Kapitel 6
IN DIESEM KAPITEL
In diesem Kapitel geht es um Liebe: Liebe zu sich selbst und Liebe zu den Kindern. Narzissten halten sich für das Zentrum des Universums. Sie lieben sich auf jeden Fall selbst. Aber was ist mit narzisstischen Eltern: Können sie ihre Kinder lieben? Ich zweifle nicht daran, dass narzisstisch veranlagte Eltern auf die Frage, ob sie ihr Kind lieben, ganz selbstverständlich mit »Ja« antworten würden. Aber ist es Liebe oder etwas anderes, wie beispielsweise ein Bedürfnis nach Bewunderung, Aufwertung und Aufmerksamkeit?
Die typischen Eigenschaften eines Narzissten – Grandiosität, Anspruchsdenken, mangelndes Einfühlungsvermögen, der Wunsch andere auszunutzen, das Bedürfnis andere zu kontrollieren, Arroganz, Manipulation und das ständige Streben nach Bewunderung – stehen einer guten Elternschaft im Wege. In Anbetracht der Persönlichkeitsmerkmale narzisstischer Eltern ist das Aufwachsen als Kind solcher Eltern in der Regel zumeist nicht ungetrübt.
In diesem Kapitel werden die möglichen Folgen narzisstischer Erziehung für die Entwicklung eines Kindes vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter beschrieben. Ich gehe darauf ein, wie narzisstische Eltern ihre Kinder erziehen, mache aber auch Hoffnung und vermittele Fähigkeiten, die erwachsenen Kindern helfen können, besser mit Narzissten zurechtzukommen.
Hinweis: Narzisstische Erziehung kann nur anhand der Erinnerungen der Kinder von Narzissten untersucht werden, was nicht gerade die beste Forschungsmethode ist. Man kann aber auch nicht ernsthaft eine Studie entwickeln, in der das Kind A einem narzisstischen Elternteil und das Kind B einem nicht-narzisstischen Elternteil zugewiesen wird, um dann die Entwicklung der Kinder im Laufe der Zeit zu verfolgen. Das wäre ganz sicher nicht ethisch vertretbar. Also bleiben uns diese rückblickenden Studien sowie eine Menge gesunder Menschenverstand und klinische Erfahrung, um die Auswirkungen von Narzissmus auf Kinder zu verstehen.
Ein wichtiger Faktor für die gesunde Entwicklung eines Kindes ist die sichere Bindung an eine Bezugsperson. Es gibt jedoch verschiedene Bindungstypen, die sich darin unterscheiden, wie sich Kinder zu ihren Bezugspersonen verhalten. Diese Bindungstypen beginnen sich in den ersten Monaten und Jahren des Lebens eines Kindes herauszubilden und bleiben oft bis zum Erwachsenenalter stabil.
Viele Faktoren beeinflussen die Art und Weise, wie sich ein Kind an seine Bezugspersonen bindet, zum Beispiel die genetische Veranlagung des Kindes, sein Temperament, seine Gesundheit und sein Umfeld. Die meisten Forschungsarbeiten befassen sich jedoch damit, wie die Interaktionen zwischen der primären Betreuungsperson und dem Kind bestimmte Bindungstypen bedingen.
Die Bindungsentwicklung beginnt im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit. In dieser Entwicklungsphase haben Säuglinge und ihre Bezugspersonen vorhersehbare Interaktionsmuster. Die folgenden vier Bindungstypen sind seit Jahrzehnten bekannt und erforscht:
Warum ist der Bindungstyp so wichtig? Sicher gebundene Kleinkinder entwickeln sich zu selbstbewussten Erwachsenen. Sie haben in der Regel ein höheres Selbstwertgefühl, mehr Widerstandskraft gegenüber Widrigkeiten, mehr schulischen Erfolg und bessere Beziehungen zu anderen. Sie haben ihre Gefühle gut unter Kontrolle und sind optimistischer.
Ängstliche, vermeidende und desorganisierte Bindungstypen sind allesamt unsicher. Sie deuten auf eine hohe Wahrscheinlichkeit gestörter Eltern-Kind-Beziehungen oder auf Anomalien hin, die durch Ereignisse wie Unfälle, Traumata, Krankheiten, unerwartete Trennungen, Krieg und/oder genetische Anomalien verursacht wurden.
Unsicher gebundene Säuglinge haben mehr Schwierigkeiten, wenn sie aufwachsen. Sie neigen dazu, bedürftig zu sein, und haben ein geringes Selbstwertgefühl. Sie haben keine gute Selbstkontrolle und zeigen nicht selten schlechte schulische Leistungen. Auch Erwachsene mit unsicherer Bindung haben oft Probleme in Beziehungen und halten Stress nicht gut aus.
Von allen Merkmalen des Narzissmus schadet mangelndes Einfühlungsvermögen den Kindern narzisstischer Elternteile am meisten. Wer nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse eines weinenden Babys, eines fordernden Kleinkindes oder eines mürrischen Teenagers zu verstehen, wird wahrscheinlich auf diese Herausforderungen abwertend, herabsetzend oder sogar grausam reagieren.
Manche Kinder von Narzissten fühlen sich emotional im Stich gelassen. Verständlicherweise sind sie nicht in der Lage, das ständige Bedürfnis ihrer Eltern nach Aufmerksamkeit, Bewunderung und besonderer Behandlung zu erfüllen. Andere Kinder hingegen werden sozusagen zu einem Bestandteil oder einer Erweiterung ihrer Eltern. Sie müssen ihrem narzisstischen Elternteil ständig Bewunderung und Unterstützung zukommen lassen. Der Lebenszweck dieser übermäßig kontrollierten Kinder ist es, ihre Eltern mit Status zu belohnen. Überdurchschnittliche Leistungen müssen dafür sorgen, dass sich ihre Eltern im Ruhm ihrer Kinder sonnen können.
Manchmal wählen narzisstische Eltern ein Kind aus, das sie bevorzugen oder zu ihrem Goldkind machen. Dieses Kind erhält eine Sonderbehandlung und entgeht einem Teil des narzisstischen Missbrauchs. Ein anderes Kind in der Familie wird als Sündenbock abgestempelt und für alles, was schiefläuft, verantwortlich gemacht. Ob ein Kind nun bevorzugt wird oder nicht, narzisstische Liebe ist immer an Bedingungen geknüpft, nie verlässlich und kann leicht entzogen werden. Im Grunde handelt es sich um eine Geschäftsbeziehung: »Ich werde dich lieben, solange du meine Bedürfnisse erfüllst.«
Jeder, der sich schon einmal um einen Säugling gekümmert hat, weiß, wie zeitaufwendig, anstrengend und frustrierend das sein kann. Säuglinge sind anspruchsvoll und können selbst nichts tun, um sich zu revanchieren. Aber wenn Sie Ihr Baby über alles lieben, sind Augenkontakt, Kuscheln und das erste Lächeln mehr als genug Belohnung für all die harte Arbeit.
Wenn es zwischen einem Säugling und seiner Bezugsperson harmonisch zugeht, entwickelt das Baby eine sichere Bindung. Dazu gehört, dass man auf die Signale des Säuglings eingeht und eine beruhigende, sichere Umgebung schafft. Ein narzisstischer Elternteil ist möglicherweise nicht in der Lage, einen ständigen Strom von Trost und Liebe zu spenden. Ein von Anspruchsdenken geleiteter Elternteil mag die notwendige Mühe nicht auf sich nehmen, sich angemessen um ein Baby zu kümmern. Ein Baby ist schließlich nicht in der Lage, dem narzisstischen Elternteil Aufmerksamkeit, Dankbarkeit oder Lob zu geben.
Manche narzisstischen Eltern entscheiden sich für Kinder, um sich eigene Träume zu erfüllen. Deshalb sorgen sie meist für eine angemessene Betreuung oder beauftragen andere mit der Betreuung ihres Kindes. Das Kind wird für diese Narzissten so etwas wie eine Trophäe, etwas, mit dem sie angeben können und für das sie Anerkennung ernten.
Mit dem Wachstum des Babys wächst auch seine Fähigkeit, Schwierigkeiten und Probleme zu machen. Narzisstische Mütter oder Väter können ein schreiendes Baby lange Zeit in einem gesicherten Kinderbettchen liegen lassen. Aber wenn das Baby alt genug ist, um aus dem Bett zu klettern, ändert sich das Leben. Etwa zur gleichen Zeit lernen Kleinkinder, ihre Bezugspersonen zu manipulieren, indem sie lauthals nach anderen Dingen als Essen oder einem Windelwechsel verlangen.
Die schnell wachsenden sprachlichen Fähigkeiten von Kleinkindern ermöglichen es ihnen, recht deutlich ihre eigene Meinung zum Geschehen um sie herum zu äußern. Und sie lernen das für ein narzisstisches Elternteil unangenehmste Wort: »Nein«. Denn narzisstische Eltern können Frustration nicht gut ertragen. Wenn Kleinkinder anfangen, sich selbst wahrzunehmen und ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, beginnt der Konflikt. Der narzisstische Elternteil schlägt unter Umständen wütend um sich und das Kind reagiert unterwürfig und ängstlich. Oder der narzisstische Elternteil flüchtet einfach, ignoriert jegliches schlechte Benehmen und lässt das Kleinkind gewähren, ohne von ihm zu verlangen, sich zu mäßigen.
Ein sicher gebundenes Kleinkind mit einer ungewöhnlich widerstandsfähigen Natur oder ein Kind, das von anderen guten Bezugspersonen umsorgt wurde, kann die narzisstischen Stürme überstehen. Kinder, die ängstlich gebunden sind, werden jedoch extrem verunsichert und schnell verängstigt. Sie sind übermäßig abhängig und suchen die Aufmerksamkeit der Erwachsenen.
Damit Narzissten zufrieden sind, muss sich alles um sie drehen, und das gilt auch für ihre Kinder. Sie sind in den Augen ihrer narzisstischen Eltern dafür da, ihnen zusätzlichen Glanz zu verleihen. Wenn sie dazu nicht in der Lage sind, werden sie oft emotional im Stich gelassen oder misshandelt.
Narzisstische Eltern benutzen ihre Kinder dazu, ihr Ansehen zu steigern, indem sie sie zu Aktivitäten drängen, die positiv auf die Eltern zurückwirken. Wenn die Kinder etwas Bemerkenswertes erreichen, werden die Narzissten dafür belohnt. Können Kinder die gewünschten Erfolge nicht liefern, muss ein Schuldiger gefunden werden. Die Kinder oder andere Personen (beispielsweise Lehrer oder Trainer) werden für den Misserfolg bestraft.
Einer der schädlichsten Aspekte einer narzisstisch geprägten Erziehung wird manchmal als umgekehrte Erziehung (Parentifizierung) bezeichnet. Dabei werden die Rollen vertauscht: Der jeweilige Elternteil wird emotional zum Kind und das Kind zum Elternteil. Dem Kind wird die Verantwortung dafür aufgebürdet, den Elternteil zu trösten und sich um dessen emotionales Wohlbefinden zu kümmern.
Natürlich ist dieser Rollentausch für Kinder verwirrend. Wenn Narzissten aufgrund irgendeiner Frustration verärgert sind, verlangen sie von ihren Kindern, die Verantwortung zu übernehmen. Das führt dazu, dass sich die Kinder dafür verantwortlich fühlen, die Eltern bei Laune zu halten. In diesem Stadium sind die Kinder noch nicht reif genug, um mit solchen Anforderungen umzugehen, und reagieren mit extremer Ängstlichkeit.
Das folgende Beispiel für umgekehrte Elternschaft ist recht verbreitet, wenn ein Narzisst eine Trennung durchmacht.
Thomas‘ 13-jährige Tochter Yvonne wird, wie üblich, Zeugin dieses Streits zwischen ihren Eltern. Sie zieht sich schnell in ihr Zimmer zurück. Später am Abend bittet ihr Vater sie, ihn auf einem Spaziergang zu begleiten. Sie hat Angst, Nein zu sagen, und willigt ein.
Thomas erzählt Yvonne, dass ihre Mutter und er schon seit Jahren sexuelle Probleme haben. Er erklärt Yvonne, dass ihre Mutter einfach nicht so viel Sex haben will, wie er braucht, und dass er deshalb gezwungen ist, sich anderen Frauen zuzuwenden, um seine außergewöhnlichen sexuellen Wünsche zu befriedigen. Yvonne fühlt sich äußerst unwohl und weiß nicht, wie sie darauf reagieren soll. Ihr Vater legt seine Arme um sie und sagt, er brauche nur ihr Verständnis und ihre Unterstützung. Yvonne verkrampft sich in seiner Umarmung.
Yvonne hatte im Laufe der Jahre immer wieder mit den Eheproblemen ihrer Eltern zu kämpfen. Beide Elternteile suchen ihre Nähe und wollten, dass ihre Tochter für die jeweilige Seite Partei ergreift. Das macht Yvonne nervös und sie reagiert überempfindlich auf jede Gefühlsäußerung in ihrem Elternhaus. Sie versucht, den Frieden im Haus zu wahren, indem sie beiden Seiten zustimmt. Anstatt sich mit ihren eigenen Problemen zu befassen, sich zu entwickeln und selbst zu finden, für die Schule zu lernen und Beziehungen zu anderen aufzubauen, wird sie von den Problemen ihrer Eltern aufgefressen. Dabei verliert Yvonne ein Stück von sich selbst.
Narzisstische Eltern weisen ihren Kindern oft Rollen zu, für die sie noch nicht reif sind. Genau wie Yvonnes Vater verletzen sie die normalen Grenzen zwischen Eltern und Kind. Narzisstische Bedürfnisse haben Vorrang vor den Bedürfnissen der Kinder.
Eine mögliche heilende Erfahrung für Kinder von Narzissten bietet die Schule. Zum ersten Mal in ihrem Leben erleben Kinder in der Schule eine andere Realität. Eine warmherzige und unterstützende Lehrkraft kann Kindern helfen, sich nicht mehr wertlos zu fühlen und ein authentisches Selbstwertgefühl zu entwickeln. Haben Kinder in der Schule Erfolg, besteht die Hoffnung, dass sie einigen der schlimmsten Auswirkungen des narzisstischen Missbrauchs entkommen können.
Kinder beginnen in der Jugend, Freundschaften zu schließen, die ihnen zusätzlichen Trost, Halt und Zuneigung geben können. Sie beobachten manchmal Interaktionen in den Familien ihrer Freunde, die ihnen bewusst machen, was sie zu Hause nicht bekommen. Mitunter entwickeln die Kinder auch Beziehungen zu anderen Erwachsenen, die ihnen die nötige Unterstützung geben.
Obwohl die frühen Bindungstypen immer noch Teil des emotionalen Verhaltens der Kinder sind, können diese positiven Erfahrungen außerhalb des Elternhauses ihnen neue Fähigkeiten und Strategien vermitteln, wie etwa die Loslösung von ihrem narzisstischen Elternteil, das Setzen von Grenzen und die Vermeidung von Konflikten. Diese neuen Perspektiven können helfen, sie vor narzisstischem Missbrauch zu schützen.
Die Adoleszenz ist eine Zeit des entwicklungsbedingt normalen Narzissmus im Sinne der Selbstbezogenheit. Erinnern Sie sich, wie selbstkritisch Sie als Teenager waren? Sie haben sich über jeden möglichen Makel, jeden Fehler oder jede Unzulänglichkeit Gedanken gemacht und waren sich sicher, dass alle Welt Sie beobachtet. Teenager sind fast vollständig mit sich selbst beschäftigt.
Sie befinden sich in einer Phase, in der sie ihre Bindungen von der Familie zu Freunden verlagern. Sie kämpfen mit den Veränderungen ihrer Hormone und ihres Körpers. Viele sind unsicher und machen sich zu viele Gedanken über ihre äußere Erscheinung.
Sie machen sich Gedanken darüber, wer sie sind und was aus ihnen werden soll. Vielleicht probieren sie neue Identitäten aus, rebellieren und experimentieren. Narzisstische Selbstbezogenheit ist ein normales Entwicklungsstadium der Adoleszenz. Mit der Zeit wachsen die meisten Teenager aus diesem Stadium heraus.
Für narzisstische Eltern ist diese normale Phase der Adoleszenz jedoch besonders bedrohlich. Die folgenden Eigenschaften von Teenagern sind für narzisstische Eltern eine besondere Herausforderung:
Narzisstische Eltern wenden bei ihren Teenagern ihre üblichen Verhaltensweisen an: Sie sprechen nicht mehr mit ihnen, manipulieren sie, versuchen sie zu gaslighten oder sabotieren ihre Träume. Narzisstische Eltern geben ihre Macht nicht so leicht ab. Ihre Arroganz und ihr Gefühl der Überlegenheit können für einen Teenager unerträglich sein.
Manche Kinder von Narzissten treten aber auch in die Fußstapfen ihrer narzisstischen Eltern und entwickeln sich zu anspruchsvollen, großspurigen Kopien ihrer Eltern. Weitere Informationen über die Folgen einer narzisstischen Erziehung finden Sie im Abschnitt »Mögliche Folgen einer narzisstischen Erziehung« weiter hinten in diesem Kapitel.
Werfen Sie auch einen Blick auf den Abschnitt »Die Folgeschäden einer narzisstischen Erziehung bewältigen«, um Hilfe bei der Überwindung narzisstischen Missbrauchs zu erhalten.
Obwohl sich die Geschlechterrollen im Laufe der Zeit weiterentwickelt und verwischt haben, gibt es immer noch Fragmente traditioneller Stereotypen, die das unterschiedliche Erziehungsverhalten von Müttern und Vätern widerspiegeln. Die Mutterrolle ist, unabhängig vom Geschlecht der jeweiligen Person, in der Regel stärker mit der alltäglichen Betreuung des Kindes beschäftigt. Wenn die Mutter narzisstisch ist, hat das natürlich Konsequenzen.
Narzisstische Mütter gibt es in verschiedenen Ausprägungen. Der erste Typus ist die narzisstische Mutter, die nicht in der Lage ist, das Rampenlicht mit ihren Kindern zu teilen, und diese deshalb abschiebt und die emotionale Betreuung anderen Personen überlässt. Sie hält ihre Kinder für zu bedürftig und stößt sie weg. Die Mutter sucht nach Bewunderung und Aufmerksamkeit von anderen, während ihre Kinder selbst klarkommen müssen.
Eine zweite Art von narzisstischer Mutter »verschlingt« ihre Kinder emotional, sodass sie zu einem Teil von ihr werden. Emotional vereinnahmte Kinder sind mit ihren Müttern verstrickt. Die Verstrickung entsteht, wenn die Grenzen unklar sind. Die Kinder müssen in der Lage sein, das Ego ihrer Mutter zu füttern, um weiterhin akzeptiert zu werden. Diese Mutter richtet die Mutter-Kind-Beziehung auf ihre eigenen Bedürfnisse aus. In einer Rollenumkehrung erwartet sie, dass das Kind die Verantwortung für das Glück der Mutter übernimmt. Auf diese Weise wird verhindert, dass das Kind emotionale Unabhängigkeit entwickeln kann.
Der dritte Typus der narzisstischen Mutter schwankt zwischen Verlassenheit und Verstrickung. Die Mutter ist auf das Kind angewiesen, um emotionale Unterstützung zu erhalten. Wenn das Kind gute Leistungen erbringt und den Status der Mutter verbessert, ist es willkommen. Erbringt das Kind jedoch keine guten Leistungen, wird es im Stich gelassen.
Hinweis: In diesem und den folgenden Abschnitten über Mütter, Töchter, Väter und Söhne verwende ich traditionelle Geschlechterpronomen, um die Lesbarkeit zu erleichtern. Dies bedeutet nicht, dass ich andere Geschlechter oder Identitäten dadurch ausgrenze.
Töchter narzisstischer Mütter sind zu einer ständigen Gratwanderung verdammt. Sie müssen sich fortlaufend bemühen, ihren Müttern zu gefallen, sonst werden sie angefeindet. Narzisstische Mütter drängen ihre Töchter zum Erfolg, aber wenn sie erfolgreich sind, ernten die Mütter die Lorbeeren. Noch schlimmer ist es, wenn Mütter eifersüchtig auf die Erfolge ihrer Töchter sind und sie deshalb meiden oder abweisen. Die Mütter müssen immer ihre Überlegenheit bewahren.
Im folgenden Beispiel lässt die narzisstische Mutter Judith ihre Wut an ihrer Tochter Sophie aus, als diese Judiths Erwartungen nicht erfüllt.
Durch ihr intensives Training belegt Sophie oft den ersten Platz. Nach diesen Erfolgen sieht sie ihre Mutter strahlen und sich mit den anderen Eltern unterhalten. Aber wenn sie nicht den ersten Platz belegt, wird ihre Mutter eiskalt. Und das passiert immer öfter. Judith wirft Sophie vor, sich nicht genug anzustrengen, und versucht, sie dazu zu bringen, mehr Protein zu essen, um ihre Ausdauer zu verbessern.
Mit zunehmendem Alter verliert Sophie immer mehr Interesse am Schwimmen. Sie würde gerne mehr Zeit mit ihren Freunden verbringen. Sie denkt sogar darüber nach, bei der nächsten Schultheateraufführung mitzumachen. Sophie traut sich nicht, das Thema mit ihrer Mutter anzusprechen, aber nach jedem Wettkampf, bei dem sie nicht gewinnt, schreit ihre Mutter sie an, macht sie nieder oder spricht einfach nicht mehr mit ihr. Das wird zu viel für Sophie.
Eines Nachmittags, als sie nach einer weiteren glanzlosen Leistung entmutigt ist, sagt Sophie zu ihrer Mutter: »Ich glaube, ich brauche eine Pause vom Schwimmen. Es macht einfach keinen Spaß mehr.«
Außer sich vor Wut packt Judith Sophies Arm. »Weißt du eigentlich, wie viel ich für dich geopfert habe? Hast du überhaupt keinen Respekt? Ich habe mein Leben für dich auf Eis gelegt, du undankbares Stück Dreck. Du hast eine Mutter wie mich nicht verdient.«
Töchter narzisstischer Mütter werden oft darauf getrimmt, erfolgreich oder attraktiv für andere zu sein. Dabei dringen die Mütter ständig in die Privatsphäre, die Autonomie und den Freiraum ihrer Töchter ein und respektieren keine persönlichen Grenzen. Ihre Motivation ist, durch ihre Töchter mehr Bewunderung und Aufmerksamkeit zu erhalten. Können die Töchter das nicht leisten, werden die Mütter in der Regel bösartig oder schieben ihr Kind weg.
Infolgedessen haben die Töchter das Gefühl, dass Liebe immer an Bedingungen geknüpft ist. Wenn sie tun, was den Müttern gefällt, fühlen sie sich geliebt oder zumindest anerkannt. Sie machen sich zu viele Gedanken darüber, was ihre Mütter erwarten, und entwickeln kein gesundes Gefühl dafür, wer sie selbst sind. Diese Überzeugungen begleiten sie bis ins Erwachsenenalter und führen dazu, dass sie immer wieder bei anderen nach Wertschätzung suchen.
Auch die Söhne narzisstischer Mütter werden emotional vereinnahmt oder verlassen. Narzisstische Mütter benutzen ihren Sohn mitunter dazu, sie emotional zu unterstützen, und verlangen von ihm, dass er die Rolle eines Gefährten übernimmt, der sie mit Bewunderung versorgt. Manche idealisieren ihre Söhne und drängen sie in die Rolle des Retters. Der Sohn wird zum bevorzugten Begleiter seiner Mutter; sie macht ihn zu ihrem besten Freund und Vertrauten.
Dieser bevorzugte Status des Sohnes kann zunichtegemacht werden, sobald der Sohn etwas tut, was seiner Mutter missfällt. Sie kann ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, wenn er Interessen außerhalb ihres Einflussbereichs nachgeht. Wenn er seine Traurigkeit oder seinen Unmut zum Ausdruck bringt, werden ihre Manipulationen oft bösartig. Dazu ein Beispiel:
Sie öffnet den Karton und findet darin einen Toaster. »Soll das ein Scherz sein? Das ist doch kein Geschenk. Ich kann nicht glauben, dass du dein Geld für ein Haushaltsgerät verschwendest. Wofür hältst du mich? Für eine Küchenhilfe? Frauen mögen Schmuck oder Parfüm.«
Seine Mutter stürmt aus dem Zimmer und knallt ihre Schlafzimmertür zu. Stefan fängt an zu weinen, sein Weihnachten ist ruiniert. Er weiß nicht, was er falsch gemacht hat. Sein Vater geht nach draußen, um zu rauchen, und lässt Stefan allein unter dem Baum mit seinen ungeöffneten Geschenken sitzen.
Es ist verwirrend, der Sohn einer narzisstischen Mutter zu sein. Jungen versuchen, unzufriedenen Müttern zu gefallen, die von ihren Söhnen erwarten, dass sie ihre Gedanken lesen können und ihnen jeden Wunsch erfüllen. Stefans Mutter wollte etwas Persönlicheres als einen Toaster, aber woher soll ein Zehnjähriger das wissen?
Von ihren Müttern abhängige Jungen haben oft Probleme damit, im Verlauf ihres Heranwachsens ihre Unabhängigkeit zu entwickeln. Ihre Mütter können mit Eifersucht auf Freunde oder Liebespartner reagieren und versuchen, normale Beziehungen zu sabotieren.
Die Rolle des Vaters ist ebenso wie die der Mutter mit fließenden, sich ständig ändernden Erwartungen verbunden. In der Vergangenheit waren die Väter jedoch weniger an der Kindererziehung beteiligt und mehr mit dem Broterwerb beschäftigt. Diese Stereotypen sind in der heutigen Welt weit weniger ausgeprägt, aber Reste des traditionellen Modells sind in vielen Haushalten noch zu finden.
Ein narzisstischer Vater ist wie alle Narzissten egozentrisch, überlegen und stellt Ansprüche. Wie eine narzisstische Mutter kann er kaum für seine Kinder da sein und überlässt die Erziehung im Grunde anderen. Er taucht aber immer rechtzeitig auf, um sich in ihrem Ruhm zu sonnen, wenn sie erfolgreich sind.
Narzisstische Väter können bei anderen Leuten recht beliebt sein. Sie sind oft gute Geschichtenerzähler, haben fantastische Ambitionen, sehnen sich nach aufregenden Erlebnissen und genießen es, im Mittelpunkt zu stehen. Ihren Kindern gegenüber sind sie jedoch unnahbar und leicht reizbar. Wenn sie wütend werden, bricht entweder die Hölle los oder sie gehen aus dem Kontakt. Narzisstische Väter sind oft kalt, distanziert und wollen, dass ihre Kinder etwas Besonderes leisten, das ihr eigenes Ego aufbläht. Ansonsten bieten sie wenig Unterstützung.
Manchmal interessieren sich narzisstische Väter aber auch übermäßig für ihre Kinder. Dann kontrollieren sie alle Aktivitäten ihrer Kinder, üben starken Einfluss auf deren Entscheidungen aus und nehmen ihnen jegliche Autonomie. Diese verstrickten Väter ziehen verletzliche, unsichere und ängstliche Kinder auf.
Töchter von narzisstischen Vätern führen oft ein verwirrendes Leben. Ihre Väter können in der Öffentlichkeit liebevoll zu ihnen sein, sich aber privat abweisend verhalten. Töchter übernehmen manchmal auch die Rolle einer Ersatzpartnerin. Väter versuchen auf grausame und subtile Weise ihre Töchter dazu zu verleiten, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, und wenden sich dann gegen sie, wenn sie zu bedürftig werden.
Viele narzisstische Väter haben starre Geschlechterstereotypen verinnerlicht und erwarten von ihren Töchtern, dass sie ruhig und unterwürfig sind. Sie können sehr kritisch gegenüber körperlichen Mängeln sein, wenn ihre Töchter beispielsweise leicht übergewichtig sind oder nicht ihren hohen Ansprüchen genügen. Töchter fühlen sich trotz ihrer Leistungen wertlos.
Das folgende Beispiel von Daniela ist bezeichnend für eine ehrgeizige Tochter eines narzisstischen Vaters.
Am nächsten Tag bei der Arbeit erzählt ihr Vater allen Kollegen von den erstaunlichen Leistungen seiner Tochter. Am Ende des Tages weiß jeder im Büro von Danielas Einladung. Doch als er nach Hause kommt, wird der Brief nicht mehr erwähnt. Daniela ist weiterhin gut in der Schule, aber sie hat das Gefühl, dass sie den Ansprüchen ihres Vaters nie gerecht werden kann.
Töchter sind wichtig, wenn man vor anderen mit ihnen angeben kann, aber sie dürfen nicht zu einem größeren Star werden als ihr narzisstischer Vater.
Narzisstische Väter verfallen leicht in einen Wettbewerb mit ihren Söhnen. Sie können Söhne, die ihren Erwartungen nicht entsprechen, verächtlich zurückweisen, aber eifersüchtig sein, wenn diese ihre Erwartungen erfüllen. Söhne wachsen oft in dem Glauben auf, dass sie nie gut genug sein werden.
Nun hat Theo jedoch einen Sohn, Alex, der seinen Vater vermisst. Alex ist ein dünner, schlaksiger Teenager, der kein Interesse am Bodybuilding hat. Theo ermutigt Alex, seine Muskeln aufzubauen, bietet ihm aber nicht an, mit ihm ins Fitnessstudio zu gehen. Er kritisiert Alex‘ Körperbau, seinen mangelnden Antrieb und seine Faulheit. Als Alex versucht sich zu rechtfertigen, hält ihm sein Vater lautstark Vorträge über alle seine Fehler. Dabei lässt Theo auch nicht unerwähnt, dass er seine Ex-Frau für Alex' Unzulänglichkeiten verantwortlich macht. Er wird immer wütender, stößt Alex gegen die Wand und erklärt: »Du bist nicht mein Sohn.«
Diese Wut entstand, weil Alex es nicht schaffte, Theos ohnehin schon aufgeblasenes Ego weiter aufzupumpen. Alex ist verängstigt, traurig und verletzt und will zurück zu seiner Mutter.
Manche Söhne reißen sich ein Bein aus, um den Anforderungen gerecht zu werden, erhalten aber nie Lob oder Anerkennung für ihre Bemühungen. Andere geben aus Verzweiflung auf. Wieder andere ahmen ihre Väter nach und werden selbst zu Narzissten.
Erwachsene Kinder von Narzissten schlagen verschiedene Lebenswege ein. Diese unterschiedlichen Wege können auf genetische Faktoren, das Vorhandensein oder Fehlen eines psychisch stabilen Elternteils oder eines anderen verständnisvollen Erwachsenen, einfühlsame Freunde oder einen guten Therapeuten zurückzuführen sein. Einige Merkmale tauchen jedoch besonders häufig auf.
Von erwachsenen Kindern narzisstischer Eltern wird nach wie vor erwartet, dass sie sich nach den Ansprüchen der Eltern richten. Sie werden dazu angehalten, emotional verfügbar zu sein, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken und ihren immer noch fordernden, anspruchsvollen Eltern auf Abruf zur Verfügung zu stehen.
Erwachsene Kinder von Narzissten sind in einem Minenfeld von emotionalem Missbrauch aufgewachsen. In der Kindheit lernten sie, sich vor der Explosion zu schützen, indem sie die Bedürfnisse ihrer anspruchsvollen narzisstischen Eltern vorausahnend erfüllten. Als Erwachsene behalten sie diese Gewohnheit oft bei, indem sie nach Möglichkeiten suchen, andere glücklich zu machen.
Gefällige Menschen kümmern sich um andere. Sie verschicken immer Geburtstagskarten, bringen Essen für den Pausenraum mit oder besuchen andere im Krankenhaus. Es fällt ihnen schwer, Nein zu sagen. Die Gefälligen wollen Konflikte vermeiden und werden allem zustimmen, um den Frieden zu wahren. Sie entschuldigen sich sogar für etwas, für das sie nicht verantwortlich waren.
Sie sind übermäßig einfühlsam und achten auf die Gefühle anderer Menschen. Sie versuchen unermüdlich, andere aufzumuntern oder zu beruhigen. Sie fühlen sich für die negativen Gefühle anderer verantwortlich, auch wenn sie an der Situation, die diese Gefühle verursacht hat, nicht beteiligt waren. Sie sorgen sich um andere und nicht um sich selbst.
Gefällige Menschen laufen Gefahr, in missbräuchliche Beziehungen verwickelt zu werden. Da sie damit aufgewachsen sind, dass ihre Bedürfnisse hinter denen ihrer narzisstischen Eltern zurückstehen müssen, kann es sein, dass sie im Zusammenleben mit einem misshandelnden Partner in dieses Muster zurückfallen.
Die Gefälligen bitten nicht um Hilfe oder Unterstützung, wenn sie sie brauchen, sondern verbringen ihre Zeit damit, sich um andere zu kümmern. Sie hoffen, die Aufmerksamkeit von ihrem eigenen Gefühl der Unzulänglichkeit abzulenken und ein Gefühl der Kontrolle zu erlangen. Indem sie anderen helfen, versuchen sie, ihre eigenen Entbehrungen in der Kindheit auszugleichen.
Da es unmöglich ist, einen narzisstischen Elternteil vollkommen zufriedenzustellen, wachsen viele Kinder von Narzissten mit dem Gefühl auf, dass sie von Natur aus irgendwie unzureichend sind. Sie werden in dem Glauben erzogen, dass sie fehlerhaft und unwürdig sind, und dieses Gefühl überträgt sich auch auf ihr Leben als Erwachsene. Sie haben möglicherweise Schwierigkeiten, ihr Potenzial auszuschöpfen, weil sie an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln. Sie erbringen vielleicht nicht die gewünschten Leistungen in Studium, Ausbildung oder Beruf. Sie können anderen erlauben, ihre Unsicherheit auszunutzen.
Einige Kinder von Narzissten schaffen es, erfolgreich zu sein. Da ihnen jedoch schon früh beigebracht wurde, dass es gefährlich ist, das Rampenlicht von ihrem narzisstischen Elternteil abzulenken, spielen sie ihre eigenen Leistungen gerne herunter. Anstatt Stolz zu empfinden, werden sie ängstlich. Sie misstrauen ihren Leistungen und betrachten sich oft als Hochstapler. Trotz Lob von außen halten sie sich selbst und ihre Leistungen immer wieder für unzureichend.
Erwachsene Kinder von Narzissten, die eine ängstliche Bindung erlebt haben, sind meist extrem verletzlich und haben Angst vor dem Verlassenwerden. Weitere Informationen zum Thema Bindung finden Sie im Abschnitt »Ein Blick auf die Bindungstypen« weiter vorne in diesem Kapitel. In der Kindheit lebten sie unter ständiger Bedrohung durch emotionale Ausbrüche der Eltern und haben äußerst empfindliche Antennen für potenzielle Gefahren entwickelt.
Da sie zu Hause gelernt haben, sich nicht zu äußern, vermeiden sie dies möglicherweise auch als Erwachsene. Sie fühlen sich angespannt und fürchten sich vor jedem Konflikt. Sie sehnen sich nach Beziehungen, in denen sie ihre eigenen Unsicherheiten überwinden können. Sie suchen bei anderen nach Sicherheit.
Wenn sie dann eine Beziehung eingehen, haben sie ständig Angst, verlassen zu werden, und werden übermäßig abhängig und anhänglich. Sie erwarten vermutlich, dass sie verletzt oder betrogen werden, und nörgeln deswegen möglicherweise ständig an ihren Partnern herum. Sie suchen nach Anzeichen für Untreue und überschreiten dabei die Grenzen des Partners. Diese verzweifelte Suche nach Stabilität hat einen Unterton von Feindseligkeit. Ihre Abhängigkeit kann nach einiger Zeit dazu führen, dass sie ihre Partner vertreiben.
Damit bewahrheitet sich ihre ursprüngliche Angst wieder einmal – die vor dem Verlassenwerden. Diese ängstlichen Erwachsenen geben sich selbst die Schuld für die negativen Entwicklungen und das Versagen und bestätigen damit ihre Ängste.
Erwachsene Kinder von Narzissten mit einem vermeidenden oder desorganisierten Bindungstyp haben gelernt, dass sie niemandem trauen können. Schließlich wurden ihre emotionalen Bedürfnisse in der Kindheit von ihren Bezugspersonen ignoriert oder zurückgewiesen.
Für sie ist die Welt ein grausamer Ort und sie reagieren darauf, indem sie jede Nähe zu anderen Menschen verweigern. Wenn das Vermeiden nicht funktioniert, werden sie unausstehlich und sind schnell verärgert. Sie nehmen oft eine trotzige Grundhaltung ein und wehren sich vehement gegen jede echte oder vermeintliche Kritik.
Sie greifen eventuell zu Manipulationen, Charme oder Betrug, um zu bekommen, was sie wollen. Diesen vermeidenden Erwachsenen macht es nichts aus, andere auszunutzen, weil sie sich in Wirklichkeit um niemanden außer sich selbst kümmern. Hinter dieser Fassade verbirgt sich jedoch ein verletztes Kind, das zu wenig Liebe erfahren hat.
Einige erwachsene Kinder von Narzissten übernehmen die Charakterzüge ihres narzisstischen Elternteils. Vielleicht als Bewältigungsmechanismus, um das Trauma der Ablehnung und Zurückweisung durch den narzisstischen Elternteil zu überwinden, sind diese Kinder in der Lage, die gleiche Verachtung für andere zu entwickeln, die ihre Eltern für sie hatten. Das macht sie großspurig, eingebildet und selbstsüchtig.
Diese erwachsenen Kinder sind möglicherweise etwas verletzlichere Narzissten, die kratzbürstig, leicht zu beleidigen und bösartig oder rachsüchtig sind. Diese Verletzlichkeit ist jedoch ein starker Schutz gegen Angriffe auf ihr übermäßig aufgeblasenes, aber äußerst zerbrechliches Ego. Sie behalten ihre überlegene, privilegierte Selbsteinschätzung bei, bleiben aber wachsam. Sie benutzen andere Menschen als Objekte, die sie mit Bewunderung überhäufen sollen.
Andere Kinder von Narzissten zeigen eher die grandiosen Züge des Narzissmus. Sie machen sich keine Sorgen über mögliche Angriffe auf ihr Ego, weil sie von ihrer Grandiosität, Einzigartigkeit und Besonderheit überzeugt sind. Ihnen fehlt es an Einfühlungsvermögen und sie manipulieren andere, um zu bekommen, was sie wollen. Selbst wenn sie einen schweren Misserfolg erleben, weisen sie ihn von sich und schieben anderen die Schuld dafür zu. In Kapitel 2 finden Sie weitere Informationen über verletzliche und grandiose Narzissten.
Um mit einem narzisstischen Elternteil besser umgehen zu können, sollten Sie sich zunächst über die vielen Facetten des Narzissmus informieren. Es ist schwer, einen unsichtbaren Feind zu bekämpfen. Nehmen Sie sich also etwas Zeit, um sich mit den Mechanismen des Narzissmus und den Auswirkungen auf Ihre Kindheit zu beschäftigen. Denken Sie in Ruhe über diese Themen nach.
Denken Sie über die folgenden Fragen nach und schreiben Sie Ihre Antworten auf:
Nachdem Sie über diese Fragen nachgedacht haben, entscheiden Sie, was Sie in Zukunft tun wollen. Ihren narzisstischen Elternteil und seine Forderungen nach Macht, Kontrolle, Aufmerksamkeit und völliger Zustimmung haben Sie als Kind wahrscheinlich als traumatisch empfunden. Wie empfinden Sie ihn jetzt, als Erwachsener?
Einige Erwachsene mit einem narzisstischen Elternteil bleiben in der selbstverliebten Welt ihrer Eltern verstrickt und erfüllen nach wie vor jede ihrer Forderungen. Manche versuchen, ihre narzisstischen Eltern zu ändern, was ihnen aber selten gelingt. Andere brechen den Kontakt ab. Wieder andere halten den Kontakt möglichst kurz und oberflächlich. Wie auch immer man sich entscheidet, es ist schwierig, sich in dieser Welt zurechtzufinden.
Eine Grenze ist eine Trennungslinie. Sie kann physisch sein, wie zum Beispiel ein Zaun oder die Grenzlinie, die verschiedene Staaten oder Länder abgrenzt. Ihre Haustür ist eine Grenze, die den privaten Bereich Ihres Zuhauses abschließt. Dort heißen Sie vielleicht Ihre Familie oder sogar einige enge Freunde willkommen, wenn sie ohne anzuklopfen hereinkommen. Aber wenn das ein Fremder versucht, rufen Sie die Polizei.
Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeit neigen dazu, die Grenzen anderer Menschen zu überschreiten, ohne darüber nachzudenken. Ihre Anspruchshaltung erlaubt es ihnen oft, sich darüber hinwegzusetzen, was andere für fair halten. Und ihre Arroganz kann die Gefühle anderer verletzen.
Im Umgang mit narzisstischen Eltern ist es für erwachsene Kinder wichtig, klare Grenzen zu setzen, um sich vor weiterem emotionalen Missbrauch zu schützen. Die folgenden Grundsätze helfen Ihnen, Ihre eigenen Grenzen zu definieren:
Grenzen zu setzen kann äußerst schwierig sein, insbesondere für jemanden, der ein Trauma oder Missbrauch erlebt hat. Wenn Sie sich nicht an Ihren Plan halten können, sollten Sie einen Psychotherapeuten um Unterstützung bitten.
Es gibt noch viele weitere Grenzen und Strategien, die Sie gegenüber Ihrem narzisstischen Elternteil entwickeln können. Seien Sie so unmissverständlich wie möglich, wenn Sie Ihre Grenzen aufzeigen. Erläutern Sie die Grenze und die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn sie übertreten wird.
Das folgende Beispiel veranschaulicht diesen Prozess.
Erwin konfrontiert seine Mutter damit, die natürlich leugnet, dass sie etwas falsch macht. Sie greift zu Gaslighting, um zu suggerieren, dass Erwin und Marta sich nur etwas einbilden. Erwin kennt diesen Trick und sagt nur: »Wenn du uns weiterhin sehen willst, dann musst du Marta mit Respekt behandeln. Wenn du das nicht tust, werden Marta und ich gehen. Wir können versuchen, uns nach ein paar Monaten wieder zu treffen, aber wenn es wieder vorkommt, werden wir uns irgendwann gar nicht mehr mit dir treffen.«
Das wird vielleicht nicht einfach sein, aber Konsequenz kann manchmal eine Lernerfahrung für Narzissten sein. Und wenn es nicht gut ausgeht, schützen Sie sich durch den Kontaktabbruch vor weiteren narzisstischen Übergriffen.
Das Ziel einer guten Erziehung ist es, Kinder zu lieben, zu fördern und ihnen beizubringen, wie sie sich zu gut funktionierenden Erwachsenen entwickeln können. Eltern lieben ihre Kinder, damit sie sie schließlich verlassen können. Ausreichend gute Eltern sind nicht perfekt, und das müssen sie auch nicht. Sie sind in der Lage zu erkennen, dass ihre Erziehungsfehler keine Katastrophen sind und dass Eltern immer wieder auf den richtigen Weg zurückfinden können.
Bei einem narzisstischen Elternteil lässt sich das Ziel einer ausreichend guten Elternschaft oft nicht reibungslos erreichen. Narzissten haben im Allgemeinen ein gespaltenes Verhältnis zur Emanzipation ihrer erwachsenen Kinder. Als Narzissten fordern sie weiterhin Aufmerksamkeit und Bewunderung, und wie immer müssen ihre Bedürfnisse an erster Stelle stehen.
Deshalb kann es für erwachsene Kinder schwierig sein, das Nest zu verlassen. Wenn sie im Bannkreis eines narzisstischen Elternteils bleiben, führt das zu noch mehr Missbrauch und Schmerz.
Machen Sie sich klar, dass Ihr Elternteil sich nicht ändern wird und Sie Ihre Biografie nicht ändern können. Sie müssen jedoch nicht ein Gefangener des Missbrauchs bleiben. Sie können die Realität dessen, was geschehen ist, anerkennen und akzeptieren. Sie können im Wissen um den Schmerz weiterleben und trotzdem die nächsten Schritte in Ihrem Leben gehen.
Obwohl Sie mit einem narzisstischen Elternteil aufgewachsen sind, dürfen Sie zuversichtlich sein, denn Sie haben die Möglichkeit, das narzisstische Muster in Ihrem eigenen Leben zu durchbrechen. Ihre narzisstische Erziehung gibt Ihnen Hinweise, wie Sie dieses dysfunktionale Muster bei Ihren eigenen Kindern nicht wiederholen.
Wenn Sie den Punkt erreicht haben, an dem Sie verstehen und akzeptieren können, was Sie durchgemacht haben, empfinden Sie vielleicht tiefe Traurigkeit über all das, was Sie nie hatten oder verloren haben. Jeder wünscht sich eine glückliche Kindheit, in der sich die Familie um den Esstisch versammelt. In dieser Idealfamilie spielen die Eltern mit ihren Kindern, es wird gelacht und geliebt.
Wenn Sie in einer Familie mit einem narzisstischen Elternteil aufgewachsen sind, war dieses idyllische Familienbild wahrscheinlich nicht vorhanden. Es ist angemessen, dass Sie diesen Mangel betrauern. Trauern Sie um den Verlust dessen, was hätte sein sollen.
Sie sollten jedoch wissen, dass Sie nicht allein sind. Viele haben so gelitten wie Sie. Und Sie leben weiter. Schütteln Sie den Ballast ab, entscheiden Sie, was Sie vom Leben wollen, und entdecken Sie, wie Sie selbst Ihren Weg gehen können.