Die Guardias, die Doña Felipa verfolgten, wurden tagelang von den Bauern in die Irre geführt. Im gleichen Dorf sagten die einen, daß die chichera vor wenigen Augenblicken langsam auf ihrem Maultier vorübergeritten sei, die anderen aber wollten nicht einmal ihren Namen gehört haben und von ihrer Ankunft nichts wissen. Höflich gemeinte, aber falsche Auskünfte zwangen die Guardias, bald Felswände zu erklettern, bald in die Schluchten hinunterzusteigen oder stundenlang die Berghänge zu durchsuchen. Wenn sie in die Dörfer zurückkehrten, bestraften sie aus Ärger die Behörden des Ortes. Sie kamen auch nach Andahuaylas. Dort behauptete die Hälfte der Leute, daß Doña Felipa bereits durchgekommen und nach Talavera gegangen sei, die andere Hälfte aber sagte, daß man sie noch nicht gesehen habe, daß sie aber sicher kommen werde.
Fest stand nur, daß sie nicht gefunden wurde. Auf Befehl des Präfekten blieben die Guardias in Andahuaylas und errichteten dort einen Kontrollposten. Täglich erhielten sie Berichte über die Reise Doña Felipas und ihrer Gefährtin und über ihre Flucht nach Huamanga. Aber sie hörten auch, daß die beiden in San Miguel, am Rand des Urwalds, dort, wo es schon Schwärme großer blauer Papageien gibt, eine chichería eröffnet hatten.
In Abancay dagegen wurde Doña Felipas chichería nicht geschlossen, nicht einmal nach dem Zwischenfall mit den Soldaten. Mit Unterstützung der Guardias zog Don Paredes wieder als Besitzer ein und setzte die junge dicke chichera vor die Tür. Sie mußte Abancay verlassen und zog nach Curahuasi, in ihr Heimatdorf. Sie ging zusammen mit dem Harfenspieler, Papacha Oblitas, der aus dem gleichen Dorf stammte. In der folgenden Woche verließ das Regiment Abancay, und die Guardias zogen in die Kaserne. Die Priester erklärten, daß das Regiment nicht nur wegen des Aufstandes nach Abancay gekommen sei, sondern um die alljährlichen Manöver abzuhalten, daß die Truppe viel zu lang im Quartier gelegen habe und daß der plötzliche Marsch zum Apurímac und Pachachaca ein großer Erfolg gewesen sei, der dem militärischen Kommando in Cuzco Ehre mache.
Die Externen hatten das Gefühl, die Stadt sei plötzlich leer geworden. Verschwunden waren die Offiziere, die auf der Straße, in den Wirtschaften, den Salons und Herrschaftshäusern jeden mit ihrem Glanz geblendet hatten. Ich verstand nicht, warum viele der stolzesten jungen Mädchen so traurig zurückblieben, ja sogar um die Offiziere weinten, und daß sich ein paar verlobt hatten. Ich hörte, daß sich zwei Mädchen aus der Stadt das Leben nehmen wollten. Sie waren mit ihren Offizieren an die abgelegenen Ufer des Mariño gegangen, und die Leute erzählten, daß sie dort – allerdings freiwillig – »entehrt« worden seien.
Die Uniform gab den Offizieren ein unwirkliches Aussehen. Ich hatte nie so viele von ihnen auf einmal gesehen; sie beherrschten die Stadt, nahmen sie in Besitz, setzten sich darin fest wie ein Schwarm bunter Ziervögel, die Erde und Raum erobern. Die Garnisonskommandanten, die ich in den Dörfern kennengelernt hatte, waren fast immer großmäulig, unordentlich und betrunken gewesen. Aber die Offiziere des Regiments riefen, wenn man sie so zusammen sah, neue, unvertraute Eindrücke und Vorstellungen wach. Die Gewehre, die Bajonette, die roten Federbüsche, die schöne Musikkapelle flossen in meiner Erinnerung zusammen und verschmolzen miteinander. Die Bilder quälten mich, und ich fürchtete mich vor dem Tod.
Die jüngeren Offiziere trugen Peitschen aus glänzendem Leder. Sie gingen in ihren hohen, fein gearbeiteten Stiefeln selbstsicher und schneidig umher. Wenn sie sich einmal bis nach Huanupata verirrten, gerieten die Leute in Aufregung und starrten sie in grenzenloser Bewunderung an. Die älteren Offiziere aber erfreuten sich keiner besonderen Ehrerbietung, denn die meisten von ihnen waren dick und hatten große Bäuche. Die Mädchen blickten ihnen ängstlich nach, wenn sie vorübergingen.
Die Leute sagten, daß der Oberst nur ein einziges Mal in Huanupata gewesen sei. Er stammte aus Trujillo, hatte einen alten spanischen Namen, und seine Feierlichkeit, seine Bewegungen und sein Benehmen wirkten gekünstelt und falsch. Nur in der Kirche setzte er ein ernstes und strenges Gesicht auf. In der goldbestickten Uniform mit den Epauletten, allein in einem großen Sessel, von Weihrauch eingehüllt, der bis zum Dach der Kirche emporstieg, sah er so imposant aus, daß wir vor ihm mehr Angst und Ehrfurcht empfanden als vor einem Großgrundbesitzer. Man erzählte mir, er sei bei jenem Mal, als er in Begleitung verschiedener Offiziere und anderer Herren Huanupata besuchte, sehr schnell durch die Straßen gegangen. Am Ende habe er sich über den widerwärtigen Geruch beklagt, der aus den chicherías und den Hütten auf die Straße drang.
In jenem Teil der Stadt hielten die Leute viele Schweine; den Fliegen ging es dort gut, und sie summten in Schwärmen um die Köpfe der Passanten. Das Wasser in den Pfützen verfaulte in der Hitze, verfärbte sich und wurde dick und schlammig. Aber hinter ein paar hohen Holzwänden, am Rande von Huanupata, sahen die Zweige eines limonero real hervor; hoch oben hingen die reifen oder grünen Früchte, die Wonne der Kinder. Wenn es einem kleinen Jungen aus Huanupata gelang, eine der Zitronen mit einem Stein herunterzuschlagen, nahm er sie fast ehrfürchtig in die Hände und lief, so schnell er konnte, davon. Sicher hatte er irgendwo in seinen Kleidern, vielleicht in einem Knoten des Hemdes, ein Stück der billigsten chancaca versteckt, die in den Haciendas des Tals hergestellt wird. Die große Zitrone aus Abancay hat eine dicke Schale, deren Fleisch eßbar ist und die sich leicht entfernen läßt. Ihr brennender und zugleich süßer Saft gibt gemischt mit der schwarzen chancaca die wohlschmeckendste und kräftigste Speise der Welt. Sie schenkt Freude, und man glaubt, aus ihr das Licht der Sonne zu trinken.
Ich konnte nicht verstehen, warum so viele hübsche junge Mädchen, die ich beim Konzert im Park gesehen hatte, nun um die Offiziere weinten. Ich verstand es nicht, und ich empfand Mitleid mit ihnen. Ich sagte schon, daß fast alle Offiziere schneidig und mit ihren langen, glänzenden Peitschen ein wenig unwirklich waren. Sie trugen merkwürdige taillierte Röcke, hohe farbige Mützen und seltsame Stiefel; ich fand sie unfreundlich, weil sie die übrigen Menschen von einer anderen Welt aus zu betrachten schienen. Sie waren höflich und übertrieben ihre Ritterlichkeit ein wenig. Dadurch erschienen sie mir unnatürlich, als wäre ihr Verhalten das Ergebnis langer Versuche, genauer und geheimer Prüfungen, die in Kellern oder verborgenen Höhlen bestanden werden mußten. Sie waren nicht wie andere Menschen, Fremde oder Freunde, die ich kannte. Bei den älteren Offizieren bemerkte ich in der kurzen Zeit, die ich sie sah, allerdings nur noch Spuren dieser falschen Höflichkeit, dieser kriecherischen Zuvorkommenheit der jungen. Sie traten überall mit großer Sicherheit auf, als wären sie nicht aus Erde gemacht und würden sie nicht wieder zu Erde werden, sondern als seien sie die Herren der Welt – wo auch immer sie sich befanden. Und ihr Blick war anders, irgendwie roh, voll von einer Wollust, die nur sie zu haben schienen. Als ich erfuhr, daß sie abgezogen waren und die Stadt verlassen hatten, mußte ich dauernd an sie denken.
Ich erinnere mich, daß ich mir einmal nachts im inneren Hof vorstellte, sie seien Tänzer oder gespenstische Erscheinungen. ›Sie sind Masken‹, sagte ich mir. Die Masken wollen die Menschen immer mitnehmen und sie irgendwo hinführen. Nach Meinung der bigotten alten Frauen und auch der Indios kam der Scherentänzer aus der Hölle; er wollte die Menschen mit seinen Sprüngen und seinem Kostüm voller Spiegel blenden. Er schlug seine eisernen Scheren zusammen und balancierte über ein Seil, das zwischen dem Turm und den Bäumen auf dem Platz aufgespannt war. Aber er schien der Bote aus einer anderen Hölle zu sein, nicht der, die die Priester beschreiben, wenn sie ärgerlich und böse sind. Die ukukus dagegen, in ihren Fellen peruanischer Bären mit kleinen spitzen Ohren, mit Masken vor den Gesichtern, die nur die glänzenden Augen des Tänzers freigeben – die ukukus versuchten, uns ins Dickicht zu locken, dorthin, wo der große Urwald beginnt, an die fürchterlichen Abgründe der Anden, wo die wilden undurchdringlichen Wälder wachsen. Und diese anderen Masken? Der Oberst? Die huayruros mit ihren Sporen und Gamaschen, die so anders waren als die bescheidenen Gendarmen, die sie ersetzten? Die dicken Hauptleute, die so stolz waren, wenn sie den Oberst beim Parademarsch begleiten durften? Wohin würden sie uns führen? Aus welcher unterirdischen Schicht der Erde kamen sie? Wann würden sie ihren Tanz beginnen, damit wir sie vielleicht erkennen und verstehen könnten? Was hatten sie zu den schönen Mädchen gesagt? Was hatten sie mit ihnen an den Ufern des Mariño gemacht? Warum weinten diese Mädchen nun? Vielleicht hatte ihnen sogar Salvinia ihr kristallklares Lächeln geschenkt! Ich erschrak. Und das Entsetzen ließ mich meine Gedanken weiterspinnen: Vielleicht hatte auch Clorinda, diese zarte Blüte trockener, nur im Winter grünender Felder, eine dieser Masken angeblickt. Vielleicht hatte sie diese Maske sogar ihrem Bräutigam, dem verschlagenen Schmuggler, vorgezogen, und vielleicht hatte eine ihrer Hände die Epauletten berührt.
Um mich gegen diese blinde Verzweiflung zu wehren, rief ich mir das Bild der Brücke über den Pachachaca, das Bild der Schwachsinnigen, die hoch oben auf dem Turm strahlend vor Glück den Schal Doña Felipas umklammert hielt, in Erinnerung. Dann dachte ich an Prudencio und an den Soldaten, dem ich auf der Straße nachgegangen war, weil er unter Tränen ein Lied aus meinem Dorf gesungen hatte. »Nicht sie, nicht die Soldaten«, sagte ich laut. »Sie sind wie ich. Nicht sie!«
Palacitos hatte mich gehört und kam zu mir.
»Träumst du?« fragte er.
»Wozu sind Soldaten gut?« fragte ich gedankenlos.
»Wozu?« antwortete er sofort und lächelte. »Um zu töten, natürlich. Du träumst ja.«
»Er auch? Prudencio auch?«
»An der Front, ja«, erwiderte er. »Ich weiß es. Warum fragst du das?«
»Aus Dummheit«, sagte ich ohne Zögern. »Ich habe meinen Vater nicht so nah wie du. Ich träume, ich fasele einfach.«
»Mein Vater kommt!« rief er. »Er kommt bald«, und er umarmte mich stürmisch.
Ich vergaß sofort meine dunklen Ahnungen. Palacitos hatte noch nie den Besuch seines Vaters mit Begeisterung erwartet. Im Gegenteil, sobald er aus einem Brief erfuhr, daß sein Vater komme, zeigte er sich bedrückt. Er versuchte dann, zu lernen, schlug immer wieder die Bücher auf, erkundigte sich nach Definitionen. Er hatte Angst und verbrachte die Nachmittage in der Küche auf ein paar Fellen, die die Köchin im dunkelsten Winkel hinter der Tür ausgebreitet hatte. Wenn er die Küche verließ, stellte er neue Fragen und machte sich Notizen. Den Lehrern, besonders dem Pater Rektor gegenüber benahm er sich demütig und bescheiden. Der Pater Rektor erriet natürlich den Grund und sprach ihm manchmal Trost zu.
»Mut, Palacitos«, pflegte er zu sagen, »Mut, mein Junge.« Er nahm Palacitos’ Kinn in die Hände, hob sein Gesicht in die Höhe und zwang den Jungen, ihn anzusehen. Dann begann Palacitos zu lächeln.
Nun erwartete er zum erstenmal die Ankunft seines Vaters mit Ungeduld.
»Die Murmeln, Bruder«, sagte er. »Ich werde sie meinem Vater schenken und ihm von Lleras, vom Bruder und von Prudencio erzählen.«
Er hatte eine Glaskugel nach der anderen genau untersucht. Wie die Augen unbekannter Tiere waren sie alle voneinander verschieden. Der Anblick dieser kleinen runden Dinger, in denen sich farbige Lichter kreuzten, begeisterte ihn so sehr, daß er sich wieder von seinen Kameraden zurückzog, aber diesmal aus einem anderen Grund. Er hatte die Kugeln seinen Freunden gezeigt – Romero, Chipro und mir. Einen Augenblick hatte er überlegt, ob er auch Valle rufen sollte, doch dann hatte er auf Quechua eine sarkastische Bemerkung gemacht und die kleine Truhe verschlossen. Zwei oder drei Tage lang trieb er sich danach singend und pfeifend allein im Internat herum; nur selten kam er zu uns. »Añuco hat mich gern, nicht?« hatte er plötzlich einmal gefragt.
Und dann begann er zu lernen, während des Unterrichts aufzupassen und auch besser zu verstehen. Einmal hob er sogar den Arm, um eine Frage des Lehrers zu beantworten, und die Antwort war richtig. Der Lehrer hatte kaum Zeit, sich zu wundern. Er stellte verschiedene weitere Fragen, und Palacitos, obwohl er vor Angst bereits ein wenig zu zittern begann, antwortete richtig.
Ich sah, daß auch seine Kameraden kaum Zeit und Gelegenheit hatten, ihn mit Fragen zu bestürmen, ihre Neugier wegen dieser plötzlichen Veränderung und ihr Erstaunen darüber zu zeigen. Die Pausen verbrachte er mit mir, mit Romero und Iño. Romero, der sportliche Held der Schule, groß und berühmt, blieb ihm treu. Er spielte und plauderte mit ihm, nahm ihn unter seinen Schutz und half ihm so zu einer ruhigen Entwicklung.
Und nun erwartete er stolz, mit dem Gefühl, eine Heldentat vollbracht zu haben, seinen Vater.
»Wird dir dein Vater glauben? Werden ihm die Kugeln gefallen?« fragte ich ihn.
»Er wird mir glauben, Brüderchen. Sein Herz wird fast stillstehen. Ich kann mich an alles erinnern, an alles. Ich werde ihm von den Büchern erzählen, von Arithmetik und Geometrie. Geometrie! Brüder! Er wird erschrecken, bestimmt. Er wird mich nicht wiedererkennen.«
Zusammen liefen wir auf den äußeren Hof. Ich war glücklich, daß er an diesem Abend mit seiner Freude zu mir gekommen war.
Antero aber zog sich von mir zurück. Sein neuer Freund Gerardo wurde in der Schule zum neuen Helden, der sogar Romero im Springen und Speerwerfen übertraf und alle seine Gegner im Boxkampf besiegte. Er spielte Fußball so geschmeidig wie ein Aal und so schnell wie ein Pfeil. Nur im Laufen und im Weitsprung war ihm Romero überlegen. »Du bist großartig, Romero«, sagte er vor allen anderen im inneren Hof immer wieder zu Romero. Beim Fußballspiel hatte Romero Lleras ersetzt, und Gerardo wurde Kapitän der Mannschaft. Der Pater Rektor plante bereits eine Reise nach Cuzco, um dort seine Mannschaft gegen das Colegio Nacional antreten zu lassen.
»Auf nach Cuzco!« rief der Pater nach den Trainingsspielen in Condebamba und nahm Romero und Gerardo am Arm.
Mit den weißen, zerzausten Haaren wirkte er jung; er lächelte und ging mit langen Schritten über den Platz.
Wir klatschten Beifall.
»Von Gerardo kann ich etwas lernen«, sagte Antero einmal während einer Nachmittagspause im Schulhof zu mir. »Die Frauen. Er versteht etwas davon.«
»Die Frauen?«
Ich hatte noch nie gehört, daß er »Frauen« sagte. Wie ich pflegte er »Mädchen« zu sagen, und in der letzten Zeit hatte es ohnehin nur noch einen Namen gegeben – Salvinia, und in zweiter Linie Alcira.
»Natürlich, die Frauen«, antwortete er. »Er weiß etwas von ihnen, er ist erfahren. Er hat schon zwei Geliebte. Salvinia aber haben wir beide verlassen. Keiner soll sie haben.«
»Was heißt das? Keiner?«
»Ich habe eine andere und eine zweite in Aussicht. Aber Salvinia bewachen wir. Sie ist die verbotene Frucht, nicht nur für mich, sondern auch für Gerardo. Niemand soll von ihr kosten. Gerardo hat eine gehabt am Mariño, der Schurke. Sie weinte, als er sie nahm. Und ich …«
»Was?« schrie ich.
»Nichts, Bruder«, erwiderte er. »Wir bestrafen nur Salvinia. Du hast ja selber gesehen, wie sie mit Pablo, Gerardos Bruder, gelacht hat. Nicht wahr? Du hast es selber gesehen. Nun hat sie Angst, wenn sie uns sieht. Vor beiden. Ist das nicht Verrat?«
»Ihr zwei stolziert umher und meint weiß Gott, wer ihr seid – fast schon wie Lleras und Peluca«, sagte ich.
Er blickte mich an, halb empört, halb neugierig.
»Ihr flucht zwar nicht, und ihr seid auch keine Bösewichte. Aber ihr seid schlimmer als Lleras, ihr seid dreckig, weil ihr den Mädchen auflauert wie die Hunde. Warum macht ihr Salvinia Angst?«
»Sag selber, ob sie nicht gelacht hat! Gib zu, daß sie kokettiert hat!« schrie er.
»Ich weiß nicht, Markask’a. Du bist älter als ich, du mußt es besser wissen. Aber am Nachmittag gebe ich dir den zumbayllu zurück. Ich habe ihn lange untersucht und nun kann ich selber zumbayllus machen.«
»Wovon redet ihr?« fragte Gerardo und sprang mit einem Satz von der Galerie auf den Hof herunter.
Die Iris in seinem linken Auge war groß wie bei einem edlen Pferd. Sie hatte nicht die gleiche Farbe wie das rechte Auge, das von einem glänzenden Braun war. Die linke Iris war von einem hellen Grün, das in andere unbestimmte Farben überzugehen schien, wobei vielleicht das fröhliche und glänzende Braun wie ein dunkler Grund vorherrschte.
»Ernesto versteht das nicht, er ist noch zu klein«, sagte Antero. »Er wurde wütend, als ich ihm erzählte, daß wir Salvinia bewachen und daß du ein anderes Mädchen von Abancay besessen hast.«
»Bewachen! Ja, ich weiß schon, daß du dich benimmst wie ein lüsterner Hund, der in allen Straßen schnüffelt. Wäre es nicht anständiger, wenn ihr Salvinia in Ruhe ließt?« fragte ich.
»Ein lüsterner Hund? Wir verteidigen Salvinia. Niemand darf sich ihrer Tür nähern. Das ist zwar nicht meine Art«, antwortete Gerardo, »aber Antero hat es so entschieden. Ich habe ihm gesagt, es wäre besser, wenn er wie ich aufs Ganze ginge. Alles andere gefällt den Frauen nicht.«
»Was gefällt ihnen nicht?«
»Das Bewundern, das Anbeten, all das«, antwortete Antero. »Sie sind verrückt nach Gerardo, weil er Positivist ist, weil er den Körper haben will.«
»Lüge, du Hund! Lüge, du Dieb! Ihr ekelhaften Kerle!« schrie ich.
»Lüge? Sie laufen mir alle nach und schreiben mir Briefe. Sie tun alles, was ich will.«
»Dann, Gerardo, dann gehörst du zu den Verlorenen, genau wie Peluca. Wenn der tapfer wäre, würde er dich windelweich prügeln, er würde dir das Gesicht einschlagen, und dann hättest du die Frauen gesehen. Er würde dich zwingen, hinter ihm her auf den Knien durch alle Straßen zu rutschen, wie du es verdienst. Du wärst sein Handlanger, wenn er mit der Schwachsinnigen schläft. Sagt nicht sogar Antero, daß du alle Mädchen zum Weinen bringst? Hau ab, du Sohn eines Militärs, du Schwein!«
Er stürzte sich auf mich. Antero hielt ihn am Rock fest. Ich war darauf gefaßt und stemmte mich gegen ihn. In wildem Durcheinander kamen die anderen Schüler gelaufen. Ich war blind vor Wut und versetzte dem Sohn des Kommandeurs einen Fußtritt; dann hielt mich jemand von hinten fest.
»Was ist hier los?« hörte ich den Pater Rektor fragen, der die Stufen von der Galerie herunterkam.
Aus Achtung vor dem Rektor zerstreuten sich die Jungen im Hof. Wir drei blieben.
»Was ist los?« fragte der Pater noch einmal und blickte uns nacheinander an.
»Nichts, Vater«, erwiderte Gerardo fest.
»Ernesto hat Gerardo beschimpft und ihm sogar einen Fußtritt versetzt«, rief Peluca von weitem. »Ich habe es gesehen.«
Alle sahen Peluca an. Der lachte verlegen mit dem Ausdruck eines Dummkopfs, der bereut und gleich zu weinen anfängt.
»Er lügt«, sagte Gerardo. »Wir haben nur Spaß gemacht.«
»Du, du gehst sofort in dein Klassenzimmer, du hast das Lernen sowieso nötig«, befahl der Pater Peluca. »Die Glocke läutet.«
Die Pause war zu Ende.
Der Pater blieb mit uns dreien allein.
»Vater«, bat ich, »lassen Sie mich einen Augenblick hinaufgehen; ich möchte Antero dringend etwas geben.«
»Gut, geh!« sagte er.
Mit großen Sätzen rannte ich die Stufen hinauf. Ich öffnete meinen Koffer, zuunterst lag mein einziger zumbayllu. Im Schlafsaal war es dämmerig; die hölzernen Dachbalken, die nie verkleidet worden waren, schimmerten undeutlich im Licht eines halb offenen Fensters. Eine Nachtigall, jukucha pesk’o, winzig klein und flink, hüpfte singend auf einem der Trägerbalken hin und her; dann flog sie durch das Fenster davon.
»Zumbayllu, mein zumbayllu, leb wohl! Du tust mir leid! Du wirst in schmutzige Hände, in schmutzige Taschen kommen. Der, der dich machte, ist jetzt mit dem Teufel verbündet.«
Dann ging ich hinunter. Der Pater redete noch immer mit Gerardo und Antero. Ich sah die beiden vor mir, groß und stark, mit gelblicher Haut, und ich erwartete, daß aus dem Fleck in Gerardos linkem Auge Eiter oder irgendeine andere eklige Flüssigkeit herausquellen würde.
Ich ging zu ihnen. Die Anwesenheit des Pater Rektor ließ mich einen Augenblick zögern. Aber dann zog ich den zumbayllu aus der Tasche.
»Ich gebe ihn dir zurück, Antero«, sagte ich. »Besser jetzt, wenn der Pater Zeuge ist.«
Offensichtlich hatte ich ihn überrascht. Verwirrt nahm er den kleinen Kreisel entgegen. Doch dann sah ich eine Veränderung in seinem Gesicht. Die frühere Reinheit schien zurückzukommen, es wurde schöner, als würde es von innen heraus noch einmal ins Licht der Kindheit getaucht. Der zynische, bestialische Zug um seinen Mund verschwand, und das Blut färbte seine Lippen rot.
»Nein, Bruder«, sagte er. »Ich habe ihm den zumbayllu geschenkt. Vater, ich will ihn nicht zurückhaben.«
Gerardo war verblüfft, er fühlte sich unbehaglich. Anscheinend hatte auch er die Veränderung in Anteros Gesicht bemerkt. Der Pater spürte, daß zwischen uns etwas geschehen war. Prüfend blickte er uns in die Augen. Gerardo wirkte nun unsicher, fast verloren zwischen uns. Der Fleck in seinem Auge war ausdruckslos, glich der vergrößerten Pupille einer Katze im Schatten, verriet kein Gefühl, kein Verständnis. Ich verachtete ihn nicht mehr, und meine Empörung legte sich. Ich sah ihn an, und er zwinkerte mit den Augen.
»Warum gibst du ihm den Kreisel zurück? Sollte er nicht ein Andenken sein?« fragte der Pater.
Die Aufmerksamkeit, die er uns schenkte, war ganz offensichtlich dem Sohn des Kommandeurs, dem neuen Fußballhelden zu verdanken.
»Er war ein Andenken an Abancay«, sagte ich. »Antero hat ihn schon zurückgenommen, aber jetzt, wenn er ihn mir wiedergeben will …«
Antero streckte mir den zumbayllu entgegen, als verbrenne er sich die Finger daran.
»Ein Andenken an Abancay? Was soll das heißen?« fragte der Pater Rektor.
»Durch den zumbayllu bin ich jetzt aus Abancay, Vater«, antwortete ich. »In keinem anderen Dorf gibt es solche Kreisel.«
Wieder blickte er uns an.
»Macht die Sache unter euch aus«, sagte er dann. »Ich glaube, das ist das beste. Aber schwört, daß ihr euch nicht streitet. Der hier ist außerdem noch ein Kind. Und ihr zwei seid fast junge Burschen! Junge Burschen!«
Der Priester schmeichelte ihnen wie allen anderen, die im Tal von Abancay Macht besaßen. Im Umgang mit diesen Leuten war er sehr geschickt; er wählte dann sorgfältig die Worte und die passenden Bewegungen. Ich habe immer die Absicht gespürt, die die Menschen beim Sprechen in den Klang ihrer Stimme legen, und ich habe den Grund dieser Absicht meist begriffen, denn ich bin unter Menschen aufgewachsen, die einander haßten und die mich haßten. Und natürlich konnten sie nicht jedesmal die Peitsche schwingen oder tätlich werden oder die Hunde gegeneinander hetzen. So bedienten sie sich der Sprache; mit ihrer Hilfe verletzten sie einander, sie legten in den Klang der Stimme – mehr noch als in den Sinn der Worte – bald ein schleichendes, bald ein schnell wirkendes Gift.
Antero und sein Freund gingen, nachdem sie sich respektvoll vom Pater Rektor verabschiedet hatten. Antero ging hinter Gerardo her. Mir gaben sie nicht die Hand.
»Und du, du kleiner Kerl«, sagte der Pater hinterher zu mir, »hör auf, Gerardo zu belästigen. Du wirst sehen, daß wir durch ihn mit allen Fußballmannschaften und sogar den Athleten aus Cuzco fertig werden. Freu dich lieber darüber.«
Ich steckte den zumbayllu in die Tasche und streichelte seinen kalten Stachel und seine Augen. Mit diesen Augen sang und tanzte er. Nun lag er ruhig und still zwischen Brotresten und chancaca in meiner Tasche. Sobald die Externen fort wären, würde ich ihn im äußeren Hof auf den Pflastersteinen tanzen lassen. Dann wäre er das lebendigste, das flinkste und glücklichste, das beste Wesen, das sich im Licht der Sonne bewegte.
Am folgenden Tag sagte keiner der beiden Jungen ein Wort zu mir. Sie übersahen mich. Auf Anteros Lippen lag wieder jene Bestialität, die vor allem seinen Mund, weniger die Züge seines Gesichts verunstaltete. Seine Muttermale, besonders die an der Oberlippe und am Hals, schienen durch einen unsichtbaren inneren Strom mit den Lippen verbunden zu sein. Auf der Haut brünstiger Eber hatte ich Flecke gesehen, die Anteros Muttermalen glichen.
Gerardo zog mich für die beleidigenden Worte, die ich ihm vor Zeugen im Hof gesagt hatte, nicht zur Rechenschaft. Ich erfuhr, daß ihm Antero erklärt hatte, ich sei eben ein Fremder und manchmal nicht ganz richtig im Kopf. Sie verbrachten ihre Zeit mit sportlichen Übungen; Antero war ein guter Werfer. Die Schüler bewunderten Gerardo immer mehr. Er war fröhlich und kameradschaftlich mit den Kleinen. Er trainierte sie im Springen und Laufen und ähnlichen Übungen, die seiner Meinung nach die Beweglichkeit und die Widerstandsfähigkeit entwickelten. Auch Palacitos machte mit und war stolz darauf.
Pablo, Gerardos Bruder, befreundete sich mit Valle. Wie dieser huldigte auch er der Gelehrsamkeit und der Eleganz. Er machte außerdem Martel, Garmendia und einen anderen Jungen zu seinen Freunden. Dieser Junge war dünn und bleich, hatte einen ausländischen Namen und hatte sich auch vorher nie unter das Volk gemischt. Sie achteten alle sorgfältig auf ihre Kleidung und gingen nie auf den Spielplatz. Sie verbrachten die Pausen auf der Galerie des ersten Stockwerks, und der Pater Rektor duldete es. Meistens standen sie vor seinem Zimmer, das über dem Eingangstor der Schule lag, aber der Pater ließ sie gewähren. Wenn sie so an diesem Ort, zu dem sie eigentlich keinen Zugang hatten, zusammen waren, sauber gekleidet, mit gestärkten Manschetten und seidenen Krawatten, Valle mit seinem k’ompo, den er nun jeden Tag trug, machten sie den Eindruck überheblicher Außenseiter, die in der Schule nur zu Besuch waren. Sie gingen alle in die oberen Klassen. Die Diskussionen und endlosen Reden, die sie auf der Galerie wie auf einer Bühne führten, erschienen mir unwirklich und übertrieben. Valle diskutierte am meisten; die Haltung der anderen wirkte trotz der stillen Verachtung, mit der sie uns alle betrachteten, etwas natürlicher. Wenn es läutete, geschah es oft, daß Gerardo atemlos in den Hof gelaufen kam, schwitzend, die Haare zerzaust und die Kleider verschmutzt. Spöttisch blickte er dann die gelehrten und herausgeputzten Jungen auf der Galerie an und lachte laut und ungezwungen.
»Meine Herren, meine Herren«, rief er und krümmte sich vor Vergnügen.
Aber weder seine Worte noch sein Lachen waren bös gemeint. Er war ein fröhlicher starker Junge, der über die lachte, die sich selber ausschlossen. Manchmal rannte er, so schnell er konnte, um Peluca herum.
»Laß sehen, ob ich dir deine Weinerlichkeit austreiben kann«, sagte er zu ihm, ohne ihn verletzen zu wollen. Peluca drehte dann den Kopf hin und her und schaute dem anderen zu. Der große Fleck im linken Auge Gerardos wurde lebendig, wenn er plötzlich vor Peluca stehenblieb und eine bezwingende und grausame Freude ausstrahlte. Die Jungen der Galerie behandelten Gerardo mit einer gewissen Herablassung, hinter der sich Unruhe und vielleicht sogar Neid verbargen, obwohl sie – ausgenommen Valle und Pablo – kluge und zurückhaltende junge Leute waren, die sich aus Gewohnheit und weil sie dazu erzogen waren, für Bücher interessierten. Aber eine spürbare Erregung lief jedesmal über ihre Gesichter, wenn sie von Gerardos Erfolgen bei Mädchen und im Sport hörten und wenn er so laut und fröhlich lachte. Auch Romero unterwarf sich ihm.
»Gar keine Frage«, sagte er, »an der Küste wissen sie mehr als wir; sie sind uns in allem voraus.«
Lange Zeit spielte er abends nicht mehr rondín. Ich sah, daß er bedrückt war, und ging ihm nach. Palacitos war begeistert von seinen neuen Entdeckungen.
»Ich kann nicht spielen, die Atmosphäre fehlt«, sagte Romero eines Abends.
»Ohne dich hätten wir keine Fußball- und keine anderen Mannschaften, und dabei kennst du nur Andahuaylas und Abancay und den Weg dorthin«, sagte ich.
»Glaubst du nicht, daß uns die Leute von der Küste überlegen sind?«
»Doch, das glaube ich auch. Aber du! Wer schlägt dich im Weitsprung? Wer ist beim Fußball ein besserer Verteidiger als du? Gerardo? Ich habe selbst gesehen, wie du auf dem Platz mit ihm spielst und der Ball bleibt immer schön bei dir.«
Romero war naiv, groß, stark und gläubig.
An diesem Abend spielte er huaynos.
»Du schämst dich fast schon wegen des huayno, nicht?«
»Glaubst du?« fragte er zurück.
»Ich bin an der Küste gewesen, Bruder«, sagte ich. »Im Hafen von Lomas. Die Kirche ist eine Höhle, die die Fischer den Seelöwen weggenommen haben, und der Turm besteht aus dem Skelett eines Walfischs. Ein schöner Hafen, Brüderchen. Aber traurig mit einem wilden Meer, das in der Nacht stöhnt wie eine Herde wilder Stiere.«
»Dieser Gerardo – wenn er mit einem redet, bringt er einen dazu, andere Dinge zu tun als die, die man möchte. Nicht, daß ich von den huaynos genug hätte. Aber er versteht kein Quechua; vielleicht verachtet er mich, wenn er mich mit den anderen Quechua sprechen hört. Er versteht es nicht, und er sieht einen an, als wäre man ein Lama. Ach, zum Teufel! Spielen wir einen huayno de chuto, so indianisch wie möglich«, rief er plötzlich mit Begeisterung. Er führte den rondín an seinen Mund, als wollte er das Instrument verschlucken; er entlockte ihm die tiefsten Klänge, als sänge sein selbstloses großes Herz. An den ersten Tönen erkannte ich die Melodie und die Worte:
Binde deine kleine Kuh an, Tante,
mein Stier hat sich losgerissen …
»Hör mal«, sagte Romero danach, »es ist wahr, daß die Frauen nach Gerardo verrückt sind. Vielleicht weil er hier neu ist und weil er ein Sportheld ist. Sie laufen ihm alle nach.«
»Reden wir nicht von dem, Romerito. Spiel weiter, morgen kommt Palacitos’ Vater …«
Es war schrecklich zu hören, daß sich die Mädchen um Gerardo stritten. Es war besonders schrecklich, seit ich wußte, was er und Antero einander im Vertrauen erzählten. Begriffen die Mädchen denn nichts? Merkten sie denn nicht, daß sich der Sohn des Kommandeurs nicht von Peluca unterschied? Daß er genauso war? Ekelerregend, wenn auch nicht so ungeduldig, nicht so unbändig gierig wie Peluca, aber genauso speicheltriefend wie ein Frosch; vorsichtig, schlau und so ansteckend, daß er Markask’as Muttermalen und Gesicht jene Bestialität angehängt hatte, die diesen nun befleckte.
»Warte auf mich, Romerito«, sagte ich.
›Es ist wohl sein Schicksal, das Schicksal seines Blutes‹, sagte ich mir und dachte an Antero, während ich langsam auf den Spielplatz ging. An einem Ende des dunklen Hofes grub ich mit den Händen ein Loch. Ich vertiefte es mit einem Stück Glas und dort begrub ich den zumbayllu. Ich legte ihn in das Loch, streichelte ihn noch einmal mit den Fingern und deckte ihn dann zu. Ich fühlte mich erleichtert.
»Was mag nur geschehen sein?« fragte mich Peluca, der im Gang herumstrich. »Seit acht Tagen ist sie nicht mehr gekommen.«
»Die Schwachsinnige?«
»Ja. Die Köchin sagt, daß sie seit sechs Tagen fiebert. Und die Väter kümmern sich um nichts und wollen nichts wissen.«
»Hohes Fieber?«
»Sie zittert, sagt die Köchin. Warum besuchst du sie nicht? Dich läßt die Köchin herein.«
»Morgen früh, Peluca, morgen früh.«
Zusammen gingen wir auf den gepflasterten Hof zurück. Romero spielte noch immer die Melodie, die mich begleitet hatte, als ich den zumbayllu begrub, den Tänzer, der mir das Tal nahe gebracht und die Erde, Körnchen um Körnchen, gezeigt hatte, von den schneebedeckten Gipfeln bis hinunter zum sandigen Grund des Pachachaca und des Apurímac, des Herrn aller Flüsse. Nun müßte ich in einem Laden einen neuen winku kaufen. Ich hatte mir den alten genau angesehen. Mit Hilfe der Köchin und im Beisein der Schwachsinnigen würde ich mit einem glühenden Nagel die Augen des neuen Kreisels öffnen. Dann wollte ich an seinem Körper einen orangenfarbenen Stachel anbringen und nachher zum Fluß hinuntergehen. Auf der Brücke würde ich ihn tanzen lassen. Seine Stimme würde in der tiefen Schlucht widerhallen und das Rauschen des Flusses übertönen. Und nach dem ersten Gesang würde ich ans Ufer gehen und den Kreisel in den Wassern des Pachachaca taufen, inmitten der Strömung. Das Wasser sollte ihn stählen wie Feuer das Eisen.
»Hör mal, du«, sagte Peluca geheimnisvoll, als wir zur Galerie hinaufgingen. »Hör mal, nimm dich vor Gerardo in acht. Hast du seine Augen nicht gesehen? Sind das vielleicht die Augen eines Christenmenschen? Du hast ihn schrecklich beleidigt. Jeden Augenblick können dich die Guardias holen, dir den Kopf abschneiden und dann fressen dich die Aasgeier und die Hunde. Diese Guardias wissen alles, denn sie haben studiert, sie sind nicht wie die Gendarmen, die sich mit den chicheras balgen. Paß auf, Fremder! Wer würde nach dir fragen? Hast du nicht gesagt, daß dein Vater hundert Meilen weit weg ist? Und wenn sie deinen Körper in der Nacht in den Pachachaca werfen? ›Schwein. Sohn eines Militärs!‹ hast du zu ihm gesagt. Das vergißt man nicht. Und sie, begreifst du nicht, daß sie hier in Abancay die Herren sind?«
Was er sagte, war unzusammenhängend, aber mehr oder weniger verständlich. Seine Kehle weitete sich beim Sprechen, und die Worte klangen düster und feierlich. Ich hörte ihm aufmerksam zu.
»Meinen Körper sollen sie in den Pachachaca werfen?« fragte ich.
»Deinen toten Körper.«
»Stirbt der Körper?«
»Was sagst du?«
»Ist das Wasser tot, Peluca? Was glaubst du?«
»Das ist etwas anderes.«
»Wenn das Wasser lebt, möchte ich, daß sie meinen Körper in den Pachachaca werfen. Vielleicht würde mich dann der Fluß in irgendeinem Wald oder unter dem Wasser an einer stillen Stelle großziehen. Glaubst du das nicht?« fragte ich.
»Wenn du eine Frau wärst, dann vielleicht. Du phantasierst.«
»Ich bin noch nicht wie du. Vielleicht würde er mich weit wegtragen, in die Berge, dann würde ich mich in eine schwarze Ente oder in einen Fisch verwandeln, der Sand frißt.«
»Wirklich, ich glaube, du bist verrückt. Hör zu, Ernesto, nachdem du den Sohn des Kommandeurs beleidigt hast und er dich seit zwei Wochen nicht einmal mehr ansieht, und da dein Freund Markask’a, weil es Gerardo so paßt, auch nicht mehr mit dir spricht, würde ich an deiner Stelle davonlaufen; ich würde zu meinem Vater gehen. Irgendwohin zu gehen ist leicht, aber hierzubleiben? … Irgend etwas haben sie mit dir vor … Glaubst du, der Pater Rektor würde sich für dich einsetzen?« fuhr er fort. »Trau ihnen nicht. Sie können warten. Es wird nicht morgen sein und nicht übermorgen … Aber vergiß es nicht! An irgendeinem Tag …«
»Und du würdest auch davonlaufen, weil du mir das gesagt hast?«
»Ich? Warum? Ich habe es dir nur gesagt, sonst nichts. Irgend etwas wird geschehen, ganz bestimmt. Wenn nicht Gerardo, dann werden es andere dem Kommandeur erzählen.«
»Du würdest hingehen und es ihm sagen, nicht wahr? Wie vorhin dem Pater«, schrie ich ihn an.
»Ich, Brüderchen, ich? Ich bin ein Hund, ich weiß, daß ich ein Hund bin. Aber zum Kommandeur gehe ich nicht. Gib acht! Glaube nichts! Ich werde auf dich aufpassen.«
»Warum?«
»Gott hat erlaubt, daß ich dich warne. Er hat mich bestraft. Nun sind wir zusammen wie die Verurteilten, die man aneinanderkettet. Mein Gott! Verlaß die Stadt nicht, geh nicht auf die Felder, geh nicht an den Pachachaca!«
Ich ließ ihn mit seiner Stöhnerei allein.
Romero hatte aufgehört zu spielen und plauderte mit Chipro.
»Was hat Peluca gesagt?« fragte er.
»Daß die Schwachsinnige Fieber hat.«
»Wirklich?«
»Hohes Fieber.«
»Hört mal«, sagte Chipro mit unsicherer Stimme, »ich weiß, daß viele Menschen am anderen Ufer, in der Hacienda Ninabamba im Sterben liegen. Irgend etwas ist los. Man hat Pater Augusto geholt, damit er dort eine Messe lese. Aber das hat nur dazu geführt, daß das Fieber in andere Weiler gedrungen ist. Ich bin aus einem Dorf, das oberhalb von Ninabamba liegt; gestern hatte ich Besuch von dort. Ich gehe mit meiner Familie auf die andere Seite der Kordillere. Sie glauben, es sei die Pest. Man sollte nicht in den Tälern bleiben, denn in der Hitze wütet das Fieber erbarmungslos.«
»Und warum weiß in Abancay niemand etwas davon?«
»Warum? Vielleicht, weil das Regiment hier war. Die Abwechslung! Aber jetzt wissen sie es sicher und treffen Vorbereitungen.«
Iño und der Junge aus Pampachiri kamen herbeigelaufen.
»Iño hat gehört, daß die Guardias auf der Brücke kontrollieren.«
»Kontrollieren? Und wie wollen sie das Fieber kontrollieren?« fragte Chipro.
»Dummes Zeug«, sagte Romero, »seitdem das Regiment hier war, erfinden die Leute in Huanupata solche Geschichten. Daß die Pest kommt, daß die chunchos kommen und wer weiß was …«
»Ninabamba ist die ärmste Hacienda und liegt am weitesten von Abancay entfernt, schon fast in den Bergen. Wir werden ja sehen«, erwiderte Chipro. »Wenn es wirklich das Fieber ist, wird es wie eine Feuersbrunst, in die der Wind bläst, von Plantage zu Plantage springen. Mich wird es nicht erwischen. Ich gehe über die Kordillere.«
Die Glocke läutete zum Schlafengehen. Langsam gingen wir die Stufen hinauf, leise, ohne uns zu drängen.
Der Pater Rektor betete mit uns im Schlafsaal. Als er schon hinausgehen wollte und auf die Tür zuschritt, sagte der Junge aus Pampachiri:
»Vater, man hat mir erzählt, daß am anderen Ufer das Fieber ausgebrochen ist. Wissen Sie etwas davon?«
»Was?« fragte der Pater.
»Das Fieber, Vater, Typhus. In Ninabamba ist es ausgebrochen, und die Leute erzählen, daß es sich auf die anderen Haciendas ausgedehnt hat. Die colonos essen schon die Läuse von den Toten. So ist es …«
»Ich weiß von nichts, von gar nichts. Sicher sind es wieder die chicheras, die Geschichten erfinden, um den Leuten Angst zu machen. Seid nun still. Laßt uns noch einmal beten!«
Wir beteten wieder. Und die Stimme des Paters veränderte sich. Er bat und flehte in heftigem Ton. Dann, als wäre er sich dessen plötzlich bewußt geworden, fiel er wieder in das alltägliche Gemurmel zurück. Aber am Ende schlug er das Kreuz und sagte feierlich: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.«
»Schlaft ruhig, meine Söhne!«
Langsam schritt er zur Tür und löschte das Licht.
Ich erwartete, daß alle wieder aufstehen oder sich wenigstens in ihren Betten aufsetzen, daß sie um das Bett des Jungen aus Pampachiri oder um Chipros Bett herumstehen würden, um weiter über die Pest zu sprechen. Ich wußte, wie leicht sie in Unruhe gerieten, Geschichten erzählten, erfanden, Gerüchte ausspannen, ausschmückten und sich im Übertreiben überboten. Aber diesmal steckten sie den Kopf unter die Decke und waren still. Jeder sonderte sich vom anderen ab. Auch ich blieb allein. Alle hatten wir die Pest mindestens einmal in unseren Dörfern erlebt. Es mußten die Erinnerungen sein, die nun zwischen den Betten Abgründe auftaten.
»Das Fieber ist gekommen.« Die Nachricht erfüllte meinen Körper, meine Gedanken. Ich hatte in zwei Dörfern gesehen, wie Hunderte von Menschen an der Pest starben – in Querobamba und in Sañayca. In jenen Tagen schüttelte mich das Entsetzen, wenn sich eine Fliege auf mich setzte oder wenn eine Spinne von der Decke oder von einem Zweig herunterfiel. Ich betrachtete dann gebannt die Spinne, bis meine Augen brannten. Im Dorf hielt man sie für den Tod. Die Leute verfolgten auch die Hühner, die im Hof oder im Stall gackerten, und warfen ihnen Holzstücke oder Steine nach, um sie zu töten. Sie glaubten, die Hühner trügen den Tod in sich, wenn sie gackerten, und freuten sich darüber. Das heisere abgehackte Gegacker zerriß die Stille, die in allen Häusern gewahrt wurde, damit der Tod die Menschen nicht finden sollte. Sie flehten den Wind an, er solle nicht blasen, denn auch im Staub kam der Tod. Die geschlachteten Schafe wurden nicht mehr in die Sonne gehängt, weil die chiririnka, eine dunkelblaue Fliege, die auch in der Dunkelheit summt und so den Tod ankündet, ihre Eier in das Fleisch legt; sie weiß schon Stunden vorher, wer sterben wird, und dreht ihre Runden in der Nähe. Alles, was sich heftig oder plötzlich bewegte, war gefährlich, und so schien das Leben in den Tagen und Wochen, in denen die Pest wütete, ausgelöscht zu sein. Nur die Glocken läuteten Tag und Nacht, und die Leute, die den Toten das Geleit gaben, sangen mit hohen falschen Stimmen Hymnen, die uns erschauern ließen. Selbst die Sonne schien sich verfinstert zu haben, denn manche comuneros, die die Hoffnung nicht aufgegeben hatten, steckten wie jedes Jahr das trockene Gras und die Büsche auf den Hängen in Brand. Am Tag schläferte der Rauch uns ein, und in der Nacht sank das Licht des Feuers tief in unsere Herzen. Wir sahen mit Erstaunen und Verwunderung, daß die Pest den großen Eukalyptusbäumen nichts anhaben konnte und daß die Würmer, die sich im Schlamm wanden, sie überlebten.
Ich rollte mich im Bett zusammen. Wenn die Pest wirklich käme, würde ich in die schmutzigen, stinkenden Hütten auf den Haciendas gehen und alle umbringen. »Sie darf die Brücke nicht überschreiten«, schrie ich laut.
Ein paar Schüler setzten sich auf.
»Er hat recht, sie darf die Brücke nicht überschreiten«, sagte der Junge aus Pampachiri.
»Ja. Sollen die am anderen Ufer zugrunde gehen – wie die Hunde«, stimmte Chipro zu.
»Du hast gesagt, daß sie bereits die Läuse von den Toten essen. Was soll das heißen, Bruder? Was bedeutet das?«
Als ich dem Jungen aus Pampachiri diese Frage stellte, erstarrte mein Blut zu Eis; ich fror in dem warmen Schlafsaal.
»Ja. Die Familien kommen zusammen und säubern den Kopf und die Kleider der Leichen von Läusen und zerquetschen sie zwischen den Zähnen, Bruder. Aber gegessen werden sie nicht.«
»Du sagtest aber, daß man sie ißt.«
»Sie beißen hinein, sie zermalmen ihnen den Kopf. Ich weiß nicht, ob man sie ißt. Sie nennen das usa waykuy. Und es hilft gegen die Pest. Sie ekeln sich vor den Läusen, aber sie tun es, weil es gut gegen den Tod ist.«
»Wissen sie denn nicht, daß die Laus das Fieber verbreitet?«
»Nein. Die Läuse verbreiten das Fieber? Die Toten – keiner weiß warum – wimmeln von Läusen, und die Leute glauben, daß Gott den Läusen Flügel wachsen läßt, wenn die Pest kommt. Flügel, Bruder! Die Flügel sollen ganz klein sein, nur so groß, daß die Läuse von einem Menschen zum anderen fliegen können, vom Kind zum Vater oder vom Vater zum Kind.«
»Der Teufel wird den Läusen Flügel wachsen lassen«, warf ich ein.
»Nein! Es ist Gott! Nur Gott kann den Tod schicken. Der Teufel hat einen Schwanz, aber der Tod ist größer als er. Mit dem Schwanz führt der Teufel uns, die wir heißes Blut haben, in Versuchung.«
»Hast du die Flügel an der kranken Laus je gesehen?«
»Nein. Niemand hat sie gesehen, Bruder. Sie sollen durchsichtiger sein als Glas. Und wenn die Laus fliegt, bewegt sie die Flügel, aber man sieht es nicht. Laß uns beten, Bruder!«
»Aber still beten«, schrie Valle, »still«, wiederholte er fast bittend.
»Im Chor, wie in der Kirche«, sagte Peluca und kniete nieder. »Seid endlich still! Ihr benehmt euch wie alte Gluckhennen«, sagte Romero mit fester Stimme. »Nur wegen der Schwachsinnigen all dieses Zittern und Fürchten. Es gibt keine Pest, nirgendwo. Die chicheras verteidigen sich und rächen sich mit dem Maul. Hoffentlich bekommen sie noch einmal Prügel.«
Keiner sagte mehr ein Wort. Romero hatte wohl viele beruhigt. Peluca legte sich wieder in sein Bett, und alle schliefen ein. Manche stöhnten im Traum. Die ganze Nacht lauschte ich dem Atmen der Jungen. Gruppen von Menschen gingen durch die Straße. Dreimal hörte ich das Wort Pest. Ich verstand zwar nicht, was die Leute sagten, aber das Wort drang klar und deutlich an mein Ohr. Ein paar Schüler erwachten um Mitternacht, setzten sich auf und legten sich wieder hin. Es schien ihnen warm zu sein, aber in meinem Bett war es kalt.
Ich wartete reglos auf die Dämmerung. Einmal schrak ich zusammen, weil ich glaubte, den Tagesanbruch verpaßt zu haben. Den Hähnen war nicht zu trauen, denn sie krähten oft die ganze Nacht. Wenn einer aus Versehen oder weil er krank war, zu krähen begann, fingen die anderen auch an. Deshalb wartete ich auf die Vögel, die juskucha pesk’os, die auf den Dächern wohnen. Eine dieser Nachtigallen wohnte sogar im Schlafsaal, weil die Balken nicht verkleidet waren. Im Morgengrauen wachte sie auf, flog von Balken zu Balken, flatterte mit den Flügeln, die fast so klein waren wie die Flügel eines Kolibris, und flog schließlich zum Fenster hinaus, das immer offenstand, um frische Luft hereinzulassen.
Endlich wachte sie auf, flog auf einen der Balken, hüpfte dort lange herum und drehte sich um sich selbst. Sie hatte die Farbe eines Eichhörnchens und war ebenso flink. Nie habe ich sie ruhig gesehen und die Felder oder den Himmel betrachtend. Sie hüpfte herum, schlug mit den Flügeln und spielte. Nun ruhte sie sich eine kleine Weile auf dem Fensterbrett aus, auf das das Licht fiel, und mein Herz, das kaum noch geschlagen hatte, freute sich wieder, als hätte ihm der kleine Vogel, dessen Augen ich nun sehen konnte, etwas von seiner unerschöpflichen Lebendigkeit geschenkt. Kein Fluß, kein Diamant und auch nicht der schönste Stern glänzen jemals so sehr wie die Augen dieser Nachtigall der Anden. Dann flog sie davon, glitt durch das offene Fenster. Die Helligkeit des Morgens drang herein, legte sich über die Dinge im Zimmer und hüllte mich ein. Ich sprang aus dem Bett und zog mich leise an. Dann öffnete ich die Tür des Schlafsaals und hob sie ein wenig an, damit sie nicht knarren konnte, so wie es damals Chauca gemacht hatte, als er hinausgegangen war, um sich vor der Kapelle zu geißeln.
Mir schien, daß der Himmel von innen her erleuchtet sei und der Erde seine Freude verkünden wolle. Ich fand, daß ich wie an jenem Morgen, an dem ich mich zum erstenmal als Geschöpf des Pachachaca gefühlt hatte, den zumbayllu tanzen lassen sollte. ›Ich hole ihn‹, sagte ich zu mir, ›vielleicht hat er andere Töne gelernt, weil er eine Nacht unter der Erde geschlafen hat.‹
Ich lief auf den inneren Hof. Die Tür im kleinen Gang, der zur Küche und zur Kammer der Schwachsinnigen führte, stand offen. Alle meine Ängste erwachten wieder.
»Sie«, sagte ich.
Ich ging durch den engen Gang auf den kleinen Hof, wo das Brennholz gestapelt wurde. Dort floß das stinkende Wasser aus den Latrinen durch eine mit Steinen eingefaßte Rinne ab. Die Tür zu der armseligen Kammer der Schwachsinnigen war nur angelehnt. Ich stieß sie auf und blickte in die erstaunten Augen der Köchin. Offenbar war auch sie gerade gekommen, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Die Schwachsinnige lag auf ein paar Fellen. Ich ging zu ihr. An dem Haken an einem der Balken, die das Dach aus Wellblech trugen, hing über ein paar Lumpen Doña Felipas Schal.
Ich betrachtete das Gesicht der Kranken, ihr Haar, das dreckige Hemd, das die Brust bis zum Hals hinauf bedeckte.
»Mamita«, sagte ich zur Köchin, »Mamita, sag ihr Lebewohl; und mir, sag mir auch Lebewohl.«
Schon entschlossen kniete ich auf dem Boden nieder.
Haar und Hemd der Frau wimmelten von Läusen, die langsam herumkrochen, sich an die einzelnen Haare klammerten, die der Frau ins Gesicht und auf die Stirn fielen. Reihenweise liefen sie am Rand des Hemdes und an den Nähten entlang, eine nach der anderen, eine unendliche Kette.
»Imam? Imam?« fragte die Köchin.
»Sei ruhig, geh vor die Tür und bete dort. Sie stirbt«, sagte ich.
Die Köchin wußte es. Sie kniete nieder und begann das Vaterunser auf Quechua zu beten.
Wie im Licht der hellen Mittagssonne, die auf mein Heimatdorf fiel, sah ich deutlich den kleinen kristallklaren Wasserfall vor mir, in dem die Angehörigen die Kleider der Toten, der Opfer des Fiebers, zu waschen pflegten; ich sah auch den Eukalyptusbaum, in dessen Schatten sie auf dem Platz weinten, wenn sie die Särge einen Augenblick absetzten.
»Diese Kreatur, die soviel gelitten hat, nimm sie zu Dir, Herr«, sagte die Köchin, die das Vaterunser beendet hatte und nun ihr eigenes Gebet an Gott auf Quechua richtete. »Sie hat gelitten, sie hat Schmerzen erduldet. Gehend und stehend, arbeitend und ruhend hat sie gelitten. Gib ihr nun Licht für ihren Geist, mach einen Engel aus ihr und sie wird zu Deinem Ruhm singen, o Herr …«
»Ich will den Pater benachrichtigen«, sagte ich. »Geh nicht hinein, bis ich zurückkomme.«
Auf dem äußeren Hof blieb ich stehen. Ich hatte das Gefühl, daß Tausende von Läusen auf mir herumkrabbelten und mich wärmten. ›Könnte ich ihn wohl anstecken? Aber wie?‹ fragte ich mich zögernd. Doch die anderen mußten gerettet werden. ›Ich will ihn rufen und dann gehen‹, sagte ich mir.
Ich ging langsam die Stufen hinauf und achtete darauf, daß das Holz nicht knarrte. Ich klopfte ans Fenster im Schlafzimmer des Paters. Er hörte mich.
»Vater«, sagte ich. »Die Schwachsinnige, Marcelina, ist tot. Typhus, Vater. Lassen Sie sie aus der Schule bringen.«
Dann lief ich zurück. Vor der Tür der Kammer lag die Köchin noch immer auf den Knien. Ich trat ein und sah mit plötzlicher Freude den Schal Doña Felipas. Ich machte ihn von dem Haken los und gab ihn der Köchin.
»Bewahr ihn auf, Señora, behalte ihn für mich als Andenken«, bat ich sie.
Sie stand auf und trug den Schal in die Küche.
Als sie zurückkam, hatte ich mich neben der Schwachsinnigen auf den Boden gesetzt.
»Wenn ich sterbe, wäschst du meine Kleider«, sagte ich zu der Köchin. Sie blickte mich entsetzt an und antwortete nicht.
Ich nahm die Hände der Toten und faltete sie auf ihrer Brust; die Hände waren schwer. Das fiel mir auf, und ich sagte es der Köchin.
»Weil sie soviel gearbeitet und soviel gelitten hat«, antwortete sie.
Eine chiririnka summte um meinen Kopf, aber ich hatte keine Angst. Sie riechen die Toten aus weiter Entfernung und begleiten sie mit ihrer traurigen Musik. Als sie an die Decke flog, sagte ich zu ihr: »Setz dich auf meinen Kopf. Und dann spuckst du ins Ohr oder in die Nase der Toten.« Marcelina war nun ganz weiß und ihr Gesicht spitz.
Ich bat sie im Namen aller Schüler um Verzeihung und fühlte beim Sprechen, wie die Hitze, die ich durch die Läuse gespürt hatte, abnahm. Das Gesicht der Frau wurde schöner und verlor den tierischen Ausdruck. Von selbst hatte sie die Augen geschlossen. Der Pater kam.
»Geh hinaus«, schrie er mich an, »weg von hier, du Unglückskerl!«
»Jetzt nicht mehr, Vater«, bat ich ihn. »Es ist zu spät.«
Aber er nahm mich am Kragen und schleppte mich hinaus. Hinter ihm standen zwei Männer mit Leintüchern. Sie wickelten die Tote schnell ein und trugen sie davon. Ich blickte ihnen nach.
Der eine der Männer hatte sie am Kopf gefaßt, der andere an den Beinen. Es war noch früh am Morgen. Hastig überquerten sie den gepflasterten Hof und traten in den Schatten des Tors. Der Pförtner öffnete, und sie gingen hinaus. Ich weinte, als mich der Pater Rektor mit Stößen und Püffen in den Rücken bis zu dem kleinen Wasserbehälter neben den Latrinen beförderte. Ich mußte mich ausziehen, und der Pförtner rieb mich mit einem Tuch ab, wickelte mich dann in ein Leinentuch und trug mich in die leere Zelle Bruder Miguels.
Auf der oberen Galerie sah ich über den steilen Felswänden jenseits des Tals die Sonne aufgehen.
Zu zweit legten sie mich in Bruder Miguels Bett. Der Vater wusch mir die Haare mit einem Desinfektionsmittel und band danach ein weißes Tuch um meinen Kopf.
»Sie ist vor etwa zwei Wochen mit Pater Augusto nach Ninabamba gegangen«, sagte ich. »Ich habe beide auf der Brücke gesehen. Wie ein Bär kletterte Doña Marcelina am Steinkreuz in die Höhe. Sicher war der Tod schon in ihr, so wie er jetzt in mir ist.«
»Dieses unglückselige Vieh! Mit den Indios, mit den Kranken wird sie sich herumgetrieben haben«, schrie der Vater in einem Anfall von Zorn, den er nicht mehr beherrschen konnte.
»Dann ist die Pest schon hier, Vater. Dann ist sie hier. Ich werde sterben. Sorgen Sie dafür, daß man meine Kleider wäscht, sie nicht verbrennt und daß in der Kirche jemand für mich singt. Die Köchin weiß Bescheid«, sagte ich.
»Du Unglücksjunge«, schrie er mich an. »Wann bist du bei ihr gewesen?«
»Im Morgengrauen.«
»Bist du zu ihr ins Bett gegangen? Gesteh’ es!«
»Zu ihr ins Bett, Vater?«
Er blickte mich durchdringend an, und in seinen Augen brannte ein schreckliches Feuer.
»Vater«, schrie ich. »Sie haben die Hölle in Ihren Augen.« Er zog die Decke über mein Gesicht.
»Hast du dich zu ihr gelegt? Sag, bist du zu ihr ins Bett gegangen?« Er keuchte, und ich hörte, wie sein Herz klopfte.
Es gibt die Hölle. Hier war sie, sie klapperte mit den Zähnen und keuchte wie ein Blasebalg.
»Sag, hör, du verrückter Junge, bist du zu ihr ins Bett gegangen?«
»Vater«, schrie ich und setzte mich auf. »Vater, wie können Sie mich so etwas fragen? Beschmutzen Sie mich nicht! Die Flüsse werden Sie mit sich reißen, denn sie sind auf meiner Seite. Der Pachachaca könnte kommen.«
»Was?« fragte er. Er kam so nahe an mich heran, daß ich den Duft seines Haares roch. »Du bist also nicht zu ihr gegangen? Du bist nicht zu ihr ins Bett gegangen? Antworte!«
Ich merkte, wie er unsicher wurde, wie ihn die Aufregung übermannte, und ich glaubte, ihm würde schwindlig. Er war ein Mann von heftigem Temperament.
Er nahm meine Hände. Und wieder sah er mich so lange an, bis ich seinen Blick erwiderte. In seinen Augen hatte sich die Spannung entladen, die ihm das Aussehen eines heißblütigen Tiers gegeben hatte. Ich sagte:
»Ich habe bei ihr gebetet. Ich habe ihre Hände genommen und sie über ihrer Brust gefaltet. Im Namen aller habe ich von ihr Abschied genommen. Sie ist ruhig gestorben. Zum Glück ist sie tot. Und nun, auch wenn mich das Fieber erwischen sollte, lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich zu meinem Vater gehen.«
»Immer der gleiche. Verirrte Kreatur. Du hast keine Läuse, nicht eine einzige. Wir haben dich rechtzeitig gerettet. Vielleicht hätte ich dich diese Dinge nicht fragen sollen. Ich komme später zurück.«
Er lief ganz plötzlich aus dem Zimmer. Ich hörte, daß er die Tür verschloß.
Ich zwang mich, an den Apurímac und an die Wälder wilden Zuckerrohrs an seinen Ufern zu denken, an das Schilf, das im Wind hin- und herschwankt, und an die Möwen, die jubelnd im Licht über dem Wasser kreisen; an Bruder Miguel, an seine dunkle Haut und an sein Haar, das, wenn es sich kräuselte, die Form des Kopfes sichtbar werden ließ. Der Bruder hätte mir nicht solche Fragen gestellt; er hätte mir eine Tasse Schokolade und Brötchen bringen lassen und mich mit seinen weißen demütigen Augen angesehen – demütig wie die Augen aller Wesen, die die Welt wirklich lieben.
Ich zog die Decke über den Kopf und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Aber es waren fast glückliche Tränen, als wäre ich einer Gefahr, vielleicht der Berührung mit dem Teufel, entgangen. Dann, wieder ruhiger geworden, setzte ich mich auf, um mich in dem kleinen Raum umzusehen und die Heiligenbilder zu betrachten, die an den Wänden hingen. Ich kannte ein Marienbild, und ich sagte zum Bruder: »Dir, Bruder Miguel, sage ich, daß die Señora, bei der ich in Huamanga wohnte, mir einmal ein Bild der heiligen Jungfrau schenkte, genau wie dieses hier in deiner Kammer. Es hatte einen Glasrahmen, und ich trug es in der Zeit, die ich in Huamanga verbrachte, in meiner Rocktasche. In der Nacht hängte ich es am Kopfende des Bettes an die Wand. Dann ging mein Vater nach Cangallo. Eine Woche später ließ er mich mit den Maultiertreibern nachkommen und schickte mir einen hübschen Esel mit blaugrauem Fell für die Reise. Die Treiber aber hatten zuviel Fracht angenommen. So baten sie mich, ihnen den Esel als Lasttier zu überlassen und boten mir an, mich hinten auf ein Maultier zu setzen, das große Ohren und ein gelangweiltes Gesicht hatte, denn es war sehr zahm. Aber das Tier tat mir leid, und ich ging zu Fuß. Ich kann sehr gut zu Fuß gehen, Bruder. Wir verließen Ayacucho um drei Uhr morgens, um bei Sonnenaufgang auf dem Gipfel zu sein und die Pampa der morochucos bei Tageslicht zu überqueren. Du weißt, Bruder, daß diese bärtigen Reiter Banditen sind. In der Eile und Verwirrung der Abreise vergaß ich, das Bild der heiligen Jungfrau von der Wand zu nehmen. Es fiel mir erst ein, als wir den Gipfel schon fast erreicht hatten und die Sonne aufging. ›Ich hole euch wieder ein‹, sagte ich zu den Maultiertreibern und ging den zwei Meilen weiten Weg in die Stadt zurück. Ich lief durch den Hof in meine Kammer, und das Bild hing noch dort. Ich nahm es von der Wand, es war ganz klein in seinem Glasrahmen. Die Señora küßte mich, als sie mich mit dem Bild fortgehen sah, und schenkte mir eine Apfelsine für den Weg. Am Mittag hatte ich die Treiber mitten auf der Pampa eingeholt. Sie gingen schnell und trieben die Tiere vor sich her. Sie halfen mir, mich hinten auf eines der Maultiere zu setzen, und freuten sich, als ich ihnen das Bild zeigte, denn es konnte uns gegen die Banditen beschützen. Drei Jahre später zerbrach ein Verfluchter aus meinem Dorf den Rahmen und warf mir das Bild ins Gesicht. Du mußt wissen, wer es war, Bruder. Eine Viper soll in sein Bett kriechen und ihm ihr Gift in die Augen spritzen. Er soll blind zur Hölle marschieren, er soll hinfallen und sich wieder erheben und sie nie finden. Vielleicht wäre es schlimmer für ihn, als im Feuer zu rösten. Ich kenne ihn!«
Dann hörte ich Schritte auf dem Gang, es waren die Schritte vieler Leute. Die ganze Schule mußte in Aufruhr geraten sein; der Lärm hatte begonnen, als ich mit dem Bruder sprach.
Ich nahm das Tuch von meinem Kopf. Es war weiß, und ich fand nicht eine einzige Laus darin. Es roch nach dem Desinfektionsmittel.
»Bruder«, fuhr ich fort, »vielleicht bekomme ich doch kein Fieber. Vielleicht werde ich gerettet. Marcelina wird für mich beten. Sie wird die Flügel der Läuse verbrennen und uns retten. Aber ich kann nicht mehr zum Pachachaca hinunter. Ich muß einen Umweg machen und über Cuzco gehen.«
Ich stieg aus dem Bett. Ich war nackt und wickelte mich in eine Decke. So ging ich herum, um meine Kräfte auszuprobieren. »Ich habe kein Fieber. Ich will weg! Der Vater hat mich gerettet. Er hat zwar Schmutz in seiner Seele wie die anderen, aber er hat mich verteidigt. Gott behüte ihn!«
Ich ging wieder ins Bett. Es war warm, und ich fühlte mich darin geborgen. ›Der Geist des Bruders‹, dachte ich. ›Wenn sie nur die Brücke sperren würden; es ist das einzige, was sie tun können.‹
Ich rüttelte an der Tür. Ich könnte Botendienste tun oder mit den Guardias zum Fluß hinuntergehen. Allerdings bezweifelte ich, ob diese eleganten Soldaten mit ihren Stiefeln und Hüten die Sonne der Schlucht und die lange Wache aushalten würden. Aber meine Zelle war verschlossen.
›Wie eine Lawine werden die colonos herüberfluten‹, überlegte ich. ›Oder werden sie in ihren Hütten mit den armseligen Strohdächern einfach sterben? Sie haben keine Angst vor dem Tod, sie warten mit traurigen Hymnen auf ihn. Niemand kümmert sich um den Tod eines Indios. In den freien Dörfern tragen die Angehörigen Trauer, doch die colonos haben selbst diese Sitte vergessen. Wie die Würmer kriechen sie auf fremder Erde umher, weinen wie Kinder, und wie demütige Christen empfangen sie die Befehle des Verwalters, des Stellvertreters Gottes, des Patrons und Herrn, der so unerreichbar ist wie Gott selber. Wenn einer dieser Herren befehlen würde: ›Gib meinem Hund deine Zunge zu essen‹, würde der colono den Mund öffnen und dem Hund seine Zunge anbieten. Sie würden sicher zitternd und bebend sterben, wie die schwachsinnige Marcelina, aber sie würden ins Himmelreich eingehen, um dort ewig zu singen. Nein, sie werden nicht über die Brücke kommen‹, sagte ich mir. ›Sie werden es nicht wagen. Und wenn es einer doch tun sollte und dann die bewaffneten Guardias mit ihren breitrandigen Hüten, den Gamaschen und Sporen sieht, wird er sie mehr fürchten als den Tod.‹
Ich hörte die Glocke nicht läuten und hörte nicht, ob die Externen kamen. Dann fiel mir ein, daß es Samstag war. Pater Cárpena brachte mir das Frühstück.
»Zeig her«, sagte er und untersuchte sorgfältig meinen Kopf.
»Nicht eine einzige Laus«, meinte er dann.
»Aber bis morgen bleibst du hier drin. Man hat dir unnötigerweise viel zuviel von diesem Mittel auf den Kopf geschmiert.«
Er sagte, ich solle mir die Haare waschen, und gab mir eine stinkende Seife.
»Vater, sind die Externen nicht gekommen?« fragte ich.
»Sie trainieren Fußball und turnen. Auch die Internen sind dabei. Sie wissen, daß du krank bist.«
»Krank?«
»Ja, daß du die Grippe hast. Sie sollen sich nicht beunruhigen. Die Leiche Marcelinas ist ins Spital gebracht worden. Es war ein Herzschlag.«
»Ein Herzschlag? Und die Läuse?«
»Die hat sie immer gehabt.«
»Darf das Personal hier hereinkommen? Alle?«
»Die Köchin ist bereits weg, zur Vorsicht. Die Kleider der Schwachsinnigen sind verbrannt und die Küche ist desinfiziert worden. Alles, auch der hinterste Winkel. Auch den Pförtner haben wir desinfiziert, obwohl er nicht in der Schule schläft.«
»Warum denn, wenn es nicht die Pest ist?«
»Die Pest? Jeder schmutzige Körper zieht Läuse an, und wenn er krank ist, noch mehr.«
»Nein, Vater. Es ist das Fieber. Lassen Sie die Brücke sperren! Ich habe gesehen, wie die Leute in den Dörfern an Typhus starben. Sie sahen genauso aus wie Marcelina. Und so wie alle sagen, genauso wimmelte Doña Marcelinas Leiche von Läusen.«
»Doña? Warum Doña? Du phantasierst wohl, obgleich du kein Fieber hast. Bleib ruhig, mein Sohn, um des Bruders willen, den du gern gehabt hast.«
Sie konnten nichts machen. Am Nachmittag strichen die Internen im Flur an der Tür meines Zimmers vorbei. Man schien sie aber zu überwachen, denn keiner versuchte, mit mir zu sprechen.
In der Nacht war es still auf dem Hof. Nur für wenige Augenblicke hörte ich Romeros rondín. Er spielte den huayno von Huanta, der dem Oberst Ramirez gewidmet war, der die Indios auf dem Friedhof ausheben ließ. Pater Cárpena brachte mir das Essen.
»Rede nicht!« befahl er.
So aß ich schweigend, und von neuem peinigten mich schlimme Ahnungen.
Tief in der Nacht klopfte jemand an meine Tür.
»Hast du Fieber?« fragte eine Stimme. Es war der Pförtner Abraham.
»Hast du Fieber?« wiederholte er.
»Nein«, erwiderte ich.
»Aber ich, Junge. Ich gehe in mein Dorf, um dort zu sterben.«
»Nein«, rief ich. »Du wirst den anderen das Fieber bringen. Wohin willst du?«
»Nach Quishuara. Auf die andere Seite des Pachachaca. Dort liegen sicher schon viele im Sterben. Der Pater hat alle meine Läuse verbrannt. So kann ich keinen mehr anstecken, denn er sagt, es seien die Läuse. Sie krochen über meinen Körper und auf meinem Kopf herum« – des Spanischen müde geworden, verfiel er ins Quechua. »Ich habe keine mehr.«
Ich wollte ihn fragen, ob er mit der Schwachsinnigen geschlafen habe, doch erschrak ich über meine eigenen Gedanken und schwieg.
»In Nanibamba hat es angefangen«, sagte ich.
»Von dort hat sie es mitgebracht. Ich ging manchmal zu ihr. Was für ein Unheil! So kommt der Tod, Kind. Die Heimgegangene mag vom Himmel aus andere verteidigen, aber mich wird sie rufen, weil ich in ihrem Bett geschlafen habe, als sie schon das Fieber hatte. Sie wird mich rufen. Und sie wird mich auch finden. Gott hilft ihr jetzt. Es gibt keine Rettung mehr. Ich könnte in einer Quelle untertauchen oder in den Urwald gehen, aber es wäre alles vergeblich. Ich bin gezeichnet. Es ist besser, wenn ich in meinem Dorf sterbe.«
Die Indios und Mestizen – und auch wir – sprechen gern vom Tod. Doch wenn man auf Quechua vom Tod sprechen hört, glaubt man ihn schon zu umarmen, man glaubt, eine weiche Puppe oder einen eisigen Schatten in den Armen zu halten, einen Schatten, der die Brust zusammendrückt und dabei das Herz berührt und es erschreckt – obwohl der Tod so leise daherkommt wie das zarte Blatt einer Lilie, wie der Schnee, der Schnee auf den Gipfeln, dort, wo es kein Leben mehr gibt.
»Abraham, hier kannst du gesund werden. Sicher wird die Schwachsinnige nicht um deinen Tod bitten. Im Himmel hat sie ihre Leiden vergessen«, sagte ich zu ihm.
»Es ist nicht sie, Kind«, antwortete er. »Es ist Gott. Ich habe mit einer Kranken geschlafen. Sie wollte nicht. Sie wollte wirklich nicht, Kind. Nicht ich bin in ihr Bett gegangen, bestimmt nicht, es war der Teufel. Je heißer ihr Körper wurde, desto mehr verlangte mich nach ihm. Der Friedhof, das ist mein Ziel. Geradenwegs dorthin. Nach Jahren werden sie meinen Schädel in ein Fenster auf dem Friedhof legen6. Wenn du je in mein Dorf kommst, wenn du groß bist, dann such ihn, Kind. Er wird einen grünen Fleck auf der Stirn haben. Diesen Teil mußt du mit einem Stein einschlagen und dann begräbst du mich, auch wenn es nicht tief ist, unter der Erde. Leb wohl, Kind. Ich wollte dir nur diesen Auftrag geben. Einmal wirst du nach Quishuara kommen, auch wenn es zwanzig Jahre dauert. Danke, papay, der Teufel in meinem Körper muß sterben. Leb wohl, papay!«
Ich hörte, daß er wegging. »Leb wohl«, rief ich.
Er ging die Stufen hinunter. In diesem Augenblick hätte ich seine Schritte gehört, selbst wenn ihn der Teufel in einen Tausendfüßler oder in eine Schlange verwandelt hätte. Gleich darauf öffnete er das Tor im Flur und schloß es wieder von außen. Noch in der Nacht würde er mit schnellen Schritten über die Brücke gehen. Am Fuß des Kreuzes würde er den Hut abnehmen und sich verneigen. Niemand könnte ihn aufhalten. In seinem Dorf würde er sterben.
Nach diesem Abschied konnte ich nicht mehr schlafen. Viele Menschen gingen in dieser Nacht durch die Straßen. In der Kammer des Bruders war es sehr dunkel, weil es nur ein einziges kleines, hohes Fenster, eine Luke gab. Ich hörte, daß die Leute schnell gingen, und ich hörte auch das Geräusch bloßer Füße auf dem Pflaster. Unbeweglich, aufmerksam horchend lag ich im Bett. Der Tod kam langsam näher, er kam in Decken gehüllt, er kam vom anderen Ufer des Flusses. ›Man müßte die Brücke versenken‹, dachte ich. ›Man müßte sie mit Dynamit sprengen, damit die Bogen einstürzen. Warum greift man das Fieber nicht von hinten an?‹ Denn das Gesicht des Fiebers blickte nach Abancay.
Am Morgen weckte mich das Öffnen der Tür.
»Ach«, rief Pater Cárpena erschreckt.
Ich war auf dem Rücken liegend eingeschlafen, in der gleichen Stellung, in der man die Toten zu betten pflegt. Ich stand auf.
»Und Abraham, Vater?« fragte ich.
»Abraham?« erwiderte er und blickte mich scharf an.
Pater Cárpena war ein sehr gesunder Mann. Seine Ohren waren rot, und seine Augen glänzten vergnügt unter den dichten Brauen.
»Warum fragst du nach ihm?«
»Er ist weg, Vater«, sagte ich. »Er hat Fieber. Er kam und hat sich von mir verabschiedet. Er wird sein Dorf noch erreichen. Das Fieber darf ihn nicht vorher überwältigen, nein, es darf das nicht.«
Der Pater setzte sich auf einen Stuhl und blickte mich an. »Aber du bist nicht krank«, sagte er.
»Nein, ich nicht. Er kam, um sich von mir zu verabschieden, weil ich bei Marcelina geblieben bin, als sie mit dem Tod rang, und weil ich ihr die Hände gefaltet habe. Sicher hat er das gewußt.«
»In der ganzen Stadt und auf den Haciendas laufen Gerüchte um. Die Leute haben immer gleich Angst. Weißt du, daß wir Peluca des Internats verwiesen haben, weil er im inneren Hof, neben den Latrinen, wie ein Hund heulte. Ich glaube, er hat den Verstand verloren. Simeon, der Junge aus Pampachiri, hat sich davongemacht. Die übrigen Internen gehen morgen. Aber du bleibst hier.«
»Peluca heulte, Vater?«
»Ja, mein Sohn, er heulte.«
»Seine Mutter hörte sicher die Hunde heulen, als sie ihn im Leib trug, oder er ist an einem unheimlichen Ort aufgewachsen, wo die Hunde gequält wurden.«
»Vielleicht, mein Sohn. Drei Verwandte haben ihn abgeholt und ihm die Hände gebunden. Er hat die ganze Stadt in Aufruhr gebracht. Sicherlich wird ihn der Schlag treffen.« Der Pater war unruhig. Er hatte damals Peluca mit einem Fußtritt im inneren Hof zu Boden geworfen.
»Vater«, sagte ich zu ihm. »Der Pater Rektor glaubte …, ich sei ein Teufel, ich hätte heißes Blut. Das ist die Strafe.«
»Aber du gehst nicht weg.«
»Ich werde gehen. Alle werden gehen.«
»Ab morgen«, sagte er, »ist die Schule für einen Monat geschlossen.«
Sie ließen mich nicht heraus. Zuerst schlug ich gegen die Tür und versuchte, die Kette zu zerreißen. Aber Pater Cárpena rief im Flur:
»Was willst du draußen machen? Die Verzweiflung sehen? In der Kammer ist der Geist des Bruders um dich.«
»Gut, ich will warten«, antwortete ich, »wie lange es auch dauern mag.«
Am nächsten Morgen kamen Pferde in den Hof. Viele Menschen rannten unzählige Male die Treppen hinauf und hinunter, flüsterten und versuchten, keinen Lärm zu machen.
›Sie haben bestimmt Angst, daß das Fieber in meinem Blut wächst‹, überlegte ich. ›Deshalb lassen sie mich nicht hinaus. Meine Freunde dürfen gehen, und sie kommen nicht einmal, um sich von mir zu verabschieden.‹
Nach und nach verließen die Pferde den Hof, ich zählte zehn.
Gegen Mittag hörte ich, daß sich jemand meiner Kammer näherte. Vor der Tür blieb er stehen. Zwei Goldmünzen zu je einem Pfund rollten durch die Spalte unter der Tür, und danach wurde ein kleines gefaltetes Papier durchgeschoben. Es war Palacitos. Ich sprang aus dem Bett.
»Ich gehe mit meinem Vater weg, Brüderchen. Leb wohl«, sagte er hastig mit leiser Stimme und lief davon.
Ich konnte ihm nicht einmal antworten, er hatte sich zu schnell wieder entfernt, und ich konnte nicht mit ihm sprechen. Ich nahm das Papier. Offensichtlich hatte er es in Eile geschrieben. Ich las: »Mein Vater schickt Dir das für Deine Reise. Und wenn Du nicht gesund wirst, für Dein Begräbnis. Leb wohl, Brüderchen Ernesto.«
Ich hörte Vater und Sohn die Stufen hinuntergehen. Ich hob die beiden Münzen auf und ging ins Bett zurück.
Palacitos dachte und fühlte wie die Indios und Mestizen in den Dörfern. Er sorgte sich um das Begräbnis. Wenn kein feierlich geschmückter Priester anwesend ist und nicht genug Messen gelesen werden, dann gewinnt der Teufel das Spiel und schleppt die Seele mit sich. Mit seinem Geschenk wollte Palacitos meine Angst lindern, und so schrieb er mir zum Abschied: »Für Dein Begräbnis.«
Wenn ich aber Fieber bekommen sollte, würde ich wie Abraham fortgehen. Vielleicht käme ich nicht mehr nach Coracora, bestimmt aber in mein Heimatdorf, das drei Tagereisen näher an Abancay liegt. Ich würde über die rote Erde auf den Paß nach Huayrala reiten und aus dem edlen Ton des Berges einen Hund formen, der mir helfen sollte, den Fluß zu überqueren, der dieses Leben von dem anderen trennt. Vom Fieber geschüttelt würde ich mein Dorf erreichen, ohne eine einzige Laus auf meinem kahl geschorenen Kopf. Dann würde ich in irgendeinem Haus sterben, aber gewiß nicht in jenem, in dem ich aufgewachsen war und wo man mich als den Sohn eines Fremden haßte. Das ganze Dorf würde singend hinter dem kleinen Sarg herziehen, in dem sie mich zum Friedhof trügen. Die Vögel würden sich auf Mauern und Büschen niederlassen und für einen Unschuldigen singen. Da mein Vater nicht da wäre, würde der Alkalde die erste Schaufel Erde auf den Sarg werfen. Und der Grabhügel wäre mit Blumen bedeckt. ›Es ist besser, so zu sterben‹, überlegte ich und dachte an den wahnsinnig gewordenen Peluca, an die trüben, verdorbenen Augen des Paters Rektor, an Markask’a, der so plötzlich zum Schwein geworden war, an seine Muttermale, die zugenommen hatten, als hätte sich in ihnen Fett angesammelt. Ich würde die Stadt auf dem Weg nach Condebamba verlassen und auf dem Platz einen Strauß dunkler Lilien pflücken, den ich vor Salvinias Haustür legen wollte. »Bleib auf der Hut«, würde ich auf einen großen Umschlag schreiben und darunter meine Unterschrift setzen.
Sicher war Abraham gekommen, damit mir durch seinen Abschied das alles klar werden sollte.
Zufrieden betrachtete ich die Goldmünzen. Nur wenige Leute besaßen noch solche Goldstücke. Palacitos’ Vater wußte dem Rektor zu schmeicheln, indem er die Schulgebühren in Gold bezahlte. Das war jedesmal eine so feierliche Zeremonie, als zollte ein Edelmann einem anderen Edelmann seinen Tribut. Zum erstenmal hatte er seinem Sohn eine dieser Münzen gegeben, als Palacitos Romero beschenken und sich bei ihm bedanken wollte – so wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Ich besaß nun zwei dieser Münzen – für mein Begräbnis oder für meine Reise. Palacitos, der »Indio Palacitos«, wie ihn die hochmütigen Schüler und seine Gegner manchmal nannten, hatte mir in meine Abgeschlossenheit zwei Goldmünzen gebracht, die mir helfen würden, in einen der beiden Himmel zu kommen: in den meines Vaters oder in den, der in einem anderen Leben jene, die in diesem gelitten haben, erwarten soll.
Gold findet der Mensch tief unter den Felsen oder im Sand der Flüsse. Sein Glanz entzückt jeden, der es im Sand oder an den dunklen Wänden der Höhlen leuchten sieht. Ich wußte, daß die Verarbeitung des Goldes langwierig ist, daß es im Feuer geläutert und in weise Mischungen gegossen wird, deren Geheimnis nur die Ingenieure und Magier durch lange Erfahrungen kennen. Eine Goldmünze in den Händen eines Kindes macht es zum König, zu einem der auserwählten Schmetterlinge, die geradenwegs in die Sonne fliegen. Ich habe sie gesehen; sie steigen glänzend und mit den Flügeln schlagend höher und höher. Trotz ihrer düsteren Botschaft halfen mir die Münzen in meiner Todesangst. Ich warf sie in die Luft, und sie fielen klingend zu Boden. Ich betrachtete sie von beiden Seiten und freute mich über den Federbusch des Inka auf der Rückseite.
›Ich will sie aufbewahren und nicht ausgeben‹, dachte ich. ›In den Dörfern brauche ich sie nur zu zeigen, und man wird mich sofort bedienen. Jeder wird glauben, ich sei der verirrte Sohn eines Fürsten oder ein Bote des Herrn, der die Ehrlichkeit der Menschen auf die Probe stellt.‹
Die Münzen waren schwer. Ich hatte nie abgenutzte Goldstücke gesehen; immer schienen sie alle neu zu sein. Meine aber glänzten noch mehr und klangen in der Stille, die um mich war, noch schöner.
›Sie sind für dich, Bruder‹, dachte ich, ›denn ich bin in deiner Kammer. Palacitos ist zu mir gekommen, um mir sein Gold zu bringen, als ginge er zur Kirche. Es soll nicht für mein Begräbnis sein.‹
Am Dienstagmittag öffnete der Pater Rektor die Tür und kam an mein Bett.
»Du gehst in die Hacienda deines Onkels Manuel Jesús«, sagte er. »Dein Vater ist einverstanden. Pferde gibt es keine, du mußt also zu Fuß gehen, aber du sagst ja, daß dir das gefällt.«
Ich setzte mich im Bett auf. Er blieb stehen.
»Zu dem Alten, Vater? Ich soll zu dem Alten?«
Er gab mir das Telegramm meines Vaters zu lesen. Ich sollte Abancay verlassen, in die Hacienda Huayhuay gehen und erst dann in die Schule zurückkehren, wenn man mich benachrichtigte.
»Ich nehme an, daß zwei Tage zu Fuß für dich ein Vergnügen sind. Die Hacienda liegt am Apurímac, aber auf der Höhe«, sagte der Rektor.
»Auf der Höhe?«
»Ja, sie ist durch steile Felswände vom Fluß getrennt, und ein Weg, den nur die Indios kennen, führt wie eine Schraube durch die Wand und an den Fluß hinunter. Schon vor drei Jahren hat uns der Caballero eingeladen. Du schaffst es bestimmt, diesen Weg zu gehen …«
»Der Alte wird mir nicht einmal zu essen geben. Er ist geizig, schlimmer als ein Judas.«
Die Wangen des Paters röteten sich.
»Geizig?« fragte er empört. »Du sagst, er sei geizig?«
»Ich kenne ihn. Er läßt lieber die Früchte verfaulen, als daß er sie seinen Leuten gibt. Mein Vater …«
»Du bist von Sinnen. Jedes Jahr lädt Don Manuel Jesús die Franziskaner auf seine Haciendas ein. Und er behandelt sie wie Fürsten.«
»Die Franziskaner …? Hat er denn viele colonos, Vater?«
»500 in Huayhuay, 150 in Parhuasi, in Sijllabamba …«
»Gut, ich gehe, Vater«, rief ich. »Lassen Sie mich gehen, jetzt gleich.«
Er blickte mich immer erstaunter an.
»Ich verstehe dich nicht, mein Junge«, sagte er. »Ich verstehe dich genauso wenig wie sonst. Du kannst morgen früh gehen, bei Tagesanbruch.«
»Vater, spricht der Alte mit seinen colonos in Huayhuay Quechua?« fragte ich.
»Manchmal; aber du sollst dich nicht mit den Indios unterhalten. Ich warne dich. Don Manuel Jesús ist streng, aber großzügig. Er ist ein guter Christ. In seiner Hacienda gibt es keine betrunkenen Indios, keine Flöten oder Trommeln, keine vom Teufel besessenen Instrumente. Die Indios beten morgens und abends und gehen dann in ihre Hütten schlafen. Der Friede und die Stille Gottes herrschen auf den Haciendas Don Manuel Jesús’.«
»Und der Apurímac, Vater?«
»Was hat der damit zu tun?«
»Dürfen die Indios nicht einmal im Karneval an den Fluß, um dort zu singen?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, daß Don Manuel sehr fromm ist. Du mußt ihm gehorchen und dich an die Ordnung der Hacienda halten – Arbeit, Ruhe, Frömmigkeit.«
»Ich kenne ihn, Vater. Gut, ich werde gehen. Zwei Tage, sagen Sie? Anderthalb für mich. Ich will mit den colonos beten und mit ihnen leben. Sind alle anderen Schüler schon weg?«
»Alle.«
»Und Antero?«
»Auch er.«
»Und die Söhne des Kommandeurs?«
»Sie sind alle fort, nur die Söhne der Armen nicht.«
»Und das Fieber, Vater?«
»Es wütet noch immer in den Haciendas am anderen Ufer. Es wächst.«
»Und die Brücke?«
»Man hat sie zugemauert und eine Tür in die Mauer gehauen,
für die Medikamente … «
»Und die Köchin, Vater?«
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Sie ist gestorben«, sagte ich, denn seine schnelle Antwort hatte ihn verraten.
»Ja, aber isoliert, im Spital.«
»Und kahlgeschoren, man hat sie ohne Haare begraben.«
»Natürlich, mein Sohn. Woher hast du das gewußt?«
»Ich habe es geahnt, Vater. Abraham ist nach Quishuara gegangen, um dort zu sterben. Dort wird das Fieber nun auch sein.«
»Du sollst die Schule nicht vorher verlassen«, rief er in plötzlichem Ärger. »Ich bringe dir einen Wecker, der um vier Uhr morgens läuten wird. Wir haben einen neuen Pförtner, er schläft in der Küche.«
»Darf ich nicht ausgehen, um von Abancay Abschied zu nehmen?« bat ich.
»Nein. Ich habe es deinem Vater versprochen.«
Der Ton seiner Stimme hatte sich in dem Augenblick verändert, als ich Abraham erwähnte. Er sah mich scharf an, er bohrte seinen Blick in meine Augen. Er verlor sich immer mehr, wie jemand, der im Unendlichen die verräterischen Anzeichen sucht, die doch die Frucht der eigenen Verstörtheit, der eigenen, in die Irre gegangenen Gedanken sind. Ich zeigte ihm die beiden Goldmünzen. Vielleicht tat ich es aus Bosheit, aus der brennenden Unruhe heraus, die er durch seinen Verdacht in mir angefacht hatte.
»Was ist das?« fragte er.
»Zwei Goldmünzen, die jede ein Pfund wert sind, Vater.«
»Hast du sie etwa gestohlen?«
»Damit werde ich wie der Sohn eines Königs reisen, Vater. Ich will sie dem Alten zeigen und prüfen, ob Gott ihn hört …« Während ich diese für mich selbst unerwarteten Worte sagte, erwachten in meiner Erinnerung das Bild der Stadt Cuzco, die Stimme der María Angola, die aus dem Grund eines Sees zu kommen schien, das Bild des Christus der Erdbeben und die großen tiefen Spiegel in der Kathedrale, die im Dämmerlicht glänzten.
Der Pater trat auf mich zu. Seine Augen waren stumpf geworden. Es schillerte wie schlammiges Wasser in ihnen, und sie verrieten sein Erstaunen, eine Gier, die langsam in seiner Seele wuchs.
»Hast du sie gestohlen, mein Sohn?« fragte er noch einmal.
Er war klug und energisch, aber nun zitterte seine Stimme. Jahrhunderte von Mißtrauen lasteten auf ihm; die Furcht und die Lust zu bestrafen bedrückten ihn. Ich fühlte, wie mich das Böse versengte.
»Lesen Sie, Väterchen«, sagte ich. »Ein Geschenk meines Freundes, der sicher schon in seinem Dorf angekommen ist.«
Der Vater las Palacitos’ Zettel und lehnte sich an das Kopfende des Bettes. Danach betrachtete er mich. Ich glaube, er hatte die größte Lust, mich zu schlagen. Ich war darauf gefaßt. Aber seine Augen wurden heller.
»Gut, du darfst ausgehen«, sagte er. »Wir haben in diesen Tagen viel durchgemacht. Die Schule ist leer, die Stadt auch, du wirst es schon sehen. Man soll dir deine Kleider bringen. Der Vater deines kleinen Freundes Palacitos ist strahlend vor Freude mit seinem Sohn fortgegangen – trotz der Angst und trotz des Fiebers.«
»Stellte er ihm Fragen? Wollte er, daß Sie ihn prüften?« fragte ich.
»Nein, es war nicht nötig. Der Junge zeigte ihm Añucos Geschenke, die Sammlung roter Kugeln, einen Brief des Bruders, in dem ihm dieser Glück wünscht und ihn segnet. Und er selber erzählte seinem Vater von Geschichte, von den Naturwissenschaften, der Geometrie … Du kannst zufrieden sein, mein Sohn! Palacitos versetzte seinen Vater in Erstaunen und verschaffte sich Achtung.«
»Romero war schon weg?«
»Ja.«
»Und Chipro?«
»Der auch.«
»›Du wirst Ingenieur werden‹, sagte Palacitos’ Vater. Danach ließ ich sie beide allein im Büro.«
»Dann, als sie allein waren, hat er wohl seinen Vater um die Münzen gebeten. Danach sind sie sofort gegangen?«
»Nein, aber bald. Zuerst holte der Junge im Schlafsaal seine Bücher und seinen Reisesack. Als er von mir Abschied nahm, weinte er nicht. Er sagte auch nichts von dir, obwohl er wußte, daß du eingesperrt warst, und das erschien mir merkwürdig.«
»Er war eben schon bei mir gewesen.«
»Gib auf deine Goldmünzen acht, denn du mußt allein reisen.«
»Ich werde sie nie ausgeben, Vater.«
»Warte, ich lasse dir deine Kleider bringen.«
Er ging aus dem Zimmer und ließ die Tür offen. Mit seinem borstigen, weißen Haar wirkte er groß und stattlich. Wenn ihn seine Heftigkeit nicht übermannte, strahlte seine ganze Erscheinung Güte aus. Seine Umarmung, seine Hand auf dem Kopf eines kleinen Jungen, der traurig oder verzweifelt war oder unter Schmerzen litt, wirkten dann beruhigend und flößten Zuversicht ein. Vielleicht war ich der einzige Schüler, der – durch frühere Erlebnisse – ahnte, daß auch in ihm Düsterkeit und Unerbittlichkeit waren.
Am Nachmittag ging ich in meinem neuen Anzug in den Hof. Alle waren fort, Palacitos und Antero, die Schwachsinnige und Peluca, Romero und Valle, Añuco, die Köchin und Abraham – niemand war mehr da. Ich wußte, daß ich allein in der Schule war.
Einen Augenblick setzte ich mich auf die Stufen im Gang neben das kleine Wasserbecken.
Dann ging ich langsam auf den inneren Hof. Ich war so sehr in meine Erinnerungen versunken, daß ich nicht auf äußere Dinge achtete.
Drei Bretterverschläge dienten als Latrinen; einer war etwas größer, und hier hatten sich die Schüler immer auf die Schwachsinnige gestürzt. Unversehens stand ich vor dieser Tür und öffnete sie. Das Unkraut, das an der Wand in diesem feuchten Winkel wuchs, blühte. Ich pflückte die Blumen und band sie zu einem Strauß zusammen. Dann riß ich die Pflanzen aus, schüttelte die Erde von den Wurzeln und warf sie ins Wasser. Danach ging ich in den Hof zurück.
Der Friedhof lag weit außerhalb der Stadt, und unter den unzähligen Gräbern der armen Leute hätte ich das Grab Doña Marcelinas wohl nie gefunden. So beschloß ich, den Strauß an die Tür der Kammer zu hängen, in der sie gestorben war. Ich ging durch den engen dunklen Flur und warf einen Blick in die Küche. Zwei Männer saßen dort, aber sie hörten mich nicht. Der kleine Hof roch noch immer nach Desinfektionsmitteln. Vor der Tür der Kammer hing ein farbiges Schloß, aber keine gekreuzten Trauerbänder, wie es in den Dörfern üblich ist, wenn jemand stirbt. Ich steckte die Blumen ins Schloß. Die Sonne würde die kleinen gelben Blüten schnell austrocknen und verbrennen. Ich hatte die Pflanzen ausgerissen, die Wurzeln und die Erde, die die Blumen genährt hatten, ins Wasser geworfen, denn ich wollte damit den einzigen lebenden Zeugen menschlicher Grausamkeit vernichten, die die Schwachsinnige auf Befehl Gottes entfesselt hatte. So würde sie nicht vergeblich wiederkehren, um mit Geisterhänden das Unkraut auszurotten, mit Händen, die nichts gegen die Ursachen des Fluchs und der Sünden dieses Lebens ausrichten können. Ich betrachtete den Blumenstrauß an der Tür und fühlte mich glücklich, fast wie ein Held, und ich spielte mit den Goldmünzen in meiner Tasche. Es stand nun fest, daß ich Abancay verlassen würde. Wie Marcelina im Himmel fühlte auch ich mich frei von aller Schuld, von aller Gewissensnot.
Schnell lief ich auf den Hof zurück. Die Männer aus der Küche folgten mir. Ich wollte die Stadt sehen, nach Patibamba und zum Pachachaca hinuntergehen. Vielleicht würde ich auf dem Weg dem Fieber begegnen, das mir entgegenkam. Es käme als altes Weib verkleidet, zu Fuß oder zu Pferd. Das wußte ich, und ich war bereit, mit der Alten fertig zu werden. Ich wollte sie mit einem Stein, auf den ich vorher kreuzweise gespuckt hatte, vom Pferd herunterholen. Und wenn sie zu Fuß käme, würde ich sie an dem langen Mantel packen, den sie hinter sich herschleifte. Während ich ihre Kehle fest zusammendrückte, würde ich das Vaterunser beten, sie dann zur Brücke zerren und sie vom Kreuz herab in die Strömung des Pachachaca werfen. Der geläuterte Geist Doña Marcelinas würde mir dabei helfen.
Ich lief bis zur Kreuzung, wo der Weg nach Patibamba abzweigt. Drei mit Gewehren bewaffnete Guardias hielten dort Wache.
»Es kommt niemand durch«, sagte einer von ihnen.
»Warum, Señor?« fragte ich. »Ich muß zur Brücke.«
»Wer schickt dich dorthin?«
Ich traute ihm nicht; er würde meine Erklärung ja doch nicht verstehen.
»Lassen Sie mich durch. Der Weg ist öffentlich«, sagte ich. »Weißt du denn nicht, daß die Stadt im Alarmzustand ist? Daß Gefahr besteht?«
»Ist das Fieber schon gekommen?«
»Es wird zu Tausenden kommen. Nein, mein Junge. Geh zurück, geh nach Hause.«
Ich konnte an hundert verschiedenen Stellen über die Felder gehen und brauchte die Straße gar nicht zu benutzen. Aber der Guardia hatte etwas Merkwürdiges gesagt. Wie sollte das Fieber zu Tausenden kommen, wenn es doch nur ein einziges Fieber gab? Ich kehrte um und schlug den Weg nach Huanupata ein.
Die chicherías und auch die übrigen Häuser waren verschlossen. Ich sah viele Leute in Richtung des Apurímac zu Fuß, zu Pferd und auf Eseln den Hang hinaufgehen. Sie hatten ihre Kinder bei sich, und die Hunde liefen hinterher. Sogar die Wirtschaften, wo die Indios und die durchreisenden Mestizen ihren Schnaps zu trinken pflegten, waren geschlossen. Der Wind zerrte an den dürren Blättern der Dächer und wirbelte den Staub durch die Straße. Die Luft im Tal war immer stickig, aber an diesem Nachmittag, in den leeren Straßen, schien sie mich in einen Mantel einzuwickeln, und ich hatte das Gefühl, zu schweben. Ich betrachtete eine Tür nach der anderen, bis ich eine fand, die offenstand, mit zwei gekreuzten Stangen davor. Ich trat ein.
Exkremente lagen auf dem Boden, und Fliegenschwärme summten umher. Die Sonne fiel auf ein paar alte Decken, die an einem Ende der Galerie vor der Küchentür lagen. Dicke trockene Stämme waren zu einer Art Podest zusammengefügt. Ich ging näher und sah eine alte Frau auf dem Boden liegen, die den Kopf an ein rundes Stück Holz lehnte. Sie trug eine makitu, ein altes Kleidungsstück der Eingeborenen aus handgewebter Wolle, das ihre Arme bedeckte; um den Kopf hatte sie ein Tuch geschlungen. Das Gesicht sah aus wie das einer Mumie, die Haut klebte an den Knochen, die Nase war spitz und gelblich. Von den dünnen Lippen tropfte der Saft der Coca-Blätter. Als sie mich sah, bewegte sie den Arm, um mich fortzuscheuchen. ›Das Fieber‹, dachte ich. Aber ich ging nicht weg. Ich trat näher und sah, daß sie auf dem gleichen Lager ruhte wie die alten Leute in den indianischen Dörfern.
»Wer bist du?« fragte ich auf Quechua. Ich schrie, damit sie mich hörte.
»Ich werde sterben«, antwortete sie.
»Und deine Familie?«
»Ist weggegangen.«
Sie sprach verständlich.
»Warum haben sie dich nicht mitgenommen?« fragte ich gedankenlos.
»Weil ich sterbe.«
Wieder bewegte sie einen Arm, um mich zu vertreiben. Ich verstand, daß ich sie ungeduldig machte, aber ich konnte mich nicht sogleich zum Gehen entschließen. Die Familie hatte sie verlassen, ohne Zweifel mit ihrem Einverständnis.
»Leben Sie wohl, Señora«, sagte ich respektvoll und ging still und langsam hinaus.
Draußen sah ich eine Familie, die eben die Straße verlassen hatte und sich anschickte, den steilen Weg zum Apurímac hinaufzusteigen. Ich lief den Leuten nach.
»Warum geht ihr fort?« rief ich schon von weitem. Der Mann blieb stehen und sah mich erstaunt an. Er führte einen mit Pfannen und Decken beladenen Esel am Zügel und trug selber Hausrat auf dem Rücken. Die Frau hielt ein kleines Mädchen in den Armen. Ein Junge von etwa sechs Jahren ging neben dem Vater her.
»Sie sind auf Flößen über den Fluß gekommen, auf zehn Flößen. Sie werden bald hier sein«, sagte er.
»Wer?« fragte ich.
»Die colonos natürlich, die colonos aus fünfzehn Haciendas. Weißt du das nicht, Junge? Gestern Nacht ist ein Guardia gestorben. Er soll mit dem Säbel das Seil zerschnitten haben, als ein Floß daran hing. Aber die meisten waren schon auf dieser Seite. Acht, heißt es, sind in den Pachachaca gefallen und der Guardia auch. Sie wollten die colonos am Ufer umzingeln, aber es ist ihnen nicht gelungen. Denn die Indios sind von dieser Seite wie die Ameisen hinuntergelaufen und haben die Guardias von hinten bedrängt. Arme Guardias, sie waren nur zu dritt. Sie schossen nicht, und die Indios haben ihnen nichts getan. Sie sind zurückgekommen und haben alles erzählt. Nun heißt es, daß sie den colonos mit Maschinengewehren den Weg zur Stadt versperren sollen. Lüge, mein Junge! Es wird ihnen nicht gelingen. Die colonos werden über alle Hügel strömen. Ich weiß es, ich war Unteroffizier …«
»Die colonos haben die Guardias in die Enge getrieben, sagst du? Die colonos?«
»Ja, die colonos.«
»Das glaube ich nicht. Das kann nicht sein. Das können sie gar nicht. Haben sie nicht Angst bekommen, als sie die Guardias sahen?«
»Ach, mein Junge. So einfach ist das nicht. Der colono ist wie ein Huhn, oder schlimmer. Er stirbt ruhig, ohne zu mucksen. Die Pest aber ist ein Fluch. Wer hat die Pest, wer hat diesen Fluch geschickt? ›Kirche, Kirche, Messe, Väterchen‹, schreien die colonos. So gibt es keine Rettung mehr für uns. Es heißt, daß sie eine feierliche Messe wollen und daß der große Vater von Abancay sie lesen soll. Danach werden sie ruhig sein; sie werden zitternd, aber ruhig sterben. Doch für die Messe werden sie kämpfen, auch wenn ihnen die Guardias wie der Blitz entgegeneilen. Sie werden kommen. Vielleicht sind sie schon da.«
»Glauben die Indios denn, daß sie ohne Messe in die Hölle kommen?«
»Natürlich, gewiß, das ist es ja. Sie fürchten die Verdammnis und glauben, daß das Tal dann voll Verdammter sei. Mein Gott, was würde das geben! Es wird von Verdammten wie von großen Läusen, die größer als Hammel sind, wimmeln. Sie werden die Tiere auffressen, zuerst aber die Menschen! Mein Gott!«
»Deshalb gehst du von hier weg?«
»Und die Läuse, Kind? Die Messe muß gelesen werden. In der Nacht kommen die colonos nach Abancay, vielleicht kann der Vater sie erlösen. Sie werden kommen, aber die Kinder zurücklassen, denn die Kinder sind angelitos. Sie werden mit ihren Frauen kommen und Erlösung suchen. Aber ihre Läuse werden sie zurücklassen, im Park, in der Kirche, auf den Straßen, vor den Türen. Es wird von Läusen, diesem Fluch des Fluches wimmeln. Und sie werden uns alle auffressen. Sollen die Leute von Abancay vielleicht die Läuse zerbeißen wie die colonos? Sollen sie die Köpfe der Läuse zwischen den Zähnen zermalmen? Aus allen Winkeln werden sie in langen Reihen krabbeln. So sind die Läuse der Kranken.«
»Unteroffizier, du hast Angst«, sagte ich zu ihm. »Du ernährst dich von der Angst wie die colonos von den Läusen …«
»Die Läuse der Kranken vermehren sich anders. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als wegzugehen. Was vermag ein mutiges Herz gegen diese Dinge?«
Als ich umkehren wollte, hielt er mich fest. Seine Frau sagte auf Quechua:
»Du bist ein hübscher Junge. Warum gehst du freiwillig zu den Läusen, die dich verderben werden?«
Sie waren entsetzt.
»Morgen früh werde auch ich diesen Weg einschlagen«, beschwichtigte ich sie.
Ich nahm Abschied von ihnen und lief in die Stadt zurück.
Durch ein Zuckerrohrfeld ging ich nach Patibamba. Ich schwitzte, weil ich mich geduckt zwischen den Pflanzen hindurchzwängte, auf die den ganzen Tag die heiße Sonne geschienen hatte. Aber ich wollte nicht, daß mich jemand entdeckte, deshalb vermied ich die Wege. Auf den Wegen brachten die Maultiere der Hacienda das Zuckerrohr in die Fabrik.
Auf allen vieren erreichte ich schließlich das Dorf der Indios. Es war leer. Niemand war zu sehen. Ich stieg auf den kleinen Hügel aus Resten und Abfällen und sah mich um. Die Wespen summten schläfrig und versperrten mir die Sicht. Die Türen zu den Hütten waren verschlossen, und an den dürren Blättern der Dächer zerrte der heiße Wind. Ich kletterte hinunter und ging durch die enge Gasse.
Ich klopfte an die erste Tür und hörte drinnen Schritte. Ich spähte durch eine Spalte und sah drei Kinder, die sich in einem Winkel versteckten.
Ich klopfte noch einmal.
»Mánan, nein«, rief das älteste Kind, ohne daß ich etwas gesagt hatte.
Sie versteckten sich in einem der dunklen Winkel der Hütte. Ich ging zu einer anderen Hütte und erhielt die gleiche Antwort.
Langsam und ruhig schritt ich durch die Gasse bis zum letzten Haus. Dort kniete ich mich auf den Boden und spähte durch die unterste Spalte in der Tür. Durch ein Loch im Dach fiel die Sonne voll ins Innere der Hütte. Es war bereits Abend, und das Licht war golden.
Neben dem Herd kniete ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen und bohrte mit einer langen Nadel in der Hinterbacke eines anderen, kleineren Mädchens. Dieses stieß ohne zu weinen mit den Füßen; es war völlig nackt. Das größere Mädchen hob die Nadel gegen das Licht. Ich blickte genau hin und sah an der Spitze der Nadel einen ganzen Klumpen eitriger, blutiger Krusten. Das Mädchen erhob sich, um das Zeug ins Feuer zu werfen, und ich sah den Darmausgang und die Geschlechtsteile des kleineren Mädchens, an denen dicke weiße Blasen hingen wie bei den ekelhaftesten und verwahrlostesten Schweinen in diesem widerlich süßlich riechenden Tal. Ich lehnte den Kopf gegen die Wand, und der Gestank aus der Hütte überwältigte mich. Mir war, als stünde mein Herz still, als müßte das Licht der Sonne verlöschen und Regenstürme stürzten hernieder. Die ältere Schwester begann, in der Hütte ein Messer zu schleifen.
Ich stand auf und lief davon. Ich war noch empörter als am Morgen, als ich von der toten Doña Marcelina in ihrer Kammer ohne Trauerbänder Abschied genommen und den Blumenstrauß an das Türschloß gehängt hatte. Ich erreichte das Eisengitter des Herrschaftshauses, rief und schrie so laut ich konnte »Yauúú …! Yauúú …!«
Aber auch das Herrschaftshaus war leer. Ich schrie, schrie immer heftiger und klammerte mich an das Gitter. Die Strahlen der untergehenden Sonne schienen aus meinem Mund zu kommen und vergeblich gegen das Gitter und in das stille, verlassene Tal zu prallen. Ich fürchtete, verrückt zu werden; ich glaubte, daß meine Brust zerspränge. Ich machte mich zum Fluß auf.
Ich rannte, nahm Abkürzungen und hatte Angst, es könnte dunkel werden. Schon fast am Ziel stieß ich auf ein paar Guardias und einen Unteroffizier. Sie hielten mich an.
»Sehen Sie«, sagte der Unteroffizier und führte mich zu einer Biegung des Weges.
Die colonos stiegen den Hang herauf, und ich glaubte tatsächlich eine Hammelherde, Tausende von Hammeln vor mir zu haben. Links und rechts vom Weg kletterten sie über die Hügel, zwängten sich durch Büsche und sprangen über die Mauern aus Steinen oder Ziegeln, die die Felder abgrenzten.
»Sehen Sie«, wiederholte der Unteroffizier. »Ich habe Befehl, sie durchzulassen. Aber sie werden die Kirche und die Stadt tagelang verwüsten. Der heilige Pater Linares wird um Mitternacht eine Messe für sie lesen und ihnen die Reise ins andere Leben erleichtern.«
Ich beruhigte mich, als ich die colonos kommen sah.
»Sie werden nicht sterben«, sagte ich.
»Wer sind Sie?« fragte der Unteroffizier.
Ich nannte meinen Namen.
»Dann sind Sie der Freund Gerardos, des Sohns des Kommandeurs«, antwortete er. »Ich habe den Auftrag, Sie zu beschützen.«
»Gerardo hat das verlangt?«
»Ja. Er ist ein großartiger Junge. – Wir ziehen uns zurück, wenn die Indios vorrücken. Und Sie, mein Junge, kehren Sie um. Warum sind Sie gekommen?«
»Sind Sie ein Freund Gerardos?« fragte ich.
»Das sagte ich schon. Er ist ein großartiger Junge.«
»Lassen Sie mich mit Ihnen gehen.«
»Die Verordnung, nach der alle Haustore in Abancay geschlossen werden müssen, ist wohl bereits in Kraft getreten. Aber Sie, Sie können in die Schule zurück.«
»Ich will die colonos begleiten, Unteroffizier, und mit ihnen beten.«
»Warum? Warum Sie?«
»Sehen Sie mich an«, sagte ich. »Ich bin nicht wie Gerardo, auch nicht wie Antero, Gerardos Freund. Mich haben die Indios großgezogen, andere Indios allerdings, die männlicher und selbstbewußter waren als diese colonos.«
»Männlicher, sagen Sie? In anderen Dingen vielleicht, aber nicht, wenn es gilt, dem Tod zu trotzen. Hier sind sie; weder der Fluß noch die Kugeln konnten sie aufhalten, und sie kommen nun nach Abancay.«
»Ja, Unteroffizier, weil Sie ihnen den Weg freimachen. Vielleicht ist es besser, ich gehe zurück und benachrichtige den Pater.«
»Dann sagen Sie ihm, daß die colonos ungefähr um Mitternacht in der Stadt sein werden. Ich werde vorher einen Boten schicken.«
Er drückte mir die Hände. Er war erstaunt, fast verwirrt.
Singend lief ich zurück, während das Licht der Sonne langsam verlöschte.
In der Nähe des Herrschaftshauses von Patibamba, als es schon tiefe Nacht war, begann ich mit lauter Stimme ein herausforderndes Lied zu singen. Es war ein Karnevalslied aus Pampachiri, dem südwestlichsten Dorf im Tal des Apurímac.
Triumphierend ging ich durch die Straße, die die Hacienda mit der Stadt verbindet, und zertrampelte die Blüten der pisonayes, die auf dem Boden lagen. Der rote Blütenteppich leuchtete sogar in der Nacht.
Als ich in die Schule zurückkam, nannte mich der Pater Rektor halb ärgerlich, halb im Spaß einen »verrückten Vagabunden«. Es war spät, und die Lehrer hatten schon gegessen. Halb lachend drohte er mir, mich wieder einzusperren. Aber sein Gesicht wurde ernst, als er erfuhr, daß die colonos tatsächlich im Anmarsch waren und der Unteroffizier den Marsch zu ordnen versuchte, so daß die Indios ungefähr um Mitternacht in der Stadt eintreffen würden.
»Hast du sie gesehen? Hast du sie selber gesehen?« fragte er begierig.
Ich verstand, daß er bis zu diesem Augenblick gehofft hatte, die Schüsse der Guardias würden die colonos aufhalten.
»Hast du gesehen, ob die Guardias Maschinengewehre haben?«
»Nein. Ich glaube, nicht«, erwiderte ich.
»Doch«, antwortete er hart, »aber sie haben sie wahrscheinlich irgendwo versteckt.«
»Sie haben nicht geschossen, Vater«, sagte ich. »Sie haben mir nicht gesagt, sie hätten getötet …«
»Das Blut …« Er beendete den Satz nicht. Doch ich erriet, was er sagen wollte.
»Wenn es so viele sind …, dann erschreckt sie das Blut nicht mehr«, sagte ich.
»Nicht?« rief er heftig. »Jetzt vielleicht nicht, weil sie die Messe hören wollen, weil sie der Messe wegen kommen, um nicht einfach so, wie die Tiere zu sterben … Aber sonst genügt ein einziger Hieb ins Gesicht … Ja. – Du kannst mir helfen, du scheinst ja keine Angst zu haben. Du bist wirklich verrückt. Du kannst mir bei der Messe helfen, falls der Küster nicht kommt. Du kannst die Glocken läuten.«
»Ja, Vater«, sagte ich und umarmte ihn. »In meinem Dorf läutete ich immer die Glocken, sobald ich den Priester den Hang von Huayrala herunterkommen sah. So werde ich es wieder machen.«
»Knie nieder«, befahl er.
Wir standen auf der oberen Galerie unter der Lampe, die über der Tür zu seinem Schlafzimmer hing.
Ich kniete nieder, und der Pater sprach ein paar Worte auf Lateinisch.
»Ich habe dir die Absolution erteilt«, sagte er. »Wir wollen hier drinnen auf den Boten des Unteroffiziers warten.«
Noch vor dem Boten kam der Küster. Der Vater führte mich am Arm in die Kammer des Bruders und packte meine Kleider in einen Reisesack.
»Ich bin für dein Leben verantwortlich«, sagte er. »Ich muß dich hier einschließen. Nach der Messe mache ich dir wieder auf.«
Er zog eine Uhr auf, die er aus seinem Schlafzimmer holen ließ, eine große Uhr aus gelbem Metall.
»Um vier Uhr wird sie dich wecken«, sagte er. »Dann stehst du auf, gehst in die Küche und rufst den neuen Pförtner; er soll dich in den Flur bringen, du gehst hinaus, und er wird das Tor wieder hinter dir schließen. In drei Stunden hast du den Gipfel erreicht, und vor Einbruch der Nacht wirst du in Huanipaca sein; dort erwartet man dich. Am folgenden Tag kannst du um die Mittagszeit vom Weg aus die Hacienda deines Onkels sehen.«
»Werden die Glocken um zwölf Uhr läuten, Vater?«
»Vorher. Die Leute in Abancay wissen aber, daß dieses Geläut nicht ihnen gilt.«
»Werden Sie den Indios eine Predigt halten, Vater?«
»Ich will versuchen, sie zu trösten; dann werden sie weinen, bis sie Erleichterung fühlen. Ich will ihren Glauben an Gott stärken und sie bitten, auf dem Rückweg durch die Stadt zu beten.«
»Sie werden triumphierend davongehen, Vater. So wie sie jetzt triumphierend den Berg heraufkommen. Ich werde sie nicht sehen, aber das Gebet von hier aus hören.«
»Du wünschst den Tod herbei, seltsames Geschöpf«, sagte er. »Friede sei mit dir! Geh nun schlafen, die Glocken werden dich wecken.«
Er nahm mein Gesicht in die Hände und betrachtete mich lange, als wäre ich eine jener stillen Stellen im Pachachaca. Ich fühlte, wie klar und durchdringend sein Blick war.
»Möge die Welt nicht grausam zu dir sein, mein Sohn«, sagte er. »Möge dein Geist Frieden finden auf dieser unruhigen Erde, deren Schattenseiten du so deutlich siehst.«
Sein weißes Haar, seine Stirn, seine Augen, sogar seine Wangen und seine Hände unter meinem Kinn strömten Ruhe aus, und mein Kummer legte sich – der Kummer darüber, daß ich die Ankunft der colonos mit ihren zerzausten Haaren und glühenden Augen, ihren Einzug in die Kirche nicht sehen könnte.
Der Pater wartete, bis ich mich hingelegt hatte. Dann ging er und ließ die Tür offen. Aber ich wollte nicht ungehorsam sein.
Um Mitternacht läuteten die Glocken dreimal. Der rauhe Mißklang ihrer Stimmen verriet, daß sie weder Gold noch Silber und auch kein menschliches Fett enthielten.
Unter diesem häßlichen Geläut würden nun die colonos in Abancay einziehen. Aber ich hörte lange Zeit keine Schritte, keinen Gesang und kein Geschrei. Selbst die Lasttiere haben Hufe, die auf dem Pflaster der Straßen oder auf der Erde widerhallten; der colono aber geht barfuß – barfuß und vorsichtig. Sie hatten jetzt wohl wie eine Herde stummer Tiere die Kirche betreten, und ich würde die ganze Nacht keinen Laut hören.
Ich wartete. Es war eine kurze Messe. Eine halbe Stunde, nachdem die Glocken verklungen waren, hörte ich ein dumpfes Geräusch, das näher kam. ›Sie beten‹, dachte ich.
Die Gasse, die vom Platz zur Landstraße nach Patibamba führt, war keine hundert Meter von der Schule entfernt. Das Geräusch wurde stärker. Ich kniete nieder, und der Wind trug das Gemurmel des Chors in meine Kammer.
»Sie gehen schon wieder, sie gehen weit weg, Bruder«, sagte ich laut.
Ich begann das Vaterunser zu beten und wiederholte es zweimal. Das Gemurmel wurde stärker, und ich hob die Stimme: »Vater unser, der Du …«
Plötzlich hörte ich Schreie. Ich öffnete die Tür und trat auf den Gang. Dort hörte ich die Stimmen besser.
»Geh weg von hier, Pest! Way jiebre! Waaay …«
»Rípuy, rípuy … Geh weg! Ich verbrenne dich!«
Die colonos riefen auf der Straße die Pest an und drohten ihr. Die Frauen begannen zu singen. Sie erfanden Worte zu einer Melodie, die an Begräbnissen gesungen wird:
Meine Mutter Maria wird dich töten,
mein Vater Christus dich verbrennen,
unser Kind Jesus dich erhängen.
Weg von hier, Fieber,
weg von hier!
Sie würden singen, bis sie den Rand der Stadt erreicht hätten. Der Chor der Stimmen entfernte sich, er schied von mir. Sobald sie in Huanupata wären, würden sie alle zusammen einen letzten Schrei ausstoßen, der den unbekannten Welten und Kräften galt, die die Vermehrung der Läuse und die leisen, langsamen Schritte des Todes beschleunigen. Vielleicht würde der Schrei die Mutter des Fiebers treffen, in sie eindringen und sie zum Verlöschen bringen, so daß sie in harmlosen Staub zerfiel, der hinter den Bäumen verschwindet. Vielleicht.
Ich ging ins Schlafzimmer zurück.
In Patibamba würden sich die Indios trennen, und ein jeder kehrte zu seinem Herrn zurück.
Morgen früh wäre auch ich nicht mehr da. Weg von hier, Fieber! Die Toten würden auf den Friedhöfen ohne Mauern, ohne Tore und ohne Kreuze der Haciendas verscharrt. Aber den Lebenden würde es vielleicht nach dieser Nacht gelingen, die Pest zu besiegen.
Stundenlang hallten die Verwünschungen gegen das Fieber durch meine Kammer.
Ich war wach, als die gelbe Uhr des Pater Rektor die ersten Takte eines europäischen Marsches zu spielen begann.
Ich machte Licht und betrachtete die Uhr. Sie stellte die Fassade eines Palastes dar, dessen Säulen in mit Blättern geschmückten Kapitellen endeten. Die Uhr spielte weiter, und ich zog mich schnell an. Die Musik erinnerte mich an den Marsch der Militärkapelle, und es war, als verhieße sie mir einen glücklichen und nicht einen unheimlichen Weg ins Unbekannte. ›Ich will Lilien für Salvinia pflücken und den Strauß an das Gitter vor ihrem Haus hängen‹, dachte ich, ›denn ich werde nie mehr zurückkehren.‹
Der Pförtner, ein Mestize, war wach. Er nahm seinen Poncho und begleitete mich in den Flur. Ich verließ die Schule. Die Uhr spielte noch immer; sie hüllte die Schule in ihre Musik ein, füllte die Gänge und drang bis in die dunkelsten Winkel.
Im Park pflückte ich die Lilien. Die colonos hatten sie nicht zertreten. Sie waren ernst und geordnet wie ein Trauerzug auf den Wegen gegangen. Ich ging zur Avenida. Der Strauß hatte nur drei Blüten, und ich hielt ihn so vorsichtig, als wären es die sanften Hände Salvinias.
Es war nicht schwierig, den Strauß zu den Klängen der schönen Musik, die mich noch immer begleitete, ans Gitter zu hängen. Die Nacht war hell, mit dichten Sternenfeldern. »Er ist für dich, Salvinia, für deine Augen«, sagte ich im Schatten der Maulbeerbäume. »Er hat die Farbe des zumbayllu, die Farbe des zumbayllu. Leb wohl, Abancay.«
Langsam stieg ich den Hang hinauf, als mir plötzlich die Warnung des Paters Rektor und die Erzählungen Anteros einfielen.
›Der Alte‹, dachte ich, ›der Alte.‹
Wie inbrünstig hatte er damals vor dem Altarbild des Christus der Erdbeben in Cuzco gebetet, und wie hart hatte er mich im Salon mit seinen stählernen Augen angesehen! Ich dachte an den Pongo, der draußen im Flur stehengeblieben war und den ein einziger Befehl des Alten vernichten konnte. Und ich kehrte um.
Der Pachachaca stöhnte in der Dunkelheit, weit unten in der tiefen Schlucht. Die Büsche zitterten im Wind.
Das Gebet der Indios, ihr Singen und die letzten klingenden Schreie, die durch die Felsen hindurch bis zu den kleinsten Wurzeln der Bäume gedrungen waren, hatten die Pest nun zu Stein erstarren lassen.
›Es ist besser, wenn ich über den Fluß, dann nach Toraya und von dort in die Kordillere gehe‹, sagte ich zu mir. ›Das Fieber wird mich nicht mehr erwischen.‹
Ich kehrte um und ging durch die Stadt zurück.
Ich würde den Fluß am Nachmittag über die Hängebrücke von Auquibamba überqueren. Wenn die Verwünschungen und der Gesang der colonos das Fieber tatsächlich vernichtet hatten, dann würde ich vielleicht auf der Brücke sehen, wie die Strömung das Fieber im Schatten der Bäume mit sich riß. Es würde versuchen, sich an einem Ast des chachacomo oder an einem Ginsterzweig festzuhalten, oder es würde auf Teppichen roter pisonay-Blüten davonschwimmen. Der Fluß würde es in den großen Urwald tragen, in das Land der Toten – genau wie Lleras.