß und die Brücke sehen. Ich mußte den Schal der Führerin und die Reste vom Blut des geköpften Maultiers sehen; ich mußte den Fluß sehen und mit ihm sprechen, ich mußte ihm meine Botschaft anvertrauen und ihn nach Clorinda fragen.

Plötzlich sah ich Pater Augusto, der auf der anderen Seite den Hang zum Fluß hinunterritt und das Ufer schon fast erreicht hatte. Mir fiel ein, daß man ihn auf die Hacienda Raurabamba gerufen hatte, damit er in der Kapelle die Messe lese. Ich versteckte mich in der Nähe der Brücke, um ihn vorbeizulassen. Ich duckte mich hinter einen guayaba-Baum, der von wuchernden Flechten umschlungen war. Die kleinen Blätter der Schlingpflanzen bedeckten die Mauer neben dem Weg und kletterten am Stamm des Baumes empor; seine Früchte waren silberne Schoten mit zartem süßem Fleisch. Ich pflückte ein paar Früchte und aß sie, während ich beobachtete, wie der Priester die Brücke erreichte und langsam hinüberritt. Plötzlich sah ich die Schwachsinnige; halb im Gebüsch verborgen lief sie in einiger Entfernung hinter dem Priester her. In diesem Augenblick entdeckte ich auf dem Steinkreuz der Brücke Doña Felipas Schal, der im Wind hin- und herflatterte. Er hatte die Farbe von Orangen.

Die Schwachsinnige hatte die Brücke erreicht. Sie rannte über den Gehsteig und blieb vor dem Kreuz stehen. Sie betrachtete den Schal. Einen Augenblick stand sie neben dem Kreuz still, blickte zu meiner Seite des Flusses herüber und begann zu schreien. Sie war nicht stumm, aber sie konnte nur unartikulierte Schreie ausstoßen. Sie schrie mehrere Male. Ich ging bis zu einem großen Stein in der Nähe des Flusses, am Rand eines Zuckerrohrfeldes. Von dem Stein aus sah ich, daß Pater Augusto sein Maultier anhielt und der Schwachsinnigen mit den Händen Zeichen machte; auch sie rief ihn. Aber der Priester gab dem Maultier die Sporen und ließ die Frau zurück. Ich hatte Angst um sie. Die Brücke ist hoch, und das Wasser, das in Wirbeln tosend niederstürzt und an den Pfeilern hochschlägt, zieht den Betrachter zu sich herunter; die senkrechte, feuchte Felswand, die sich von der Brücke in den Himmel hebt, bedrückt das Herz. Auf der Brücke hört man ein tiefes Grollen, das aus dem Inneren der Wand, aus dem schäumenden Wasser, ja selbst aus dem fernen Stück Himmel kommt, das von den Felsen umrahmt ist. Ich wußte, daß nervöse Pferde auf der Brücke scheuen und daß ihnen die Reiter dann die Sporen geben, weil sie fürchten, die erschreckten Tiere könnten über das Geländer in den Fluß springen.

Die Schwachsinnige stieg auf die Brüstung, aber sie konnte nicht an den Schal herankommen. Sie hielt sich am Kreuz fest und begann, wie ein Bär daran hochzuklettern. Sie erreichte einen Arm des Kreuzes, klammerte sich daran fest und preßte den Oberkörper gegen den Stein. Ich begann zu laufen, denn der Pater hatte die Brücke längst überquert. Ich rannte zwischen den Büschen hindurch, zerriß die Schlingpflanzen. Die Schwachsinnige riß das Tuch herunter und band es sich um den Hals. Ich betrat die Brücke. Die Frau hielt sich mit dem Rücken zum Fluß am Längsbalken des Kreuzes fest. Was geschähe, wenn sie losließe? Sie würde in den Fluß stürzen, sie würde das vielleicht verdienen. Aber sie rutschte langsam auf Brust und Bauch an dem senkrechten Stein herunter, bis beide Füße die Brüstung erreicht hatten. Dort ruhte sie sich eine Weile aus und sprang auf den Gehsteig. Voller Freude schwenkte sie das Tuch in den Händen und band es sich dann um den Hals. ›Nun los‹, dachte ich, ›ich nehme ihr den Schal weg und werfe ihn in den Fluß. Dann bringe ich sie nach Abancay zurück.‹ Aber sie begann zu rennen und zu schreien, sie schrie wie eine Verdammte. Sie lief, ohne mich zu sehen, an mir vorbei, und ihr Gesicht leuchtete vor Glück. Sie rief jemanden, vielleicht Pater Augusto, vielleicht Lleras. Sie lief noch immer und verschwand schließlich hinter einer Biegung des steilen Hanges, klein und rund und schreiend. Sie schrie gepreßt wie alle dicken Leute mit kurzem Hals.

Ich ging auf die Brücke. Meine Gedanken vom Nachmittag, die Sehnsucht, mit der ich an den Pachachaca geeilt war, hatten sich verflüchtigt. Ein paar Schwalben spielten fröhlich zwischen den Bogen der Brücke, streiften dicht über dem Wasser dahin, setzten sich einen Augenblick auf das steinerne Geländer, flogen davon und kehrten wieder zurück. Unaufhörlich, unermüdlich zogen sie seltsame Schleifen über den Kreuzen, als wollten sie der großen Brücke, der brandenden Strömung Ehre erweisen, der Strömung, die in schäumendem Ungestüm vorbeischoß und auf die Felsen spritzte, auf die ich mich für einen Augenblick gesetzt hatte – ein unscheinbares, schwaches Wesen, noch unscheinbarer als die geflügelten Grillen, die die Vorübergehenden in den Straßen von Abancay zertreten.

Dann dachte ich wieder an Doña Felipa, an Clorinda und an die Mestizin in der chichería.

»Du bist wie der Fluß, Señora«, sagte ich leise und betrachtete den breiten Strom, der sich in einer scharfen Biegung zwischen blühenden Ginstersträuchern verlor. »Man wird dich nicht fassen. Du wirst zurückkommen. Und ich werde dein Gesicht betrachten, das stark wie die Sonne am Mittag ist. Wir werden Feuer legen, Brände stiften, die Schwachsinnige in ein Kloster bringen. Lleras ist schon verbrannt, und Añuco, glaube ich, stirbt. Und du, Pachachaca, gib mir nun Kraft, um wie die Schwalben den Hang hinaufzufliegen, denn ich muß Alciras Haus bewachen. Und wenn ich morgen mit Markask’a zurückkomme, töte ihn nicht, aber erschreck ihn ein wenig; und mich, laß mich so schnell hinüber wie den Gesang des zumbayllu, wie den Gesang des zumbayllu.«

Dann lief ich, so schnell ich konnte, den Hang hinauf. Ich war sicher, daß ich vor Pater Augusto in Abancay sein würde. Ich blieb einen Augenblick am Rand des Weges stehen, um den Fluß noch einmal zu betrachten. Die Schwalben durchschnitten geräuschlos die Luft und kamen mit den Flügeln schlagend bis zu mir; wie schwarze Sterne stürzten sie unter den Bogen der Brücke hindurch.

»Ich will nicht geringer sein als du, Schwalbe«, rief ich.

Aber in der Nähe von Patibamba mußte ich ausruhen. Ich hatte Pater Augusto und die Schwachsinnige überholt, weil sie dem Reitweg gefolgt waren und ich die Abkürzungen benutzt hatte.

›Welche Kühnheit, mich mit den Töchtern der Brücke zu vergleichen‹, sagte ich zu mir. ›Sie sind schneller als Wolken und Wasser, ich aber bin schneller als irgendein Schüler aus Abancay, schneller sogar als Markask’a.‹

Ich erreichte die Stadt bei Einbruch der Dämmerung.

Die Soldaten verließen in Gruppen Huanupata. Ein Unteroffizier trieb sie zusammen und bewachte sie. Von Westen bis zur Mitte des Himmels brannten die Wolken in großen Flammen.

»Ich, patroncito«, sagte ein Soldat mit weinerlicher Stimme und mischte spanische Wörter in sein Quechua, »ich … Herr, aguila, wamanchallay, patu rialchallay.4 Was soll aus mir in einem fremden Dorf werden? Runapa llak’tampi ñok’achally.«5

Er begann zu weinen, und der Unteroffizier versetzte ihm einen Fußtritt. Das Gesicht des Soldaten wurde weiß und starr. Er wollte fortlaufen, aber er begann von neuem leise zu singen: »Aguila, wamanchallay, patu rialchallay.« Dann fügte er hinzu: »Von mir geschwängert an einem fremden Ort.«

›Wenn er die Brücke sähe‹, dachte ich, ›wenn er die Brücke sähe, würde er aufhören zu weinen oder er würde sich schreiend vom Kreuz in die Strömung stürzen.‹

Ich mußte zum Elektrizitätswerk gehen, um Alciras Haus zu bewachen. Ich mußte mich beeilen, aber ich konnte nicht. Ich folgte dem Soldaten bis auf den Platz. Er hatte die Augen geschlossen und tastete sich mit den Füßen vorwärts. Er sprach denselben Quechua-Dialekt wie ich. Am Ausgang des Platzes befahl der Unteroffizier der Truppe, nach links zu gehen.

Es war spät. Das Licht versank am Horizont, und die Wolken wurden schwarz. Ich ging in die Schule zurück. Leise sang ich den huayno des Soldaten: »Als ich dich sah, von der Höhe herab, weintest du allein, königlicher Adler …« Die meisten der Internen waren schon zurückgekehrt. Sie schienen glücklich zu sein. Auf den Stufen der Galerie spielte Romero rondín. Palacitos saß neben ihm.

Der Pförtner kam und sagte: »Morgen früh geht der Bruder mit Añuco nach Cuzco. Die Pferde stehen schon bereit.«