Die meisten Berichte sprechen von riesigen Felsbrocken, die gegen die Hütte geworfen wurden, und behaupten, manche durchschlugen sogar das Dach …
– Fred Beck, I Fought the Apemen of Mt. St. Helens
12. Tagebucheintrag (Fortsetzung)
Ein Felsbrocken traf die Tür, als ich sie zuschlug. Ich spüre immer noch, wie meine Hand vibriert. Dan zerrte mich ins Obergeschoss. Ich rief: »Das Licht! Mach das Licht an!« Ich meinte, mit den Hauptschaltern am oberen Ende der Treppe, nicht mit der Zentralsteuerung von seinem iPad aus. Doch genau das versuchte er auf halbem Weg die Treppe hinauf. Er blieb stehen, um an seinem Tablet herumzufummeln. »Nein … nicht …« Aber er hatte es bereits fallen gelassen. Das Glasdisplay brach, als es auf der nackten Holzstufe aufschlug.
»Los!«, schrie ich, als das Haus erbebte, und rammte ihm mein Knie in sein Hinterteil, als er das iPad aufhob. »Los! Los!«
Wir rannten genau in dem Moment ins Schlafzimmer, als die Balkontür getroffen wurde. Ich schrie auf und drehte mich weg, um mein Gesicht vor Glassplittern zu schützen. Doch die Scheibe hielt. Wie bei unserem iPad oder bei Auto-Windschutzscheiben wölbte sich das
Glas lediglich zu einem Spinnennetz aus funkelnden Rissen. Ich hatte einen Moment des Schocks, der Dankbarkeit, dann schrie ich: »Die Vorhänge!«
Wir trennten uns, rissen die Stoffvorhänge zusammen und drehten uns dann um, um dasselbe an den vorderen Fenstern zu tun.
Ich kann nicht glauben, dass ich ein paar Sekunden zögerte. Aber der Blick auf unsere gesamte Siedlung, auf die von allen Seiten Felsbrocken flogen, die von Dächern abprallten und Asche-Geysire aufwirbelten …
Wenn ich nicht innegehalten hätte, um zu schauen …
Wenn Dan es nicht bemerkt hätte …
»Pass auf …« Seine Stimme, sein Gewicht. Die Wucht seiner Schulter, die gegen meine Brust prallte. Wir landeten auf dem Boden, als das Fenster über uns zersplitterte. Ich spürte, wie kleine kalte Flocken auf meinen Hals und mein Ohr rieselten, als der baseballgroße Felsbrocken über unser Bett sprang.
Dan lag keuchend auf dem Boden, pickte Glasscherben aus meinem Haar. »Nicht bewegen.« Die Wärme seines Atems, der Druck seiner Fingerspitzen. »Hier … au… hier … hier ist eine.« Vielleicht eine Minute, vielleicht länger, bevor es sich sicher anfühlte, sich zu bewegen. In der Hocke ins Badezimmer, den einzigen fensterlosen Raum. Als ich das Licht ausschaltete, fand Dan den Hauptschalter auf seinem iPad. Ich bemerkte, dass einige Finger-Schmierflecken auf dem Display rot waren. »Alles in Ordnung.« Er zeigte mir einen winzigen Tropfen an der Kuppe seines Zeigefingers. »Es ist nicht vom Display.« Das war also das »Au« gewesen, als er mich auf Scherben überprüft hatte. Jetzt war ich an der Reihe. Ich hockte mich in die Dusche, den Vorhang zugezogen, und suchte mithilfe der Taschenlampe meines iPhones nach funkelnden Hinweisen.
Pmmpockpongpmmp.
Das war unser Soundtrack, eine Sinfonie von Einschlaggeräuschen, die wir nach ein paar Minuten wie Instrumente in einem Orchester heraushören konnten.
Pmmp.
Die Asche.
Pock.
Ein Dach.
Pong.
Unser Dach.
Krrrsch.
Ein Fenster.
Und ein heftiges, verrücktes Krrrsch
… Wieuuwieuuwie
. Ein Auto,
dessen Alarm wie ein verwundetes Tier heulte.
Dann Schritte. Im Haus! Ich sah Dan an, der nach seiner Stichwaffe tastete, die nicht da war. Er hatte den Kokosnussöffner unten auf dem Küchentisch liegen lassen, genau wie ich den Speer im Schlafzimmer gelassen hatte.
Ich überlegte kurz, ob noch Zeit war, um ihn zu holen, bevor schnelle Schritte die Treppe heraufklapperten.
Dann klopfte es hektisch an der Schlafzimmertür.
»Kinder?« Gedämpftes Rufen. Mostar!
»Kinder! Seid ihr da drin?«
Wir flogen beinahe zur Schlafzimmertür. Es war so dunkel, dass wir ihre Arme spürten, bevor wir sie tatsächlich sahen. Zitternd fielen wir alle auf die Knie und umarmten uns.
Eine Sekunde, ein Schluchzen, dann löste Mostar die Umarmung, um mit jeder Hand ein Gesicht zu greifen.
»Danny, nach unten!« Sie drehte seinen Kopf zum Wohnzimmer. »Holen Sie ein … zwei … zwei Sitzkissen von der Couch! Los!« Keine Diskussion. Dan eilte davon.
»Katie!« Sie hielt immer noch meinen Kiefer umklammert. »Kommen Sie mit mir! Kommen Sie, kommen Sie, kommen Sie!«
Ich rannte über den Flur im Obergeschoss, vorbei an Dans Büro mit seinem frisch zersplitterten Fenster und dem basketballgroßen Felsbrocken mitten auf dem Fußboden. Weiter in mein Büro, wo Mostar verrückterweise anfing, die Fenster zu öffnen! Ich verstand nicht, was das sollte. Ich war bereits halb unter meinem Schreibtisch abgetaucht, aber als ein kleiner länglicher, mangoförmiger Felsbrocken durch das offene Fenster hereingeflogen kam, war ich drauf und dran zu sagen: »Was machen Sie da, verdammt?« Ich biss mir jedoch auf die Zunge, als die »Mango« harmlos gegen die hintere Wand prallte und mir dann vor die Füße rollte.
Kein Fenster. Kein Glas!
»Katie!« Mostar deutete neben mich. Ich sprang auf, öffnete das Fenster und presste mich an die Wand, als ein Felsbrocken durchs Zimmer flog. Er hätte beinahe Dan getroffen, der gerade keuchend mit den Kissen hereinkam.
Mostar schrie: »Hierher!« Sie griff nach einem der Kissen und hielt es vor ihre Hälfte des offenen Fensters, während Dan die Aktion auf
meiner Seite kopierte.
Pmmp.
Sein Kissen wölbte sich etwas nach innen, als außen ein Felsbrocken harmlos abprallte.
Einfach. Genial. Mostar.
Sie schob meinen Desktop-Monitor bereits hinter ihr Kissen, als ich neben Dan glitt.
»Hinter mir!« Ich übernahm die weiche Barriere von ihm und deutete mit einer Kopfbewegung auf die beiden kleinen Stahlregale an der gegenüberliegenden Wand. Dan verstand, eilte hinüber und kippte ihren Inhalt auf den Boden.
Als er das erste Regal an seinen Platz hob, spürte ich, wie ein weiterer Stein in mein Kissen einschlug. Die Wucht des Aufpralls hätte mich fast umgeworfen. »Alles in …« Dans Hand auf meinem Rücken.
»Alles okay!« Ich stieß ihn weg, verlagerte mein Gewicht und stellte mich breitbeiniger hin. Die nächsten beiden Treffer spürte ich kaum.
Auf der anderen Seite des Raums ächzte Dan: »Vorsicht«, und stellte das zweite Regal mit Schwung auf den Schreibtisch. Dann türmte er Sachen auf: Aktenordner, Druckerpapier, Drucker – der Ikea-Schreibtisch stöhnte unter ihrem Gewicht. Ein hörbares Pmmp
, das kurze Aufblitzen eines Lichtstreifens zwischen Kissen und Fensterbank. Aber es hielt! Ich nahm die Hände weg und trat einen Schritt zurück. Ein leises Pmmp
und Rasseln von etwas Hartem und Losem in meinem Regal.
Kaum hörbar inmitten des Bombardements. So nannte es Mostar, die an die Wand gelehnt auf dem Boden saß. »Man wird nie gewarnt«, hauchte sie. »Es geht immer vor den Sirenen los.« Ich hörte sie heftig schniefen, dann husten. »Lass dich niemals im Freien erwischen, halte dich immer von Türen fern. Die alten Straßen sind am besten, sie sind eng. Sie schützen dich vor Granatsplittern.« Weitere kryptische Mostar-Ismen.
Sie gähnte, hauchte einen unverständlichen fremdsprachigen Satz und schlief unmittelbar darauf ein. Im Ernst! Sie schnarchte! Lauter als Dan! Er schnarcht inzwischen übrigens auch. Beide gemeinsam, wie Figuren in einem Disney-Film.
Zumindest wartete Dan, bis der »Beschuss« aufhörte. Er klang vor ungefähr einer Stunde ab. Insgesamt dauerte er vielleicht zehn
Minuten. Mein Gott, was für zehn Minuten! Mostar schläft noch immer im Sitzen an der Wand. Dan hat sich vor der geschlossenen Bürotür zusammengerollt. Ich hatte Angst, dass wir hier drin ersticken würden, aber er bestand darauf, dass wir sie geschlossen halten. »Die Alarmanlage ist aus.« Das waren seine letzten Worte, bevor er einschlief. »Ich repariere sie morgen … repariere sie … ich repariere sie.«
Ich nehme an, ich sollte mir keine Sorgen machen. Die Barriere ist nicht luftdicht. Ich spüre immer wieder einen kühlen Luftzug, der um meinen Schreibtisch strömt. Neben dem sitze ich gerade, in die Ecke eingekeilt, und schreibe das alles auf.
Meine Finger verkrampfen sich. Ich muss pinkeln. Ich möchte schlafen, aber auch nicht. Ich habe Angst vor morgen.
Warum werfen sie keine Felsbrocken mehr? Warum haben sie überhaupt erst damit angefangen? Was hat das zu bedeuten?
Draußen ist nichts zu hören.
Ich muss wirklich dringend pinkeln.
Aus meinem Interview mit Senior Ranger Josephine Schell.
Wie das Klopfen auf Holz ist auch das Werfen von Felsbrocken tief in die Überlieferung eingebettet. Und auch hier gibt es viel Spekulation. Es könnte sich dabei durchaus um ein friedfertiges … oder vielmehr um ein nicht tödliches Mittel der Einschüchterung handeln. Das würde womöglich auch das Heulen erklären. Eine Theorie besagt, dass sie es einsetzen, um damit ein anderes Rudel oder Individuum zu vertreiben. Das würde Sinn ergeben, da Schimpansen manchmal mit Steinen aufeinander werfen – oder auf Menschen, wie es in einem schwedischen Zoo passiert ist.
27
Santino wollte wahrscheinlich niemanden töten, sondern die Leute nur verscheuchen.
12. Tagebucheintrag (Fortsetzung)
So viel zu tun heute Morgen, so viel zu tun im Lauf des Tages. Ich muss das schnell aufschreiben, solange es noch frisch ist. Die Schmerzen in meinem Nacken weckten mich auf. Ich habe auf dem Fußboden geschlafen, auf der Seite, und ein Arm diente als Kissen. Ich hatte schon öfter Nackenschmerzen, aber oh mein Gott
. Schulter, Rippen, Gesicht! Und es ist so kalt! Letzte Nacht war es ganz angenehm. Im Zimmer war es zuvor so heiß und stickig. Aber jetzt, diese Kälte, die Temperatur ist bestimmt um zehn Grad gesunken. Ich kann meinen Atem sehen. Das
muss es sein, was Frank meinte, als er sagte, dass die Temperaturen vor dem Winter in den Keller gehen.
Während der Rest von mir fror, brannte meine Blase wie Feuer. Das verursachte mir nicht nur Unbehagen – als ich die Augen öffnete, machte ich mir vor Angst fast in die Hose. Dan und Mostar waren verschwunden, und die Tür stand weit offen!
Ich rief nach den beiden, bekam aber keine Antwort. Ich stand auf, zitterte, nieste mehrmals und steckte den Kopf zum Büro hinaus. Das Haus wirkte leer, die Haustür stand offen. Die Vorhänge, die das Wohnzimmerfenster bedeckten, waren zurückgezogen. Ich warf einen Blick auf mein Handy, kurz nach acht, aber die Dunkelheit … bleigrau, alles verschleiernd. Ich konnte keine Lichter von den anderen Häusern sehen, nicht einmal die anderen Häuser. Es war, als wären sie in eine andere Welt teleportiert worden.
Ich duckte mich schnell ins Badezimmer im Flur, und als ich wieder herauskam, rief ich erneut nach Dan. Keine Antwort. Allerdings hörte ich entfernt, aber deutlich Stimmen. Ich humpelte die Treppe hinunter, rieb das Blut in mein kribbelndes rechtes Bein und ging halb hinkend zur Tür.
Nebel!
Dunkel und dicht. Und kalt! Ich spürte ihn durch meine Haut in die Knochen eindringen. Die Siedlung war kaum sichtbar, doch ich konnte mit Mühe die kleine Gruppe am Gemeinschaftshaus erkennen.
Dan war dort und sprach mit den Boothes, zusammen mit Carmen und Reinhardt. Vincent trug seine komplette Wanderausrüstung: Stiefel, Stöcke und Trinkrucksack. Der Rucksack war prall gefüllt mit
Dingen, die nicht hineingehört hätten. Genauso wie die Laptoptasche an seiner Hüfte, rund und überladen. Und an der anderen Hüfte Bobbis rosafarbene Yogamatte, die er sich mit einem improvisierten Trageriemen aus Schnürsenkeln über die Schulter gehängt hatte. Und um die Matte war eine Decke gewickelt, eine von diesen ultraweichen Flughafen-Decken, die es bei Hudson News zu kaufen gibt. Sie war mit weiteren aneinandergeknoteten Schnürsenkeln umwickelt, die bezeichnend für sein gesamtes Outfit waren.
»Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, dass ich mich verirre.« Vincent deutete die Straße hinunter. »Ich folge einfach der Zufahrt bis zur Brücke …«
Dan konterte mit: »Aber was dann? Wenn es keine Brücke mehr gibt …«
»Dann folge ich einfach dem Lahar.« Vincent schluckte. »Inzwischen ist er bestimmt abgekühlt. Oder ausgehärtet, was auch immer der richtige Begriff ist …«
Dan ließ nicht locker. »Aber ist es deshalb ungefährlich, ihn zu überqueren?«
Bobbi mischte sich ein. »Er muss ihn nicht überqueren. Wie er gesagt hat, er geht einfach daran entlang und folgt dem ehemaligen Bachbett.«
»Wohin denn?« Dan sah mich, als ich zur Gruppe stieß, legte den Arm um meine Taille und deutete mit seiner freien Hand in den Himmel. »Man sieht nichts!«
»Es wird schon aufklaren.« Vincent vermied Blickkontakt, nickte nur schnell in Richtung Boden. »Ganz sicher.« Dann zu seiner Frau: »Im letzten Herbst, weißt du noch, bis Mittag …«
Sie nickte, umklammerte seinen Arm und versuchte zu lächeln.
»Ich komme schon klar.« Ich bin mir nicht sicher, ob Vincent das zu ihr oder zu Dan oder zu sich selbst sagte. »Lasse mir Zeit, bin vorsichtig …« Er blickte auf. »Ich muss ja nicht die ganze Strecke gehen, nur so weit, bis ich Handyempfang habe.« Er klopfte auf seine Jacke, ein High-End-Trekking-Modell mit ins Futter eingewebten Sonnenkollektoren. Er wiederholte: »Ich bin vorsichtig.«
»Aber Sie werden ganz auf sich allein gestellt sein.«
Eine Warnung. Es entstand eine Pause.
Dan berichtete mir später von der Auseinandersetzung, die ich verpasst hatte. Er und Mostar waren früh aufgestanden, hatten
beschlossen, mich schlafen zu lassen, und waren nach draußen gegangen, um nach den anderen zu sehen. Daraufhin hatten sie festgestellt, dass Vincent sich bereit machte aufzubrechen und dass er bereits fest entschlossen war.
Die Philosophie, die Rechtfertigung. Irgendwie hatten Vincent und Bobbi sich eingeredet, dass die Felsbrocken uns verscheuchen sollten. Sie hätten es auf unser Land abgesehen, möglicherweise auch auf den Schutz, den unsere Häuser boten, sowie auf die Nahrungsmittel darin. Sie waren immer noch nicht bereit, die mentale Grenze zu überschreiten und sich einzugestehen, was diese Kreaturen wirklich wollten. Und als Reinhardt auftauchte …
Reinhardt.
Er hatte zugehört, glaubt Dan, durch eines seiner zerbrochenen Fenster, und kam herüber, um zu sehen, was los war. Und als er Vincent enthusiastisch seine Unterstützung zusicherte, habe Mostar aufgegeben, erzählte Dan. Niemand, nicht einmal Carmen, die zur gleichen Zeit auftauchte, war bereit, die Wahrheit zu akzeptieren. Deshalb hatte Dan die Taktik geändert und sich auf die Gefahren der Wanderung konzentriert. Aber wie ich mit eigenen Augen sehen konnte, zeigte diese Logik auch keine Wirkung.
Irgendjemand musste
eben Hilfe holen. Es gab einfach keine Alternative.
Warum? Warum suchen wir immer nach jemandem, der uns rettet, anstatt zu versuchen, uns selbst zu retten?
»Hier ist er!« Wir drehten uns alle um und sahen, wie Mostar zu uns zurückgeschlurft kam. Dan erzählte mir, als er zu der Gelände-Diskussion umgeschwenkt war, sei sie zu ihrem Haus zurückgegangen, um »etwas« zu holen. Und wie sich herausstellte, handelte es sich bei diesem Etwas um einen Bambusspeer. Diesmal um einen richtigen. Kein schludriger Wurfspeer wie der letzte. Ein Zwanzig-Zentimeter-Kochmesser ragte aus dem hohlen Inneren eines dicken, stabilen Schafts heraus, wo es, so glaubte ich, von einer braunen Schnur gehalten wurde, bei der es sich jedoch, wie ich später erfuhr, in Wirklichkeit um ein gummibeschichtetes Elektrokabel handelte. Der Speer sah mächtig, tödlich und neben Vincents zierlichem Körper auch ein bisschen komisch aus. (Ich erfuhr später auch, dass Mostar ihn eigentlich für Dan angefertigt hatte.)
»Hier«, sie hielt Vincent die Waffe hin, »das ist es, wovon ich gesprochen habe.«
»Vielen Dank.« Vincent hielt seine Hände am Körper. »Aber … meiner Ansicht nach … ist der ein bisschen …« Sein Blick wanderte an dem knapp zwei Meter langen Schaft nach oben.
»Ich kann ihn kürzen.« Mostar war im Begriff, sich umzudrehen. »Geben Sie mir eine halbe Minute.«
»Ich komme schon klar«, beharrte Vincent und hielt die beiden Teleskop-Wanderstöcke hoch, die an seinen Handgelenken baumelten. »Die sind sowieso besser fürs Gleichgewicht, ich habe mehr Erfahrung mit ihnen und …« Er wischte mit dem Handrücken über seine glänzende Oberlippe. »Ich möchte …« Ein flüchtiger Blick zu Reinhardt, der überraschenderweise die ganze Zeit geschwiegen hatte. »Ich … möchte das Ganze nicht noch schlimmer machen.«
»Dann gehen Sie nicht!« Mostar rammte das Ende ihres Speers in den Boden.
Vincent zuckte mit den Schultern. »Ich muss.« Dann, leiser zu seiner Frau: »Ich muss.«
Und damit war die Sache erledigt. Ein ganzes Gespräch in vereinbartem Code. Anspielungen, Warnungen, sogar eine Waffe, ohne auszusprechen, wofür sie war. Mostar seufzte nur, zog den Speer wieder aus dem Boden und umarmte Vincent fest. Wir alle taten dasselbe. Ich spürte die nervöse Hitze in seiner Bekleidung, den Schweiß an seinem Hals auf meiner Wange. Reinhardt gab ihm einen zuversichtlichen Klaps auf den Arm, wie in einem alten Schwarz-Weiß-Kriegsfilm, wenn jemand den Helden losschickt, damit er Ruhm erntet. Ich habe solche Filme immer gehasst. Jedes Mal, wenn jemand »viel Glück« oder »viel Erfolg« sagte, hörte ich nur: »Besser du als ich«. Bobbi küsste ihn innig, und für eine Sekunde dachte ich, sie würde gleich anfangen zu weinen.
Wir begleiteten ihn bis zum Gemeinschaftshaus und blieben dann stehen, damit Bobbi mit ihm allein bis zum Ende der Zufahrt gehen konnte. Während wir dastanden und den beiden den Rücken zukehrten, um ihnen etwas Privatsphäre zu geben, schaute Mostar auf ihre Schuhe und sagte: »Sie hören nie zu. Egal, was man sagt, früher oder später versucht immer jemand, die Blockade zu durchbrechen.« Und dann murmelte sie noch etwas in ihrer Muttersprache, etwas, das ich nicht verstand. Ich rechnete beinahe damit, dass sie sich bekreuzigen würde.
Taten sie das nicht auch in Kriegsfilmen, die alten, gedrungenen ausländischen Frauen?
Diese tat es nicht. Sie klatschte nur zweimal in die Hände und sagte: »Okay, machen wir uns an die Arbeit, es gibt eine Menge Glasscherben aufzuräumen.« Als Reinhardt Dan beiseitenahm und irgendetwas von seinen kaputten Knien murmelte, schaute ich zurück und sah, dass Bobbi jetzt allein war.
Ich sah auch, dass sie den Kopf leicht gesenkt hielt und sich selbst umarmte, während ihre Schultern bebten.
»Kommen Sie, Katie.« Mostar nahm mich am Arm und führte mich den Hügel hinunter zu Bobbi. »Bringen wir sie nach Hause.«
Vincent war inzwischen weg, war in den Nebel verschwunden.
Aus meinem Interview mit Senior Ranger Josephine Schell.
Nicht alle Schimpansen werfen Steine, um Dominanz zu demonstrieren. In Westafrika haben Primatologen kürzlich Schimpansen beobachtet, die Steine gegen Bäume schleuderten. Niemand weiß, warum. Es gibt die Theorie, dass es sich um eine Art »heiliges Ritual« für einen noch unentdeckten Zweck handelt. Mich persönlich interessiert nicht, warum sie es tun, nur dass sie es tun. Es zeigt mir, dass Felsbrocken mehrere Funktionen haben und wir nicht sicher sein können, welche Funktionen das sind. Wenn manche Schimpansen Steine für ihre Affen-Jagdtaktik verwenden und diese Taktik von einigen ihrer größeren nordamerikanischen Cousins angewendet wird, waren sowohl der Angriff auf dem Mount St. Helens als auch die Bombardierung von Greenloop nicht dazu gedacht, die Menschen zu vertreiben, sondern dazu, sie ins Freie zu treiben.