9. KAPITEL
Im County Skamania gibt es Hinweise auf die mögliche Existenz eines nachtaktiven Primaten, der für gewöhnlich als affenartige Kreatur beschrieben wird … und unter den Bezeichnungen »Sasquatch«, »Yeti« oder »Bigfoot« bekannt ist …
– Verordnung Nr. 69–01, Skamania County, Washington State
Aus meinem Interview mit Senior Ranger Josephine Schell.
Ja, ich habe die Legende gehört. Und nein, es hat nichts mit meinem Erbe zu tun. Ich komme aus dem Südwesten, nicht aus dem Nordwesten. 20 Es ist nicht so, dass wir keine eigenen Geschichten hätten. Jeder hat welche. In Russland gibt es den Alma, in Australien den Yowie, in Indonesien den Orang Pendek und in Lateinamerika eine Reihe von Sisimito-Geschichten. Und das ist nur der heutige Stand. Die jüdisch-christliche Bibel hat Esau, den primitiven Bruder Jakobs. Und das Gilgamesch -Epos, die erste niedergeschriebene Geschichte überhaupt, hat »Enkidu«, den wilden Mann. Nennen Sie mir irgendeine beliebige Kultur auf diesem Planeten, und die Chancen stehen gut, dass es in ihr etwas Ähnliches gibt.
Einschließlich dieser, und damit meine ich die Mainstream-Popkultur. Bigfoot ist so amerikanisch wie Coca-Cola und Schusswaffen in Schulen. So habe ich davon erfahren. Wie jedes gute Mitglied der Generation X wurde ich vom Fernsehen erzogen. Mir wurde eine gehörige Dosis an modernen Bigfoot-Medien verabreicht.
Ich habe viele der neueren Möchtegern-Blair-Witch -Filme mit Wackelkamera gesehen. Ich habe in etliche Pseudodokumentationen auf Kabelsendern reingeschaltet. Ich habe immer noch die Absicht, mir die Doku von diesem Überlebenskünstler anzuschauen, nicht die von dem britischen Schwindler, sondern das Original. Von dem Kanadier. Er kennt sich aus und ist vielleicht tatsächlich auf dem richtigen Weg. Aber das ganze andere Zeug, das ich gesehen habe, Fiktion und »manipulierte Realität«, fühlt sich nur wie eine aufpolierte Wiederholung des 70er- und 80er-Jahre-Hypes an, mit dem ich aufgewachsen bin.
Sie wissen das auch! Ich habe Ihren Artikel über die fünf Filmklassiker gelesen, und ja, sie haben mir ebenfalls eine Heidenangst eingejagt. Der, in dem ein Yeti einen Skiort angreift. Ich denke, Sie haben recht damit, dass sie sich kein ganzes Kostüm leisten konnten 21 , aber das Ergebnis, die Weiße-Hai -Perspektive, ist erschreckend. Die Szene, in der er ein Fenster durchbricht … vom Berg herunterkommt, direkt in den Ort … Das hätte er nicht tun sollen! Das verstößt gegen das erste Gebot von Horrorfilmen! Wenn man nicht nach Ärger sucht, sucht der Ärger auch nicht nach einem!
Bei den Gruselfilmen unserer Generation handelte es sich eigentlich um warnende Geschichten. Deshalb hatte ich auch nie Verständnis für die liebestollen Teenager, die ins Sommerlager gingen, oder für den gierigen Bürgermeister, der die Strände nicht sperrte, oder für die regeltreue Raumschiff-Crew, die nur ein außerirdisches Notsignal untersuchen musste. Ich wusste, dass ich niemals so sein würde wie sie. Ich würde meine Schuldigkeit tun und zu Hause bleiben. Aber nachdem ich gesehen hatte, wie der Yeti Aspen angriff, dachte ich: Was hindert einen echten Sasquatch daran, dasselbe zu tun?
Und er tat es! Der andere Film, über den Sie geschrieben haben, mit dem Typen aus Mission Impossible und Exponaten wie Fußabdrücken und Fotos sowie einem Interview mit einem »übersinnlichen Detektiv« und vor allem, oh mein Gott, den »dramatischen Nachstellungen« – als das Mädchen … Rita Graham, ich erinnere mich an den Namen … als sie am Abend zu Hause sitzt, fernsieht und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmert … genau wie ich … und hinter ihr ein Schatten über die Jalousie huscht, zwei Sekunden bevor der riesige, haarige Arm durch das Glas schlägt: Ich hätte mir dabei tatsächlich fast in die Hose gemacht. Es hat mich so sehr geschockt, dass ich Jahre später versuchte, es zu recherchieren. Wie sich herausstellte, ist das Ganze tatsächlich passiert, wurde für die Show aber übertrieben dargestellt.
Was nicht übertrieben dargestellt wurde, war ein anderer Vorfall, genauer gesagt zwei Vorfälle, die für einen Spielfilm nachgestellt wurden, der tatsächlich in den Kinos lief! Der erste ist aus den 1920er-Jahren überliefert, als einige skrupellose Bergleute ausgerechnet in der Nähe des Mount St. Helens schürften. Eines Nachts wird ihre Hütte mit Felsbrocken und Fäusten angegriffen, begleitet von klassischen Tierschreien, die wir jetzt mit der Legende verbinden. Aus diesem Grund trägt die Schlucht, in der es passiert ist, bis heute den Spitznamen Ape Canyon, »Affenschlucht«. Die zweite Geschichte stammt von Teddy Roosevelt.
Sie greift in ihre Schreibtischschublade und wirft eine alte, zerlesene Ausgabe von Jagden in amerikanischer Wildnis auf den Tisch.
Ich muss Sie warnen, der erste Teil ist ziemlich peinlich. Es beginnt damit, dass Roosevelt schreibt, wie glücklich er sich schätzt, ein Exemplar jeder großen, in Nordamerika heimischen Tierart erschossen zu haben.
Vollidiot.
Wie auch immer, im Anschluss daran wird von einem Pelztierjäger namens Bauman aus Idaho »berichtet« – nicht aus erster Hand, versteht sich –, dessen Partner von einem »Kobold« in Stücke gerissen wurde.
Ist eine der beiden Geschichten wahr? Woher soll ich das wissen, verdammt? Zu der Zeit, als ich meine Eltern immer wieder bat, mein Bett vom Fenster wegzustellen, hielt ich sie für wahr. Damals sagte ich immer: »Was in diesen Berichten steht, stimmt! Ein Präsident hat sie geschrieben!«
Ich muss meinen Eltern hoch anrechnen, dass sie mich ernst genommen haben. Sie versuchten, mich dazu zu bringen, es zu verifizieren, jenseits der Worte nach irgendwelchen handfesten Beweisen zu suchen. Ich denke, das ist der Grund, warum ich anfing, mich für Zoologie zu interessieren, und warum ich noch heute aufgeregt bin, wenn irgendeine neue Art wissenschaftlich nachgewiesen wird. Und davon gibt es Tausende. Jedes Jahr! Ich habe eine lebende Goliath-Spinne und den Kadaver eines Riesenkalmars gesehen. Ich habe alle Arten von Exemplaren gesehen, die aus Tiefsee-Hydrothermalquellen gewonnen wurden und zum Zeitpunkt meiner Geburt noch als Science-Fiction gegolten hätten. Und sobald der Kongo sicher genug für den Ökotourismus ist, werde ich die Erste in der Warteschlange sein, um den neu entdeckten Bili-Affen zu Gesicht zu bekommen. Ich bin offen für jede Entdeckung, solange sie auf handfesten, objektiven Beweisen basiert. Fakten sollen Monster verbannen …
Sie seufzt.
… anstatt sie einzuladen.
9. Tagebucheintrag (Fortsetzung)
Die Tiere sind weg. Heute Morgen fiel es mir noch nicht auf, aber im Lauf des Tages ist mir bewusst geworden, dass ich heute kein einziges Reh oder Eichhörnchen gesehen habe. Überhaupt kein Tier. Und falls es noch Vögel gibt, haben sie keinen Pieps von sich gegeben. Warum sind sie fort? Hunger kann nicht der Grund sein. An den Bäumen der Perkins-Forsters hängen noch ein paar Äpfel. Ich wette, wenn ich bei den anderen nachsehe, werde ich auch noch einige verbliebene Früchte finden. War es der Kampf? Haben sie Angst vor dem Tier, das den Puma getötet hat?
Was rede ich denn da? Das Tier .
Ich kann das Wort kaum aufschreiben. Ich habe auch nicht darüber gesprochen, seit ich Mostar davon erzählt habe. Dan auch nicht. Ehrlich gesagt ist er aber auch sehr beschäftigt.
Dan hat einen neuen »Job«, so nennt er es. Wir frühstückten gerade bei Mostar, den Rest des Kanincheneintopfs, mit Wasser gestreckt, als Vincent Boothe vorbeikam. Er sagte zu Dan: »Ich habe gesehen, dass Sie gestern Reinhardts Sonnenkollektoren gereinigt haben, und habe mich gefragt …«
»Klar.« Dan war bereits dabei, seine Schüssel auszulecken. »Ich komme in ein paar Minuten rüber.«
»Großartig!« Vincent wirkte erleichtert, versteifte sich aber, als er Mostars Blick bemerkte. »Und natürlich geben wir Ihnen für Ihren Zeitaufwand etwas zu essen.« Dann sah er mich an. »Und Sie sind herzlich willkommen, vorbeizuschauen und, äh, unsere Vorräte durchzugehen.«
Ich lächelte unbehaglich. Mostar nickte zustimmend.
Dan hätte nicht glücklicher sein können. Als Vincent ging, blitzte sein albernes, fast kindliches Grinsen auf. »Ich bin ziemlich gefragt.«
Mostar gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Arm und sagte: »Sieh einer an, der Dorfhandwerker.«
Handwerker! Das hätte ihm den Rest geben sollen! Hätte es vor ein paar Tagen auch. Wie viele Stellenangebote, wie viele hilfreiche, hoffnungsvolle Abendessen mit Frank? »Ich bin vom Typ her kein Angestellter.« Das war Dans Standard-Verteidigung. »Ich bin ein Macher, kein Instandhalter.« Und, oh, seine Stimmungstiefs, durch die ich ihn begleiten musste.
Und jetzt, dank Mostars großer Klappe.
Das Lenkrad festhalten und sich für den Aufprall wappnen.
Aber noch einmal klappte mir die Kinnlade herunter, als Dans Grinsen breiter wurde. »Dorfhandwerker.« Er leckte seinen Löffel wie einen Lutscher, sprang, sprang vom Tisch auf und sagte zu mir: »Die Arbeit ruft.« Dann trug er sein Geschirr summend zum Spülbecken.
Er summte den ganzen Tag vor sich hin. Bei jeder Aufgabe, die ihm die Boothes gaben. Sie hatten tatsächlich eine ganze Liste. Noch bevor er sich den Sonnenkollektoren widmen konnte, klapperte die Entlüftung im Schlafzimmer, und in der Dusche war der Abfluss verstopft. Kleinigkeiten hier und da. Ich führte meine eigene Liste und lasse mich von ihnen in Haferflocken bezahlen (wir haben keine Cornflakes mehr). Während Dan sich fröhlich von einer Aufgabe zur nächsten arbeitete, durchforstete ich akribisch die Speisekammer der Boothes und listete alles auf, was sie hatten, bis zum letzten Tropfen italienischem Premium-Olivenöl. Olivenöl hat eine Menge Kalorien. Ich glaube nicht, dass ich zu viel von ihnen verlange.
Vielleicht ein bisschen.
Ich muss über die Sache mit den Kartoffeln hinwegkommen. Bobbi gab sich solche Mühe, nett zu sein. Sie gab so offen Auskunft, was sie hatten – oder übrighatten. (Entschuldigung. Lass das sein!) Sie schlug sogar vor, den Strom ihres Hauses sowie eine kleine blaue Teekanne mit uns zu teilen, die »eine perfekte Gießkanne für den Garten wäre«.
Woher weiß sie von dem Garten? Wissen etwa alle Bescheid? Worüber reden sie noch hinter unserem Rücken? Die Kehrtwende kam mir so plötzlich vor, die Einsicht, dass wir womöglich den Winter hier durchstehen müssen. Wahrscheinlich hat es sich aber schon seit einiger Zeit angebahnt, schließlich hören sie Nachrichten, beobachten den leeren Himmel und sehen, dass Tony und Yvette immer noch am Status Quo festhalten, während zumindest Mostar versucht, sich anzupassen.
Aus welchem Grund auch immer, die Boothes scheinen jetzt mit an Bord zu sein. Bobbi bot sogar Kompost aus ihrer Tonne als zusätzlichen Dünger an und erkundigte sich, ob vielleicht ihr brauner Reis oder ihr gepuffter Quinoa angepflanzt werden könne. Ich glaube nicht, dass es bei dem Quinoa funktionieren wird. Bedeutet »gepufft« denn nicht »gekocht«? Von dem Reis habe ich eine Handvoll mitgenommen, um damit zu experimentieren. Gerade genug für dreißig mal dreißig Zentimeter Erde. Wir haben jetzt nicht mehr viel Platz, nachdem Pals Bohnen gepflanzt sind. Aber wenn sie nicht sprießen, der Reis jedoch schon, könnte er ein willkommener Ersatz sein. Egal was passiert, zusätzlichen Kompost können wir immer gebrauchen. Und ich rechne ihr hoch an, dass sie meinte, ihre Buchweizen-Kissenfüllung könnte womöglich essbar sein.
Vincent lachte über diese Idee, aber als er ihren verletzten Gesichtsausdruck sah, erklärte er, dass ihre Kissen mit Schalen gefüllt seien, nicht mit Körnern. Bei der Erklärung lallte er ein bisschen. Die beiden waren leicht angetrunken, nachdem sie sofort eine Flasche Chardonnay aufgemacht hatten, als Dan und ich vorbeigekommen waren. Wer weiß, wie viele 120-Kalorien-Gläser sie schon getrunken hatten, bevor wir aufgetaucht waren. Vincent genehmigte sich jedenfalls noch weitere 240 Kalorien, bevor er den Mut aufbrachte, sich nach dem Puma zu erkundigen.
Als ich das Blut und die Knochen beschrieb, tat Vincent das als das Werk von Aasfressern ab. »Vögel und Kleintiere. Insekten. Das waren bestimmt Insekten. Es gibt hier Unmengen von Insekten. Sie kamen bestimmt alle aus ihren Löchern gekrochen, nachdem die arme Raubkatze starb. Da draußen sind alle ausgehungert. Der Puma ist bestimmt an seiner Verletzung gestorben. Das ist es, was wir letzte Nacht gehört haben, die Schreie. Der arme Kerl muss schwer gelitten haben. Hoffentlich war er schon tot, als die kleineren Tiere anfingen, ihn aufzufressen.«
Als ich die Felsen ansprach, zuckte Vincent nur mit den Schultern. »Wer kann das bei dem ganzen Durcheinander schon sagen?«
Vielleicht habe ich deshalb die Fußabdrücke nicht erwähnt. Aus Angst, die beiden würden sie mit einer anderen beschwipsten Theorie abtun. Vielleicht hatte ich aber auch Angst, dass sie es nicht tun würden, dass es die Tür für Fragen öffnen würde, die ich nicht beantworten konnte.
Dazu bin ich immer noch nicht in der Lage. Vielleicht bin ich deshalb später zu den Durants gegangen. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass Yvette dachte, sie würde von einem sonderbaren indigenen Märchen sprechen. Wenn ich doch nur mehr über diese Geschichte erfahren könnte. Ein paar Details. Woher es kommt. Welche Absicht dahintersteckt. Hat Folklore nicht immer eine Grundlage in der Realität? Gab es vor langer Zeit nicht wirklich eine große Flut? Vorab aufgezeichneter Klimawandel? Und existiert nicht eine Theorie darüber, dass die Gezeiten des Roten Meeres so extrem sind, dass es so aussehen könnte, als hätte sich das Wasser geteilt?
Ich kann mich nicht erinnern, wo ich das gehört habe. Vielleicht habe ich es auch komplett erfunden. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass einer von Dans College-Freunden erzählt hat, Mammutschädel hätten die Griechen dazu inspiriert, an Zyklopen zu glauben, da der Knorpel zwischen den Augen aussieht wie eine riesige Augenhöhle. Ich dachte, Yvette könnte solche nützlichen Informationen haben. Falls ich sie denn zum Reden bringen konnte.
Und Tony wollte ich nach dem Tag fragen, an dem er versucht hatte wegzufahren.
Hilfe zu holen! Oh mein Gott. Der Tag, an dem er versuchte, Hilfe zu holen! Der Tag, an dem ich verfolgt wurde. Hat er auch etwas gesehen? Der Blick, den er bei seiner Rückkehr hatte. Ich hatte angenommen, es läge daran, dass er den Lahar gesehen hatte, an der Erkenntnis, dass wir von der Außenwelt abgeschnitten sind. Womöglich hatte das dazu beigetragen. Aber auf dem Heimweg oder vielleicht, als er vor der zertrümmerten Brücke stand, hatte er da etwas gesehen? War auch er verfolgt worden?
Diese Fragen gingen mir durch den Kopf, als ich nervös die Stufen zur Tür der Durants hinaufstieg.
Ich bin mir nicht sicher, wovor ich Angst hatte. Dass Yvette mir ins Gesicht schlagen und mich anschreien würde, weil ich sie hintergangen hatte? Beides hätte gleich wehgetan. Ich holte tief Luft, setzte ein falsches Lächeln auf und klopfte leise an. Keine Antwort. Ich versuchte es noch einmal, etwas lauter. Nichts. Ich bildete mir ein, Stimmen zu hören. Aber sie klangen weit entfernt. Durch den Vorhang am Wohnzimmerfenster sah ich ein schwaches, flackerndes Leuchten. Der Fernseher. Eine aufgezeichnete Sendung. Das musste es sein, was ich hörte. Ein Schatten ging davor vorbei und bewegte sich in Richtung Tür.
Ich stotterte: »Tony? Yvette? Hier ist Kate.« Ich überlegte, ob ich an der Tür klingeln sollte, bekam es aber mit der Angst zu tun, als mein Finger den Knopf streifte. Ich sah, wie sich der Schatten wieder an dem Leuchten vorbei in die entgegengesetzte Richtung bewegte. Ich ging an der Vorderseite des Hauses entlang zur Garage, aus der ich das stetige Zzzzzp-Zzzzzp-Zzzzzp von Yvettes Crosstrainer und das gedämpfte Murmeln von Stimmen hörte. Anscheinend trainierte sie, denn das Geräusch hörte auf, als die Stimmen lauter wurden. Eigentlich nur eine Stimme. Ihre. Tony blieb bei seinem leisen Murmeln. Den genauen Wortlaut verstand ich nicht, aber ihr Tonfall war hoch und abgehackt. Ich zog in Betracht, mein Ohr an das dünne Aluminium ihres Garagentors zu legen und vielleicht sogar daran zu klopfen. Stattdessen wartete ich ungefähr eine Minute wie eine Idiotin, bis die Stimmen verstummten und das Zzzzzp-Zzzzzp-Zzzzzp erneut anfing.
Ich drehte mich um, da ich wieder nach Hause gehen wollte, hielt jedoch inne, als Dan aus dem Haus der Boothes kam, um seine Dachreinigung durchzuführen. Er sah mich, winkte mir zu und warf mir sogar eine Kusshand zu, die ich erwiderte. Einen Moment lang erwog ich, zu bleiben, ihm zu helfen oder ihm einfach nur Gesellschaft zu leisten. Die Tatsache, dass er sich allein im Freien aufhielt, gefiel mir nicht. Ich fühlte mich, fühle mich noch immer unwohl.
Alles ist zu still. Keine Tiere. Kein Geräusch. Aber der Geruch. Er ist inzwischen allgegenwärtig, als wäre er uns von dem Schauplatz des Blutbads gefolgt. Und die Blicke. Heute Morgen hatte ich nicht das Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht war ich einfach zu sehr auf die tote Raubkatze fokussiert. Aber jetzt spüre ich sie. Als ich nach Hause ging, blickte ich mich immer wieder um und nach oben zum Kamm, suchte den Wald über den Häusern ab. Ich sah nichts, aber werde ich gesehen? Deshalb konnte ich es kaum erwarten, wieder ins Haus zu kommen. Dort sitze ich jetzt auf der Couch und beobachte Dan durchs Wohnzimmerfenster. Er kratzt selig die Paneele ab und springt dann zurück, um der fallenden Asche auszuweichen, als wäre das Ganze ein Spiel.
Ich will nicht immer wieder nach oben zum Wald schauen. Ich versuche, mir nicht jeden Baum, jeden Stein und jede Lücke einzuprägen, um zu sehen, ob sich zwischen meinen Blicken irgendetwas verändert. Ich muss mich beherrschen, nicht noch einmal hinüber zu den Boothes zu gehen, um sie zu fragen, ob sie ein Fernglas besitzen. Da sie so oft wandern gehen, haben sie bestimmt eines. Entweder gehe ich hin, um noch Kompost zu holen, oder ich bleibe zu Hause und arbeite im Garten – tue irgendetwas anderes, als Dan ganz allein da draußen zu beobachten. Ich habe überlegt, ob ich mich ins Auto setzen und Nachrichten hören soll. Aber das Auto steht mit der Windschutzscheibe zum Haus.
Ich möchte der Umgebung nicht den Rücken zukehren.
Aus Steve Morgans The Sasquatch Companion:
Die offizielle Geschichte der Begegnungen mit humanoiden Kryptiden hat eine, nennen wir es einmal, bewegte Beziehung zu indigenen mündlichen Beweismitteln. Mit den Worten von J. Richard Greenwell, dem Sekretär und Gründer der International Society of Cryptozoology: »Ureinwohner haben in der Regel keine sehr klare Abgrenzung zwischen der metaphysischen Welt und der physischen Welt. Wir im Westen trennen die beiden dagegen sehr klar voneinander.« 22 Das ist natürlich eine stark voreingenommene und fragwürdige Sichtweise, vor allem, da so viele »westliche« Augenzeugen behaupten, übernatürliche oder sogar außerirdische Elemente im Zusammenhang mit Bigfoots beobachtet zu haben. Dennoch ist Greenwells Aussage ein typisches Beispiel für die starke Abhängigkeit von der eurozentrischen Dokumentation von Begegnungen, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts schmerzlich fehlte.
Angesichts des chaotischen, oft wettbewerbsorientierten Charakters der europäischen Invasion in Amerika und des desinteressierten, ungebildeten Charakters vieler einzelner Invasoren ist es ein Wunder, dass überhaupt schriftliche Berichte aus dieser Zeit existieren. Zwar gibt es bemerkenswerte Ausnahmen wie Fred Becks I Fought the Apemen of Mt. St. Helens , Roosevelts »Kobold«-Geschichte und die Schriften des britischen Entdeckers David Thompson, der »die Spur eines großen Tieres« entdeckte, die »nicht die eines Bären war«, doch wir wissen nicht, wie viele Fallensteller, Händler und Goldsucher ihre Sasquatch-Erfahrungen mit ins Grab genommen haben. Gut möglich, dass heute irgendein Russe ein mysteriöses, übelriechendes Fell an der Wand seiner Datscha hängen hat, das ein Vorfahre von ihm aus der amerikanischen Kolonie des Zaren mitgebracht hat.
Warum also dieser Wandel? Warum ging der Kontakt mit Sasquatch plötzlich von einem Rinnsal in eine Flut über? Die Antwort ist einfach: aufgrund des Zweiten Weltkriegs. Vor diesem katastrophalen Ereignis lebten weniger Menschen (aller Ethnien) zwischen Nordkalifornien und der kanadischen Grenze als in New York City. Mit Pearl Harbor kamen Industrie, militärische Einrichtungen, Infrastrukturausbau und Millionen und Abermillionen Amerikaner. Kein Wunder, dass knapp dreizehn Jahre nach dem »Victory over Japan Day« in Bluff Creek, Kalifornien 23 , eine Straßenbau-Crew seltsame, riesengroße humanoide Spuren entdeckte. Diese Entdeckung veranlasste eine Lokalzeitung, eine Untersuchung durchzuführen, die wiederum frühere Geschichten aus der Umgebung ans Licht brachte.
Bis Ende des Jahres hatten die Spuren landesweit Schlagzeilen gemacht, zusammen mit einem Namen für ihren Verursacher: Bigfoot.