Kapitel 10

Selbstwertgefühl und Narzissmus

IN DIESEM KAPITEL

  • Tieferes Verständnis von Selbstwertgefühl
  • Die Unterschiede zwischen Narzissmus und Selbstwertgefühl begreifen
  • Zerbrechliches Selbstwertgefühl verstehen

Wie schätzen Sie sich selbst ein? Sind Sie mit der Person, die Sie heute sind, zufrieden? Gab es in Ihrem Leben Zeiten, in denen Sie sich minderwertig oder unsicher fühlten? Gab es Zeiten, in denen Sie optimistisch waren und das Gefühl hatten, dass Sie Ihr Leben meistern?

Die Selbstwahrnehmung der meisten Menschen ist Schwankungen unterworfen. Phasen der Zuversicht und Hoffnung wechseln sich mit Phasen der Entmutigung ab. Aber abgesehen von diesen Schwankungen haben Sie wahrscheinlich ein relativ stabiles Selbstverständnis und wissen, was Sie im Kern ausmacht.

Das Selbstwertgefühl gründet darauf, wie Sie sich selbst sehen und welches Ihre persönlichen Werte und Wertvorstellungen sind. Es ist Ihr Gefühl dafür, wie Sie im Vergleich zu anderen und zu Ihren eigenen Maßstäben dastehen.

In diesem Kapitel erkläre ich, wie Selbstwertgefühl und Narzissmus zusammenhängen und wie sie sich im Laufe des Lebens voneinander unterscheiden, einschließlich des Unterschieds zwischen narzisstischem Selbstwertgefühl und adaptivem hohen Selbstwertgefühl. Außerdem erläutere ich, wie das bei Narzissten häufig anzutreffende fragile Selbstwertgefühl leicht infrage gestellt und entkräftet werden kann.

Grundsätzliches zum Selbstwertgefühl

Die meisten Menschen glauben, dass es äußerst wichtig ist, ein hohes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Es wird oft im Zusammenhang gesehen mit schulischem Erfolg, guten Beziehungen und einer erfolgreichen Karriere. Man geht generell davon aus, dass ein hohes Selbstwertgefühl das allgemeine emotionale Wohlbefinden und Glück steigert.

Eine weitere Annahme ist, dass ein geringes Selbstwertgefühl für viele verschiedene Probleme verantwortlich ist, darunter

  • schlechte schulische Leistungen,
  • Gewalttätigkeit und Straffälligkeit,
  • Depressionen, Angstzustände und andere psychische Probleme,
  • zwischenmenschliche Probleme,
  • Probleme mit dem Körperbild,
  • schlechte Leistungen im Beruf.

Es wird weithin für wichtig gehalten, dass Eltern, Erzieher und andere bedeutsame Bezugspersonen sich vor allem darauf konzentrieren sollten, Kindern zu einem hohen Selbstwertgefühl zu verhelfen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich einige dieser Annahmen infrage stellen und Selbstwertgefühl und Narzissmus genauer unter die Lupe nehmen.

Drei Facetten des Selbstwertgefühls

Ich halte mich für einen guten Menschen. Ich habe wunderbare Kinder großgezogen, die einer sinnvollen Arbeit nachgehen, gute Beziehungen und ein befriedigendes Leben genießen. Ich hatte das Glück, eine Karriere in den Bereichen Pädagogik und Psychologie zu machen, die für mich sehr erfüllend war. Und ich habe eine enge, langjährige Beziehung zu meinem Mann. Diese Errungenschaften haben mir ein einigermaßen hohes Selbstwertgefühl vermittelt.

Auf der anderen Seite bin ich eine furchtbare Basketballspielerin, habe bisher fast alle meine Tomatenpflanzen verkümmern lassen, kann kaum einen Knopf an ein Hemd annähen und habe Probleme damit, die Anleitungen zum Zusammensetzen der Spielsachen meines Enkels zu befolgen, wenn sie aus mehr als drei Teilen bestehen.

Wie schaffe ich es angesichts dieser unbestreitbaren Mängel, trotzdem ein hohes Selbstwertgefühl zu bewahren? Das kann ich, weil mir diese Mängel eigentlich egal sind – sie erschüttern nicht mein Selbstwertgefühl oder meinen Wert als Mensch.

Das Selbstwertgefühl hat drei Merkmale:

  • Das erste betrifft die Wahrnehmung einer Eigenschaft oder mehrerer Eigenschaften der eigenen Person. Zum Beispiel: Ich lasse regelmäßig Tomatenpflanzen eingehen.
  • Das zweite ist das eigene Urteil über diese Eigenschaften. Ich bin der Meinung, dass ich denkbar ungeeignet bin, Tomatenpflanzen zu züchten.
  • Das dritte ist die emotionale Reaktion auf diese Eigenschaften und die ihnen zugemessene Bedeutung. Ich reagiere so gut wie gar nicht auf diesen Mangel, weil ich auf dem Wochenmarkt wunderbare Tomaten kaufen kann. Mein Selbstwertgefühl wird also nicht durch meine Unfähigkeit beeinträchtigt, erfolgreich Tomaten anzubauen.

Letztendlich ist das Selbstwertgefühl also keineswegs eine umfassende Bewertung Ihres gesamten Selbst. Es beschränkt sich auf die Eigenschaften, die für Sie wichtig sind. Ein hohes Selbstwertgefühl bedeutet nicht, dass Sie alles in Ihrem Leben toll finden. Aber ein geringes Selbstwertgefühl bedeutet auch nicht, dass Sie ein totaler Verlierer sind. Beim Selbstwertgefühl geht es in erster Linie um Ihre Wertvorstellungen, also darum, wie sehr Sie danach leben, und darum, wie sehr Sie sich emotional auf diese Werte einlassen.

Selbstwertgefühl entwickeln

Die Entwicklung eines einigermaßen hohen Selbstwertgefühls wird mit mehreren Faktoren in Verbindung gebracht. Elterliche Wärme und Zuneigung scheinen die wichtigsten Zutaten zu sein, Kinder so großzuziehen, dass sie sich als wertvoll und kompetent erleben. Wichtig ist auch, Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre Umgebung unter liebevoller Aufsicht zu erforschen, und sie für ihre Bemühungen angemessen zu loben.

Darüber hinaus trägt es zu einem hohen Selbstwertgefühl bei, wenn Eltern ihre Kinder durch Anleitung und Vorbildfunktion dazu anhalten, neue Fähigkeiten zu erlernen, und wenn sie harsche persönliche Kritik vermeiden, wenn Kinder bei ihren Versuchen scheitern. Mehr über Elternschaft und ein hohes oder niedriges Selbstwertgefühl erfahren Sie in Kapitel 6.

Wenn Ihr Kind gute Leistungen erbringt, sagen Sie nicht »guter Junge« oder »gutes Mädchen«, denn das ist eine persönliche Bewertung des Kindes insgesamt. Konzentrieren Sie sich stattdessen auf die Anstrengung oder die besondere Leistung Ihres Kindes, beispielsweise: »Das Bild, das du gemalt hast, gefällt mir; du hast dir viel Mühe damit gegeben.« Wenn sich Ihr Kind danebenbenimmt, kritisieren Sie das Verhalten, nicht das Kind. Sagen Sie zum Beispiel nicht »böses Mädchen« oder »böser Junge«, wenn Ihr Kleinkind ein anderes Kind schlägt, sondern sagen Sie stattdessen: »Ich will nicht, dass du andere Kinder schlägst. Das ist nicht nett.«

Geringes Selbstwertgefühl

Jahrzehntelang glaubten die Psychologen, dass ein geringes Selbstwertgefühl für alle Übel der Gesellschaft verantwortlich sei. Das war der Anlass für eine Initiative, die das Selbstwertgefühl aller Menschen auf das höchstmögliche Niveau heben sollte. Diese Initiative begann in den frühen 1960er-Jahren und wird auch heute noch praktiziert. Sie ist größtenteils dafür verantwortlich, dass Kinder Trophäen für ihre Teilnahme an schulischen oder sportlichen Aktivitäten erhalten, dass jeder als etwas Besonderes angesehen wird und dass es Eltern und Lehrern immer schwerer fällt, Grenzen zu setzen. Auch die sozialen Medien haben die Art und Weise beeinflusst, wie Kinder und Jugendliche sich selbst sehen. In Kapitel 16 finden Sie weitere Informationen zu Anspruchsdenken und Kultur.

Ein geringes Selbstwertgefühl ist zwar nicht wünschenswert, hat sich aber als nicht annähernd so schädlich für schulische Leistungen, Straffälligkeit oder Beziehungen erwiesen, wie bisher angenommen. Es hat sich sogar gezeigt, dass Narzissmus und ein übermäßig positives Selbstwertgefühl mit Aggression und Straffälligkeit in Verbindung stehen (siehe Kapitel 11). Einige Forscher stellen jedoch einen Zusammenhang zwischen geringem Selbstwertgefühl und zwischenmenschlichen Problemen, Bildungs- und Arbeitsschwierigkeiten sowie psychischen Störungen wie Ängsten und Depressionen her. Insgesamt sind die Forschungsergebnisse uneinheitlich und zuweilen widersprüchlich. Es muss mehr geforscht werden.

Das Problem ist, dass sich das Selbstwertgefühl nicht dadurch steigern lässt, dass man Menschen zu positiven Selbstbestätigungen drängt oder unverdientes Lob ausspricht. Es reicht nicht, Menschen mit geringem Selbstwertgefühl zu sagen, dass sie etwas Besonderes sind, um dann zu erwarten, dass sie ein hohes Selbstwertgefühl bekommen. Das Selbstwertgefühl muss auf Akzeptanz, Wertschätzung und soliden Leistungen beruhen, die mit den Werten der Person übereinstimmen.

Zusammenhang zwischen Narzissmus und Selbstwertgefühl

Narzissten erzielen bei Messungen des Selbstwertgefühls häufig hohe Werte. Bei diesen Messungen geht es darum, ob sich eine Person selbst wertschätzt und zufrieden fühlt oder nicht. Es gibt tatsächlich eine kleine positive Korrelation zwischen hohem Selbstwertgefühl und Narzissmus. Der Unterschied zwischen einem hohen Selbstwertgefühl und Narzissmus besteht im Grunde darin, dass Narzissten glauben, sie seien anderen überlegen.

Darüber hinaus zeigen Forschungsergebnisse, dass sich manche Narzissten zwar privilegiert, arrogant und überlegen, aber trotzdem wertlos fühlen. Die Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung und dem Gefühl, nicht wertvoll zu sein, führt dazu, dass Narzissten bei der Messung ihres Selbstwertgefühls manchmal schlechter abschneiden. Umgekehrt erreichen viele Menschen, die bei der Messung des Selbstwertgefühls gut abschneiden, nicht unbedingt auch einen hohen Wert auf der Narzissmus-Skala.

Untersuchungen darüber, wie Menschen mit hohem Selbstwertgefühl oder Narzissmus im Alltag ticken, zeigen, dass beide Personengruppen sich gegenüber anderen als durchsetzungsfähig zeigen, nach Belohnungen streben und das Gefühl haben, ihr Handeln weitgehend selbst kontrollieren zu können. Darüber hinaus sind Menschen mit hohem Selbstwertgefühl, die jedoch nicht narzisstisch veranlagt sind, im Allgemeinen sehr ausgeglichen, gewissenhaft, zeigen in schwierigen Situationen Durchhaltevermögen und unterhalten gute Beziehungen zu anderen.

Narzissten hingegen sind eher unangenehm, ungehalten, gleichgültig und anspruchsgetrieben und neigen stärker zu Aggressionen. Sie sind impulsiver und neurotischer. Aufgrund dieser deutlichen Unterschiede scheint Narzissmus eine völlig andere Eigenschaft zu sein als ein sehr hohes positives Selbstwertgefühl. In den folgenden Abschnitten werfen wir einen genaueren Blick auf die Beziehung zwischen hohem und niedrigem Selbstwertgefühl und Narzissmus.

Narzissmus kann verschiedene Ausprägungen aufweisen. Grandiose Narzissten neigen zu lautem Auftreten, stellen Ansprüche und demonstrieren Überlegenheit. Verletzliche Narzissten können ihre Überlegenheit subtiler oder zumindest weniger offensichtlich zum Ausdruck bringen. Bösartige Narzissten zeigen alle grandiosen Eigenschaften gepaart mit Amoralität und der Bereitschaft zur Grausamkeit. Der gemischte Narzisst kann im Laufe der Zeit variierende Züge zeigen und den grandiosen, den verletzlichen und den bösartigen Typus widerspiegeln. Ausführlichere Erläuterungen zu den Typen des Narzissmus finden Sie in Kapitel 2.

Explizites und implizites Selbstwertgefühl

Das Wort explizit bedeutet ausdrücklich und unmissverständlich. Implizit bedeutet, dass etwas unausgesprochen mitschwingt, aber nicht offen geäußert wird. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand erzählt Ihnen, dass er sich anderen überlegen fühlt, Anspruch auf Sonderbehandlung hat und andere gerne ausnutzt, um zu bekommen, was er will. Das hört sich an wie expliziter Narzissmus.

Stellen Sie sich im Gegensatz dazu jemanden vor, der nie sagt, dass er überlegen ist oder eine Sonderbehandlung erwartet, und der auch nicht zugibt, dass er andere ausnutzt. Diese Person drängt sich aber heimlich, still und leise an die Spitze der Warteschlange, weil sie sich insgeheim dazu berechtigt fühlt. Solche Handlungen sind ein impliziter Ausdruck von Narzissmus.

Das explizite Selbstwertgefühl beruht auf einem rationalen, durchdachten und bewussten Prozess der Abwägung. Im Gegensatz dazu ist das implizite Selbstwertgefühl eher automatisch, intuitiv und unbewusst. Explizites und implizites Selbstwertgefühl sind nicht immer deckungsgleich.

Mit anderen Worten: Jemand kann ein hohes explizites Selbstwertgefühl haben, sich aber dennoch aufgrund eines niedrigen impliziten Selbstwertgefühls wertlos fühlen. Andererseits kann eine Person ein hohes implizites Selbstwertgefühl haben, aber nicht glauben, dass sie bestimmte Leistungen erbringt. Daher hat sie ein niedriges explizites Selbstwertgefühl.

Was hat das alles mit Narzissmus zu tun? Einige Forscher glauben, dass Narzissten eine extrem hohe Meinung von sich selbst haben, sich aber in Wirklichkeit minderwertig fühlen. Dieser Annahme zufolge sollten Narzissten in Tests ein Muster von explizit hohem und implizit niedrigem Selbstwertgefühl aufweisen.

Wenn dies zutrifft, sind Narzissten mit hohem expliziten und niedrigem impliziten Selbstwertgefühl im Grunde genommen Betrüger. Sie erzählen der Welt, wie großartig sie sind, aber unter der Oberfläche empfinden sie Scham und fühlen sich minderwertig.

Wissenschaftler haben festgestellt, dass das Gehirn Informationen auf zwei verschiedene Arten verarbeitet. Der eine Pfad, den das Gehirn nutzt, ist ein schneller Pfad – das Gehirn reagiert sofort auf Umweltwahrnehmungen. Wenn Sie zum Beispiel Auto fahren, sehen Sie plötzlich die Scheinwerfer eines Autos, das direkt auf Sie zukommt, und haben keine Zeit zum Nachdenken. Ihr Gehirn fordert Sie sofort auf, genau aufzupassen, das Lenkrad schnell zu drehen oder mit dem Fuß auf die Bremse zu treten. Dann stellt der langsamere Teil Ihres Gehirns fest, dass das Auto auf eine andere Straße abbiegt und Sie nicht in Gefahr sind. Betrachten Sie den schnellen Pfad als implizit. Sie denken nicht wirklich nach, sondern Sie verhalten sich quasi automatisch. Der langsamere Pfad erfordert bewusstes Denken – er ist explizit.

Das folgende Beispiel veranschaulicht das Konzept eines hohen expliziten Selbstwertgefühls bei gleichzeitig niedrigem impliziten Selbstwertgefühl:

Rosie wuchs in einer armen Familie mit alleinerziehender Mutter auf. Ihre Mutter hatte mehrere schlecht bezahlte Minijobs und war die meiste Zeit abwesend. Sie erfuhr zu Hause wenig Liebe. Rosie hatte keinen Kontakt zu ihrem alkoholkranken Vater. Sie wurde nie gefördert, sondern weitgehend ignoriert. Bildung wurde in der Familie nicht geschätzt, aber Rosie besuchte die Schule, weil sie dort kostenlose Mahlzeiten bekam. Ihre Mutter kaufte Bier und ungesunde Snacks, hatte aber selten etwas Gesundes zu essen im Haus.

In der weiterführenden Schule freundete sich Rosie mit einer Klassenkameradin an, die eine sehr gute Schülerin war. Die beiden wurden unzertrennlich. Rosie war eine gute Zuhörerin und bot ihrer Freundin emotionale Unterstützung. Mit ihrer Freundin als Vorbild interessierte sich Rosie mehr für akademische Fächer und fand heraus, dass sie den Stoff leicht bewältigen konnte. Dies war ihr erstes Erfolgserlebnis.

Rosie zeigte weiterhin gute Leistungen in der weiterführenden Schule und fiel schließlich einer Beratungslehrerin auf. Die Lehrerin ermutigte Rosie, sich für Stipendien zu bewerben. Sie besuchte die örtliche staatliche Universität und erhielt ein Vollstipendium. Ihre Mutter war sehr verärgert darüber, dass Rosie sich dafür entschied, zur Uni zu gehen, anstatt zu arbeiten, um zu den Haushaltskosten beizutragen.

Schließlich zog Rosie aus und wurde nach ihrem Abschluss von einem großen Finanzunternehmen angeworben. Aufgrund ihrer Intelligenz und ihres Fleißes stieg Rosie in dem Unternehmen schnell auf. Sie nahm jedoch immer weniger Rücksicht auf andere, fühlte sich überlegen und zeigte ein arrogantes Verhalten. Sie glaubte, dass alle anderen es auch schaffen müssten, da sie ja schließlich auch alle Widrigkeiten überwunden hatte. Sie demütigte und beschimpfte ihre Kollegen regelmäßig. Besonders verächtlich war sie gegenüber denjenigen aus ärmeren Verhältnissen.

Man würde annehmen, dass Rosie sehr stolz auf ihre Leistungen war und ein hohes Selbstwertgefühl hatte. In Wirklichkeit entwickelte sich ihr Selbstwertgefühl zu Narzissmus. Sie fühlte sich zwar explizit gut, aber implizit war sie immer noch das verletzte, vernachlässigte Kind, als das sie begonnen hatte. Mit anderen Worten: Ihr explizites Selbstwertgefühl war hoch, aber ihr implizites Selbstwertgefühl aufgrund ihrer frühen Kindheitserfahrungen ziemlich niedrig.

Zwar wurde in mehreren Studien tatsächlich diese widersprüchliche Beziehung zwischen explizitem und implizitem Selbstwertgefühl festgestellt, doch sind die Forschungsergebnisse etwas uneinheitlich. Die Forscher können nicht wirklich belegen, dass Narzissten nach innen hin ein geringes Selbstwertgefühl haben und nach außen hin ein hohes Selbstwertgefühl präsentieren. Vielmehr deuten die Schlussfolgerungen darauf hin, dass andere Faktoren, wie frühkindliche Erfahrungen, die unterschiedlichen Ausprägungen des Narzissmus erklären könnten. In diesem Bereich sind weitere Forschungen erforderlich.

Authentischen und arroganten Stolz bewerten

Die Art und Weise, wie Narzissten ihren Stolz zum Ausdruck bringen, kann bei der Unterscheidung zwischen Narzissmus und hohem Selbstwertgefühl helfen.

  • Authentischer Stolz entsteht, wenn jemand etwas durch harte Arbeit, Anstrengung und Ausdauer erreicht hat. Authentischer Stolz ist ein angenehmes Gefühl, das sich einstellt, wenn man etwas geleistet hat, das zum Erreichen eines bestimmten Ziels geführt hat.
  • Arroganter Stolz tritt auf, wenn sich jemand als besonders, einzigartig und überlegen bezeichnet. Wenn ein Ziel erreicht ist, nutzen Menschen mit arrogantem Stolz die Vorteile und übernehmen die volle Verantwortung, indem sie den Erfolg ausschließlich sich selbst zuschreiben, auch wenn andere dazu beigetragen haben.

Authentischer Stolz scheint mit einem hohen Selbstwertgefühl verbunden zu sein, führt zu erfolgreichen Beziehungen und einem stabilen, ausgeglichenen Gemüt. Arroganter Stolz ist stärker mit Wut, Aggression und antisozialen Aktivitäten verbunden. Narzissten drücken mit größerer Wahrscheinlichkeit arroganten Stolz aus. Dazu ein Beispiel:

Jakob ist der erstgeborene Sohn sehr erfolgreicher Eltern. Seine Kindheit war schwierig. Seine Eltern erwarteten von ihm, perfekt zu sein, und lehnten ihn ab, wenn er nicht den Anforderungen entsprach. Gleichzeitig behandelten sie ihn so, als müsse er etwas Besonderes oder Großes werden, um von ihnen akzeptiert und geliebt zu werden. Er fühlte sich in der Schule wie ein Außenseiter und zeichnete sich in keiner Weise aus.

Jakob schließt das Gymnasium vor allem deshalb ab, weil seine Familie große Summen in einen Stiftungsfonds der Schule eingezahlt hat. Nach dem Abschluss tritt er widerwillig in das Abbruchunternehmen seines Vaters ein. Er bekommt ein eigenes Büro und eine persönliche Sekretärin. Er arbeitet sehr wenig selbstständig und begleitet seinen Vater im Wesentlichen zu Aufträgen und Besprechungen. Obwohl er anfangs etwas zurückhaltend ist, lernt er schnell, dass er aufgrund seiner Stellung als Sohn des Firmeninhabers die Mitarbeiter bei der Arbeit einschüchtern kann. Er verhält sich unhöflich und überheblich und erwartet von den Angestellten eine Sonderbehandlung.

Jakob bekommt ein fantastisches Gehalt, kauft sich ein neues Auto und bezieht eine tolle Wohnung. Er beginnt, sich großartig zu fühlen. Er hat kein Problem, die Bekanntschaft von Frauen zu machen, die von seinem scheinbaren Erfolg beeindruckt sind. Er entwickelt sich zu einem bösartigen Narzissten, der andere schikaniert, wütend wird, wenn er ausgebremst wird, und ständig mit seinen geschäftlichen Erfolgen prahlt. Er zeigt erheblichen arroganten Stolz.

Arroganter Stolz wird in der wissenschaftlichen Literatur als Hybris oder Hochmut bezeichnet. Hybris ist eine eingebildete, eitle, aufgeblasene Arroganz, die nicht auf tatsächlichen Leistungen beruht. Anmaßende Menschen überschätzen ihre Leistungen und geben anderen die Schuld, wenn sie versagen.

Ein fragiles Selbstwertgefühl

Ein großer Teil der Menschen mit hohem Selbstwertgefühl ist in der Lage, trotz der Höhen und Tiefen des Lebens ein relativ stabiles Selbstbild zu bewahren. Ein beständiges, sicheres Selbstwertgefühl führt zu psychischer Widerstandsfähigkeit. Menschen mit einem stabilen hohen Selbstwertgefühl können sich trotz eines Misserfolgs noch als wertvoll empfinden. Sie sind vielleicht enttäuscht über das Scheitern, aber sie betrachten es nicht als eine pauschale Verurteilung ihres gesamten Selbstbildes.

Außerdem sehen Menschen mit einem ausgeglichenen, stabilen Selbstwertgefühl Erfolge realistisch. Sie haben kein Problem damit, stolz zu sein, aber sie freuen sich, wenn sie ihre Erfolge mit anderen teilen können, die ihnen geholfen oder sie unterstützt haben.

Im Gegensatz dazu schwankt das fragile Selbstwertgefühl je nach den aktuellen Umständen nach oben oder unten. Menschen mit fragilem Selbstwertgefühl überwachen ihre Umgebung ständig auf mögliche Bedrohungen. Wie ein übermäßig aufgeblasener Luftballon (siehe Kasten »Einen Ballon mit Selbstwertgefühl aufblasen«) ist ihr Selbstwertgefühl leicht zu erschüttern.

Drei Faktoren können die Wahrscheinlichkeit eines fragilen Selbstwertgefühls erhöhen:

  • Kontingentes oder konditionales Selbstwertgefühl: Das kontingente Selbstwertgefühl basiert darauf, ob eine Person bestimmte Standards erfüllt oder nicht. Es schwankt in Abhängigkeit von diesem bestimmten Wert. Ein Mädchen im Teenageralter kann sein Selbstwertgefühl zum Beispiel nur auf das Aussehen gründen. Erfüllt es also bestimmte Normen (wie die in den sozialen Medien) nicht, sinkt ihr Selbstwertgefühl.
  • Instabiles Selbstwertgefühl: Menschen mit instabilem Selbstwertgefühl ändern häufig ihre Meinung über sich selbst. Ihr Selbstwertgefühl ändert sich je nach dem Umfeld, in dem sie sich befinden. Eine Person mit instabilem Selbstwertgefühl kann sich zum Beispiel wegen eines unerwarteten Fehlers wertlos fühlen, aber in anderen Situationen übermäßig selbstbewusst sein. Auch Stimmungen können das instabile Selbstwertgefühl verändern. Personen mit instabilem Selbstwertgefühl neigen dazu, sich zu verteidigen und sich selbst zu überhöhen.
  • Geringes implizites Selbstwertgefühl: Siehe den Abschnitt »Explizites und implizites Selbstwertgefühl« weiter oben in diesem Kapitel. Das implizite Selbstwertgefühl bezieht sich hauptsächlich auf die unbewusste Empfindung des Selbstwerts. Menschen mit einem geringen impliziten Selbstwertgefühl haben auch ein fragiles Selbstwertgefühl.

Narzissmus hängt mit dem Selbstwertgefühl zusammen und scheint gut in das Konzept des fragilen Selbstwertgefühls zu passen. Auch Narzissten halten in ihrem Umfeld ständig Ausschau nach Bedrohungen ihres Selbstbilds. Sie neigen jedoch dazu, negative Bewertungen zu übersehen, und ihre grandiose Selbsteinschätzung ist relativ stabil.

Narzissten mit Merkmalen eines fragilen Selbstwertgefühls, wie etwa einem niedrigen impliziten Selbstwertgefühl, zeigen eher Aggressionen, wenn sie bedroht werden. Weitere Informationen über die Beziehung zwischen Narzissmus und Aggression finden Sie in Kapitel 11.

Wenn Sie es mit jemandem zu tun haben, der ein geringes Selbstwertgefühl zu besitzen scheint, sollten Sie aufpassen und versuchen, sich nicht darauf einzulassen. Diese Menschen neigen dazu, auf jede Bedrohung ihres Egos sehr heftig zu reagieren. Wie viele Narzissten geben sie anderen die Schuld, wenn etwas schiefläuft.