Kapitel 16

Jeder ist etwas Besonderes: Kultur und Narzissmus

IN DIESEM KAPITEL

  • Wie die Kultur die Anspruchshaltung unterstützt
  • Kinder erhalten falsche Botschaften
  • In den Spiegel der Kultur schauen

Narzissten glauben, sie seien etwas Besonderes und besser als andere. Daher haben sie das Anrecht, alle Wettbewerbe zu gewinnen, den größten Preis zu erhalten und von einem bewundernden Publikum voller Fans, Freunde und Anhänger angefeuert zu werden. Diese Freunde oder Anhänger sind notwendig, um das ausgehungerte Selbstwertgefühl von Narzissten aufrechtzuerhalten. Die narzisstische Kultur, die sich im Reality-Fernsehen, in den sozialen Medien und im Berühmtsein widerspiegelt, bietet mehr als reichlich Unterstützung für solche narzisstischen Bedürfnisse.

Eine Kultur des Narzissmus belohnt Erfolg, Schönheit, Jugend, Macht, Geld und Status. Sie ist im Wesentlichen auf sich selbst und nicht auf andere ausgerichtet. Die Kultur des Narzissmus, von der man früher annahm, dass sie vor allem in den westlichen Industrieländern anzutreffen sei, breitet sich weltweit aus, vor allem aufgrund der einfachen Kommunikation über die sozialen Medien.

In der Tat bietet der kulturelle Bereich den meisten Menschen, ob Narzissten oder nicht, die Möglichkeit, von anderen gesehen und gefeiert zu werden. Diese Gelegenheiten bieten sich unabhängig von den Talenten oder dem Prominentenstatus der betreffenden Personen. Im Reality-Fernsehen und in den sozialen Medien werden auch Menschen gezeigt, die nicht über außergewöhnliche Fähigkeiten oder Talente verfügen.

In diesem Kapitel wird untersucht, wie eine narzisstische Kultur Belohnungen und Aufmerksamkeit für jeden bereitstellt, der sie sucht. Darüber hinaus verdrängt diese Kultur Bestrebungen wie Neugier, harte Arbeit, Mäßigung und Spitzenleistungen. Stattdessen gilt es als erstrebenswertes Ziel, gut und jung auszusehen und schlank zu bleiben. Solche oberflächlichen Ambitionen führen oft zu verheerenden Verhaltensweisen bei denjenigen, die um diese Ziele kämpfen. In diesem Kapitel werden auch diese Verhaltensweisen und ihre Folgen betrachtet.

Belohnungen für jedermann: Die Schattenseiten der Selbstwertgefühlbewegung

Die Selbstwertgefühlbewegung in den Vereinigten Staaten entstand in den 1960er-Jahren, zur Zeit der Bürgerrechtsproteste und des Vietnamkriegs, der Ermordung von John F. Kennedy und Martin Luther King Jr. sowie der ersten Weltraumflüge. Die auf dem Nährboden von Protesten, tragischen Ereignissen und Hoffnung entstandene Bewegung ist wie eine mehrjährige Pflanze, die bis zum heutigen Tag immer wieder aufblüht. Die Bewegung schlug solide Wurzeln in der Psychologie, der Bildung, der Wirtschaft, der Werbung und der Boulevardpresse. Sie versprach, dass die Steigerung und Bewahrung eines hohen Selbstwertgefühls zu Glück, hohen schulischen Leistungen, guter seelischer Gesundheit, stabilen Beziehungen, verbesserter körperlicher Gesundheit, finanziellem Erfolg und sozial verantwortlichen Bürgern führen würde.

Jahrzehntelange Forschung hat die Versprechungen der Selbstwertgefühlbewegung in keiner Weise bestätigt. Tatsächlich hat die Forschung gezeigt, dass trotz der Bemühungen, das Selbstwertgefühl zu verbessern, die meisten der versprochenen Vorteile nicht eingetreten sind. Dennoch gedeiht die Selbstwertgefühlbewegung weiter wie ein hartnäckiges Unkraut.

Ein Grundsatz der Selbstwertgefühlbewegung lautet, dass es wichtig ist, negative Rückmeldungen auf ein Minimum zu beschränken, insbesondere bei Kindern. Dieser Grundsatz hat sich im Sport und vor allem im Bildungssystem durchgesetzt.

Die Selbstwertgefühlbewegung steht in engem Zusammenhang mit dem Narzissmus. Narzissten halten sich selbst für wunderbar und hassen negative Rückmeldungen. Selbst wenn sie versagen, leugnen sie dies oder geben anderen die Schuld. Ein übermäßig positives Selbstwertgefühl geht Hand in Hand mit Narzissmus. Mehr über den Zusammenhang zwischen Selbstwertgefühl und Narzissmus finden Sie in Kapitel 10.

Leere Auszeichnungen: Der Vormarsch der Teilnahmetrophäe

Kürzlich sah ich mir den Beitrag eines Freundes in den sozialen Medien an, der das Problem der Teilnahmetrophäen verdeutlichte. Eine Familie hatte an einem Schulprogramm teilgenommen, das mit einem Pizzaessen endete, um die Auszeichnung ihres Kindes für »Respekt« zu feiern. Die Bilder der stolzen Eltern und des strahlenden Kindes, das eine goldumrandete Urkunde hochhielt, waren für alle zu sehen.

Ich fragte mich, welcher besondere Akt des Respekts bemerkenswert genug war, um eine Belohnung zu verdienen, geschweige denn eine Pizza-Party. Kann man Respekt in der Schule nicht einfach erwarten? Offenbar nicht. Welche Botschaft wird vermittelt, wenn Kinder für ein gewöhnliches, normales Verhalten belohnt werden? Vielleicht schmälert es die Erwartung, dass Kinder ihre Mitmenschen respektieren sollten, weil es das Richtige ist, und nicht, weil sie eine Belohnung mit Goldrand dafür bekommen.

Teilnahmetrophäen oder -urkunden haben sich im Sport und in der Schule etabliert. Sie sind ein Versuch, schlechte Gefühle, Misserfolge und Enttäuschungen zu beseitigen und ein unbegründetes, nicht zu rechtfertigendes Selbstwertgefühl aufzubauen. Kinder erhalten Trophäen einfach dafür, dass sie in einem Team sind, an einem Wissenschaftsprojekt teilnehmen oder, wie bereits erwähnt, respektvoll sind.

Ob sie gewinnen oder verlieren, ob sie hart gearbeitet haben oder schlampig waren, alle nehmen eine Trophäe mit nach Hause. Im Laufe der Jahre sammeln viele Kinder einen Haufen sinnloser, unbedeutender Orden, Urkunden und Trophäen an, die in der Regel im Regal verstauben und irgendwann vergessen werden.

Ich bin mir des Arguments bewusst, dass es in der Regel gut für Kinder ist, bestimmte Verhaltensweisen zu belohnen. Bis zu einem gewissen Grad stimme ich dem zu. Aber Belohnungen sollten eine sinnvolle Botschaft vermitteln, die auf einer tatsächlichen Leistung beruht. Und dabei geht es nicht nur ums Gewinnen. Wenn sich zum Beispiel ein Kind in einer Mannschaft stark bemüht und sich im Laufe der Saison verbessert, ist es völlig in Ordnung, seine Bemühungen mit einer Urkunde zu würdigen, auf der steht, dass es sich »am stärksten« verbessert hat.

Wenn jedoch alle Kinder Trophäen für ihr bloßes Erscheinen erhalten, werden alle Teilnehmer belohnt, auch diejenigen, die ihre Mitspieler und den Trainer in den sozialen Medien mit herablassender Geringschätzung behandelt haben. Dieses Verhalten ist nicht gerade löblich, aber es wird dennoch mit Teilnahmetrophäen belohnt.

Andererseits sollten Eltern, Lehrer und Trainer beachten, dass Teilnahmetrophäen im Sport durchaus ihren Platz haben. Wenn sehr junge Kinder, die noch nicht wissen, was Gewinnen oder Verlieren bedeutet, in einer Mannschaft großen Einsatz zeigen, ist es völlig in Ordnung, ihre Bemühungen zu belohnen. Mit der Zeit bekommen Gewinnen und Verlieren jedoch eine viel größere Bedeutung und Wichtigkeit. Und dann sollte die bloße Teilnahme nicht mehr honoriert werden.

Sagen Sie den Kindern, wie sehr sie sich angestrengt haben, oder klopfen Sie ihnen auf die Schulter, wenn sie gut, sauber und fair gespielt haben. Verteilen Sie Urkunden für besondere Leistungen. Und laden Sie alle Kinder am Ende der Saison zu einer Pizza-Party ein, egal ob sie gewonnen oder verloren haben. Aber heben Sie die Trophäen nur für die Besten auf.

Leere Belohnungen vermitteln den Menschen die Botschaft, dass sie Aufmerksamkeit und Beifall verdienen, unabhängig davon, ob ihre Leistung dies rechtfertigt oder nicht. Unverdiente Trophäen legen den Grundstein für Narzissmus. Und Narzissten macht es überhaupt nichts aus, diese bedeutungslosen Trophäen anzunehmen.

Spieglein, Spieglein an der Wand …

Eine wichtige Komponente des Selbstwertgefühls bezieht sich auf Schönheit und Attraktivität. Dieser Aspekt der Selbsteinschätzung wird durch die Medien noch verstärkt. Schauen Sie sich nur einmal an, wie groß der Anteil der Werbung ist, in der es um Gewichtsabnahme, Kosmetika und Möglichkeiten geht jünger auszusehen. Zu diesem Zweck werden in Werbespots und Anzeigen sowie in den sozialen Medien perfekte Gesichter, Körper und Leben präsentiert.

Heutzutage werden die Menschen ständig zur Schau gestellt. Unsere Kultur spiegelt eine Besessenheit vom äußeren Erscheinungsbild wider. Narzissten sind sich ihres Aussehens sehr bewusst und dafür bekannt, dass sie sich mit Chic kleiden. Sie werden außerdem eher als gut aussehend eingestuft als andere. Ihr auffälliges Aussehen verschafft ihnen die Aufmerksamkeit, nach der sie sich ständig sehnen.

Im Spiegel betrachtet: Davon profitieren, als attraktiv zu gelten

Das Bestreben von Narzissten, gut auszusehen, hat möglicherweise einige zusätzliche Vorteile. Mehrere Studien haben sich mit den vermutlichen Vorteilen des guten Aussehens befasst. Die Ergebnisse zeigen, dass attraktive Menschen

  • als ehrlicher eingeschätzt werden
  • mit größerer Wahrscheinlichkeit für eine Stelle ausgesucht werden
  • besser bezahlt werden
  • in Gerichtsverfahren seltener für schuldig befunden werden
  • mehr Hilfe von anderen erhalten können
  • leichter mit schlechtem Verhalten in der Schule davonkommen
  • besonders geschickt bei der Partnersuche sind
  • als intelligenter wahrgenommen werden
  • eher bessere Noten in der Schule erhalten
  • bessere Noten in Tests erzielen
  • eher eine Wahl gewinnen können
  • anziehender auf Babys wirken
  • als vertrauenswürdiger wahrgenommen werden
  • als kompetenter eingeschätzt werden

Es scheint viele Gründe zu geben, sich als attraktive Person zu präsentieren. Sicherlich fördert eine Kultur, die den Narzissmus verstärkt, das gute Aussehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass attraktive Menschen eine bessere Behandlung verdienen oder wertvoller, intelligenter oder kompetenter sind als andere.

Gut aussehen

Narzissten sind sich der Vorteile eines guten Aussehens sehr wohl bewusst. Sie sind viel mehr darauf bedacht, ein ansprechendes Äußeres zu bewahren als ein ansprechendes Inneres. Die narzisstische Kultur forciert diese Sichtweise.

Die Evolutionstheorie besagt, dass die Fortpflanzung einen großen Teil des menschlichen Verhaltens motiviert. Mit anderen Worten: Menschen überleben, indem sie ihre Gene weitergeben. Menschen, die als attraktiv angesehen werden, sind eher in der Lage, Partner zu finden, um sich fortzupflanzen.

Attraktivität wird mit einer Vielzahl von Merkmalen in Verbindung gebracht. Ergebnisse von Studien deuten darauf hin, dass Merkmale, die als attraktiv gelten, in den verschiedensten Kulturen einheitlich sind. Zu diesen Merkmalen zählen beispielsweise:

  • Jugend: Jüngere Menschen werden als attraktiver betrachtet als ältere Menschen.
  • Symmetrie: Sowohl die Symmetrie des Körperbaus als auch die des Gesichts werden als besonders ansprechend empfunden.
  • Das Weiß der Augen (Sklera): Je weißer, desto besser.
  • Körperform: Das Verhältnis von Taille zu Hüfte bei Männern und Frauen. Eine schmalere, kurvigere Form gilt bei Frauen als erstrebenswerter; bei Männern wird eine muskulöse, große Brust als attraktiver wahrgenommen.
  • Gesundheit: Gesund aussehende Menschen wirken auf andere attraktiver als solche, die kränklich aussehen.

Narzissten sind von dem Wunsch besessen, für andere attraktiv zu sein. Sie sind auch bestrebt, attraktive Partner zu finden, um ihren eigenen Status zu erhöhen. Wenn Narzissten den Attraktivitätsstandards nicht entsprechen, greifen sie zu Täuschungsmaßnahmen wie Kosmetika, Schönheitsoperationen, Haarfärbemitteln oder Implantaten.

Man kann nie fit genug sein

Es wurden mehrere Studien über Narzissmus im Zusammenhang mit übermäßigem Sport durchgeführt. Narzissten wollen einen perfekten Körper haben, und viele glauben, dass Sport eine Möglichkeit bietet, dies zu erreichen. Bei Narzissten besteht die Gefahr, dass sie eine Sucht nach Sport entwickeln.

Darüber hinaus gibt es Untersuchungen, die Narzissmus mit Orthorexie in Verbindung bringen. Diese Essstörung ist mit radikalen Diäten verbunden, bei denen die Betroffenen von der Reinheit der Nahrung besessen sind. Diese Besessenheit führt zu Beziehungsproblemen, übermäßigen Ausgaben für spezielle Diäten und manchmal zu Unterernährung.

Narzissmus ist besonders häufig bei Bodybuildern anzutreffen. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf dem Streben nach einem perfekten Körper. Eine Studie zum Steroidkonsum bei Bodybuildern ergab unter anderem, dass der Narzissmus bei Bodybuildern mit dem Beginn der Einnahme von Steroiden tendenziell zunahm.

Alterserscheinungen

In einigen Kulturen genießen Menschen, die ein hohes Alter erreichen, viele Vorzüge. Sie werden verehrt und ihre Meinung ist aufgrund ihres großen Erfahrungsschatzes hoch angesehen. In narzisstischen Kulturen wird das Altern vor allem mit dem Verlust von Attraktivität, Kraft und geistiger Schärfe gleichgesetzt.

Der Kampf gegen das Altern beginnt bereits in den mittleren Lebensjahren. Zu den Verfahren, die ein jugendlicheres Aussehen versprechen, gehören Faltencremes, Botox, plastische Chirurgie und Kosmetik. Unerprobte Nahrungsergänzungsmittel versprechen einen schärferen Verstand. Und die Chirurgie pumpt schlaffe Körper auf und strafft sie.

Narzissten sehnen sich nach dauerhafter Attraktivität. Deshalb suchen sie wie besessen nach dem Jungbrunnen und nach Heilmitteln für das, was sie als Altersschwäche empfinden.