Wenn Fleisch verfügbar ist, wird es als wertvolle Ressource angesehen; Bonobos wurden dabei beobachtet, wie sie bei dem Fleischbesitzer um eine Portion bettelten.
– Aus World Atlas of Great Apes and Their Conservation
, herausgegeben von Julian Caldecott und Lera Miles
13. Tagebucheintrag
12. Oktober
Es wird nicht mehr gelogen. Wir lügen uns gegenseitig nicht mehr an, wir lügen uns selbst nicht mehr an. Es wird nicht mehr geleugnet, was sie sind und was sie wollen.
Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr geschrieben, und es ist sehr viel passiert. Ich gebe mir Mühe, in meinem Kopf Ordnung zu halten. Es kommt mir vor, als hätte ich ein Jahr gelebt.
Nachdem Vincent gegangen war, verbrachten wir den Rest des Tages damit, unsere Häuser zu reparieren. Ich sprach mit Mostar darüber, ob wir drei uns nicht einfach darauf konzentrieren sollten, angespitzte Pflöcke anzufertigen. Wenn sie feindlich gesinnt waren, was die Felsbrocken eindeutig bewiesen hatten, sollte unsere Sicherheit dann nicht höchste Priorität haben?
Sie sagte: »Da haben Sie recht«, fügte dann aber hinzu:
»Glasscherben stellen eine Gefahr dar. Wenn wir sie nicht aufräumen, wenn sich jemand schneidet und genäht werden muss …« Sie wies auch auf die Notwendigkeit hin, die Öffnungen abzudichten, die durch zerbrochene Fenster entstanden waren. »Wir müssen sicherstellen, dass sich niemand erkältet. Alle müssen kräftig und gesund sein, wenn sie aufkreuzen.« Und bevor ich fragen konnte, sagte sie: »Das werden sie, Katie. Glauben Sie mir. Sie sind hin- und hergerissen, wie man so schön sagt. Sie sind momentan alle hin- und hergerissen, sind unschlüssig wegen Vincents heldenhafter Geste. Aber sie werden uns noch früh genug brauchen. Und wir werden sie brauchen.«
Da war es wieder.
Sich gegenseitig brauchen.
Ich fragte nicht, was sie dazu bringen würde, wieder aufzukreuzen. Ich nahm an, ich würde es noch früh genug erfahren.
Was unser Haus anbelangt, werden wir von jetzt an auf unser Schlafzimmer verzichten müssen. Der Felsbrocken, der unsere Balkontür traf, hat das Sicherheitsglas vollständig aus dem Rahmen gedrückt. Selbst wenn wir die Matratze und das Boxspringbett vor die Öffnung stellen, gibt es keine praktikable Möglichkeit, um Zugluft zu verhindern. Es ist besser, das Bett in mein Büro zu stellen, alle unsere Toilettenartikel ins Gästebad am Ende des Flurs zu räumen und die Tür des Hauptschlafzimmers die ganze Zeit geschlossen zu halten.
Dasselbe gilt für Dans Büro, was er sogar als Vorteil betrachtet. »Energieeffizienter«, lautet seine Begründung. »Zwei Zimmer weniger, die wir heizen müssen.« Er hat das System so programmiert, dass die Lüftungskanäle geschlossen werden. Erstaunlich, dass das möglich ist. Intelligentes Haus. Er hat mir gezeigt, wie viel Strom wir damit einsparen. »Den können wir für den Garten verwenden.«
Ich gab vor, seinen Optimismus und seine Begeisterung zu teilen. Ich habe ihm nicht gesagt, dass es sich wie ein Rückzug anfühlt. Noch ein Schritt zurück. Als Erstes haben sie uns den Wald genommen. Dann haben sie uns die Nacht genommen. Dann ein paar Zimmer in unserem eigenen Haus. Wie viele Schritte zurück können wir noch gehen?
Das Haus teilte uns mit, dass einer der Sonnenkollektoren offline war. Nicht zersplittert, denn die Kollektoren sind flexibel und dadurch bruchsicher. Es hatte sich nur eine Kabelverbindung gelöst, die vom Balkon aus wieder befestigt werden konnte. Trotzdem, die Vorstellung,
dass Dan da draußen mit dem Rücken zum Wald herumhantierte … Ein gezielter Steinwurf hätte genügt. Ich blieb die ganze Zeit bei ihm, den Bäumen zugewandt, und hielt nach Bewegungen Ausschau. Nichts tat sich. Keine Steine, keine Geräusche. Womöglich gab uns der Nebel etwas Deckung. Das hoffte ich, obwohl er langsam anfing sich aufzulösen. Vincent hatte recht gehabt. Ich fragte mich, wo er jetzt wohl war, wie weit er gekommen war. Es war schwer, mich auf das zu konzentrieren, was ich tat. Müde. Alles tat mir weh. Aber es gab so viel zu tun!
Die Siedlung hatte eine Menge Treffer abbekommen. Eingeworfene hintere Fenster. Einige gesplitterte Balkontüren. Das Gleiche galt für die Küchentüren. Sicherheitsglas. Gesprungen, aber intakt. Reinhardts Küchentür war getroffen worden, aber anders als bei unserer Balkontür befand sich die Scheibe noch im Rahmen. Sogar die Tür selbst funktionierte noch, wobei Dan dachte, es könnte gefährlich sein, sie zu benutzen. Er hatte die Idee, die Vorhänge zuzuziehen und den Küchentisch dagegenzuschieben. Reinhardt hatte Glück gehabt. Es gibt keine Möglichkeit, die Küche abzuschotten. Der potenzielle Wärmeverlust macht mich dankbar, dass die Fensterwand des Wohnzimmers ebenfalls aus Sicherheitsglas besteht. Unseres sieht jetzt aus wie ein asymmetrisches Schachbrett, manche Scheiben intakt, andere aufgrund von Sprüngen »beschlagen«.
Keines der anderen Häuser war an den nach innen gerichteten Fenstern getroffen worden. Hatte das etwas damit zu tun, ob man für sie zu sehen gewesen war? Die Perkins-Forsters hatten sich alle direkt hinter ihrer Haustür versteckt. Bobbi hatte im Badezimmer im Erdgeschoss Zuflucht gesucht. Wer weiß, was die Durants getan hatten. Mostar warnte uns davor, Zeit damit zu verschwenden, nach ihnen zu sehen. Sie hatte sich in ihrer Werkstatt verbarrikadiert, bevor sie zu uns gerannt war, um nach uns zu sehen. Wir oder vielmehr ich hatte als Einzige direkt an einem Fenster im Obergeschoss gestanden. Offenbar hatten sie mich gesehen und ins Visier genommen.
Ich dachte an den Kampf um den Kompost zurück, als das große Alpha-Weibchen mich fixiert hatte …
Hör auf. Beschränk dich darauf aufzuschreiben, was passiert ist.
Während Dan Reinhardt half, gingen Mostar und ich zu den Perkins-Forsters hinüber, um uns zu erkundigen, ob wir etwas für sie tun
konnten. Die Autoalarmanlage, die wir letzte Nacht gehört hatten, war die ihres Nissan Leaf gewesen. Über das Haus und genau aufs Autodach – wie viel Kraft ist nötig, um einen Felsbrocken von der Größe eines Medizinballs so weit zu werfen?
Zumindest ihre Hauptbalkontür war intakt, was sie dazu veranlasst hatte, das ganze Bett hochkant davorzustellen. Sie werden von nun an alle in diesem Raum schlafen. Palominos Zimmer war eine Katastrophe. Mehrere Felsbrocken. Fensterglassplitter gemischt mit Spiegelscherben. Ich versuchte, nicht an den Felsbrocken mitten auf ihrem Kopfkissen zu denken.
Nichts aufgeräumt dort, einfach aufgegeben. Ein weiterer Rückzug.
Effie muss bemerkt haben, wie Pal mich ansah, wie sie meine Hand hielt, als wir hereinkamen. »Möchten Sie ein bisschen hierbleiben, Pal dabei helfen, einige ihrer Sachen in unser Zimmer zu bringen?« Ich wollte einwilligen, besonders als ich ihre Augen aufleuchten sah. Aber Mostar machte diese Idee zunichte, indem sie sagte: »Wir haben noch nicht bei Bobbi vorbeigeschaut.«
»Bei Bobbi.« Das ist mir gerade erst aufgefallen. Nicht »bei den Boothes«.
Effie erwiderte resigniert: »Oh, natürlich.« Doch als ich mich umdrehte, um zu gehen, weigerte sich Pal, mich loszulassen. »Möchtest du mitkommen?«, fragte ich sie, und dann zu Effie: »Wäre das okay?«
»Klar«, sagte Carmen, »wir kommen schon klar.« Ihr Gesichtsausdruck war irgendwie verändert, das galt für sie alle, auch für Bobbi, als wir zu ihr hinübergingen.
Sie war in ihrer Küche. Pflaster bedeckten ihren rechten Daumen und Zeigefinger. Ein Felsbrocken hatte das Fenster über ihrem Spülbecken durchschlagen, und bei dem Versuch, ein paar Scherben aus dem Abfluss zu fischen, hatte sie sich geschnitten. »Ich will nicht, dass sie den Küchenabfallzerkleinerer verstopfen.«
Ich bemerkte, dass es im Raum nach Chardonnay roch und einige der Scherben auf dem Boden olivgrün waren. Hatte der Felsbrocken eine Flasche hinuntergeworfen oder hatte sie es selbst in einem Anfall von Frust getan? Sie wirkte teilnahmslos, übernächtigt. Der Geruch des Raums übertünchte es, falls sie getrunken hatte. Ich begann zu bereuen, dass ich Palomino mitgebracht hatte, aber sie zu sehen schien Bobbi neue Energie zu geben. »Oh hi, Pal!« Und sie sprang auf, um den
Gefrierschrank zu öffnen.
»Ich habe die hier aufbewahrt.« Sie holte eine Eiswürfelschale heraus. In der Abdeckung aus Zellophan steckten Zahnstocher. »Die letzten Eis am Stiel aus Lavendel-Limonade.« Palomino nahm eines mit einem Lächeln. »Bitte«, sagte Bobbi und hielt uns stolz die Schale hin. »Alles aus unserem Garten.« So schmeckt Sommer. Ich schleckte meines genüsslich. Mostar dagegen zerkaute ihres auf einmal, bedankte sich schnell für die »zusätzliche Zuckerration« und bat dann um einen Besen und eine Kehrschaufel.
Während Mostar den Küchenboden fegte, fragte ich Bobbi, ob ich mich im Obergeschoss irgendwie nützlich machen könne. Sie meinte, das sei nicht nötig. »Ich werde auf der Couch schlafen, bis Vincent zurückkommt.«
»Sind Sie sicher?«, rief Mostar aus der Küche. »Möchten Sie vielleicht bei mir wohnen?«
»Das ist sehr nett.« Bobbi lächelte und warf einen Blick durchs Wohnzimmerfenster. »Aber ich fände es schrecklich, wenn er in ein leeres Haus zurückkehren würde.«
Mir gefiel diese Vorstellung auch nicht, ich hatte allerdings einen anderen Grund dafür als Mostar. Ihr ging es nur um Sicherheit. Mir ging es um Emotionen. Der Ausdruck in Bobbis Gesicht war der gleiche wie bei Pal und ihren Eltern. Ich weiß jetzt, was es war: Sehnsucht.
»Bobbi, sind Sie noch für unser gemeinsames Essen im Gemeinschaftshaus heute Abend zu haben?«
Drei Leute sahen mich an, als wäre ich verrückt. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen.
»Nur um uns gegenseitig daran zu erinnern, dass … na ja … dass wir einander haben.« Ich konnte nicht glauben, dass ich diesen Satz tatsächlich gesagt hatte. Wir haben einander.
Als ich klein war, kaufte Dad uns DVDs mit alten Muppet-Show
-Folgen. Und in einer davon, in der dieser Typ, Dom DeLuise, glaube ich, versucht, Miss Piggy wegen irgendetwas zu trösten, sagt er: »Du bist hier, und ich bin hier. Wir sind doch hier«, und als sie wiederholt: »Wir sind hier, und?«, setzt er mit einem Lied noch eins drauf: We Got Us
, »Wir haben einander«.
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Das war unser Lied, unsere Familienhymne, und obwohl ich nach der Scheidung meiner Eltern versucht hatte, es zu vergessen, spielte es jetzt mit voller Lautstärke in meinem Kopf.
»Wir …«, stammelte ich nervös, »… wir haben doch unsere Ressourcen gebündelt, richtig? Unsere Lebensmittel, unsere Fähigkeiten … Es gibt jedoch noch eine andere Ressource …«, direkt an Mostar gerichtet, »… und ich weiß, wir haben am Anfang darauf verzichtet, weil wir uns um die praktischen Dinge kümmern mussten … was wir immer noch tun … Aber wir dürfen nicht vergessen … wir brauchen …«
»Trost.« Mostar trat mit einem Blick vor, in dem ich Reue erkannte. »Sie haben recht, Katie, den brauchen wir genauso wie angespitzte Pflöcke.« Sie streckte die Arme nach oben aus und schlang sie um mich und Bobbi. Pal vervollständigte unsere Gruppe und ergriff meine Hand, während sie sich an der Taille einer zitternden, schniefenden Mrs Boothe festklammerte. »Miteinander, Zugehörigkeit …« Mostar wiederholte mit einem Anflug drolliger Begeisterung: »Wir haben einander.«
Welch Ironie. Wäre Yvette, die alte Yvette, nicht für einen Moment wie diesen gestorben? Und wir versuchten es! Nachdem wir unseren Kreis aufgelöst hatten, marschierten wir alle vier als Erstes nach nebenan, um die beiden einzuladen. Natürlich bekamen wir keine Antwort. Die Türklingel läutete vergeblich. Die methodischen, unaufhörlichen Zzzps
des Crosstrainers hörten nie auf. Ich überredete sogar Bobbi (von der ich dachte, dass sie in Bezug auf die zwei am wenigsten emotionales Gepäck mit sich herumtrug), durch die Tür etwas von Gemeinschaft und Heilung und allem anderen zu rufen, was die beiden bei unserem ersten Krisentreffen gepredigt hatten.
Na ja.
Zumindest die übrigen Bewohner der Siedlung willigten ein, und es hätte sich nicht tröstlicher anfühlen können. Essen, Wein und Freunde … und noch mehr Wein. Jeder brachte eine Flasche mit, wir sprachen alle darüber, dass »jede Kalorie zählt«. Sogar Pal trank ein paar Schlucke aus ihrem kleinen Glas, was Reinhardt zu einem anerkennenden »Wie französisch« veranlasste.
Das Essen war, was die Größe der Portionen betraf, weit entfernt von dem, was wir an unserem ersten Abend gegessen hatten. Unter normalen Umständen hätte jeder unsere mickrigen Portionen für Vorspeisen gehalten. Es war überaus erfreulich, dass alle die Rationierungsrichtlinien nicht nur befolgten, sondern es mit Begeisterung taten. Um Carmen zu zitieren: »
El hambre es la mejor salsa.
« Hunger ist der beste Koch!
Unabhängig vom Hunger war ihr Omelett köstlich. Eine geniale Idee, geriebenen vegetarischen Speck hineinzumischen. Um Welten besser als unseres, bei dem es sich im Wesentlichen nur um Rührei mit Salz und Pfeffer handelte.
Und Hunger hatte nichts damit zu tun, dass Mostars Gericht köstlich war. Es schmeckte wirklich fabelhaft. Sie nannte es »Belagerungs-Pommes« – frittierte Stangen aus gepresstem Teig. Mir fiel auf, dass Bobbi nicht viel von ihrer Portion aß. Entweder schmeckte es ihr nicht, oder vielleicht lag es auch an Mostars Kommentar über »den besten Kartoffel-Ersatz«. Hat sie immer noch ein schlechtes Gewissen? Es fühlt sich an, als wäre das hundert Jahre her. Wie auch immer, sie trat den größten Teil ihrer Pommes an Pal ab. »Die schmecken dir wahrscheinlich besser als das, was ich mitgebracht habe.«
Sie hätte eigentlich nichts mitzubringen brauchen. Darauf hatten wir uns bei ihr zu Hause geeinigt. Aber sie hatte auf die Schnelle noch eine Nudelsuppe gemacht. Die Nudeln waren dicker, dunkler und rauer als ihre Soba. Sie erklärte, dass sie versucht habe, Naengmyeon zuzubereiten, und entschuldigte sich dafür, zu viel Pfeilwurzelstärke verwendet zu haben. Ich glaube nicht, dass es irgendjemanden störte. Mich jedenfalls nicht. Zum ersten Mal seit dem Ausbruch kam ich in den Genuss eines vollen Magens!
Und es war auch ein unterhaltsames Gericht, denn als ich zu Pal hinüberblickte und ausrief: »Schau mal, Wurmsuppe!«, verlagerte sich das Gespräch auf den Verzehr von Insekten. Effie fragte, ob wir eine Chance hätten, nach Gartenwürmern zu graben, was Carmen veranlasste, einen Artikel in der Washington Post
über die Insekten-Komponente einer echten »Paläo-Diät« zu erwähnen.
Dan erzählte, dass er einmal in einem Restaurant in Santa Monica ein Gericht mit gebratenen Grillen probiert hätte. (Ich war dabei gewesen und hatte mich höflich geweigert mitzuessen.)
Effie wollte wissen, ob jemand von Grillenmehl gehört habe, und Bobbi scherzte oder nicht, dass sie erwägen würde, ihren Veganismus für ein Gericht mit Maden zu hintergehen. »Mit etwas Currypulver oder Sojasauce …«
»Oder Vegeta«, ergänzte ich, begleitet von Mostars zustimmendem
Nicken.
Das brachte Dan richtig in Schwung. »Wir sollten das unbedingt versuchen! Sie gründlich waschen, sie zubereiten. Jede Menge Protein! Unter all den verrotteten Baumstämmen gibt es bestimmt tonnenweise Maden.« Er warf einen Blick auf das dunkle Fenster und dann auf die plötzlich abkühlenden Gesichter. Ein Schritt zu weit, den Wald zu erwähnen. Dan tat mir leid. Er hatte die Stimmung verdorben, und das war ihm bewusst. Unter dem Tisch drückte ich ermutigend mein Knie gegen seines.
Er versuchte, die Kurve zu kriegen, und fügte hinzu: »Natürlich nicht jetzt, sondern morgen, wenn es hell ist und …«
Und dann rettete ausgerechnet Reinhardt die Stimmung im Raum.
»Während wir es offenbar alle kaum erwarten können, strikte Insektenfresser zu werden«, er klopfte Dan auf die Schulter, »schlage ich vor, wir geben uns zufrieden mit …« Mit der dramatischen Geste eines Zauberers ging er zu dem kleinen Gefrierschrank des Gemeinschaftshauses, schwenkte die Hände in der Luft und öffnete dann die Tür, um sechs Halb-Liter-Becher – ich mache keine Witze – Eiscreme zutage zu fördern!
Wir starrten alle ungläubig. Ich glaube, Dan sagte sogar: »Wow …«
Ich stotterte nur. »Moment, was …wo …?« Ich hatte jeden Zentimeter seiner Küche durchforstet!
»Ich bitte um Entschuldigung.« Reinhardt hob in gespielter Kapitulation die Hände. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir das Ausweichmanöver, dass ich diesen geheimen Vorrat in meinem Allerheiligsten versteckt hatte.«
»Eine Gefriertruhe in Ihrem Schlafzimmer?« Mostar kicherte kopfschüttelnd.
»Dekadent, das gebe ich zu«, entgegnete Reinhardt und nahm die Becher alle mit einem Arm heraus, »und jetzt leer, versichere ich Ihnen.« Er stellte sie alle in einer feierlichen Reihe in die Mitte des Tisches. Halo-Top-Eiscreme!
Oh, das Verlangen, das ich verspürte!
Eine Sekunde beäugten wir sie nur, wie Schatzsucher, wenn sie die Piraten-Truhe öffnen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand zu diesem Zeitpunkt keine gefrorenen Desserts mehr hat. Ich meine, seit dem Ausbruch sind erst anderthalb Wochen vergangen. Aber ich verstehe
jetzt die Psychologie der Rationierung. Ich verstehe, was Mostar mir über unser Land sagen wollte und warum wir alle so dankbar für Reinhardts Geste waren. Für einen Moment konnten wir wieder normal sein, konnten so viel haben, wie wir wollten, und uns wieder amerikanisch fühlen.
Ich bin mir nicht sicher, ob sich jemand so tiefschürfende Gedanken darüber machte, aber als Carmen sagte: »Was, keins mit Plätzchenteig-Geschmack?«, brachen wir alle in Gelächter aus. Es fühlte sich so gut an zu lachen.
Reinhardt teilte Schüsseln und Löffel aus und lud uns alle ein reinzuhauen. Dan grub einen üppigen Brocken Meersalzkaramell-Geschmack aus, schob ihn sich komplett ohne Zwischenstopp in der Schüssel in den Mund und stöhnte etwas, das ich für das Wort »Sploosh« hielt (eine Anspielung auf seine Lieblingszeichentrickserie, Archer
). Niemand schien etwas dagegen zu haben. Bobbi scherzte sogar: »Sie müssen das Protein wirklich mögen.« Ich weiß nicht, ob sie die zusätzlichen Gramm Protein in Halo meinte oder … etwas anderes.
Pal, deren Augen jetzt halb so groß wie ihr Gesicht waren, warf ihren Eltern einen Blick zu und sprang dann praktisch auf Pfannkuchen & Waffeln. Meine Lieblingssorte. Ich war allerdings nicht gierig, ein paar Löffel ganz unten waren mehr als genug.
Oh mein Gott! Man vergisst. Obwohl ich immer wieder eine Süßigkeitenration hatte, seit das hier begonnen hat, einen Löffel Agave oder Honig oder etwas von Mostars echtem braunem Zucker. Es ist nicht dasselbe. Die Überraschung! Die kalte Mischung aus Sahne, Eis und Süßungsmittelcocktail – Zucker, Stevia und was, Himmel?
»Essen Sie nichts?« Ich sah zu Dan hinüber, der Reinhardt den Minze-Becher hinhielt. Reinhardt lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Hände auf den Bauch und schüttelte den Kopf. »Ich habe schon genug gegessen.« Und für eine Sekunde blickte er wirklich bekümmert drein. »Ich habe sie zu lange gehortet, weil ich sie allein verschlingen wollte.«
»Und alle auf einmal«, fügte Carmen hinzu, was uns alle wieder zum Lachen brachte. Auch Reinhardt. Mit geröteten Wangen nahm er die Stichelei gelassen hin und verneigte sich theatralisch.
Immer noch lachend, nahm er sein Weinglas in die Hand und erhob es zu meiner großen Überraschung in meine Richtung. »Auf unsere Gastgeberin!«
»Wir haben einander!«, fügte Mostar hinzu, was einen Refrain von »Wir haben einander!« auslöste.
Ich spürte, wie meine Augen brannten, wie es mir die Kehle zuschnürte, als alle in spontanen Applaus ausbrachen.
Und erst nachdem der Applaus verstummt war, hörten wir in diesem ersten Moment der Stille, in dem wir tranken, die Schreie von draußen.