5. KAPITEL
Alle Tiere sind von Natur aus Konkurrenten und kooperieren nur unter bestimmten Umständen und aus bestimmten Gründen, nicht aus dem Bedürfnis heraus, nett zueinander zu sein.
Frans de Waal, Bonobos: Die zärtlichen Menschenaffen
Aus meinem Interview mit Frank McCray jr.
Was Notfall-Ausrüstung anbelangt oder den Mangel daran … Sehen Sie, ich gebe Tony keine Schuld. Das habe ich nicht einmal damals getan, als sich herausstellte, was von Greenloop noch übrig war.
Man darf Tony nicht die Schuld geben, nicht ihm als Einzelperson. So denkt die Technikbranche nun einmal. Dass etwas schiefgehen kann, wird nicht eingeplant. »Move fast and break things«, das Motto von Facebook. Sie kamen dort auch nicht auf die Idee, dass die Russen ihre Plattform kapern könnten, um unsere Wahlen zu manipulieren, obwohl sie das in anderen Ländern schon seit Jahren machen. Und während Google Vollgas gibt, um den Markt für fahrerlose Autos zu beherrschen, kommt es dort niemandem in den Sinn, dass Terroristen diese Autos hacken und in Menschenansammlungen fahren lassen könnten.
Ich war einmal auf einer Konferenz in Menlo Park, wo uns ein Typ zeigte, wie er seine Hand manipuliert hatte. Er hatte auf der Haut über den Muskeln seines Unterarms Elektroden angebracht und spielte Klavier, obwohl er gar nicht Klavier spielen konnte. Er tippte ein fach die Befehle ein, klickte auf »ausführen« und Simsalabim! Und das war erst der Anfang. Wie wär’s mit einem Exoanzug, der den ganzen Körper stimulieren kann?
»Stellen Sie sich die Möglichkeiten vor«, sagte er immer wieder. Menschen mit Behinderung. Senioren. »Stellen Sie sich die Möglichkeiten vor.«
Ich konnte mir einige vorstellen. Ich hob die Hand und fragte: »Könnte es nicht passieren, dass jemand den Anzug hackt, nachdem man ihn angezogen hat, und einen zwingt, dass man sich sein völlig legales Sturmgewehr schnappt und die Straße hinunter zum örtlichen Kindergarten marschiert?« Daraufhin sah er mich an, als hätte ich soeben seine Sandburg zertrampelt. Er hatte kein einziges Neuron für diesen Gedanken verschwendet, denn für seine Begriffe war es genau das: Verschwendung. Positiv denken, immer. Lerne fliegen, und wenn es in der Hindenburg ist.
Move fast and break things.
5. Tagebucheintrag
3. Oktober
Kartoffeln. Deshalb hat mich Mostar zu Yvettes Meditationsstunde geschickt. »Wir brauchen welche«, sagte sie. Wieder »brauchen« und »wir«. Sie ist überzeugt davon, dass Kartoffeln die perfekte Überlebensnahrung sind, dass man sich tatsächlich ausschließlich von Kartoffeln ernähren kann. Ich wurde damit beauftragt, ein paar Pflanzkartoffeln für den Garten zu ergattern – den ich nicht erwähnen soll.
Genauso wenig soll ich irgendetwas zu Mostars Verteidigung sagen. »Falls sie irgendwas sagen, pflichten Sie einfach bei.« Sie gab genaue Anweisungen: »Stimmen Sie zu, steuern Sie etwas bei, lachen Sie mit, auch auf meine Kosten. Seien Sie diplomatisch.«
Niemand braucht mir zu erklären, wie das funktioniert. Ich bin von Natur aus Diplomatin und immer noch nicht ganz mit an Bord, was Mostars verrückte Pläne anbelangt. Aber ich muss sagen, mein mentaler Kompass schlägt ein bisschen mehr zu ihren Gunsten aus, seit ich die Neuigkeiten gehört habe. Und es gibt eine Menge Neuigkeiten.
Vincent hörte nach unserem Meeting eine Stunde lang im Auto Radio, bis Tony anbot, ihn abzulösen. Den beiden zufolge sind die Berichte über die Situation am Mount Rainier ziemlich schlimm.
Angeblich ist am Mount Rainier ein sogenannter »Lahar« abgegangen, eine brodelnde Schlammlawine, die an einem Ort namens Armero 16 in den Achtzigerjahren Tausende Menschenleben gefordert hat. Die Radioberichterstattung scheint sich auf die uns abgewandte Seite des Mount Rainier zu konzentrieren, auf der sich etliche Ortschaften befinden: Orting? Puyallup? (Habe ich die beiden richtig geschrieben?) Von Tacoma, das sich momentan in Gefahr befinden soll, habe ich schon einmal gehört. Wir sind offenbar in Sicherheit, genau wie Tony vorhergesagt hat, aber es sieht so aus, als wären wir von der Außenwelt abgeschnitten. Vincent glaubt, gehört zu haben, dass das Tal unter uns mit der Hauptstraße von einem Lahar verschüttet wurde.
»Womöglich sind Menschen ums Leben gekommen«, mutmaßte Bobbi. »Sie haben versucht wegzufahren und sind mit ihren Autos stecken geblieben, als die Schlammlawine kam …«
Yvette seufzte. »Das hätten auch wir sein können«, sagte sie und streckte die Arme zu einer Gruppenumarmung aus. »Stellen Sie sich vor, was hätte passieren können, wenn wir gestern Abend alle einfach ins Tal hinuntergefahren wären. Wenn Tony nicht vorhergesagt hätte, dass die Straße nicht mehr existiert …«
Moment, war das nicht Mostar gewesen?
War nicht sie diejenige gewesen, die vermutet hatte, die Straße könnte unter Umständen nicht mehr existieren? Was war aus Tonys Argument in Bezug auf Fehlalarme und Verkehrsstaus geworden? Daran schien sich niemand mehr zu erinnern. Oder vielleicht erinnerte sich doch jemand, dachte aber, das Resultat wäre dasselbe. Sowohl Tony als auch Mostar hatten darauf gedrängt zu bleiben, doch jetzt sagte Yvette mit Tränen in den Augen: »Tony hat uns das Leben gerettet.«
Ich hielt den Mund, nickte mit allen anderen. Ich reagierte nicht einmal, als Yvette sagte: »Ich wünschte, Mostar wäre hier.« Das war, nachdem wir unsere Umarmung gelöst hatten und gerade unsere Plätze auf dem Fußboden einnahmen. »Wir alle brauchen einander jetzt mehr als je zuvor.«
Es handelte sich um eine Prüfung von der Sorte, mit der ich schon seit dem Kindergarten immer wieder konfrontiert wurde. Manchmal offensichtlich. Manchmal raffiniert. In diesem Fall in Sorge gehüllt. »Ich hoffe, mit ihr ist alles in Ordnung«, sagte Carmen. Mitgefühl rundherum. »Nach allem, was sie durchgemacht hat.«
Was hatte sie durchgemacht? Ich hätte beinahe gefragt, doch Yvette schnitt mir das Wort ab. »Hat jemand mit ihr gesprochen?«
Da war sie. Die unsichtbare Grenze.
Kopfschütteln, ich inbegriffen. Ein gequältes Seufzen von Yvette. »Vielleicht taucht sie ja morgen auf. Ich denke, sie hat Heilung nötiger als irgendjemand sonst.«
Das stieß mir sauer auf. Ich kann die Prüfung bestehen, aber das hat seinen Preis. Ich hasse es zu lügen, hasse Konflikte, hasse es, mich für eine Seite entscheiden zu müssen. In diesem Moment hasste ich Mostar genauso sehr dafür, dass sie mich in diese Lage gebracht hatte, wie ich mich dafür hasste, dass ich es zugelassen hatte.
Ich versuchte mitzuspielen. Versuchte, mich zu konzentrieren, mich zu entspannen, die »körperlichen Symptome dieses traumatischen Erlebnisses« zu spüren und mir selbst die »Erlaubnis zu erteilen, meinen Schmerz und meine Schuldgefühle mit tiefen, reinigenden Atemzügen zu lindern«.
Ich versuchte, mir »Oma« vorzustellen, den Waldbeschützergeist, den Yvette in unserer letzten Stunde erwähnt hatte. Die Umarmung. Warme, weiche Arme, die mich halten. Beim letzten Mal hatte es funktioniert. Jetzt nicht. Ich war nicht in der Stimmung für eine geführte Fantasiereise.
Als die Stunde beendet war, gab ich mir Mühe, mich so zu verhalten, als sei ich von meiner »Last befreit« worden, und so ungezwungen wie möglich nach Kartoffeln zu fragen.
»Ich habe mir heute früh überlegt, dass ich gerne Kartoffelpuffer machen würde.« Wieder eine Lüge. Wieder saures Aufstoßen.
Und alles vergebens.
Wieder mit Anteilnahme, und diesmal wirkte sie echt. Carmen und Effie schienen aufrichtig zu bedauern, dass sie keine hatten, und Yvette sagte mir, ich solle bei ihr vorbeikommen, wenn ich irgendetwas anderes bräuchte.
Bobbi dagegen … Ich möchte nicht sagen, dass sie sich merkwürdig benahm. Ich meine, woher sollte ich wissen, was merkwürdig ist, wenn ich sie nicht gut genug kenne, um zu wissen, was normal ist? Aber ich weiß, wie es ist, wenn man sich unbehaglich fühlt, und zwar so genau, dass ich ziemlich gut darin bin, es bei anderen zu erkennen. Bobbi schien sich wirklich unbehaglich zu fühlen, als sie antwortete. Vielleicht täusche ich mich. Vielleicht lag es an den Nachrichten.
Ich sah zu, wie alle nach Hause gingen: Bobbi mit einem, ja, merkwürdigen Blick über die Schulter, Yvette hinüber zu Tony, der immer noch in seinem Tesla saß und Radio hörte, wie mir gerade bewusst wurde, Carmen und Effie, die Palomino zuwinkten, die aus dem Fenster im Obergeschoss auf die beiden hinabstarrte wie in einer Geistergeschichte.
Tut mir leid. Das ist nicht fair. Aber so kam es mir vor. Unheimliches kleines Horrorfilm-Mädchen, das fieberhaft sein Anti-Stress-Spielzeug knetete.
Ich musste einen Spaziergang machen. Musste einen klaren Kopf bekommen. Dan schlief, als ich zurückkam, und Mostar schien zum Glück nicht zu Hause zu sein. »Wir machen uns heute Abend an die Arbeit«, hatte sie gesagt, bevor ich gegangen war, »damit uns niemand sieht.«
Verrückt. Ich musste raus, musste mich beruhigen. Wenn ich übermüdet bin, kann ich nicht schlafen. Ich dachte, ich könnte vielleicht die Behaglichkeit des ersten mystischen Tages zurückerlangen.
Schlechte Idee. Ich hätte direkt ins Bett gehen sollen.
Erinnern Sie sich, was Sie mir über Empathie sagten? Dass ich zu viel von einer guten Eigenschaft hätte? Dass ich mir andere Menschen und wie sie ihr Leben leben genauso deutlich vorstelle, wie ich mein eigenes lebe?
Genau das tat ich schließlich bei meinem Spaziergang: Ich versuchte vergeblich, damit aufzuhören, mir die Menschen im Weg des Lahars vorzustellen. Ich malte mir diese Flutwelle aus dampfendem Schlamm aus, aus der Felsbrocken, entwurzelte Bäume und Bruchstücke von Häusern ragten. Ich malte mir Menschen in ihren Autos aus, die Radio hörten, verwirrt auf ihre Handys blickten und sich über den Verkehr beklagten, während sie ihre Kinder auf dem Rücksitz anschrien, dass sie ihre Tablets weglegen und sich die Welt ansehen sollten.
Vielleicht entdeckten sie etwas im Rückspiegel oder fragten sich, warum andere Leute an ihren Autos vorbeiliefen. Ich überlegte, wie ich reagiert hätte, wenn ich dort gewesen wäre. Wenn mein Auto von hinten angerempelt worden wäre. Ich hätte mich wütend umgedreht, aber keinesfalls wütend genug, um den Mittelfinger zu heben. Wahrscheinlich hätte ich zuerst meine Versicherungskarte gezückt, um wie ein zivilisierter Erwachsener über Schäden zu sprechen, während ich mich zur Seite gedreht hätte, um die Tür aufzumachen. Vielleicht hätte sich die Tür nicht öffnen lassen, weil ein anderes Auto zu dicht neben mir stand. In diesem Moment, halb umgedreht, um nach hinten zu blicken, hätte ich es gesehen, hätte das Grollen gehört, als die Felswand, nicht eine Welle, eine Felswand, auf mich zugerollt kam, wie ich es einmal in einem YouTube-Video über den Tsunami in Japan gesehen hatte.
So, wie ich mich kenne, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, das Fenster aufzumachen, hinauszuschlüpfen und wegzurennen. Wahrscheinlich hätte ich die Tür wieder zugemacht, die Augen geschlossen und mir eingeredet, dass all das nicht passiert, während das Blech und das Glas um mich herum zusammengepresst wurden. Zerquetscht, ertrunken, bei lebendigem Leib gekocht.
Doch dann wurde mir bewusst, dass sich diese Albtraumfantasie nicht zugetragen haben konnte, da der Ausbruch nachts stattgefunden hatte, wenn nur wenige auf den Straßen unterwegs waren. Das erzählten uns unsere Nachbarn über das Northridge-Beben, als wir damals nach L.A. zogen. Wer war es gewesen? Das ältere Paar auf der anderen Straßenseite, das sein Haus verkaufen musste. Wie hießen sie? Meinte die Frau nicht, was für ein Glück die Stadt gehabt hätte, dass das Beben nachts stattgefunden hatte, als sich alle zu Hause in Sicherheit befanden? Diese Vorstellung verschaffte mir für einen kurzen Moment Erleichterung, für einen sehr kurzen Moment, denn dann stellte ich mir die Häuser im Weg des Lahars vor.
Ob sie schliefen, so wie wir? Träumten? Ich stellte mir vor, wie ich gemütlich im Bett lag und das Grollen in irgendeine Geschichte einarbeitete, die ich gerade in meinem Unterbewusstsein durchlebte. Wäre ich rechtzeitig aufgewacht, um zu sehen, wie das Dach auf mich herabstürzte? Wie ein geborstener Balken oder ein zersplittertes Möbelstück meine Brust durchbohrte?
Hoffentlich wäre ich nicht aufgewacht. Hoffentlich sind viele von ihnen nicht aufgewacht. Aber diejenigen, die aufwachten, diejenigen, die womöglich noch am Leben sind, begraben unter den Trümmern, wie viele wurden verletzt? Wie viele riefen um Hilfe? Keuchend, mit nur einem Lungenflügel? Blut hustend? Gebrochene Knochen. Schmerzen. Angst.
Warum begebe ich mich dorthin? Wo ist mein, wie nennt man es, mein »Selbstverteidigungsmechanismus«?
Vielleicht wollte ich bei diesem Spaziergang einen entwickeln, wollte mich mit einer Mauer angenehmer Sinneseindrücke, positiver Erinnerungen umgeben. Mir hätte bewusst sein sollen, dass das alles nur noch schlimmer machen würde. Der Mount Rainier rauchte jetzt, wütend. Als ich oben auf dem Kamm stand, sah ich hinter ihm in der Ferne schmale schwarze Säulen aufsteigen. Waldbrände? Brennende Häuser? Der Rauch aus dem Berg verdunkelte den Himmel, eine graue Decke, die die Sonne auslöschte.
Als ich mich von dem Anblick abwandte und den Pfad ein Stück hinunterging, suchte ich nach dem Brombeerstrauch von zuvor. Ich fand ihn, doch alle Beeren waren verschwunden. Selbst die kleinen grünen, harten. Ich schob einen der Zweige beiseite und stach mich dabei an einem Dorn. Reflexartig hielt ich mir den Finger an die Lippen. Die Wunde war nicht tief, trotzdem schmeckte ich mein eigenes Blut. Der Geschmack ließ meinen Magen knurren. Daraufhin wurde mir bewusst, wie hungrig ich war, und diese Empfindung ließ meine Gedanken zur Kalorienliste von gestern Abend zurückkehren.
Nachdem ich eine Liste mit allen unseren Nahrungsmitteln erstellt hatte, bat mich Mostar, einen »Rationierungsplan« zu entwerfen. Ich ging davon aus, dass das nicht besonders schwierig werden würde. Nicht anders als die tausend Diäten, die ich im Lauf meines Lebens gehalten hatte, dachte ich. Ich kalkulierte unser Alter, unsere Körpergröße, den Grad unserer körperlichen Aktivität und unsere ungefähren Fettreserven. Bei Letzteren konnte ich kaum glauben, dass ich sie tatsächlich aufgeschrieben hatte. Ich benutzte sogar die beiden Kalorienrechner auf meinem Handy (ja, ich habe zwei), die mir 1200 Kalorien, Dan 2100 und Mostar ebenfalls 1200 zuteilten, wobei ich mir bei ihrem Alter nicht ganz sicher bin.
Ich dachte, ich wäre womöglich zu streng, doch als ich Mostar meine Berechnung zeigte, schüttelte sie nur den Kopf und sagte lachend: »So amerikanisch.«
Ich spürte, wie ich errötete. Ich bin stolz, dass es mir gelang zu kontern. Ich erklärte die Gefahren von Crashdiäten, die Risiken langfristiger Gesundheitsschäden.
Sie lachte abermals. »Das ist keine Diät, Katie, das ist Rationierung. Bei einer Diät entscheidet man sich, weniger zu essen. Bei einer Rationierung isst man weniger, weil einem nichts anderes übrigbleibt. Dieser Kontrollverlust kann einen in den Wahnsinn treiben. Vor allem euch Amerikaner. Im Gegensatz zur restlichen Welt hattet ihr nie eine Hungersnot. Nicht einmal in den dunkelsten Tagen eures Bürgerkriegs, als ihr trotzdem genug angebaut habt, um damit Profit zu machen.«
Woher weiß sie das? Warum weiß sie das?
»Hier«, sie schnappte sich meinen Notizblock und fing an zu schreiben, »ich zeige Ihnen, was ich meine.«
Achthundert Kalorien für Dan.
Fünfhundert für Mostar.
Und tausend für mich.
»Nicht sofort«, erklärte sie. »Nicht solange wir mit den Vorbereitungen beschäftigt sind. Aber in ungefähr einer Woche wird es nichts mehr zu tun geben, außer dazusitzen und uns selbst zu verdauen, weshalb ich Ihnen das meiste zugeteilt habe: weil Sie am wenigsten haben.« Sie streckte die Hand aus und tätschelte mein Hinterteil. Ich schrie vor Schreck auf und drehte mich zu ihr, um etwas von wegen Verletzung der Intimsphäre zu sagen, doch sie war schon wieder nach draußen gegangen, um einen weiteren Eimer Erde zu holen.
Ich sollte sagen, dass ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht die Absicht hatte, ihren verrückten Bestrafungsplan zu befolgen. Eine weitere Diät, bei der ich schummeln wollte. Aber jetzt, nachdem ich die Neuigkeiten gehört habe und mir bewusst geworden ist, dass die verrückte alte Dame womöglich gar nicht so verrückt ist, fing ich an, alles noch einmal zu überdenken, was sie gestern Abend gesagt hatte. Ich bekam sogar ein schlechtes Gewissen, dass ich bei meiner Wanderung so viele Kalorien verbrauche!
Und als ich nach anderen Sträuchern Ausschau hielt, die mir zuvor vielleicht entgangen waren, realisierte ich verärgert, dass ich womöglich inmitten eines natürlichen Buffets stand. Die Blätter, die Rinden, die Pilze. Unzählige Pilze! Weiß, schwarz, braun, rosafarben, violett. Violett! Kann man irgendwelche davon bedenkenlos essen? Woher soll ich das wissen? So viel zu meinem sogenannten »Smart«-Phone, dem nutzlosen kleinen rechteckigen Ding, das ich aus Gewohnheit immer noch mit mir herumtrage.
Na ja, nicht völlig nutzlos. Aber obwohl es noch als Uhr, Kalender, Taschenlampe, Schrittzähler, Diktiergerät, Notizblock, Fotoapparat, Videorekorder, Videostudio, Videospielarkade und weiß Gott wie vielen anderen Verwendungszwecken dient, die noch vor zwanzig Jahren atemberaubend gewesen wären, ist die eine Sache, für die ich es brauche, die eine Sache, für die es ursprünglich entworfen wurde, Kommunikation.
»Siri, was kann ich hier essen?«
Ich weiß nicht, was schlimmer für mich war: dass ich plötzlich nicht mehr das Wissen der Welt in der Hosentasche hatte oder dass ich bis jetzt immer angenommen hatte, ich hätte darauf einen Anspruch. Ich hätte gar nicht dankbarer für die Kolibris sein können, die durch mein Blickfeld flogen. Sie flatterten um die gleichen Blumen herum wie beim letzten Mal und gaben einander wieder liebevolle Küsse. Zuerst war ich unsagbar froh. Gott sei Dank! Das dachte ich. Gott sei Dank ist wenigstens etwas Schönes geblieben. Doch dann sah ich genauer hin und erkannte, dass sie sich nicht küssten. Einer der beiden versuchte, den anderen zu töten, stach blitzschnell mit seinem nadelspitzen Schnabel zu. Genau das hatten sie auch am ersten Tag getan, als ich nur das gesehen hatte, was ich sehen wollte.
Und dann flogen sie fort, aufgeschreckt vom selben Geräusch, das auch mich zusammenzucken ließ. Ich sah die Farne vor mir und zu meiner Rechten hin und her peitschen. Sie bewegten sich synchron, zu schnell, als dass ich hätte reagieren können. Etwas kam unmittelbar vor mir aus dem Gebüsch geschossen. Es war klein und braun, und ich bin ziemlich sicher, dass es sich um einen Hasen handelte, wenngleich er einen Sekundenbruchteil später wieder verschwunden war. Zwei schnelle Sprünge katapultierten ihn über den Pfad und ins Gestrüpp auf der anderen Seite. Er blieb nicht stehen, wurde nicht einmal langsamer. Ich sah zu, wie sich die Bewegungslinie entfernte, und fragte mich, ob er vielleicht verfolgt wurde.
Dann roch ich es. Nur ein kurzer Hauch in der Brise. Faulig, wie Eier und alter Abfall. Das brachte die Erinnerung an das Treffen am Abend zuvor zurück, als sich die Gruppe auflöste. Carmen hatte sich über einen fürchterlichen Gestank beklagt, einen Schwefelgeruch beim Öffnen des Fensters. Reinhardt hatte ihn als Gasemission aus dem Vulkan abgetan. Wahrscheinlich hatte er recht. Das dachte ich zumindest, als sich der Geruch wieder verzog.
Dann ein Heulen, leise, in der Ferne. Kein Wolf, oder zumindest nicht wie die Wölfe, die ich in Spielfilmen gehört habe. Ich weiß, wie Kojoten klingen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das keiner war. Ich bin nicht einmal überzeugt davon, dass es überhaupt ein Tier war. Es hätte auch der Wind sein können, der durch die hohen Bäume wehte, oder irgendein Echo in den Bergen, das mir einen Streich spielte. Was weiß ich denn schon, was hier oben mit Geräuschen passiert? Das Heulen verklang und ging in drei kurze, tiefe Grunzlaute über, von denen der letzte etwas lauter oder näher als die anderen beiden war. Ich machte keine Bewegung, hielt den Atem an, lauschte auf ein anderes Geräusch. Auf irgendein Geräusch. Der ganze Wald schien verstummt zu sein.
Dann spürte ich Blicke auf mir.
Ich weiß, Sie würden sagen, dass sich das alles nur in meinem Kopf abgespielt hat, und mir fällt kein Gegenargument ein. Ich stand da, ganz allein unter dem gespenstischen verrauchten Himmel, mit einem schuldbewussten Kopf voller apokalyptischer Grübeleien. Aber ich hatte dieses Gefühl auch schon früher gehabt, auf dem Spielplatz oder wenn Mom von der anderen Seite des Zimmers mein Outfit begutachtete. Durch diese Intuition lernte ich auch Dan kennen, im ersten Studienjahr, inmitten der Menge und der Musik. Ich wusste es einfach. Ich spürte es. Ich blickte auf, und er stand vor mir.
Diesmal sah ich niemanden. Auch nicht, als ich mich auf den Rückweg zum Haus machte. Ich rannte nicht. Darauf bin ich stolz. Ich ging einfach langsam, zielstrebig zurück, und auf halbem Weg nach Hause war das Gefühl verschwunden. Und jetzt ist mir das Ganze nur peinlich. Ich kann nicht glauben, dass ich grundlos ausgeflippt bin, dass ich imaginäre Monster den Ort habe besudeln lassen, an dem ich glücklich bin. Ich komme mir lächerlich vor, während ich am Küchentisch sitze, Dan im Obergeschoss seelenruhig schnarchen höre und zur Hintertür hinausschaue. Der Wind hat aufgefrischt, das Rauschen der Bäume ist so beruhigend. Vielleicht sollte ich wieder nach draußen gehen, meinen Spaziergang mit einem Höhepunkt beenden.
Nein. Zu müde. Meine Beine fühlen sich an wie Haferbrei. Mmm , Haferbrei. Ich habe gerade eine Packung Instant-Haferbrei gegessen. Eine halbe, um genau zu sein. Genug, um meinen Magen ruhigzustellen.
Ich spüre, wie sich Gereiztheit in mir breitmacht. Diätangst. Ich bin mir immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich mich mit Mostars völlig bescheuerter »Rationierung« quälen soll. Selbst wenn sie recht damit hat, dass wir von der Außenwelt abgeschnitten sind, wie lange kann das schon andauern?
Ich muss unbedingt schlafen. Krieche zu Dan ins Bett. Mit Ohrstöpseln. Und vielleicht mit einer halben Schlaftablette. Um mich richtig auszuschlafen. Um der Welt die Gelegenheit zu geben, wieder ins Lot zu kommen. Und wenn es ihr nicht gelingt, kann zumindest ich bei einem netten Abendspaziergang im Wald ins Lot kommen.
Aus meinem Interview mit Senior Ranger Josephine Schell.
Ich nenne es einen »Massoud-Moment«, wenn man die Punkte erst dann miteinander verbindet, nachdem es schon zu spät ist. Diese Bezeichnung geht auf Ahmad Schah Massoud zurück. Er war ein afghanischer Guerilla-Anführer, der zuerst gegen die Russen und dann gegen die Taliban gekämpft hat. Ich gehe nicht davon aus, dass Sie jemals von ihm gehört haben. Mir war er bis zu dem Tag, an dem er starb, auch kein Begriff. Ich war gerade in New York angekommen, mit einem späten Flug, um ein oder zwei Uhr nachts. Der Taxifahrer am John F. Kennedy International Airport hörte BBC World Service. Dort wurde berichtet, dass Massoud soeben von Terroristen, die sich als Journalisten ausgegeben hatten, ermordet worden war. Ich schenkte dem keine große Beachtung, und ich glaube, ich bat den Fahrer womöglich sogar, den Sender zu wechseln. Schließlich fing gerade mein Urlaub an. Ich war noch nie in New York gewesen, und meine Freunde warteten auf mich. Wir hatten Karten für Producers .
Das war am 9. September 2001, und ich erfuhr erst später, dass die Ermordung von Massoud der erste Akt des Anschlags auf das World Trade Center war. Damals konnte ich es nicht wissen. Niemand hätte von mir erwartet, dass ich die Punkte miteinander verbinden würde. Trotzdem denke ich oft über diesen Moment nach, über das Verbinden der Punkte. Ich habe viel darüber nachgedacht, seit …
Sie hebt den Kopf und wirft einen Blick auf die Landkarte.
Wir haben Knochen gefunden. Teile von Knochen. Zertrümmerte Bruchstücke, als hätte jemand mit einem Hammer verrücktgespielt. Man konnte noch erkennen, dass es sich um Wild gehandelt hatte: Hufe, ein paar Zähne, Fellstücke. Viel war nicht übrig. Kein Fleisch. Alles sauber geleckt. Das Gleiche bei den Blättern. Wir entdeckten gerade genug Rückstände, um erkennen zu können, dass sie mit Blut bespritzt worden waren. Ich erinnere mich, einen Felsbrocken gesehen zu haben, einen großen …
Sie formt die Hände, als würde sie einen Fußball halten.
… mit Blutspritzern, Knochenmark, Gehirnstücken auf einer Seite. Und alles war noch ziemlich frisch, vielleicht ein paar Stunden alt. Aber ich hielt mich nicht damit auf, es nachzuprüfen. Dafür hatten wir keine Zeit. Vergessen Sie nicht, das war Tag drei nach dem Ausbruch. Keiner von uns hatte geschlafen, all die Vermissten … Rückblickend war das der Grund, warum ich den Spuren nicht viel Beachtung schenkte. Wahrscheinlich habe ich sie als unsere eigenen abgetan, da wir alle nachlässig einfach durchgetrampelt sind und keiner auf irgendetwas anderes geachtet hat, als dorthin zu gelangen, wo wir gebraucht wurden.
Erst nachdem wir Greenloop entdeckt hatten … Scheiße, nein, eigentlich erst nachdem ich ihr Tagebuch gelesen hatte, den Eintrag über die Entdeckung der Überreste … erst dann fing ich an herumzufragen. Und einige andere Ranger, Wachmänner und ein paar zivile Freiwillige hatten einen »Ach ja, stimmt«-Moment. Und als ich anfing, die Erinnerungen aller örtlich und zeitlich einzuordnen …
Sie streckt einen Arm zur Karte aus und berührt eine Ansammlung kleiner schwarzer Stecknadeln, die ich bis dahin nicht bemerkt hatte.
Das ist die erste Entdeckung, Tag eins.
Sie berührt die nächste Stecknadel.
Tag zwei.
Noch einmal.
Tag drei. Mein Team.
Sie bewegt die Finger von Stecknadel zu Stecknadel nach unten und zeichnet dabei einen eindeutigen, geraden Pfad nach Greenloop.
Der »Massoud-Moment«, das Verbinden der Punkte.