6. KAPITEL
Eine Lüge galoppiert um die halbe Welt, ehe die Wahrheit Zeit hat, ihre Reithosen anzuziehen.
– Cordell Hull, Außenminister unter Präsident Franklin Delano Roosevelt
6. Tagebucheintrag
4. Oktober
Asche fällt vom Himmel. Große träge Flocken. Auf die Häuser, die Zufahrt, die Windschutzscheibe meines Autos. Dort sitze ich gerade, schreibe alles auf, höre Radio.
Eigentlich sollte ich schlafen. Das ist es, was Mostar gerade tut. Der Garten ist fertig. Erde und Kompost aus Mostars Tonne, alles miteinander vermischt. Dan hat sogar ein Bewässerungssystem ausgetüftelt. Er hat unsere beiden Gartenschläuche am Garagen-Waschbecken angeschlossen, sie in Schlangenlinien im Garten verlegt, alle paar Zentimeter Löcher hineingestochen und die Enden mit Paketklebeband verschlossen. Er nennt das Ganze »Tröpfchenbewässerung«. Von ganz allein, ohne Zutun.
Inzwischen widmet er sich schon seiner neuen Aufgabe und versucht herauszufinden, wie das Haus funktioniert. »Eins nach dem anderen.« Jetzt schläft er gerade, glaube ich, aber nachdem er mit dem Garten fertig war, machte er sich sofort an die Arbeit und synchronisierte sein iPad mit sämtlichen Systemen des Hauptprozessors im Haus, brachte in Erfahrung, wie alles funktioniert, und verlor sich in Kilowatt und britischen Wärmeeinheiten. Kein Drängen von unserer Seite, keine Pause. Ich habe ihn binnen weniger Stunden mehr arbeiten sehen als in den letzten Jahren. Wer ist dieser Mann?
Mostar hat sich auch wieder an die Arbeit gemacht. Sie möchte das Obst von unseren Bäumen pflücken, in Scheiben schneiden und trocknen. Pflaumen, Birnen, Äpfel. Selbst die sauren kleinen Holzäpfel an ihrem Baum, die ich früher niemals angerührt hätte. »Jede Kalorie zählt.« Sie hätte am liebsten schon heute Morgen damit angefangen, aber es muss, in ihren Worten, »nach Einbruch der Dunkelheit sein, damit mich niemand sieht«.
Und mein neuer Job: Ich bin die Gärtnerin. Ich soll alle unsere Pflanzensaaten im Auge behalten und mich um sie kümmern. Nicht dass wir allzu viel angesät hätten.
Ich habe unsere beiden Häuser durchforstet, und das Einzige, was ich dabei aufgestöbert habe, waren Zuckererbsen und Süßkartoffeln. Ich bin mir nicht sicher, ob Letztere den gleichen Nährwert besitzen wie »das Original« – Mostar-Sprech für herkömmliche Kartoffeln. »Besser als nichts.« Voller Überzeugung, obwohl sie keinen blassen Schimmer hat, wie man irgendetwas anpflanzt. Die Süßkartoffeln in Stücke schneiden und die Augen einpflanzen – Dan scheint sich daran zu erinnern, das vor kurzem in einem Science-Fiction-Roman gelesen zu haben – oder doch die ganze Kartoffel einpflanzen? Das taten wir dann auch. Und die Erbsen? Zuerst einweichen? Sie in ein feuchtes Küchenpapier wickeln, woran ich mich vage aus dem Kindergarten erinnere, oder sie einfach in gut gewässerte Erde stecken, wofür wir uns entschieden?
Mostar hatte keine Ahnung. Das gab sie auch zu. »Keine Ahnung.« Sie gestand, dass sie schon ihr »ganzes Leben ein Stadtmädchen« ist und dass die einzige Pflanze, um die sie sich jemals gekümmert hat, ein Tomatenstrauch auf ihrem Fensterbrett war, dem sie erfolgreich den Garaus machte. Und nichts von alledem schien sie zu stören. Zuversicht, Klarheit. »Wir müssen es versuchen.« Sie sagte das, als ich die letzte Erbse in die Erde drückte. So zufrieden, ihre dicklichen Hände in ihre breiten Hüften gestützt. »Wir müssen es versuchen.«
Und jetzt stimme ich ihr zu. Der Zeiger hat sich abermals bewegt. Ich höre viel Radio.
Ich wollte nur mehr darüber erfahren, was los ist, um mir ein besseres Bild machen zu können. Vor allem, als ich sah, dass Tonys Auto heute fehlte. Vielleicht hat er es in die Garage gestellt, aber ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass sie diese zu ihrem Fitnessstudio umfunktioniert haben. Er konnte noch nicht lange weg sein. Als ich heute Morgen aus unserem »Garagengarten« kam, stand sein Tesla noch da. Er muss weggefahren sein, während ich unter der Dusche war. Wahrscheinlich will er Hilfe holen. Aber wie weit wird er kommen, wenn tatsächlich ein Lahar das Tal verschüttet hat?
Und wenn die Straße frei ist? Schließlich glaubte Vincent nur, diese Geschichte gehört zu haben. Vielleicht möchte Tony es einfach mit eigenen Augen sehen. Nur zu, Tony!
Und ja, ich gebe zu, ich fühle mich irgendwie hilflos, verletzlich, seit er weg ist. Eigentlich wollte ich ihn nach Neuigkeiten fragen, bevor ich zu Yvettes Yogastunde gehe. Ich könnte es wirklich gut gebrauchen, seine erdende Stimme zu hören. Yvette macht sich bestimmt große Sorgen um ihn. Mir fiel heute die Anspannung in ihrem Tonfall auf, ihr leicht gehetztes Timing. Ich nehme an, es ist ein Zeichen von Mut, hierzubleiben und uns alle bei Laune zu halten, während Tony da draußen sein Leben riskiert. Das ist ein weiterer Grund, warum ich angefangen habe, Radio zu hören: um Yvette vielleicht mit guten Neuigkeiten überraschen zu können, die dafür sorgen, dass es ihr besser geht.
Okay, das ist nicht wahr. Ich habe nur für mich selbst angefangen, Radio zu hören.
Und meine Güte, wie ich es bereue.
Ich höre jetzt seit einer Stunde Radio, und ich bin erschöpft wie nie zuvor.
Auch wenn unser Tal möglicherweise nicht verschüttet ist, viele andere sind es. Sie wirken wie Trichter und kanalisieren Schlammlawinen. Wie in meinem Albtraum-Szenario, als ich mir in ihren Autos gefangene Menschen vorstellte. Genau das ist passiert. Man weiß nicht, wie viele Menschen begraben wurden. Und nicht nur in ihren Autos. Ich hatte auch recht gehabt, dass Menschen in ihren Häusern ums Leben gekommen waren, entweder im Bett oder hellwach, aber ohne gewarnt worden zu sein. Das ist jetzt ein riesiges Problem, eine Nachricht rechtzeitig zu verbreiten. Ich habe in einem Beitrag gehört, dass die meisten Leute heutzutage über ihr Mobiltelefon gewarnt werden, anstatt wie früher über ihren Festnetzanschluss. Und viele von ihnen schalten ihr Handy aus, wenn sie ins Bett gehen, oder vergessen, es zu laden, oder ignorieren Anrufe mit unbekannter Nummer, weil sie denken, es handle sich um Telefonmarketing.
Und was hat es damit auf sich, dass wir angeblich von Süden abgeschnitten sind? Dass eine der Schlammlawinen bis nach Tacoma abgegangen ist und die Interstate 5 blockiert, auf der wir hierhergekommen sind? Irgendetwas von wegen Umleitung zur I-90 und die Organisation von Evakuierungen im Norden Richtung Vancouver. Warum »Einbahnstraßenregelung«? Davon ist immer wieder die Rede und dass diejenigen, die versuchen, mit dem Auto wegzukommen, immer frustrierter und wütender werden.
Tacoma scheint ein wichtiger Hafen zu sein. Eine große Anzahl von Schiffen verstopft den Puget Sound. Viele Unfälle, vor allem mit kleinen Privatbooten. Fähren kommen nicht mehr hinaus. Ein Schiff der United States Navy namens Mercy kommt nicht hinein. Ich schnappe nur Brocken auf, warum der Flugverkehr eingestellt ist. Irgendetwas über Asche in Flugzeugtriebwerken und auf Flughäfen, aber auch etwas über einen Absturz nach der Kollision einer Drohne mit einem Helikopter. Alle Insassen kamen ums Leben, darunter auch einige gerettete Wanderer. Ich habe zwei unterschiedliche Versionen gehört, um welche Art von Drohne es sich handelte: um eine militärische auf der Suche nach Überlebenden oder um eine private auf der Jagd nach Fotos, die in sozialen Medien gepostet werden sollten. In beiden Geschichten hieß es, »Lieferungen durch unbemannte Fluggeräte werden ausgesetzt«. Ist das der Grund, weshalb wir seit Beginn des Ganzen kein Flugzeug und keinen Helikopter zu Gesicht bekommen haben, nicht einmal eine Drohne?
Mag sein, dass wir von Seattle abgeschnitten sind, aber es klingt so, als wäre Seattle vom Rest der Welt abgeschnitten!
Ich verstehe nicht, wie es dazu kommen konnte. Auf mich prasselt gerade zu viel ein. Ein Bericht über Etats und Politik. Budget-Sequestrierung? Schließungen, die »langfristige Mitarbeiter-Bindung« beeinträchtigen? Was bedeutet es, den »Verwaltungsstaat zu zerstören«? Und was ist der United States Geological Survey? Jemand von dort beklagte sich, die Firmen vor Ort hätten die Warnungen nicht hören wollen, und warf ihnen vor, für »ein weiteres Mammoth Lakes« 17 zu sorgen.
Der Typ vom United States Geological Survey versucht außerdem, diverse Gerüchte zu zerstreuen, die anscheinend im Umlauf sind. Eine Menge Gerüchte. Er klang richtig frustriert, als er erklärte, der Mount Rainier sei nicht zur Seite Richtung Seattle explodiert und habe keinen Tsunami ausgelöst und auch keine Kettenreaktion, bei der alle anderen Vulkane ebenfalls ausgebrochen waren. Vermutlich bekommt er solche Gerüchte ständig zu Ohren. Und die Reporterin machte das Ganze nicht besser. Sie sprach immer wieder schreckliche Vulkanausbrüche an, zu denen es in der Vergangenheit gekommen war: Krakatau, Fuji, Vesuv. Sie wollte wissen, mit wie vielen Opfern man maximal zu rechnen habe und was das »hypothetische Worstcase-Szenario« sei, und als sie versuchte, ihn dazu zu bringen, sich vorzustellen, wie ein »Yellowstone-Supervulkan« aussähe, erwiderte er: »Meine Güte, warum unterhalten wir uns überhaupt darüber?«
Wut. Und Gewalt.
Ein örtlicher Sender berichtet morgens um zehn nach sieben von einer Schießerei bei Whole Foods am Denny Way. Wo ist das? Mehr über lange Schlangen in anderen Geschäften, Schlägereien, Fahrerflucht an einer Tankstelle. Ein Lastwagenfahrer wurde aus seinem Führerhaus gezerrt und fast totgeprügelt. Es handelte sich um einen Brot-Lastwagen. Er wurde geplündert und in Brand gesteckt.
Jetzt lausche ich gerade einer Pressekonferenz. Der Empfang setzt immer wieder aus. Eine Frau – ich glaube, sie ist die Gouverneurin – versucht, sämtliche Fragen zu beantworten, mit denen sie bombardiert wird. Unzählige Reporter, die unzählige Fragen stellen. Es kann nicht stimmen, dass sich die Rettungskräfte auf »Gesellschaftsvermögen« wie Boeing und Microsoft konzentrieren. Es kann nicht sein, dass sie reiche Stadtviertel wie Queen Anne Mittelklasse-Wohngegenden wie Enumclaw vorziehen. Diese Frage stellte ein Reporter, während ein anderer rief: »Stimmt es etwa nicht, dass der United States Geological Survey absichtlich Warnungen zurückgehalten hat, damit der Ausbruch diese Ortschaften für Luxus-Wohnbau freimacht?«
Eine Frage zum Thema Kriegsrecht. O mein Gott! Ich habe diese Frage gehört! Vorhin! Als ich mich ins Auto setzte, schaltete ich eine Schimpftirade weg. Es war kein Nachrichtensender, glaube ich, eher Talk-Radio. Irgendein Typ, raue, aufgebrachte Stimme, der über den Schattenstaat schimpfte und dass all das eine Verschwörung sei, dass Warnungen zurückgehalten worden seien, um diese Katastrophe auszulösen, als »Vorwand für den Einsatz von Bundestruppen zur Entwaffnung der Öffentlichkeit«. Das sind exakt die Worte, die ich gerade höre. Wiederholt der Reporter einfach nur die Schimpftirade, die wir beide gehört haben?
Jetzt spricht die Gouverneurin. Sie klingt wütend. Ich schreibe auf, was ich höre:
»Beruhigen Sie sich! Sie alle, bitte! Sie müssen genau zuhören, was wir Ihnen jetzt sagen. Wir können uns keine Gerüchte erlauben. Wir können uns keine Spekulationen erlauben. Viele Menschen befinden sich in echter Gefahr. Sie sind auf genaue, ehrliche Berichterstattung angewiesen. Sie benötigen Fakten. Sie müssen verantwortungsbewusst mit dem umgehen, was Sie verbreiten! Sie dürfen keinesfalls Panik auslösen! Bitte denken Sie nach, bevor Sie sprechen. Denken Sie an die Konsequenzen Ihres …«
Tony!
In meinem Rückspiegel! Seine Scheinwerfer, als er wieder vor seinem Haus hält.
Aus meinem Interview mit Frank McCray jr.
Noch einmal, man darf Tony nicht die alleinige Schuld geben. Nicht einmal der Technik-Branche, weil sie nicht vorbereitet war. Sie hätten alle Notfall-Equipment bereithalten sollen, aber wer tut das schon? Wie viele Leute in L.A. sind für Erdbeben gerüstet? Wie viele Mittelwestler sind für Tornados gewappnet und wie viele in den nordöstlichen Bundesstaaten für Schneestürme? Wie viele Bewohner der Golfküste decken sich für die Hurrikan-Saison ein? Ich erinnere mich, dass ich vor Katrina in New Orleans auf einer Party war, auf der die Leute davon sprachen, »wann« die Dämme brechen würden. Nicht »ob«, sondern »wann«!
Und das sind nur die dramatischen Beispiele. Wie viele haben einen Feuerlöscher in der Küche oder Leuchtraketen im Auto? Wie viele von uns haben schon einmal mitten in der Nacht den Arzneischrank aufgemacht und festgestellt, dass bei den Tabletten, die wir so dringend brauchen, das Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen ist?
Und was die Versorgung im Alltag angeht, erwischte es nicht nur die Bewohner von Greenloop unvorbereitet. Betroffen war ebenso das Ein-Klick-Online-Liefersystem, von dem sie abhängig waren. Das ganze Land ist inzwischen davon abhängig. Niemand erinnert sich an Weihnachten Ende der Neunzigerjahre, bevor die Dotcom-Blase platzte, als alle dachten, sie könnten sich durch die Liste des Weihnachtsmanns klicken. Sie verstanden nicht, dass die Geschenke, die sie bestellten, transportiert werden mussten, in den meisten Fällen aus Übersee mit sehr großen, sehr langsamen Schiffen. Das Ergebnis war, dass viele meiner Freunde ihre Elektrospielzeuge nicht zu Weihnachten bekamen und ihre Eltern den Abend davor damit zubrachten, von einer ausverkauften Toys »R« Us-Filiale zur nächsten zu hetzen. Damals hatten wir noch Toys »R« Us.
Und was haben wir alle aus diesem Riesenwirbel gelernt? Wir haben das Vertriebsnetz schneller gemacht, anstatt uns auf das vorzubereiten, was passiert, wenn dieses Netz ausfällt. Welche Lebensmittel sieht man, wenn man eine Filiale einer beliebigen großen Supermarktkette betritt? Konserven? Eingelegtes? Getrocknetes? Schon lange nicht mehr. Nicht wie früher. In meiner Kindheit hatten die meisten Supermärkte eine sehr kleine Frischfleisch-, Fisch-, Obst- und Gemüse-Abteilung. Heutzutage befindet sich das alles an vorderster Front. Das Geschäftsmodell der amerikanischen Lebensmittelindustrie ist die Lieferung frischer Zutaten am selben Tag.
Aber was passiert, wenn die Lieferwagen nicht kommen? Was ist, wenn sie nicht kommen können? Das war der Fall in Seattle nach dem Ausbruch des Mount Rainier, das und die Stromausfälle. Wie viele frische Lebensmittel sind in den ersten achtundvierzig Stunden verdorben?
Und wie sah es mit der Notversorgung aus? Der Katastrophenschutz betreibt keine Vorratshaltung. Nicht mehr. Zu ineffizient. Dafür werden Aufträge an den privaten Sektor vergeben, an Großmärkte, die ebenfalls keine Vorratshaltung betreiben, weil es zu ineffizient ist. Der gesamte Lagerbestand muss innerhalb von vierundzwanzig Stunden umgeschlagen werden, und wenn eine Krisensituation genau dann eintritt, wenn man eine Lieferung erwartet …
Man kann den Bewohnern von Greenloop keinen Vorwurf machen, dass sie leere Schränke hatten. Das gesamte Land basiert auf einem System, das Belastbarkeit für Bequemlichkeit geopfert hat.
6. Tagebucheintrag (Fortsetzung)
Tony war verdreckt, voller Asche und von der Hüfte abwärts mit etwas verschmiert, das aussah wie Schlamm. Seine Knie und Ellbogen waren verschrammt, und ihm fehlte ein Wanderstiefel. Als ich aus dem Auto stieg, um ihm entgegenzugehen, sah ich ein paar von den anderen aus ihren Häusern kommen. Carmen, Vincent, Yvette (in Work-out-Klamotten mit einem Handtuch um ihren dampfenden Hals). Als er uns alle kommen sah, winkte er lächelnd. Er bemerkte uns nur eine halbe Sekunde, nachdem wir ihn entdeckt hatten, doch das genügte mir, um seinen Gesichtsausdruck zur Kenntnis zu nehmen. Er starrte mit offenem Mund benommen vor sich hin. Sein Lächeln, als er uns sah, wirkte gezwungen.
Yvette fragte, was passiert sei, als sie nahe genug herangekommen war, und erinnerte sich dann im Nachhinein daran, ihn zu umarmen. Tony nickte zuerst ihr und anschließend uns allen in seiner selbstbewussten Art zu.
»Tja, jetzt weiß ich, wie ein ›Lahar‹ aussieht.« Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche an seiner Hüfte und sagte: »Ich wollte es … na ja … mit eigenen Augen sehen …« (Ich hatte recht gehabt!) »Aber ich bin nie im Tal angekommen, weil die Brücke … sie ist weg … der Fluss, Schlamm, eine Menge … Zeug … Trümmer … ja, sie ist weg …« Er verstummte allmählich, als wollte er noch etwas sagen. Doch sein Blick wirkte abwesend, als er noch einen Schluck trank.
In dieser Pause bemerkte ich, dass Yvette uns musterte. Ich bin mir nicht sicher, wonach sie suchte, was sie unseren Gesichtern und unserer Körpersprache entnahm. Doch sie muss irgendetwas gesehen haben, denn noch bevor Tony ausgetrunken hatte, küsste sie ihn auf die Wange, rieb ihm die Brust und sagte: »Aber es ist Hilfe unterwegs. Es ist Hilfe unterwegs.« Das erste Mal war für uns, das zweite Mal für Tony.
»Ja, klar«, bestätigte Tony, der sich abrupt wieder gefangen zu haben schien. »Sicher. Sie sind auf dem Weg.«
Wirklich? Hatte er nicht die gleichen Nachrichtenberichte gehört wie ich? Das wachsende Chaos, das Startverbot für Flugzeuge. Warum sollte er immer noch denken, dass jemand auf dem Weg zu uns war? Glaubte er das tatsächlich, oder sagte er es nur? Und warum sollte er es nur sagen? Um uns zu überzeugen oder sich selbst? Und warum widersprach ihm niemand? Vincent hatte offensichtlich auch im Auto Radio gehört, und ich glaubte zu sehen, wie er und Bobbi einen Blick tauschten.
Zumindest Carmen sagte etwas. »Haben Sie jemanden auf der anderen Seite der Brücke gesehen? Ein Rettungsteam oder andere Flüchtlinge?«
Tony erwiderte: »Nein. Nein.« Das erste »Nein« war an Carmen gerichtet, das zweite auf den Boden.
Bemerkte außer mir noch jemand, dass Yvette seinen Arm drückte?
Ich nahm alles wahr. Seinen Blick, seine Worte, wie er sich vor und nach jedem Schluck Wasser die Lippen leckte.
Ich glaube nicht, dass Yvette mich zur Kenntnis nahm, aber sie war offenbar beunruhigt, was er antworten würde, da sie schnell in die Bresche sprang. »Wir sind keine Flüchtlinge, Carmen. Der Begriff lautet ›Evakuierte‹, was wir aber auch nicht sind, erinnern Sie sich?« Das letzte »Erinnern« muss zu schroff geklungen haben, denn plötzlich stieß sie einen deutlich hörbaren Seufzer aus. »Aber da Sie es erwähnen« – Hand an die Brust, ein plötzliches tränenfeuchtes Blinzeln – »wir sollten uns tatsächlich darauf vorbereiten, uns um alle Evakuierten zu kümmern, die zufällig auf uns stoßen.« Sie richtete den Blick auf den Wald über dem Haus. »Falls jemand versucht, zu Fuß zu entkommen. Womöglich laufen da draußen gerade Menschen ganz in unserer Nähe herum, die sich verirrt haben und verängstigt sind.«
Mir fiel auf, dass alle nickten. Ich ebenfalls. Ich spielte mit, wie Mostar es sich gewünscht hätte. Deshalb erwähnte ich nichts von dem Drohnenabsturz. Deshalb schwieg ich, als Yvette Tony drängte zu sagen: »Ja, ja, wir … äh … wir müssen bereit sein, diese Leute zu versorgen. Bis wir alle gerettet werden. Wir müssen bereit sein. Bereit …«
Als sie zu ihrem Haus zurückgingen, löste er sich aus ihrem Griff. Ich konnte nicht hören, was sie sagten. Ich hatte mich bereits wieder in mein Auto gesetzt. Aber durch den Rückspiegel beobachtete ich, wie er Yvette signalisierte, ins Haus zu gehen. Anscheinend hatte sie Einwände, denn seine Gesten wurden schneller, genauso wie sein Nicken. Sie sah ihn einen Moment lang an, dann ließ sie den Blick über die Umgebung schweifen, anschließend ging sie wieder hinein. Ich beobachtete Tony, wie er wartete, bis sich die Haustür schloss, bevor er zu seinem Kofferraum ging und einen großen, prallen Wanderrucksack herausholte. Er hob ihn halb heraus, und es hatte den Anschein, als wollte er ihn sich auf den Rücken schwingen. Dann hielt er inne. Das war es, was meine Aufmerksamkeit wirklich weckte. Ich zögere oft, Dinge zu tun, überlege hin und her, womit ich anfangen soll, und mir wird klar, dass ich X vor Y erledigen sollte. Ich tue das häufiger als die meisten anderen Menschen, deshalb bin ich mir dessen immer bewusst. Tony hatte ich noch nie zögern sehen. Er hielt mitten in der Bewegung inne, schaute noch einmal zur Tür hinüber, blickte sich dann in der Umgebung um und ließ den Rucksack schnell wieder in den Kofferraum fallen.
Womöglich interpretiere ich das Ganze völlig falsch. Ganz bestimmt sogar. Sie haben mit mir viel über Projektion gesprochen, und ich bin sicher, dass ich meine eigenen Schuldgefühle wegen meines Spionierens auf Tony projizierte. Er hatte keinen Grund, Schuldgefühle zu haben. Er hatte Hilfe holen wollen. Er tat das für uns! Und die Art und Weise, wie er sich vor uns verhielt, zeigt, dass er müde war, das ist alles. Der arme Kerl war wahrscheinlich die ganze Nacht auf gewesen. Ich bin sicher, er wird wieder der alte Tony, der echte Tony, wenn er sich erst einmal richtig ausgeschlafen hat.
Habe ich gerade »echt« geschrieben? Was bedeutet das überhaupt? Ich sollte nicht so an ihm zweifeln. Ich fühle mich jetzt schuldig, während ich diesen Teil aufschreibe, genauso wie ich mich schuldig fühlte, als ich beobachtete, wie er in seinem Haus verschwand.
In diesem Moment klopfte Mostar an meine Windschutzscheibe.
»Katie!«
Ich sprang beinahe aus dem Sitz.
»Katie!«, flüsterte sie laut. »Schnell, bevor es ausläuft!«
Sie hielt eine Whole-Foods-Tüte in der Hand, die unten, wo sich ein roter Fleck ausbreitete, von etwas ausgewölbt wurde.
Ich streckte die Hand aus, um die Autotür aufzumachen, stellte fest, dass ich mich angeschnallt hatte (Gewohnheit?), und folgte ihr dann in mein Haus.
Als ich die Tür öffnete, huschte sie mit einem geflüsterten »Schnell, machen Sie Ihre Jalousien zu!« an mir vorbei. Sie rannte zur Küchenarbeitsplatte. »Ich hätte das normalerweise zu Hause gemacht, aber Sie müssen zusehen.« Sie griff in die Tüte.
Meine Backenzähne pressten sich beim ersten Anblick von blutigem Fell aufeinander, dann kam etwas Langes, Dünnes zum Vorschein. Ein Ohr. Sie sagte mir, ich solle eine Schüssel und eine große Pfanne oder ein Backblech holen und das schärfste, kleinste, dünnste Messer, das wir besaßen. Als ich mich umdrehte, fügte sie hinzu: »Ach ja, und ein paar Gummihandschuhe. Wir wissen nicht, ob es Flöhe oder Zecken hat.«
Ich wollte nicht hinsehen, wollte mir nicht eingestehen, was zweifellos kommen würde. Und es kam. Ich drehte mich wieder um, gab Mostar ein Paar Handschuhe und versuchte, den Blick abzuwenden. Aber sie ließ mich nicht. »Sie müssen zuschauen.« Sie schlüpfte in die Handschuhe und ließ das tote Kaninchen in den Kochtopf gleiten. »Sie müssen jeden Schritt lernen.«
Ich kann den Tod nicht sehen. Das wissen Sie ja. Ich habe Ihnen von der Zeit in New York erzählt, als ich es nicht über mich brachte, durch Chinatown zu gehen, wo überall Enten in den Fenstern hingen. Ich habe Ihnen erzählt, dass ich nicht in einem Restaurant mit Hummerbecken essen kann, weil es sich dort wie in einer Todeszelle anfühlt. Ich habe Ihnen erzählt, dass ich unter Deck seekrank wurde, als Dan und ich am Valentinstag nach Santa Catalina Island fuhren, weil an unserem Platz an Deck eine tote Fliege an der Reling klebte und einer ihrer Flügel im Wind flatterte.
Ich weiß, das ist scheinheilig. Ich esse Fisch und Huhn. Ich trage Leder und Seide. Ich genieße alle Vorteile des Tötens, ohne es jemals selbst tun zu müssen. Mir ist all das bewusst, aber ich kann einfach nicht. Ich kann den Tod nicht sehen.
»Sehen Sie zu!«, forderte Mostar mich auf, als sie das blutige Kaninchen hochhielt. »Das dürfen Sie nicht verpassen.« Mir war so schwindlig, so übel, dass ich nicht einmal daran dachte zu fragen, warum. Warum können nicht Sie der Tierkiller sein, und ich kümmere mich um den Garten?
Das Kaninchen sah dem ähnlich, das ich zuvor hatte laufen sehen. Graubraunes Fell, lange Ohren, weiße Füße. Große braune Augen. Offene Augen, die mich direkt anstarrten.
Als Mostar es hochhielt, konnte ich die Wunden an Bauch und Rücken erkennen. Sie lächelte, ohne mich anzusehen, als sie nach dem Messer griff. »Die Falle hat funktioniert! Ich habe direkt neben dem Apfelbaum ein Loch gegraben und den Boden mit zugespitzten Stöcken gespickt, mit übrig gebliebenen Essstäbchen, die in einer Schublade herumlagen. Dann habe ich ein Dach aus Zweigen und Blättern gebaut und das Kaninchen mit Apfelchips und dem letzten Rest Ahornsirup geködert.«
Sie hielt das Kaninchen am Kopf über das Spülbecken und strich mit der anderen Hand über seinen Körper.
»Wir müssen den ganzen Urin aus der Blase drücken.«
Dann legte sie es auf dem Rücken in die Pfanne und hielt das Messer schräg zur Brust.
»Beten Sie, dass die Stöcke keines der Organe durchstoßen haben. Wenn sie auf das Fleisch auslaufen, schmeckt es schrecklich.«
Ich packte das Ende des Tisches, um mich abzustützen, als Mostar in das Fell schnitt.
»Vom Hals bis zum Anus«, erklärte sie. Dann legte sie das Messer weg, steckte die Finger direkt in den Einschnitt und begann, die Haut abzuziehen.
»So weit, so gut. Ich rieche nichts.«
Ich spürte Gallenflüssigkeit in mir aufsteigen.
»Wir hatten auch Glück, dass ich es da drin herumpoltern hörte. Wenn ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre, um ihm das Genick zu brechen, wäre es vielleicht schon so steif, dass man nichts mehr mit ihm anfangen könnte.«
Ich musste aufstoßen, metallisch, beißend.
»Beim nächsten Schritt muss man besonders sorgfältig sein.« Die Klinge schnitt in die blutige Wunde. »Nicht gerade nach unten und nicht zu tief, damit man nicht versehentlich in … oh … schon passiert. Durchs Herz und … ja, die Gedärme. Riechen Sie das? Wenigstens haben wir es rechtzeitig bemerkt, bevor der Inhalt das Fleisch durchtränken kann. Wir können es ja auch noch waschen, und mit ein wenig mehr Würze, vielleicht etwas Paprika oder Kreuzkümmel … oder Vegeta. Mit Vegeta kann man so ziemlich alles retten.«
Einige Organe waren rosa, andere grau. Sie ließen sich leicht entfernen. Einmal langsam und sanft ziehen genügte.
»Hier, die ist für die Teile, die wir stibitzt haben …«
Wir!
»Oh, sieht so aus, als hätten wir auch den Magen.«
Beide Schalen füllten sich mit den glitschigen kleinen Stücken, während sie sich im Spülbecken die Hände wusch.
»Wir dürfen nichts verschwenden. Das können wir uns jetzt nicht leisten.«
Zurück zum Fell, das sie abzog.
»Sehen Sie, wie man die Beine einfach herausziehen kann? Als würde man seine Hose ausziehen. Man nimmt einen Fuß … sehen Sie … so … mit einer Hand, und mit der anderen zieht man das Bein langsam heraus.«
Inzwischen stützte ich mich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte ab, und mein Mund füllte sich mit heißem Speichel.
»Atmen Sie einfach.« Ihre Stimme änderte nie ihren monotonen, belehrenden Klang. »Tief. Gleichmäßig. Stellen Sie sich vor, ich wäre Yvette.« Und sie kicherte ein wenig darüber.
Meine Sicht trübte sich. Ich muss geschwankt haben, weil Mostar mich festhielt.
»Entschuldigung, Katie, ich sollte keine Witze machen.« Sie klang aufrichtig zerknirscht. »Holen Sie sich einen Waschlappen, halten Sie ihn unter das kalte Wasser und legen Sie ihn sich auf den Nacken.«
Ich befolgte ihren Rat. Sie wartete. Anschließend fühlte ich mich ein bisschen besser, aber nicht viel. Ich versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentrieren, auf die Kühle in meinem Nacken.
»Weiter geht’s, beide Hinterbeine, jetzt die vorderen … über den Ellbogen … und man greift das Fell und zieht es bis zum Hals, als würde man einen Pullover ausziehen.«
Hoch und über den Kopf, immer noch nicht lose, der Hals freigelegt.
»Sie haben kein Hackbeil, oder? Nein natürlich nicht. Ich auch nicht. Würden Sie mir bitte einfach das große Messer da geben?«
Sie platzierte das lange Kochmesser auf dem Hals des Tieres, hielt den Griff mit einer Hand und legte ihre andere Handfläche darauf. »Diese Arbeitsplatten wurden für größere Leute gemacht, was?«
Ein Knirschen.
»So, den Kopf legen wir erst mal beiseite, bis wir uns überlegt haben, wie wir das Gehirn am besten herausbekommen.«
Gott sei Dank blickten die Augen weg.
»Immerhin müssen wir das Fell nicht gerben. Wir brauchen es viel dringender zum Essen, als wir sein Fell für Kleidung brauchen.«
Ein Kopf, ein enthäuteter Kadaver, zwei Schalen mit Organen. Eine schnelle Handwäsche von Mostar, dann dieselbe feuchte Hand auf meinem Arm.
»Um den Rest brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Ich werde alles waschen und für den Eintopf herrichten.«
Die Erleichterung ließ meine Schultern erschlaffen. Meine Augen fingen plötzlich an zu tränen.
»Sie haben das sehr gut gemacht, Katie.« Ihr Lächeln … Stolz? Traurig? »Besser als ich bei meinem ersten Mal.« Sie begann, die Organe im Spülbecken zu waschen. »Und wenigstens müssen Sie das niemals Katzen antun.«
Katzen?
»Oh, keine Sorge.« Sie lächelte mich schelmisch an. »Ich habe das nie getan. Eine meiner italienischen Kolleginnen erzählte immer Geschichten darüber, was ihre Mutter alles getan hat, um in dem anderen Krieg zu überleben.«
Dem anderen Krieg?
Ich konnte sehen, wie sie bewusst eine Pause machte und mir die Gelegenheit gab nachzufragen. Ich tat es nicht.
»Er hat mich dankbar gemacht, Katie.« Sie redete weiter. »Ich habe mich kein einziges Mal über ICAR-Dosen-Rindfleisch oder ›Streichkäse‹ aus fermentiertem Milchpulver mit etwas Salz und Hefe beschwert. Noch schlimmer als Béchamelsauce und diese schreckliche Paniermehl-Karottenpaste.« Sie blickte stolz auf die verstümmelten Tierbestandteile vor uns. »Trotzdem war es Essen, mehr als viele Menschen unter ähnlichen Umständen hatten. Haben Sie jemals über Leningrad gelesen, Katie? Die armen Seelen dort kratzten Kleister von der Rückseite der Tapeten, kochten mit Leder Suppe und ließen ihre Kinder niemals allein aus dem Haus gehen … Na ja, wir auch nicht, aber nicht aus diesem Grund.«
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Nicht das Blut, die Organe, das Fleisch, der Tod direkt vor meinem Gesicht.
Die Geschichten.
Die Anspielungen.
»Mostar, haben Sie …? Ist es in Ordnung, wenn ich kurz …?«
»Natürlich, Katie.« Sie winkte vom Spülbecken aus über die Schulter. »Gehen Sie frische Luft schnappen, und kommen Sie zurück, wenn Sie fertig sind.«
Ich öffnete die Hintertür und atmete tief durch.
Ich bin mir nicht sicher, warum ich die Zufahrt zurückging und Tonys Schritte in Richtung Brücke zurückverfolgte. Der Wanderweg war näher. Das Bedürfnis zu entkommen? Eine unbewusste Flucht? Ich bin sicher, Sie würden sich damit bestens amüsieren.
Wahrscheinlich wären Sie auch stolz auf mein Bedürfnis, Yvette zu analysieren. Aus irgendeinem Grund habe ich bei ihr kein so schlechtes Gewissen, wenn ich an ihr zweifle, wie bei Tony. Warum hatte sie ihn so schnell zu einer Rettung angestachelt? War das eine Machtsache gewesen? Zuzugeben, dass Mostar recht gehabt hatte? War das der Grund, warum sie während unserer Morgenmeditation die Wahrheit darüber verdreht hat, wer die Lahars vorhergesagt hatte? Und warum sie uns diesem nicht gerade subtilen Loyalitätstest unterzog? Würde Mostar zuzustimmen bedeuten, einen Teil der Kontrolle über die Gruppe aufzugeben? Ist ihr Kontrolle so wichtig?
Meine Gedanken drehten sich ungefähr eine halbe Stunde lang um diese Fragen. Ich bin mir nicht sicher, wie weit ich die Straße entlangging. Nicht annähernd bis in die Nähe der Brücke. Der Unterschied zwischen Gehen und Fahren ist einem nicht wirklich bewusst. Wahrscheinlich hätte ich noch weiter gehen können. Fast hätte ich das auch getan, abgelenkt von meinen psychischen Überlegungen, aber als ich um eine kleine Kurve kam, bemerkte ich einen großen Felsbrocken, der mitten auf der Straße lag.
Ich sollte an dieser Stelle sagen, dass meine Augen wegen meines Schlafmangels bereits trocken waren und die kleinen Aschepartikel es nicht besser machten. Deshalb konnte ich nicht genau beurteilen, wie groß der Felsbrocken war und wie weit von mir entfernt. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass er in den letzten paar Stunden dorthin gerollt sein musste. Wie hätte Tony sonst weiterfahren und sehen können, dass die Brücke tatsächlich verschwunden war? Ich erkannte sogar die Reifenspuren, vier an der Zahl, jeweils zwei in beide Fahrtrichtungen. Ich weiß noch, dass ich ein Gefühl der Endgültigkeit verspürte, denn Brücke hin oder her, mit diesem riesigen Stein im Weg konnten wir nicht wegfahren.
Dann sah ich, wie sich der Felsbrocken bewegte.
Er drehte sich, wuchs und verschwand dann zwischen den Bäumen. Ich glaubte, auch gesehen zu haben, wie er seine Form änderte, länger und schmaler wurde und sich sogar wie ein Baum verzweigte. Arme? Ich rieb mir die Augen und blinzelte kräftig.
Als ich noch einmal hinschaute, war die Straße leer. Der Felsbrocken war definitiv verschwunden. Dann, als sich der Wind in meine Richtung drehte, roch ich es. Eier und Müll.
Ich wägte nicht bewusst ab, was ich als Nächstes tun sollte. Keine interne Debatte. Es war ein Reflex. Ich drehte mich um und ging zurück. Mein Blick wanderte suchend in einem flachen Bogen hin und her, wie es einem in der Fahrschule am ersten Tag beigebracht wird. Ich versuchte, mein Tempo konstant zu halten, meine Atmung gleichmäßig. Ich versuchte, nicht in Gedanken bei dem zu verweilen, was ich gesehen hatte. Ein Tier, ein Reh. Vielleicht war der »Felsbrocken« nur ein Fleck auf meinem Auge gewesen.
Aber der Geruch wurde stärker, und ich konnte nicht umhin, schneller zu gehen. Ich glaubte, gesehen zu haben, wie sich etwas zu meiner Rechten bewegte, wie sich zwischen zwei Bäumen plötzlich eine Lücke auftat.
Ich ging noch schneller.
Albern. Irrational. Übermüdet. Informationsüberflutung aus den Nachrichten gemischt mit Erinnerungsfetzen an das blutige geschlachtete Kaninchen.
Ein leichter Trab, zunächst tiefe, kontrollierte Atemzüge. Dieses Gefühl. In meinem Nacken. Beobachtet zu werden. Mein Trab wurde zu einem Joggen, mein Atem dröhnte in meinen Ohren.
Dann ein Heulen. Kein Zweifel, dass ich es hörte, genau wie neulich. Erst tief, dann ansteigend, von den Bäumen widerhallend. Ein Blitz schoss mir in den Bauch.
Ich rannte.
Sprintete, keuchte, während vor mir die Welt erbebte.
Und stürzte. Genau wie in einem dummen, lächerlichen Horrorfilm, in dem die doofe Blondine auf die Schnauze fällt, kurz bevor der messerschwingende Psycho sie einholt. Wenigstens war ich so geistesgegenwärtig, die Augen zuzumachen und die Luft anzuhalten, aber nachdem ich mit dem Gesicht in der Asche gelandet war, konnte ich nicht anders als einzuatmen.
Hustend, würgend, mit verschwommener Sicht und stechenden Augen eilte ich weiter.
Nicht umdrehen! Daran erinnere ich mich deutlich. Ich schrie in Gedanken. Nicht umdrehen! Nicht nachdenken! Losloslos!
Meine Oberschenkel brannten, meine Lunge brannte.
Ich rannte, bis die Dächer hinter der Zufahrt auftauchten. Die Endorphine schlugen zu. Geschafft. Zu Hause. In Sicherheit!
Dan!
Er kam auf mich zu, Mostar hinter ihm.
Beide mit schockiertem Gesichtsausdruck, völlig überrascht.
Ich muss lächerlich ausgesehen haben, schweißgebadet und voller Asche, krächzend und keuchend. Ich komme mir immer noch lächerlich vor. Wie ich in Dans Arme fiel und dann an seiner Brust nach Luft rang.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ich wieder genug Atem geschöpft hatte, um zu erklären, wo ich gewesen war. Ich gab sogar zu, dass ich dachte, ein Tier hätte mich verfolgt. Ich sagte allerdings nicht, was es war. Keine Details. Es konnte nicht so groß gewesen sein, wenn man bedenkt, wie groß die Bäume waren. Wahrscheinlich existierte es überhaupt nicht. Aber der Geruch, hätte ich mir den einbilden können?
Mostars Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Verwirrung und … Besorgnis? Es tut mir leid, ich bin völlig von der Rolle. Dan sagt mir immer wieder, ich soll ins Bett gehen. Aber ich möchte erst alles aufschreiben. Tut mir leid, wenn meine Worte undeutlich werden.
Dieser Ausdruck in Mostars Gesicht. Ich gebe nicht vor zu wissen, was es war und warum sie, als Dan mir nach Hause half, den Wald im Auge behielt.