Verhandeln stellt eine neue Erfolgsmethode zur Konfliktlösung vor – eine, die das Herz genauso anspricht wie den Kopf. So wie Naturwissenschaftler herausgefunden haben, was die physische Welt im Innersten zusammenhält, habe ich mit meiner Forschung auf dem Gebiet der Konfliktlösung die emotionalen Kräfte aufgezeigt, die uns in Konflikte treiben. Diese Kräfte sind zwar unsichtbar, doch ihre Wirkung ist umso spürbarer: Sie können Freundschaften zerstören, Ehen zerbrechen lassen, Unternehmen zersetzen und Nationen zerreißen. Wenn wir nicht lernen, mit diesen Kräften umzugehen, verstricken wir uns immer wieder in dieselben unbefriedigenden Konflikte mit demselben unbefriedigenden Ausgang. Dieses Buch bietet Ihnen die Instrumente, die Sie brauchen, um diese Dynamik zu durchbrechen und einen emotional aufgeladenen Konflikt als Chance für beide Seiten zu nutzen.
Wie dringend wir ein neues Paradigma benötigen, wurde mir vor 25 Jahren in einem Café im vom Bürgerkrieg zerrissenen Jugoslawien klar. Ich hatte gerade einen einwöchigen Konfliktlösungs-Workshop1 für jugendliche Flüchtlinge abgehalten – Serben, Bosnier und Kroaten –, und nun saß ich mit einigen Teilnehmern zusammen und unterhielt mich mit ihnen darüber, wie sich der Alltag in Jugoslawien von dem in den Vereinigten Staaten unterscheidet. In den Köpfen der Jugendlichen hallte noch das Maschinengewehrfeuer nach, aber nun saßen wir mitten im Auge des Wirbelsturms zusammen, tranken türkischen Kaffee und plauderten über Fußball und darüber, wer in unserem Kurs in wen verknallt war. Eine der Teilnehmerinnen war Veronica, ein siebzehnjähriges Mädchen mit langen Haaren und blauen Augen, das mit dunklem Blick vor sich hin starrte. Während des gesamten Workshops hatte sie kaum ein Wort gesagt, weshalb es mich umso mehr überraschte, als sie in einer kurzen Gesprächspause plötzlich zu sprechen anfing.
»Es war vor neun Monaten«, sagte sie zur Einleitung und starrte dabei unverwandt auf ihren Teller. »Ich war bei meinem Freund, und wir haben zu Mittag gegessen. Jemand hat an die Tür geklopft. Dann sind drei Männer mit Gewehren reingekommen.« Einen Moment lang sah sie auf, als wisse sie nicht, ob sie fortfahren solle. »Sie haben meinen Freund an die Wand gedrückt. Er hat sich gewehrt, aber sie waren stärker. Ich wollte schreien, aber ich habe keinen Laut rausgebracht. Ich wollte Hilfe holen, irgendwas. Aber ich war vollkommen erstarrt.«
Ihre eintönige Stimme war noch lebloser geworden, sie hatte die Pupillen weit aufgerissen.
»Sie haben mich an den Schultern gepackt und an die Wand gedrückt. Dann haben sie sein Gesicht vor meins gehalten. Ich habe die Angst in seinen Augen gesehen. Er wollte sich befreien, aber sie haben ihn festgehalten.«
Wieder schwieg sie eine Weile, dann sprach sie weiter: »Einer hat ein Messer gezogen. Und ich habe zugesehen, wie sie ihm die Kehle durchgeschnitten haben.«
Das Café fiel in Schweigen. Betäubt sah ich sie an, als hätte man mich an meinen Stuhl gefesselt. Ich spürte das Bedürfnis, sie zu trösten, ihr irgendetwas zu sagen, doch mein Kopf war leer. Und dann, genauso plötzlich wie Veronica die Erinnerung an diesen entsetzlichen Moment überkommen hatte, schwieg sie wieder.
Meine Kollegen und ich hatten nur noch diesen einen Abend in Jugoslawien, am kommenden Morgen sollten wir mit dem Zug nach Budapest fahren. Die Teilnehmer des Workshops waren mir ans Herz gewachsen, sie hatten uns in dieser albtraumhaften Kriegslandschaft ihre Geheimnisse anvertraut, und ich war traurig, sie zurückzulassen. Aber mehr noch als Trauer verspürte ich Schuld: Ich kehrte in mein behagliches und behütetes Leben in den Vereinigten Staaten zurück, während sie in ihrer Verzweiflung zurückblieben.
Als wir am nächsten Morgen mit dem Auto am Bahnhof vorfuhren, spürte ich einen dicken Kloß im Hals. Alle 24 Teilnehmer des Workshops standen am Bahnsteig und winkten mir zu. Eine davon war Veronica. Sie ging auf mich zu, um sich von mir zu verabschieden.
»Machen Sie es nicht so wie die anderen, die hierher kommen, um zu helfen«, sagte sie. »Sagen Sie nicht, dass Sie sich an uns erinnern werden, nur um uns dann zu vergessen.«
Ich gab ihr mein Wort.
Was treibt uns Menschen in derart vernichtende Konflikte? Sind wir psychologisch darauf programmiert, wieder und wieder in dasselbe Muster zu verfallen, trotz der oft so fürchterlichen Folgen? Und wie können wir in emotional aufgeladenen Konflikten, in denen unsere heiligsten Überzeugungen auf dem Spiel stehen, eine Lösung finden? Diese lebenswichtigen Fragen stehen im Mittelpunkt meiner Arbeit.
Ich hoffe sehr, dass Sie sich niemals in einer derart schrecklichen Situation wiederfinden wie Veronica. Doch emotional aufgeladene Konflikte werden Sie nicht vermeiden können. Sie gehören zum Menschsein dazu. Wir ärgern uns über unseren Partner, grollen einer Kollegin oder verzweifeln an sich verschärfenden ethnischen Konflikten. In der folgenden Tabelle finden Sie einige Beispiele für die zahllosen Situationen, in denen sich Konflikte emotional zuspitzen können:
Beispiele für emotional aufgeladene Konflikte
Ehepartner streiten um die Werte, die sie in ihrer Beziehung verwirklichen wollen. Wie sollen sie ihre unterschiedlichen Einstellungen zu Geld, Haushaltspflichten oder Politik unter einen Hut bringen?
Eltern wollen verhindern, dass ihre Kinder außerhalb ihrer Religionsgemeinschaft, sozialen Klasse oder ethnischen Gruppe heiraten. Ein Kind, das diese Möglichkeiten auch nur entfernt in Erwägung zieht, wird verstoßen.
Die Angehörigen einer Arbeitsgruppe können sich nicht einigen, wer die Führung übernehmen soll, und sind in zwei Lager mit unterschiedlichen Kulturen oder Erfahrungen gespalten. Jede Seite misstraut der anderen und spricht hinter verschlossenen Türen über sie; die Ergebnisse sind erbärmlich.
Abteilungsleiter streiten um die Verteilung des Unternehmensbudgets und darum, für welche Werte das Unternehmen stehen soll. Sollte der kurzfristige Gewinn im Vordergrund stehen? Der langfristige Ruf? Oder der Dienst an der Gemeinschaft?
Ein Stadtviertel wird von einem regionalen Streit in zwei ethnische Lager gespalten. Die beiden Gruppen sprechen nicht mehr miteinander, und die Angst vor Gewalt geht um.
Eine Region befürchtet, von einer übergreifenden oder »globalen Kultur« geschluckt zu werden und seine Bräuche und Werte zu verlieren.
Angehörige einer politischen Gruppierung benutzen die Auseinandersetzung um Ressourcen zur Schärfung ihrer kollektiven Identität und greifen zu den Waffen, um für ihre Rechte zu kämpfen.
Eine Nation debattiert über den Verlust ihrer Werte und nationalen Identität, inmitten stärker werdender kultureller, religiöser und profaner Einflüsse von außen.
Um solche und ähnliche Konflikte zu lösen, muss man sie an der Wurzel packen, doch diese sitzt viel tiefer als unsere Vernunft und sogar noch tiefer als unsere Emotionen in unserem eigentlichen Seinsgrund: unserer Identität. In der Regel definieren die Konfliktparteien ihre Identität in Abgrenzung zu den anderen: ich gegen dich, wir gegen die. Wir zeigen mit dem Finger auf die anderen, weisen ihnen die Schuld zu und erklären: »Das ist eure Schuld.« Doch dieses Aufeinanderprallen von Identitäten verschärft den Konflikt nur. Wie viel sinnvoller wäre es, die Probleme gemeinsam anzupacken, die wahren Interessen aller Beteiligten zu klären und sich auf eine Lösung zu einigen, die für alle gleichermaßen von Vorteil ist. Doch in einem emotional aufgeladenen Konflikt, sei es in einem Ehestreit oder in einer Auseinandersetzung zwischen zwei Ländern, erweist sich die gemeinsame Problemlösung oft als schwierig. Warum ist das so?
Erstens, weil sich Emotionen nicht lösen lassen. Verärgerung oder Demütigung zu überwinden, ist eine ganz andere Sache, als eine mathematische Aufgabe zu lösen. Emotionen sind eigenwillig, keine mathematische Formel kann mit Sicherheit vorhersagen, wie die andere Seite reagieren wird. Wenn wir uns bei unserem Partner entschuldigen, können wir heute einen Sturm ernten und morgen wahre Wunder bewirken.
Zweitens, selbst wenn wir unsere Beziehungen zum Beispiel zu Partnern oder Vorgesetzten mit rationalen Mitteln in Ordnung bringen wollen, dann provozieren uns emotionale Impulse oft, weiter zu streiten. In einem emotional aufgeladenen Konflikt blockiert irgendetwas in uns die gemeinsame Problemlösung: Ein hartnäckiger Unmut, eine Ahnung, dass die andere Seite uns nichts Gutes will, und eine Stimme, die uns einredet: »Vertrau denen nicht.« Egal ob wir mit jemandem streiten, den wir lieben oder den wir hassen: Oft verspüren wir ein inneren Widerstand gegen die Kooperation, der einer Lösung im Weg stehen kann.
Und schließlich können wir uns nicht einfach die Überzeugungen der anderen Seite zu eigen machen. In einem hitzigen Konflikt steht unsere Identität auf dem Spiel, und dabei handelt es sich eben nicht um eine Ware, die wir mir nichts, dir nichts austauschen könnten. Unsere Überzeugungen sind nun mal unsere Überzeugungen.
Aber wie lassen sich emotional aufgeladene Konflikte dann lösen?
Diese Frage treibt mich seit Jahrzehnten um, und dabei habe ich einige wichtige Beobachtungen und Entdeckungen gemacht. Das Ergebnis ist dieses Buch. Am Anfang von Verhandeln, das ich hier in Cambridge und auf meinen Forschungsreisen des Nachts in Cafés geschrieben habe, stand eine wichtige Erkenntnis: Wir können das Gefühl haben, dass emotional aufgeladene Konflikte unmöglich zu verhandeln sind – und trotzdem lassen sie sich beilegen. Und schließlich entstand das Buch aus der Überzeugung heraus, dass niemand das Leid durchmachen muss, das Veronica erlitt.
Ich habe eine praktische Methode entwickelt, mit der sich noch die tiefsten emotionalen Gräben überwinden lassen. Diese Methode nutzt einen Aspekt des Konflikts, der immer übersehen wird: den Raum zwischen den beiden Seiten. Allzu oft sehen wir Konflikte als eine binäre Angelegenheit – ich gegen dich, wir gegen die – und versuchen, unsere eigenen Interessen durchzusetzen. Aber der Konflikt besteht buchstäblich zwischen uns, in unserer Beziehung, und in diesem Raum herrscht eine komplexe emotionale Dynamik, die eine gemeinsame Suche nach einer Lösung unmöglich zu machen scheint. Um zu verstehen, wie wir aus einem emotional aufgeladenen Konflikt eine Chance für beide Seiten machen können, müssen wir lernen, diesen Zwischenraum besser zu nutzen.
Mir ging es darum, diesen Raum zwischen den Konfliktparteien zu verstehen und Methoden zu entwickeln, mit denen sich diese hartnäckigen Emotionen, polarisierenden Dynamiken und widerstreitenden Überzeugungen überwinden lassen. Das Ergebnis ist eine Methode, die ich als »Relationale Identitätstheorie« bezeichnen würde und die mit wenigen praktischen Schritten eine ganz neue Dynamik in Gang bringt. Es ist gar nicht so schwer: Es sind kaum mehr Handgriffe nötig als zur Entzündung eines Holzstapels, mit denen die neue Dynamik des Feuers in Gang gesetzt wird.
Das größte Hindernis auf dem Weg zur Konfliktlösung ist der Stammeseffekt – eine innere Haltung, die polarisiert und in den anderen automatisch den Feind sieht. Solange wir in dieser Denkweise verhaftet sind, bleiben wir Geiseln des Konflikts. Fünf Kräfte – die fünf Sogkräfte des Stammesdenkens – ziehen uns in diese Denkweise hinein, und diese fünf Kräfte müssen wir überwinden, um mithilfe einer integrierenden Dynamik positive Beziehungen aufbauen zu können. Dabei treffen wir unvermeidlich auf Spannungen – die Beziehungsdialektik –, die uns das Gefühl vermitteln, dass wir in einem Konflikt nur verlieren können. Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie diese scheinbar unüberwindlichen Hindernisse doch überwinden können.
Zur Entwicklung meiner Methode habe ich im Labor Experimente durchgeführt, Tausende Forschungsartikel gelesen, Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft beraten, streitende Familien und Paare begleitet und Hunderte Experten von Politikern über Bürgerinitiativen bis hin zu Staatenlenkern befragt. Außerdem leite ich das Harvard International Negotiation Program, das die Wurzeln von Konflikten in Emotionen und Identität erforscht, Verhandlungsmethoden entwickelt und diese unterrichtet.
Aus diesen Erfahrungen habe ich viel gelernt, und diese Erkenntnisse möchte ich hier an Sie weitergeben.2 Dieses Buch soll Ihnen helfen, Ihre nervenaufreibendsten Konflikte zu lösen, und es ist mein Versuch, Wort zu halten. Ich möchte mein Versprechen einlösen, das ich Veronica und den 23 anderen Teilnehmern des Workshops gegeben habe, sowie all den übrigen Menschen in Konflikten helfen, denen im Namen der Identität Leid zugefügt wird. Ich glaube, dass es einen besseren Weg gibt. Es muss ihn geben.
Dieses Buch ist Zeugnis dieser Vision.
Daniel Shapiro
Cambridge, Massachusetts