Die persönlichen Geschichten, die ich in diesem Buch schildere, basieren auf realen Erlebnissen, wenngleich ich einige Einzelheiten verändert habe, um die Anonymität der Beteiligten zu wahren. Den Workshop in Serbien führte ich mit meinen Kolleginnen und guten Freundinnen Jennifer Delmuth und Melissa Agocs durch.
Die integrierende Dynamik führt uns über die Problemlösung hinaus zur gemeinsamen Suche nach Sinn, bei der es darum geht, zu verstehen, wer wir in Beziehung zueinander sind und wie wir am besten zusammenarbeiten und zusammenleben können. Es handelt sich um eine Theorie des Denkens und Fühlens, um eine Theorie der Verhandlung und eine psychologische Methode, die Identität von einem Hindernis zu einer Stärke macht.
Bislang hat sich die Verhandlungstheorie vor allem mit einzelnen Elementen der Verhandlung beschäftigt. Zentral sind hier die Arbeiten meines Mentors Roger Fisher, Gründer des Harvard Negotiation Project, der die sieben zentralen Elemente der Verhandlung entwickelte: Interessen, Optionen, Legitimität, Verpflichtung, Alternativen, Beziehungen und Kommunikation. Wenn man die Verhandlungstheorie mit dem menschlichen Körper vergleichen wollte, dann wären diese sieben Elemente die Organe, und die integrierende Dynamik (eine Methode, die ich in diesem Buch vorstelle) so etwas wie das Zusammenspiel dieser Organe. Ein emotional aufgeladener Konflikt hat eine ganz eigene Dynamik, die zum Beispiel in den kognitiven Verzerrungen der Teilnehmer des Stammesexperiments in Davos zum Ausdruck kam. Die integrierende Dynamik bezieht die starken Kräfte mit ein, die ansonsten vollkommen rationale Menschen veranlassen, sich scheinbar irrational zu verhalten, und sie stellt die Beziehungsidentität der Beteiligten in den Mittelpunkt. Selbst wenn einem die Kernidentitäten unvereinbar erscheinen mögen, gibt es Möglichkeiten, ein Beziehungssystem zu ändern, und auf diese Weise Konflikte abzubauen und die Zusammenarbeit zu verbessern.
Ebd.: Ich definiere einen Stamm als beliebige Gruppe, deren Angehörige sich als 1. gleichartig, 2. verwandtschaftsartig in ihren Beziehungen und 3. emotional am Fortkommen der Gruppe interessiert begreifen. Wie ich in dem Artikel zeige, sind diese drei Elemente die Voraussetzung, um eine Gruppe als Stamm zu verstehen: Gleichartigkeit bedeutet, dass sich die Angehörigen der Gruppe als Teil einer übergreifenden Identitätsgruppe verstehen. Ethnopolitische Gruppen wie die palästinensischen Araber und israelischen Juden oder wie die Katholiken und Protestanten von Nordirland sind solche Stämme, doch die Angehörigen eines Stammes müssen nicht durch ethnische oder verwandtschaftliche Bande miteinander verbunden sein. Stämme sind vielmehr gesellschaftliche und psychologische Konstrukte. Sie können sich immer dann spontan formieren, wenn Menschen eine gemeinsame Identität haben, sei es als Angehörige eines Stadtteils, einer religiösen Sekte, eines Unternehmens, einer Nation oder einer internationalen politischen Organisation.
Ein Stamm ist jedoch mehr als ein loser Zusammenschluss oder ein Bündnis, das mit einer bestimmten Absicht eingegangen wurde. Die Gruppe basiert vielmehr auf verwandtschaftsartigen Beziehungen, die Angehörigen definieren sich subjektiv über »dieselbe Herkunft«. Den Zusammenhalt kann buchstäblich fast alles liefern, angefangen von einer körperlichen Ähnlichkeit über eine Ideologie, eine gemeinsame Sprache oder eine räumliche Heimat bis hin zu einem gemeinsamen Unternehmensziel oder einem religiösen Glauben. Diese verwandtschaftsartige Beziehung verstärkt die Identifizierung der Angehörigen mit dem Stamm und damit die emotionale Bedeutung, die diese der Beziehung zu anderen Angehörigen des Stammes beimessen. Die Angehörigen haben ein emotionales Interesse am Fortbestand und Erfolg ihres Stammes. Dieses emotionale Interesse ist so groß, dass sie bereit sind, ihr Eigeninteresse hintanzustellen, um anderen Stammesangehörigen und dem Stamm selbst zu dienen (die Normen der Gruppe verlangen das oft sogar ausdrücklich). Dieses Interesse am Wohl des Stammes kann so weit gehen, dass Stammesangehörige ihr eigenes Leben oder das ihrer Kinder opfern.
Das Stammesexperiment ist kein kontrolliertes wissenschaftliches Experiment, sondern im Grunde ein Spiel. Die Fragen werden jedes Mal auf die Teilnehmer zugeschnitten; der Raum wird so gestaltet, dass er sich beengt und dunkel anfühlt; laute Trommelmusik sorgt für eine emotionale Anspannung; außerdem nehme ich mir alle möglichen Freiheiten, um das Umfeld so zu gestalten, dass der Stammeseffekt mit größerer Wahrscheinlichkeit eintritt. Aber ich sorge auch dafür, dass die Stämme die Chance haben, die Welt zu retten. In den wenigen Fällen, in denen das passiert, nehmen die Stämme das Experiment leichter und identifizieren sich weniger mit ihrer neu geschaffenen Stammesidentität: Sie fassen das Experiment eher als ein Spiel auf. Wenn die Teilnehmer jedoch emotional eintauchen und die Grenze zwischen Realität und Fantasie verwischt, fliegt die Welt fast unweigerlich in die Luft.
Wenn ich die Bezeichnung »identitäre Konflikte« vermeide, dann hat das zwei Gründe. Erstens ist unsere Identität in jedem Konflikt mehr oder weniger beteiligt. Ein Konflikt ist deshalb emotional aufgeladen, weil unsere Bedürfnisse, unsere Werte und unsere Überzeugungen zurückgewiesen werden. Unsere Identität gibt vor, was uns bedeutsam erscheint und wie heftig wir emotional reagieren, weshalb es wenig sinnvoll ist, nur ausgewählte Konflikte als »identitär« zu bezeichnen. Und zweitens ist Identität nie die alleinige Ursache eines Konflikts. Von »identitären Konflikten« zu sprechen, hieße anzunehmen, dass Identität immer das zentrale Motiv ist, und dass alle anderen Motive zweitrangig sind, neurobiologische Tendenzen genauso wie makroökonomische Kräfte, gesellschaftliche Strukturen und politische Motive.
Um nachhaltig harmonische Beziehungen zu schaffen, muss die Konfliktlösung drei Dimensionen umfassen. Erstens muss eine Einigung in Sachfragen gefunden werden, etwa die Verteilung von Geld oder Land. Zweitens muss der emotionale Aspekt der Beziehung verändert werden, und aus Feinden müssen Verbündete werden. Und drittens muss diese neue Beziehung verinnerlicht werden. Konfliktlösung beinhaltet also inhaltliche Einigung, Verwandlung und Versöhnung, wovon jedes einer zentralen Dimension der Konfliktlösung entspricht: Interessen, Emotionen und Identität. Siehe Kelman 1956 und Rouhana 2004.
Da es in diesem Buch um emotional aufgeladene Konflikt geht, müssen wir unterscheiden zwischen 1. positiven und negativen Emotionen, die unsere emotionalen Zustände beschreiben, zum Beispiel Freude oder Trauer; und 2. zwischen nützlichen und problematischen Emotionen, womit die Auswirkung unserer Emotionen auf unser Verhalten gemeint ist. Letztere Unterscheidung entspricht in etwa der, die der Dalai Lama vornimmt, wenn er von »destruktiven« und »konstruktiven« Emotionen spricht. Sollte die Angst Sie motivieren, Ihren Nachbarn umzubringen, ist sie negativ und destruktiv (problematisch). Sollte die Angst Sie motivieren, das Leben Ihres Kindes zu retten, ist sie negativ und konstruktiv (nützlich). Siehe Dalai Lama 2005, S. 27 f.
Politikwissenschaftler diskutieren seit langem, ob ethnische Identität gegeben oder geschaffen ist, das heißt, ob sie angeboren ist oder in zwischenmenschlicher Interaktion entsteht. Ich bin der Auffassung, dass Identität durch gesellschaftliche Strukturen, politische Kräfte und kulturelle Annahmen konstruiert wird, was zur Folge hat, dass wir in der Lage sind, unsere Identitäten in gewissem Rahmen selbst zu schaffen. Die Gesellschaft gibt uns Schablonen vor, Drehbücher, mit deren Hilfe wir uns Vorstellungen von uns selbst machen können, und wir haben die Freiheit, innerhalb dieser Schablonen zu wählen. Wie Kempny und Jawlowska (2002, S. 4) schreiben: »Identitäten sind eingebettet in kohärente und integrierende soziale Praktiken.«
So können kulturelle Identitäten über Generationen tradiert werden, was den Eindruck vermittelt, es handele sich um etwas Angeborenes, während sie sich in Wirklichkeit oft verändern. In einer überzeugenden Fallstudie zeigt David Laitin (1983), dass kulturelle Identifizierungen wie die nationale Identität nicht unveränderbar sind; der Konflikt selbst kann die Identität einer Gruppe verändern. Weitere wichtige Beiträge zu dieser Diskussion finden Sie zum Beispiel in den Arbeiten von Samuel Huntington, Clifford Geertz, Alexander Wendt und Robert Hislope.
Nach Ansicht von Marcia (1988) wird die Identität entlang von zwei Achsen konstruiert: Erforschung und Bekenntnis. Erforschung meint einen Prozess, in dem verschiedene Formen des Seins begutachtet werden, und Bekenntnis meint die Übernahme von konkreten Werten. Sobald wir uns zu bestimmten Werten bekennen, gewinnen wir ein Gefühl der Kontinuität, Sinnhaftigkeit und Zugehörigkeit – sämtlich Gegenmittel zur Identitätsverwirrung. Siehe auch Schwartz 2001, S. 11.
Politikwissenschaftler, Psychologen und Soziologen haben Hunderte Definitionen der Identität vorgelegt, doch keine kann das Thema abschließend behandeln. Meine Ausführungen in diesem Kapitel sollen lediglich dazu dienen, Ihnen einige Gedanken an die Hand zu geben, um besser mit Konflikten umzugehen. Anders als Wissenschaftler, die Identität häufig durch die Brille ihres Spezialgebiets definieren, habe ich versucht, eine umfassende Definition zu geben. (Sozialpsychologen sehen Identität zum Beispiel meist als sozialen Marker und vernachlässigen physische und spirituelle Dimensionen.)
Meine Definition der Identität ist notwendigerweise unvollständig, aber pragmatisch. Sie ist präzise genug, um die Eigenschaften herauszuarbeiten, die in einem Konflikt aufeinanderprallen, und umfassend genug, um die ganze Breite der Eigenschaften aufzunehmen, die uns ausmachen. Wir haben einen Körper mit Organen, Gliedmaßen und Gewebe. Wir verfügen über feste und wandelbare Erinnerungen an Menschen, Orte und Dinge. Wir haben eine sich entwickelnde Persönlichkeit mit zahlreichen Untersystemen, die einen Gutteil unseres Verhaltens erklären. Wir haben eine Bandbreite von Überzeugungen, manche stärker als andere, sowie flüchtige Gedanken, wechselhafte Stimmungen und automatisierte Denkprozesse zur Wahrnehmung der Realität. Wir spielen eine Vielzahl von Rollen, zum Beispiel als Kind, Eltern oder Kollegen. Diese Liste ließe sich unendlich fortsetzen, was nur unterstreicht, wie problematisch Identität im Konflikt werden kann.
Auf drei Aspekte der Kernidentität möchte ich gesondert hinweisen. Erstens ist die Kernidentität der »Kern«, weil sie in unterschiedlichen Situationen und Beziehungen relativ stabil bleibt. Unser Familienname ist beispielsweise Teil dieser Kernidentität, wir ändern ihn nicht jedes Mal, wenn wir mit einem anderen Menschen zu tun haben. Zweitens enthält die Kernidentität nicht nur unsere tiefsten Überzeugungen, sondern auch andere unveränderliche Eigenschaften, seien sie zentral oder nicht. Die Tatsache, dass ich die Farbe Gelb oder Blau mag, ist Teil meiner Kernidentität, auch wenn sie unbedeutend ist, im Vergleich etwa zur Zugehörigkeit, die ich zu meinen Eltern empfinde. Drittens ist die Kernidentität mehr als nur eine Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen. Dazu gehören auch unbewusste und biologische Eigenschaften – Körper und Geist –, die über unsere Interaktionen hinweg Kontinuität schaffen. Jonathan Turner verwendet eine ähnliche Definition der Kernidentität, wenn er sie beschreibt als »Vorstellungen und Emotionen, die Menschen von sich selbst als Menschen haben, und die sie in die meisten Begegnungen einbringen«. (Turner 2012, S. 350).
Siehe L. Mlodinow, S. 153. Siehe außerdem (1) H. T. Himmelweit, »Obituary: Henri Tajfel, FBPsS,« Bulletin of the British Psychological Society 35 (1982): S. 288 f; (2) William Peter Robinson, Hrg., Social Groups and Identities: Developing the Legacy of Henri Tajfel (Oxford: Butterworth-Heinemann, 1996), S. 3 ff. und (3) Henri Tajfel, Human Groups and Social Categories (Cambridge: Cambridge University Press, 1981).
Dass Identität der Sinnsuche dient, meinte schon Frederic Bartlett, als er schrieb: »jede kognitive Reaktion – Wahrnehmung, Vorstellungskraft, Erinnerung, Denken oder Argumentieren – lässt sich als Suche nach Sinn und Bedeutung denken« (Bartlett 1932, S. 44). Im Umgang mit uns und der Welt bringen wir mentale Schemata – Erzählungen – zur Anwendung, um unsere Erfahrungen zu verstehen. Instinktiv stellen wir Sinn her. So besteht unser gesamtes psychisches Leben aus Geschichten, die wir uns erzählen, um Sinn herzustellen.
Ich unterscheide zwischen nomineller und semantischer Identität. Nominelle Identität sind die Bezeichnungen, die wir für uns und andere haben, zum Beispiel Amerikaner, Deutsche, Lehrer, Freundin. Semantische Identität ist die Bedeutung, die wir diesen Bezeichnungen geben: Was bedeutet es, Amerikaner, Deutsche, Lehrer oder Freundin zu sein? Der Sozialanthropologe Fredrik Barth (1981) unterscheidet ähnlich zwischen nomineller Identität und virtueller Zugehörigkeit. Unser soziales Ich ist nicht vollkommen fest. Siehe auch Barth 1969.
Die Theorie der Beziehungsidentität geht davon aus, dass wir durch Beziehungen mit anderen definiert werden; das erinnert mich an einen Ausspruch des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre, der einst sagte: »Wenn es die Juden nicht gäbe, würden die Antisemiten sie erfinden.« (Sartre 1965). Die Theorie der Beziehungsidentität ist besonders wichtig für Politiker, die gewalttätige Konflikte in multiethnischen Gesellschaften verhindern wollen. Um zu verstehen, wie anfällig eine Gesellschaft für gewalttätige Konflikte ist, sollten Sie sich Folgendes ansehen: (1) Zugehörigkeit: Fühlt sich eine bestimmte Gruppe von wichtigen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Öffentlichkeiten ausgeschlossen? (2) Autonomie: Fühlt sich eine bestimmte Gruppe in ihrer Freiheit beeinträchtigt, in wichtigen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten Entscheidungen zu treffen? Je größer die wahrgenommene Bedrohung für die Zugehörigkeit und Autonomie einer Gruppe, umso eher wird sie dagegen aufbegehren, dass diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden.
In Übereinstimmung mit der Theorie der Beziehungsidentität sieht Frances Stewart eine wichtige Ursache von gewalttätigen Konflikten in multiethnischen Gesellschaften nicht etwa in der Ungleichheit von Einzelpersonen (»horizontale Ungleichheit«), sondern in den wahrgenommenen Unterschieden zwischen ethnopolitischen Gruppen (»vertikale Ungleichheit«). Wenn kulturelle Unterschiede (ob basierend auf Herkunft, Religion, Geschlecht, Alter o. Ä.) auf wirtschaftliche und politische Unterschiede zwischen Gruppen treffen, kann tief sitzender Groll aufkommen und gewalttätige Auseinandersetzungen provozieren. Siehe Stewart und Brown (2007, S. 222).
Unser Gehirn hat stets ein waches Auge auf Gefahren für unser physisches und psychisches Überleben in unserem sozialen Umfeld. Unbewusst suchen wir ständig nach Gefahren für unsere Autonomie und Zugehörigkeit. Die Amygdala spielt in diesem Prozess eine Rolle als »Alarmglocke« für eine Vielzahl von Ereignissen. Siehe Sander u. a. 2003.
Meine Theorie der Beziehungsidentität soll den praktischen Anforderungen der Konfliktlösung dienen. Sie basiert auf der Arbeit von William James, Henri Tajfel, Erik Erikson, Jean Baker Miller und anderen. Die Theorie der Beziehungsidentität stützt sich zwar auch auf Erkenntnisse der Psychoanalyse, doch sie ist auch eine Reaktion darauf. Nach Ansicht ihres Begründers Sigmund Freud ist der Hauptantrieb des menschlichen Handels das Lustprinzip: Wir suchen Lust und meiden Leid. Unser Motor wäre demnach der Sexualtrieb. Der Psychoanalytiker Ronald Fairbairn widerspricht dieser Annahme entschieden und behauptet, dass wir nicht Lust, sondern ein Objekt suchen. Im psychoanalytischen Sprachgebrauch ist ein »Objekt« die innere Darstellung eines Menschen oder einer Gruppe, mit der wir interagieren. Nach Ansicht von Fairbairn suchen wir die Beziehung zu anderen Menschen nicht, um unseren Sexualtrieb zu befriedigen, sondern genau umgekehrt: Wir suchen Lust, um uns zu anderen in Beziehung zu setzen. Wir verspüren gewissermaßen einen Beziehungstrieb. Fairbairns Forschung bestätigt dies. So beobachtete er zum Beispiel, dass Kinder, die zu Hause Misshandlung erfuhren, trotzdem lieber nach Hause gingen, als an einem sicheren Ort zu bleiben. Mit anderen Worten sorgte die Zurückweisung durch die Mutter nicht dafür, dass sich die Kinder von ihr abwanden, sondern im Gegenteil, sie fühlten eine stärkere Verbindung. Das unbefriedigte Bedürfnis nach Beziehung konnte nur von der Mutter befriedigt werden. Siehe Celani 1994, S. 29. Auch der Psychoanalytiker D. W. Winnicott (1952, S. 99) betonte die zentrale Bedeutung der Beziehung in der menschlichen Erfahrung und beobachtete, in der Einheit aus Mutter und Kind »beginnt das Gravitationszentrum des Seins nicht im Einzelnen. Es ist in der ganzen Einheit.«
Mervin Freedman, Timothy Leary, Abel Ossorio und Hubert Goffey (1951) unterscheiden zwischen Dominanz/Unterwerfung und Zugehörigkeit/Feindseligkeit.
Carol Gilligan (1982) unterscheidet zwischen Gerechtigkeit und Fürsorge.
Ervin Staub (1993) stellt autonome/individualistische und relationale/kollektivistische Identitäten gegenüber.
Deborah Kolb und Judith Williams (2000) klären die Bedeutung von Interessenvertretung und Verbindung.
Robert Mnookin, Scott Peppet und Andrew Tulumello (1996) betonen die Spannung zwischen Durchsetzung und Empathie.
Erich Fromm (1941, S. 39–55) stellte Getrenntsein und Einssein mit der Welt gegenüber.
Edward Deci und Richard Ryan klären die Auswirkungen der Selbstbestimmung auf Emotionen und Verhalten. Siehe Deci 1980 sowie Deci und Ryan 2000.
Lorna Benjamin (1984) wendet die Strukturanalyse des Sozialverhaltens (SASB), eine Abwandlung von H. Murrays Arbeit zur »Personology« an, um die Spannung zwischen Autonomie und Zugehörigkeit zu klären; SASB ist ein System zur Klassifizierung von sozialen Interaktionen hinsichtlich Fokus, Zugehörigkeit und Interdependenz (also Autonomie) und ermöglicht ein besseres Verständnis dessen, wie wir die Bedeutung eines sozialen Ereignisses wahrnehmen.
Jerry Wiggins (1991) gibt einen Überblick über die Forschung zu Autonomie und Zugehörigkeit und verwandter Konzepte.
David Bakan (1996) liefert eine überzeugende Erklärung der grundlegenden Bedeutung von Handlungsfähigkeit und Gemeinschaft: »Mit diesen beiden Begriffen beschreibe ich zwei grundlegende Seinsformen: Handlungsfähigkeit beschreibt das Sein eines Einzelorganismus, Gemeinschaft seine Teilhabe an einem umfassenderen System. Handlungsfähigkeit äußert sich in Selbstschutz, Selbstbehauptung und Selbsterweiterung; Gemeinschaft in dem Gefühl, eins zu sein mit anderen Organismen. Handlungsfähigkeit äußert sich in der Ausbildung von Abgrenzungen, Gemeinschaft im Fehlen solcher Abgrenzungen. Handlungsfähigkeit äußert sich in Isolation, Entfremdung und Einsamkeit, Gemeinschaft in Kontakt, Offenheit und Vereinigung. Handlungsfähigkeit äußert sich im Bedürfnis zu beherrschen, Gemeinschaft in informeller Zusammenarbeit.« (S. 14 f.).
Autonomie und Zugehörigkeit sind nicht gänzlich fließend: Unsere Beziehungen erhalten ihre strukturelle Kontinuität durch die Rollen, die wir einnehmen und den Status, den wir innehaben. Diese Strukturen sind vorgefertigte Formen der Autonomie und Zugehörigkeit. So nahmen die Teilnehmer des Stammesexperiments in Kairo schnell konfrontative Rollen ein. Sobald sie diese Rollen gefunden hatten, wussten sie, was sie in ihren Beziehungen zu erwarten hatten: Nichtzugehörigkeit und Missachtung der eigenen Autonomie.
Rollen liefern uns Erwartungen über den Umfang unserer Zugehörigkeit und Autonomie. Wenn ich zu meiner jährlichen Routineuntersuchung zum Arzt gehe und dieser mich bittet, den Oberkörper freizumachen, dann komme ich dem widerspruchslos nach. In der Rolle als Patient gebe ich ihm die Autonomie, mich zu untersuchen, und gehe davon aus, dass er in unserer gemeinsamen Beziehung seine professionelle Distanz wahrt. Wenn mich auf der Straße ein wildfremder Mensch auffordert, mein Hemd auszuziehen, dann suche ich schnellstens das Weite. Die Rolle des Fremden geht nicht mit denselben Erwartungen hinsichtlich Autonomie und Zugehörigkeit einher.
Auch Status – unsere Position innerhalb einer Hierarchie – verleiht unseren Beziehungen Kontinuität. In einem Unternehmen habe ich beispielsweise umso mehr Autonomie, Entscheidungen zu treffen, je höher meine Position ist. Aber auch informeller Status strukturiert unsere Beziehungen. In einer Arbeitsgruppe wissen die Kollegen, wer formelle Entscheidungsbefugnis hat, aber sie wissen auch, an wen sie sich wenden können, um Rat oder emotionale Unterstützung zu erhalten oder sich angenehm zu unterhalten.
Rollen und Status sind zwar relativ fest, lassen sich jedoch neu definieren, um einen Konflikt zu lösen. Mehr dazu finden Sie in Fisher und Shapiro (2005).
Wenn wir strukturelle Beziehungen herstellen, werden Konfliktlösung und Versöhnung einfacher. Daher ist das Ziel der Versöhnung die Verinnerlichung von positiven strukturellen Beziehungen. So geschehen in einem der wenigen Fälle, in denen das Stammesexperiment nicht im Weltuntergang endete. Vier Sprecher trafen sich in der Mitte des Raums, um miteinander zu verhandeln. Zu meiner Verwunderung kamen sie innerhalb weniger Minuten zu einer umfassenden und abschließenden Einigung. Wie? Zufällig waren drei der vier Unterhändler uniformierte Offiziere, und in ihrer Verhandlung trat die im Experiment neu geschaffene Identität hinter ihre gemeinsame Zugehörigkeit zum Militär zurück. Diese gemeinsame Rolle schuf eine positive Zugehörigkeit und gegenseitigen Respekt für die Autonomie. Der ranghöchste Offizier schlug eine Einigung vor, die anderen beugten sich, und der einzige Nicht-Offizier schloss sich an. Die gemeinsame Rolle und berechenbare Statushierarchie bot eine klare Beziehungsstruktur.
Der Beziehungskontext erzeugt Erwartungen hinsichtlich der Grenzen der Autonomie und Zugehörigkeit sowie Strafen im Falle eines Verstoßes gegen den unausgesprochenen Beziehungsvertrag. Diese Erwartungen zeigen sich in den Rollen, die wir spielen, und in unserem Status. Mehr dazu finden Sie in McCall und Simmons 1978, Stets 2006 und Stryker 2004.
Die Hirnforschung zeigt die neurochemische Grundlage der Zugehörigkeit auf. Ein Hormon namens Oxytocin fördert vertrauensvolle Beziehung, und vertrauensvolle Beziehungen fördern die Produktion von Oxytocin. Zak (2005) erkannte in einer Untersuchung, dass Unterhändler, die ihr Gegenüber als vertrauenswürdig wahrnahmen, einen höheren Oxytocinspiegel aufwiesen. In einer anderen Untersuchung verabreichte Kosfield (2005) Versuchsteilnehmern Oxytocin, worauf diese ihren Mitspielern bei einem Investitionsspiel mehr Geld anvertrauten. In einer dritten Untersuchung beobachtete Ditzen (2009), dass die Gabe von oxytocinhaltigen Nasentropfen positive Kommunikation fördert und bei streitenden Paaren den Kortisonspiegel im Blut senkt.
Auch Wissenschaftler anderer Disziplinen haben die Bedeutung der Zugehörigkeit erkannt. R. Baumeister und M. Leary (2000) bieten einen umfassenden Überblick über die empirischen Beweise für das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und kommen zu dem Schluss: »Der Mensch wird grundlegend und umfassend von einem Bedürfnis nach Zugehörigkeit motiviert, also einem intensiven Wunsch, dauerhafte zwischenmenschliche Beziehungen zu knüpfen und zu erhalten. Wir suchen häufige, emotional positive Interaktionen im Zusammenhang dauerhafter liebevoller Beziehungen.« Siehe Baumeister und Leary 2000.
Der Sozialwissenschaftler Donald T. Campbell (1971, S. 105) beobachtete, dass »einander nahestehende Elemente eher als Teil derselben Organisation wahrgenommen werden«. Das war eine scharfsinnige Beobachtung: Wenn wir Menschen als einander in bestimmten Eigenschaften »nahestehend« wahrnehmen –, zum Beispiel hinsichtlich ihrer Religion, Haarfarbe oder irgendeiner anderen Eigenschaft – dann gehen wir eher davon aus, dass sie dieselbe Identität haben. Eine einzige Eigenschaft motiviert uns, sie als zusammengehörig wahrzunehmen.
Diese Erkenntnisse habe ich aus Gesprächen mit Repräsentanten beider Seiten gewonnen. Meine Wahl für den Namen geht auf den Sprachgebrauch im Außenministerium der Vereinigten Staaten zurück. Wenn ich das Land als »Republik Mazedonien« bezeichnet, verstoße ich allerdings schon gegen das Autonomiebedürfnis einiger Griechen, die der Ansicht sind, dass sie allein das Recht auf die Verwendung des Namens Mazedonien haben.
Konflikte um Autonomie und Zugehörigkeit werden oft auf symbolischer Ebene ausgetragen. Ein eindrucksvolles Beispiel stammt aus Roman Die Unwissenheit des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera. Die Hauptfigur Irena kehrt nach zwanzig Jahren in Frankreich nach Tschechien zurück; ihre Freunde zeigen keinerlei Interesse daran, wie es ihr im Ausland ergangen ist, so als hätten sie diese Jahre aus ihrem Leben amputiert. Indem sie diesen entscheidenden Teil von Irenas Kernidentität (einen Aspekt ihres »Mich«) leugnen, nehmen sie ihr die Autonomie, so zu sein wie sie will. Irena leidet an der Zugehörigkeit: Welchen Teil ihrer selbst werden ihre Freunde annehmen? Welchen ablehnen? Kann sie diese Ablehnung ertragen oder soll sie die Freundschaften beenden? Wie im wirklichen Leben äußern sich diese Beziehungsprobleme indirekt, durch symbolische Botschaften, etwa als ihre Freunde keinerlei Interesse zeigen, ihren französischen Wein zu trinken. (Kundera 2002).
Siehe Hackett (1979, S. 27 f.). Diese Vorstellung der ursprünglichen Einheit findet sich sogar in Darwins Evolutionstheorie, die von der Annahme ausgeht, dass die menschliche Entwicklungslinie mit der wechselseitigen Verbindung aller Lebewesen beginnt. In diesem Sinne ist die Suche nach übergeordneter Einheit nichts als der Wunsch nach der Rückkehr in den Zustand der ursprünglichen Einheit. Ähnlich sieht das übrigens auch der Dalai Lama (2005).
Zwar beschreibe ich verschiedene »Strukturen« der Identität, ich stimme jedoch mit dem Psychoanalytiker Harry Stack überein, dass intrapsychische Strukturen reine Fiktion sind: In Wirklichkeit handelt es sich nicht um materielle Strukturen, sondern um Muster der Energieumwandlung. Siehe Greenberg und Mitchell 1983, S. 91.
Wodurch wird das konfrontative Stammesdenken provoziert? Die Theorie der Beziehungsidentität geht davon aus, dass es ausgelöst wird, wenn wichtige Aspekte der Autonomie und Zugehörigkeit bedroht scheinen. Die Realistische Konflikttheorie nimmt an, dass eine Bedrohung von militärischen, politischen, sozialen oder finanziellen Ressourcen einer Gruppe zu Abschottung nach außen und Ethnozentrismus führt. Die Theorie der sozialen Identität sieht schon die Identifizierung mit einer Gruppe als ausreichenden Grund für einen Konflikt: Menschen identifizieren sich mit der Gruppe und wünschen sich positive Unterscheidung. Mehr zur Realistischen Konflikttheorie finden Sie in Sherif u. a. 1961, S. 155–84 und Campbell 1965. Zur Theorie der sozialen Identität, siehe Tajfel und Turner 1979.
Der Stammeseffekt mag sich der Veränderung widersetzen, doch er übernimmt auch eine Schutzfunktion. Demzufolge wollen wir die Menschen und Grundsätze schützen, die für unsere Identität am wichtigsten sind. Evolutionsbiologen haben versucht zu messen, inwieweit wir unsere Verwandten vor Bedrohungen von außen schützen. Der Biologe J. B. S. Haldane untersuchte die Mathematik der Verwandtenauslese und witzelte: »Ich würde mein Leben für zwei Brüder oder acht Cousins riskieren.« Diese Bemerkung ist die Grundlage für Hamiltons Regel br – c > 0, wobei b der Fitnessnutzen (benefit) für den Empfänger einer altruistischen Handlung ist, c der Preis (cost) für den altruistisch Handelnden und r der Verwandtschaftsgrad (relatedness) zwischen beiden. Die daraus resultierende Ungleichung zeigt, unter welchen Bedingungen die natürliche Auslese eine altruistische Handlung begünstigt. (Siehe Mock 2004, S. 20).
(a) Loyalität gegenüber dem Stamm wird zur obersten Priorität. Stämme sind eine hochemotionale Angelegenheit, und die Angehörigen bringen tendenziell größere Opfer, je näher sie mit jemandem verwandt sind.
(b) Stammesnormen erzwingen Loyalität. Das größte Tabu sind Verhaltensweisen, die die Legitimität des Stammes und die Bande zwischen den Angehörigen in Gefahr bringen. Der Stamm selbst kann als heilig gelten, und sein Schutz wird zum heiligen Auftrag. Mangelnde Loyalität gegenüber der Identitätserzählung des Stammes kann Schande, Demütigung, Ausschluss und Tod zur Folge haben.
(c) Die Loyalität ist am größten, wenn die Stammesangehörigen durch einen »Mythos der Blutsbande« verbunden sind, wenn sie also glauben, dass sie dieselbe Abstammung und ein gemeinsames Erbe und Schicksal haben. Mit einem solchen Mythos verwandelt sich eine bedrohte Gruppe schnell in einen Stamm. Auch Weltkonzerne können im Konflikt zum Stamm mutieren, doch den stärksten Zusammenhalt haben Stämme mit geistigen oder realen Blutsbanden, denn für sie werden die Angehörigen die größten Opfer bringen. Die Stammesangehörigen sind überzeugter, dass sie in einen rechtmäßigen Kampf ziehen, wenn sie glauben, dass sie dem Willen Gottes gehorchen, als wenn sie glauben, dass sie für die Mission eines Unternehmens eintreten.
(d) Der Mythos der Blutsbande widersetzt sich der Veränderung. Die Identitätserzählung des Stammes basiert auf der wahrgenommenen Geschichte von Siegen, Niederlagen, Traumata und Demütigungen, und diese Erzählung kann auch politische und gesellschaftliche Umbrüche überdauern. (Volkan 1998). In vielerlei Hinsicht dient die Weitergabe dieser Erzählung dem Erhalt der Autonomie des Stammes als unauflösliche Einheit. (Shapiro 2010).
Der Stammeseffekt ist ein grundlegender Aspekt eines heftigen Konflikts und erinnert an die Konfliktbeschreibung von Coser (1956): Je heftiger ein Konflikt, umso mehr bewirkt er 1. klare Abgrenzungen für jede Gruppe; 2. zentralisierte Entscheidungsstrukturen, 3. strukturelle und ideologische Solidarität und 4. Unterdrückung von Widerstand, eine Dynamik, die ich als Tabus bezeichnet habe.
Heftige Emotionen können den Stammeseffekt verstärken. Experimente zeigen, dass emotionale Erregung die kognitive Komplexität der sozialen Wahrnehmung reduziert und zu einer polarisierten Einschätzung der anderen Seite führt (Paulhus und Lim 1994). Für Angehörige von Gemeinschaften, die mit konstanter Angst und Bedrohung leben, kann diese Polarisierung zur Norm werden. Experimente zeigen, dass Menschen, die mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert werden, ihrer eigenen Gruppe mehr und anderen Gruppen weniger Bedeutung beimessen (Greenberg u. a. 1990).
Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger (1994) ist der Ansicht, dass das Problem des Konflikts zwischen Gruppen nicht die Fragmentierung ist, sondern der Autismus: Gruppen isolieren sich in ihrer eigenen selbstgerechten Opferrolle und wollen nicht hören, was andere zu sagen haben. Ihnen geht das Mitgefühl ab, und damit die Fähigkeit, aus den Erfahrungen anderer zu lernen.
Die Verschlossenheit des Stammeseffekts könnte zum Teil mit neurologischen Empathiehemmnissen zusammenhängen. Eine Gehirnregion, die beim Denken über das eigene Denken und Fühlen eine wichtige Rolle spielt, ist der ventral mediale präfrontale Kortex (vmPFC); dieser wird stärker aktiviert, wenn wir Menschen zuhören, die wir als ähnlich wahrnehmen, und weniger stark, wenn wir sie als weniger ähnlich wahrnehmen. Unser Mitgefühl sich scheint daher vor allem auf unsere Verwandten zu richten. (Jenkins u. a. 2007). Das bestätigt meine Vorstellung, dass wir uns geradezu zwingen müssen, Mitgefühl für die andere Seite zu empfinden. Im Sog des Stammeseffekts wird Mitgefühl noch schwieriger.
Kelly Lambert und Craig Howard Kinsley (2010) erörtern eine ähnliche Reaktion angesichts einer realen oder nur vorgestellten Gefahr. Konfliktforscher Terrell Northrup (1989) beschreibt vier Phasen der Eskalation von Identitätskonflikten: Bedrohung, Verzerrung der sozialen Wirklichkeit zur Vermeidung von Infragestellung, Verfestigung der Interpretation der Welt und Einverständnis zur Verlängerung des Konflikts.
Der Psychoanalytiker Vamık Volkan (1996) beschreibt zwei Typen der Identität: Unsere persönliche Identität ist wie ein Kleidungsstück, das nur wir tragen, und das uns vor den Gefahren aus unserer Umwelt beschützt. Unsere soziale Identität ist dagegen wie ein Zelt, das uns und alle beschützt, die sich darin befinden. Solange das Zelt stark ist, ist die soziale Identität für uns keine dringende Frage. Aber sobald jemand an dem Zelt rüttelt, machen sich die Insassen Sorgen um ihre kollektive Sicherheit und versuchen, es zu schützen. Aus Sicht der Theorie der sozialen Identität fördert der Stammeseffekt den Konflikt mit anderen Gruppen, weil er die soziale Identität jeder Gruppe aufscheinen lässt, die positive Beziehungen zu anderen Gruppen unterbindet und die Beziehungen innerhalb der Gruppe festigt. Der Konflikt schafft die Wahrnehmung der Polarisierung in Wir und Die. (Korostelina 2007, S. 44).
Aber schürt eine starke Identität den Konflikt oder schützt sie uns vor ihm? Einerseits kann eine starke soziale Identität unser Selbstbewusstsein fördern, indem sie andere Gruppen abwertet und den Konflikt mit ihnen wahrscheinlicher macht. Andererseits meint Erik Erikson (1956, 1968), dass Menschen mit einem starken Ego weniger zu impulsiven Konflikten neigen. Sie sind sich ihrer Identität sicher und haben es nicht nötig, ihre Überlegenheit im Konflikt unter Beweis zu stellen. Mehr dazu finden Sie in Marilyn Brewers Beitrag in Ashmore u. a. 2001 sowie Gibson 2006.
Schließlich wird der Stammeseffekt nicht nur durch den aggressiven Impuls ausgelöst. Manchmal sind wir schlicht und einfach gelangweilt und brechen einen Streit vom Zaun, um das Leben ein wenig zu würzen. Das nenne ich das Ennui-Syndrom (vom frz. s’ennuyer = sich langweilen, Anm. d. Red.), und ich fürchte, es spielt bei der Eskalation von Konflikten eine größere Rolle, als wir gemeinhin annehmen. Wenn sich Kinder langweilen, ärgern sie ihre Geschwister und können so den Stammeseffekt provozieren. Auch in meinem Stammesexperiment beobachte ich immer wieder, dass die Teilnehmer Streit anzetteln oder provokative Positionen vertreten, um das Spiel ein wenig aufregender zu machen. Zunächst geht es nur um den Kitzel, doch schon bald sind ihre Egos im Spiel und der Stammeseffekt entfaltet seine Sogwirkung.
Der »Narzissmus der kleinen Differenzen« könnte evolutionäre Wurzeln haben. Darwins »Kampf ums Dasein« ist kein Kampf zwischen Arten, sondern zwischen nahen Verwandten um kleine erbliche Verbesserungen, die einer Untergruppe über Generationen hinweg das Überleben sichern soll. Das Überleben einer Art wird weniger durch andere Arten als durch Konflikte innerhalb der eigenen Art gefährdet. Siehe Lorenz 1966.
In unserer zunehmend durch das Internet und verwandte Technologien vernetzten Welt hat der »Narzissmus der kleinen Differenzen« ein größeres Spielfeld: Die Möglichkeiten des sozialen Vergleichs explodieren geradezu, und wir müssen mehr tun, um die psychischen Grenzen unserer Identität zu schützen und unser Gefühl der Unverwechselbarkeit zu wahren.
Die Beziehungsmatrix ist eine vereinfachte Darstellung des subjektiven Beziehungsfelds, denn Autonomie und Zugehörigkeit sind jeweils mehrdimensional. Ein religiöser Mensch, der seinem Gott treu ist, gibt einen Teil seiner Autonomie auf, doch gleichzeitig stärkt er seine Autonomie durch Zugehörigkeit zu einer Macht, die ihm auf ewig inneren Frieden verheißt. Ein anderes Beispiel sind streitende Ehepartner, die sich in einigen Aspekten autonomer und in anderen eingeschränkter fühlen.
Nach Ansicht von Suzanne Retzinger und Thomas Scheff (2000) wurzeln Dauerkonflikte in »bimodaler Entfremdung«: Isolierung zwischen Gruppen und Verschlingung innerhalb der Gruppen. Das bekräftigt den Stammeseffekt, in dem wir uns von anderen Stämmen distanzieren und »mit unseren Leuten« verschmelzen.
Den Stammeseffekt können wir auch an uns selbst beobachten. Stellen Sie sich beispielsweise vor, ich streite mich mit meiner Frau. Ich weiß, dass ich Mitgefühl mit ihr haben und ihre Sichtweise bestätigen sollte. Aber in meinem Kopf findet ein Stammeskrieg zwischen verschiedenen »Seiten« meiner selbst statt. Der Psychologe Dick Schwartz (1995) bezeichnet diese Seiten als »internes Familiensystem«: Ich habe eine ganze Familie von unterschiedlichen Seiten, von denen die einen vorherrschen, während sich andere arrangieren oder auflehnen. Die »Mutter« in meinem Kopf rät mir, meiner Frau zuzuhören und mich mit ihr zu versöhnen; mein »Vater« sagt mir, ich soll die Angelegenheit klären und aus der Welt schaffen; mein »Stolz« erklärt mir, meine Frau sollte erst Mitgefühl mit mir haben, dann habe ich Mitgefühl mit ihr; und mein innerer »Konfliktlösungsexperte« will die Sache freundschaftlich und effizient beilegen. Diese verschiedenen Seiten tragen in meinem Kopf einen Kampf aus, der Stolz ist sauer, weil ich nicht gehört werde, und meine Mutter rät mir, ruhig zu bleiben und meiner Frau die Hand zur Versöhnung zu reichen.
Spannung ist ein zentraler Bestandteil zahlreicher Motivationstheorien. Religiöse Schriften beschreiben die Spannung zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkel. Psychologen benennen konstruktive und destruktive Kräfte des Konflikts, allen voran Sigmund Freud, der die Spannung zwischen Eros und Thanatos beschreibt. In einem berühmten Brief an Albert Einstein schrieb er, »dass es keine Aussicht hat, die aggressiven Neigungen der Menschen abschaffen zu wollen … Übrigens handelt es sich, wie Sie selbst bemerken, nicht darum, die menschliche Aggressionsneigung völlig zu beseitigen; man kann versuchen, sie so weit abzulenken, dass sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden muss … Wenn die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluss des Destruktionstriebs ist, so liegt es nahe, gegen sie den Gegenspieler dieses Triebes, den Eros, anzurufen. Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken.« (Freud 1932).
Vierzig Jahre später unterschied Morton Deutsch (1973) zwischen konstruktivem und destruktivem Konflikt und erhellte die Kräfte, die uns zu beiderseitigem Gewinn oder Verlust bringen.
Der Psychologe Steven Pinker (2011) meint, gewalttätiger Konflikt werde durch fünf »innere Dämonen« geschürt (Sadismus, Rachegelüste, Dominanz und Gewalttätigkeit zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie), während vier »bessere Engel« (Selbstkontrolle, Einfühlungsvermögen, moralisches Denken und Vernunft) die friedliche Koexistenz fördern. In meiner Theorie der Beziehungsidentität sehe ich diesen Kampf zwischen Dämonen und Engeln als dynamisch; die Dämonen bezeichne ich als Sogkräfte des Stammesdenkens, die Gegenkraft als integrierende Dynamik, die sich durch die vier in diesem Buch beschriebenen Schritte aktivieren lässt. Pinkers Theorie liefert zwar wichtige Erkenntnisse, doch seine Engel und Teufel sind vor allem statisch. Meine Theorie baut auf seiner Erkenntnis auf, betont jedoch, dass Konfliktlösung dynamisch und pragmatisch ist; sie erfordert praktische Verfahrensweisen, die Konfliktteilnehmer anwenden können, um dauerhafte harmonische Koexistenz herzustellen.
Die fünf Sogkräfte lassen sich als innere Prozesse verstehen, die negative Gefühle aus dem Bewusstsein verbannen sollen. Sollte jemand ein Tabu brechen, das Heilige entweihen oder alte Muster wiederholen, können wir das Unerträgliche durch psychologische Verdrängung erträglich machen. Freud entwickelte eine Theorie der Schutzmechanismen und Verdrängung, um zu zeigen, wie »die Verdrängung unvereinbarer Gedanken ins Unbewusste und die Unterdrückung der damit verbundenen Emotionen diesem Gedanken erlaubt, seine krankhafte Wirkung zu entfalten«. (Greenberg und Mitchell 1983, S. 33).
Außerdem verringern die fünf Sogkräfte die Aussicht auf Zusammenarbeit. So wird zum Beispiel die Religionszugehörigkeit bei einer Hochzeit zwischen Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen kaum eine Rolle spielen; aber wenn es zur Scheidung kommt und die Eltern entscheiden müssen, in welchem Glauben die Kinder erzogen werden sollen, mutieren die Partner plötzlich zu religiösen Eiferern. Ein Angriff auf das Heilige zieht sie in den Stammeseffekt, und es fällt ihnen schwer, diesem wieder zu entkommen.
Der Dalai Lama schildert eine psychologische Beobachtung, die der buddhistische Lehrer Dharmakirti im 7. Jahrhundert machte. Demnach können zwei entgegengesetzte Zustände nicht nebeneinander existieren, ohne einander zu beeinträchtigen. Wenn einer dieser Zustände stärker ist, ist der andere schwächer. Wenn wir frieren, schwitzen wir nicht. Wenn wir glücklich sind, sind wir nicht traurig. Daraus schließt der Dalai Lama (2005, S. 146), dass »die Ausbildung der liebenden Güte im Laufe der Zeit die Kraft des Hasses in unserem Denken schwächt.« Daraus würde folgen, dass wir nicht allzu viel Energie auf die Neutralisierung der fünf Sogkräfte verwenden und uns lieber auf den Aufbau von Querverbindungen konzentrieren sollten, die konstruktive Emotionen stärken. Wenn unsere emotionalen Verletzungen jedoch tief sind, dann kann es nötig sein, sie zuerst zu heilen, ehe wir positive Beziehungen aufbauen können.
Die Vorstellung des Schwindelgefühls beschriebe ich erstmals in einem Aufsatz mit dem Titel »Vertigo: The Disorienting Effects of Strong Emotions on Negotiation«. In einem Aufsatz mit Vanessa Lu »The Psychology of a Stable Peace« (Shapiro und Liu 2005) habe ich den Gedanken auf den Kontext nach dem Ende eines Konflikts übertragen. Das Schwindelgefühl verzerrt unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit und hat viel mit der Synästhesie gemein, in der sich die Sinne vermischen. Der russische Journalist S. W. Schereschewski litt unter dieser Erscheinung und beschrieb sie dem Psychologen Alexander Luria so: »Wenn ich beim Essen lese, habe ich Probleme, das Gelesene zu verstehen – der Geschmackssinn verdrängt jeden anderen Sinn.« (Foer 2006, S. 9). Das Schwindelgefühl bewirkt einen ähnlichen Effekt: Das Konfrontationsgefühl verdrängt alle Gefühle. Wir betreten eine emotionale Welt, die uns mit heftigen Empfindungen überflutet, die wiederum unser Sehen, Hören und Fühlen im Verhältnis zum anderen beeinträchtigt.
Das Schwindelgefühl ist schwer zu bekämpfen: Je mehr wir es erleben, umso größer ist unser emotionaler Schwung, es zu erhalten, und umso größer der Widerstand gegen eine Richtungsänderung. Es ist wie ein Mensch, der zu viel Alkohol getrunken hat: Je betrunkener er wird, umso mehr will er trinken, und umso mehr widersetzt er sich der Aufforderung, aufzuhören.
Die moderne Medizin verwendet den Begriff »Schwindelgefühl« als Diagnose für verschiedene Drehwahrnehmungen. Auch William James beschäftigte sich damit, möglicherweise weil er unter Seekrankheit litt. Er stellte fest, dass von zweihundert Harvardstudenten, die auf einer sich schnell aufwickelnden Schaukel saßen, nur ein einziger keinen Schwindel empfand, während von 519 tauben Kindern die Mehrheit kaum Schwindel empfand. Das unterstrich die Bedeutung des Innenohrs beim Schwindelgefühl. Es wirft auch die Frage auf, warum in Konfliktsituationen manche Menschen anfälliger für diesen Zustand sind als andere. Ich würde vermuten, dass Menschen mit einer ausgeprägteren Ich-Identität und besseren Selbstwahrnehmung mit geringerer Wahrscheinlichkeit in diesen Zustand verfallen. Mehr zu James’ Forschung finden Sie in James 1882 und Milar 2012.
Zwei Anmerkungen zum Schwindelgefühl: Erstens ist es nicht unbedingt nur schlecht. Zwei junge Menschen, die sich Hals über Kopf ineinander verlieben, befinden sich im Sog eines positiven Schwindelgefühls, aus dem sie nichts herausreißen kann. Doch das Schwindelgefühl hat natürlich auch seine dunkle Seite. Es zog das Ehepaar im Einkaufszentrum in den Sog des Stammeseffekts. So wie man sich verlieben kann, kann man sich auch »verhassen«. Verlieben ist eine Erfahrung, die das Ego stärkt, Verhassen dagegen eine Erfahrung, die unser Selbst bedroht und Selbstschutz erforderlich macht, um Schaden von unserer Identität abzuwenden. In diesem Buch geht es um die negative Seite des Schwindelgefühls, auch wenn ich glaube, dass in einer optimalen Verhandlung auch ein positiver Sog aufkommt.
Zweitens unterscheidet sich das Schwindelgefühl vom »Amygdala-Hijack«, der »Geiselnahme der Amygdala«, die Daniel Goleman in seinem Buch EQ: Emotionale Intelligenz beschreibt. Wenn die Amygdala zur Geisel genommen wird, erobert das emotionale Gehirn das rationale Gehirn, und die Folge ist ein kurzfristiger Wutausbruch. Das Schwindelgefühl kann zwar neben diesem Phänomen existieren, doch es handelt sich eher um eine Beziehungseinstellung als um einen kurzfristigen emotionalen Ausbruch. Das Schwindelgefühl kann uns verzehren und über Tage und Monate hinweg begleiten. Der Professor und seine Frau können den Konflikt im Einkaufszentrum beilegen und weiterhin von feindseligen Gefühlen zerfressen werden; und zwei ethnopolitische Gruppen können auch noch Jahrzehnte nach Unterzeichnung eines Friedensabkommens von Hass erfüllt sein.
Wenn Sie sich im Kreis drehen und dann plötzlich stehen bleiben, dann ist das verzerrte Bild der Wirklichkeit, das Sie sehen, eine bessere Darstellung Ihres Gehirns als von der Welt um Sie herum. So auch beim Schwindelgefühl, das Sie in eine Auseinandersetzung hineinzieht: Alle fünf Sinne verstärken das Schwindelgefühl. Zum Beispiel das Hören: Der Klang der Kriegstrommel erregt die Menschen und ruft sie zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind zusammen. Im Stammesexperiment spiele ich gern schnelle Trommelmusik ein, um die Teilnehmer anzustacheln; diese sind so fixiert darauf, die Überlegenheit ihres Stammes zu verteidigen, dass sie gar nicht bemerken, welche Auswirkungen der Klang auf ihren emotionalen Rausch und ihr aggressives Verhalten hat.
Das Schwindelgefühl verändert unsere Sicht auf Beziehungen in zweierlei Weise: 1. beschäftigen wir uns mehr mit uns selbst, wir ziehen uns in uns selbst zurück, um Schutz zu finden und unsere Selbstgerechtigkeit zu bestätigen. Und 2. verdinglichen wir den anderen, das heißt, wir sehen ihn mehr als Objekt denn als Subjekt. Je stärker das Schwindelgefühl, umso weniger sind wir in der Lage, den anderen als Subjekt wahrzunehmen. Das heißt, je mehr Subjekt ich bin, umso mehr Objekt sind Sie.
Wenn sich die Konfliktparteien als Feinde sehen, blicken sie zunehmend auf ihr eigenes Leid und sind immer weniger in der Lage, die Menschlichkeit des anderen wahrzunehmen. Die Sozialpsychologen Susan Fiske und Stephen Neuberg (1990) haben ein Modell entwickelt, wie wir uns einen Eindruck von einem anderen Menschen machen: Bei unserer ersten Begegnung ordnen wir andere nach Alter, Geschlecht und Hautfarbe ein; das ist schnell und einfach. An dieser Einordnung halten wir fest, wenn wir beobachten, dass weitere Eindrücke mit dem ersten übereinstimmen, oder wenn wir keine Motivation verspüren, mehr über den anderen zu erfahren. Letzteres führt zu einer Spannung zwischen Schnelligkeit und Genauigkeit: Je genauer unsere Wahrnehmung, umso mehr Zeit und Energie erfordert sie. Wir können versuchen, unsere Kategorisierung »neu einzuzäunen«, wie Gordon Allport (1954) es ausdrückt (»Einige meiner besten Freunde sind Türken, aber …«). Fiske und Neuberg (1990) haben jedoch beobachtet, dass gegenseitige Abhängigkeit in einer konkreten Aufgabe uns hilft, die einzigartigen Eigenschaften des anderen zu würdigen. Konkret kann das zum Beispiel in der Teamarbeit oder beim Wettstreit passieren, oder wenn wir versuchen, unsere Vorgesetzte besser zu verstehen.
Weil das Schwindelgefühl unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion drastisch einschränkt, bewirkt es etwas, das ich als »Zwickmühle der Nichtanerkennung« bezeichnen würde. In einem emotional aufgeladenen Konflikt scheint es nur einen Ausweg zu geben: Die andere Seite muss unser Leid und unsere Sichtweise anerkennen. Da sich jedoch beide im Sog des Schwindelgefühls befinden und sich gegenseitig als Objekt, nicht als Subjekt wahrnehmen, ist das sehr unwahrscheinlich. Keiner erkennt den anderen an, und der einzige Ausweg scheint eine Eskalation des Konflikts.
Das Schwindelgefühl beeinträchtigt unsere Zeitwahrnehmung, die viel flexibler ist als die von der Uhr gemessene Zeit. Der Höhlenforscher Michel Siffre (1964) vermutet, dass es drei Zeitebenen gibt: die biologische Zeit (unser körperlicher Rhythmus), die wahrgenommene Zeit (unser Gefühl vom Verstreichen der Zeit) sowie die objektive Zeit (was die Uhr sagt). Im Alter von 23 Jahren verbrachte er zwei Monate in völliger Isolation in einer unterirdischen Gletscherhöhle, wo er neben geologischen Formationen auch die eigene Zeitwahrnehmung untersuchte. Zwei Monate später, am 14. September, kam wieder ans Tageslicht und dachte, es sei der 20. August. Seine Zeitwahrnehmung war verzerrt. Da er täglich mit seinen Kollegen telefonierte, konnten diese überwachen, wann er aufwachte, aß und schlief. Daraus ergab sich ein eindeutiges biologisches Muster. Die Schlussfolgerung: Unsere biologische Zeit ist relativ straff organisiert, während unsere Zeitwahrnehmung fließend und kontextabhängig ist.
Das Schwindelgefühl erzeugt nach außen gerichtete Emotionen wie Ärger, und diese beeinträchtigen unsere Zeitwahrnehmung; indem wir uns auf den anderen konzentrieren, verlieren wir unser Zeitgefühl. Nach innen gerichtete Emotionen wie Langeweile, Scham oder Niedergeschlagenheit verlangsamen dagegen unsere Zeitwahrnehmung. William James (1890) nahm an, dass unter diesen Umständen die Zeit langsamer vergeht, weil wir »unsere Aufmerksamkeit dem Verstreichen der Zeit selbst zuwenden«, so wie wir das tun, wenn wir für eine Minute die Augen schließen und das Gefühl haben, es vergehe viel mehr als eine Minute. Claudia Hammond (2012, S. 34) beobachtet: »Experimente bestätigen, dass unter Depression leidende Versuchspersonen die Zeit zweimal so lange einschätzen als Versuchspersonen, die nicht unter Depression leiden. Das heißt, für sie vergeht die Zeit nur halb so schnell.«
In einem Experiment unterzogen die Wissenschaftler die Hälfte der Teilnehmer zunächst einer Erfahrung, in der sie sich zurückgewiesen fühlte, während die andere Hälfte sich angenommen fühlte. Dann geleitete eine Wissenschaftlerin jeden der Teilnehmer in ein Nebenzimmer, stoppte mit der Stoppuhr 40 Sekunden und fragte die Versuchspersonen dann, wie viel Zeit ihrer Ansicht nach vergangen war. Diejenigen Teilnehmer, die sich wertgeschätzt fühlten, schätzten die Zeit im Durchschnitt auf 42,5 Sekunden, und diejenigen, die sich zurückgewiesen fühlten, auf 63,6 Sekunden (Twenge u. a. 2003).
Objektiv vergangene Zeit:——————————————— (20 Minuten)
Wahrgenommene Zeit:——— (5 Minuten)
Das Schwindelgefühl verzerrt unser normales Gefühl für das Verstreichen der Zeit. Zeit ist an sich asymmetrisch: Sie fließt von der Vergangenheit in die Zukunft. Das Schwindelgefühl kann diese Asymmetrie aufheben und unsere Aufmerksamkeit auf vergangene Ereignisse richten, dann in die befürchtete Zukunft springen, dann vielleicht wieder zurück, und manchmal friert sie in einem Moment des emotionalen Schmerzes ein. Mehr dazu siehe Davies 1974.
Das Schwindelgefühl scheint unsere mentale Zeit zu verwirren, wie es der Neurowissenschaftler António Damásio nennt. Ähnlich wie der Höhlenforscher Michel Siffre ist Damásio (2002, S. 66–73) der Ansicht, dass wir die Zeit auf zwei unterschiedliche Weisen wahrnehmen: Körperzeit und mentale Zeit. Die Körperzeit ist unsere biologische Uhr, die sich nach dem Wechsel von Tag und Nacht richtet; sie ist im Hypothalamus verortet. Die mentale Zeit ist »das Verstreichen der Zeit und unsere Art, die Abfolge zu organisieren«; sie beschreibt, wie sich unsere Zeiterfahrung gegenüber der objektiven Zeit verlangsamt oder beschleunigt. Die mentale Zeit ist dauernd aktiv, mit ihrer Hilfe nehmen wir zum Beispiel die Dauer einer Pause zwischen zwei Noten eines Musikstücks wahr oder erinnern uns, wie viel Zeit seit unserer letzten Begegnung mit einem Freund vergangen ist. Damásio beobachtete, dass bei Menschen mit Amnesie die Körperzeit funktioniert, die mentale Zeit jedoch nicht. Untersuchungen an Patienten mit Gehirnschäden zeigten, dass vor allem drei Hirnregionen an der Zeitwahrnehmung beteiligt sind:
(1) Der Hippocampus, mit dessen Hilfe wir neue Erinnerungen anlegen. Ist er geschädigt, leiden wir unter anterograder Amnesie: Neue Erinnerungen bleiben nicht lange erhalten.
(2) Der Temporallappen, mit dessen Hilfe wir Erinnerungen mit Zeitstempel anlegen und abrufen. Eine Schädigung des Temporallappens scheint mit retrograder Amnesie einherzugehen, einer Unfähigkeit, Erinnerungen an persönliche Ereignisse abzurufen, die mit einem bestimmten Ort, Zeitpunkt oder Kontext zusammenhängen.
(3) Das basale Vorderhirn, das eine Rolle bei der chronologischen Einordnung vergangener Ereignisse spielt. Ist es geschädigt, erinnern wir uns zwar an Ereignisse, nicht aber an deren zeitliche Abfolge.
Wenn es ums Überleben geht, können Emotionen unsere Zeitwahrnehmung verlangsamen: »Eine Minute wird dehnbar und kann sich anfühlen wir fünfzehn«, schreibt Claudia Hammond (2002, S. 25). Neue Fallschirmspringer unterschätzen beispielsweise die Dauer des Sprungs anderer und überschätzen die Dauer des eigenen Sprungs. Wenn unser Leben auf dem Spiel steht, verlangsamt sich die wahrgenommene Zeit (S. 27). Das erklärt, warum Menschen in Kriegsgebieten und unter traumatischen Lebensbedingungen das Gefühl haben, ihr Leid nehme kein Ende.
Diese Beziehung zwischen Angst und Zeitdehnung wurde in Experimenten bestätigt. In einem Experiment lud der Hirnforscher David Eagleman seine Teilnehmer in einen Freizeitpark ein und ließ sie dort von einem 50 Meter hohen Turm in ein Netz springen. Während des Sprungs, der etwa drei Sekunden dauerte, empfanden die Teilnehmer verständlicherweise große Angst. Unten angekommen, sollten sie beantworten, wie lange sie ihrer Ansicht nach gefallen waren. Dann sollten sie andere Springer beobachten und die Dauer ihres Falls schätzen. Im Durchschnitt schätzten die Teilnehmer den eigenen Fall 36 Prozent länger ein als den, den sie nur beobachtet hatten. Während des Sturzes hatten sie das Gefühl, dass die Zeit langsamer vergehe.
Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen zur Formbarkeit der Zeit. Eine gute Einführung bieten Gardner 1967; Whitrow 1972; McTaggart 1908; Dennett und Kinsbourne 1992; Johnson und Nishida 2001; Angrilli u. a. 1997.
Fast jedes Gefühl kann unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit verzerren – selbst die Liebe. Richard Wiseman (2009) verbrachte einen Tag am Londoner Bahnhof King’s Cross und sprach dort Einzelpersonen und Paare an, die sich umarmten, und fragte: »Entschuldigen Sie, hätten Sie Lust, an einem psychologischen Experiment teilzunehmen? Wie viele Sekunden sind vergangenen, seit ich die Worte ›Entschuldigen Sie‹ gesagt habe?« Dabei stellte Wiseman fest, dass die Paare, die sich umarmten, die vergangene Zeit erheblich unterschätzten.
Unsere Beziehungsidentität existiert in einem Beziehungsfeld, das unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit in einer Interaktion darstellt. Unser Ort innerhalb dieses Feldes ist immer relativ zu dem anderer Menschen. In einem Konflikt erleben wir Raum und Zeit aus unserer Warte, und der andere aus seiner. Aus unserer Sicht kann die Zeit langsam vergehen, aus der des anderen schnell, je nachdem, wo wir uns auf diesem Feld befinden.
Jedes Beziehungsfeld enthält seine zeitlichen Verwerfungen. Wenn wir in eine hineingeraten, stürzen wir in die verwirrende Raumzeit des Schwindelgefühls. Die Intensität des Sturzes hängt von der »örtlichen Stärke der emotionalen Schwerkraft ab«, wie ich es nennen würde. Heilige Säulen der Identität befinden sich in konkreten Regionen unseres Beziehungsfelds; in diesen Regionen wirkt die örtliche Schwerkraft besonders stark. Wer einer dieser Säulen zu nahe kommt, sollte mit einer heftigen emotionalen Reaktion rechnen, denn dort stürzen wir schnell in eine starke Verzerrung der Raumzeit. Aufgrund der Stärke der emotionalen Schwerkraft nehmen wir diese Konflikte als emotional besonders heftig wahr, und die mentale Zeit vergeht sehr viel schneller als die objektive.
Weniger zentrale Aspekte unserer Identität befinden sich in anderen Regionen unseres Beziehungsfelds. Dort ist die emotionale Schwerkraft weniger stark. Wenn eine dieser Regionen verzerrt wird, stürzen wir weniger schnell und heftig, und nehmen den Konflikt emotional weniger intensiv wahr. Der Unterschied zwischen mentaler und objektiver Zeit ist gering.
Wenn wir uns in einer Region mit starker emotionaler Schwerkraft befinden, spüren wir größeren Widerstand gegen Veränderungen. Wir sind in unseren Gewohnheiten gefangen und werden von der Schwerkraft nach unten gezogen. Wenn sensible Themen aufkommen und wir uns bedroht fühlen, befinden wir uns in einer Region mit starker emotionaler Schwerkraft.
Das Bild von der Erinnerung an die Zukunft basiert darauf, wie Erinnerung im Gehirn funktioniert. Zwar erfahren die meisten Menschen das Leben als eine Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, doch es gibt keinen Grund, warum das Gehirn diese Erfahrungen in chronologischer Abfolge speichern sollte. In der Tat ordnet es unsere Erfahrung auf vielfältige Weise: Manche Erinnerungen sind aufgrund ihrer emotionalen Bedeutung, traumatischen Wirkung oder bloßen Häufigkeit und Vertrautheit leichter zugänglich. Auch andere Faktoren verzerren die Chronologie der Informationsspeicherung. Ein Beispiel ist eine Form der Amnesie, bei der wir uns nicht mehr erinnern, wann, wo und wie wir bestimmte Erinnerungen erworben haben. Gedächtnisschwund kann eine Reihe von Ursachen haben, etwa die Alzheimersche Krankheit oder ein Schaden des Frontallappens. Außerdem hat Elizabeth Loftus (2005) gezeigt, dass das Gedächtnis manipulierbar ist: Falsche Informationen lassen sich einfach in unser Gedächtnis einpflanzen, was zur Folge hat, dass wir uns an ein falsches Ereignis »erinnern«, so als hätte es wirklich stattgefunden.
Daher können wir uns einer Sache sicher sein, die noch gar nicht eingetreten ist und vielleicht nie eintreten wird. Diese Erinnerung an die Zukunft ist vielleicht noch trügerischer als die Erinnerung an die Vergangenheit, da sie eine Existenzbedrohung heraufbeschwören und uns zu vorbeugenden Maßnahmen veranlassen kann, die echte Konflikte schüren. Die Erinnerung an ein künftiges Ereignis macht sein Eintreten also wahrscheinlicher. Dieses Ereignis wird bereits als Tatsache wahrgenommen. In diesem Sinne lässt die Vergangenheit vielleicht weniger Rückschlüsse auf künftige Konfliktmuster zu als unsere Erinnerung an die Zukunft: Wenn wir uns unmittelbar bedroht sehen, motiviert die Erinnerung an eine befürchtete Zukunft zum Handeln.
So wie ein Stromstoß unser Bewusstsein ändert, ändert ein Stoß in unserer Beziehung unser Bewusstsein für diese Beziehung. Das ist gut so, denn das Schwindelgefühl sperrt uns in ein statisches emotionales System: Wir stürzen immer tiefer in einen Konflikt und sehen keinen Ausweg mehr. Ein Stoß befördert uns auf eine höhere Ebene, auf der wir die Wahrnehmung unserer eigenen Subjektivität erweitern. Es ist im Grunde dieselbe Methode, die Kurt Lewin (1948) als wesentliches Instrument der Konfliktlösung beschrieb: das »Auftauen« eines schwierigen Systems. Führungstheoretiker Ronnie Heifetz (1994) und Verhandlungsexperte William Ury (1991) schlagen eine andere Taktik vor, um auf diese Metaebene zu gelangen: Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einem Balkon und beobachten sich selbst in einem Konflikt.
Das Zitat stammt vom damaligen Nahost-Beauftragten Dennis Ross (2002). Vollständig lautet es: «In einer Situation wie dieser, in der ein Zyklus ein Eigenleben entwickelt, geht es mir immer darum, den Leuten einen Grund zu geben, einen Schritt zurückzutreten und nachzudenken, sodass die Lage nicht außer Kontrolle gerät. Das ist damals passiert, und deshalb kamen wir auf den Gedanken, sie in die Vereinigten Staaten zu bringen.«
Um uns aus dem Schwindelgefühl zu befreien, müssen wir unsere subjektiven Reaktionen im Konflikt umfassend wahrnehmen und ihn gleichzeitig von außen, aus einer Meta-Perspektive betrachten. Für diesen Spagat benötigen wir in der Regel ein sicheres Umfeld, in dem wir der Frage nachgehen können, was uns im Schwindelgefühl gefangen hält und wie es sich anfühlen würde, wenn wir es überwinden würden. Siehe auch Pizer 1998. Ein sicheres Umfeld ist nicht nur ein Ort, an dem wir vergiftete Emotionen ablegen können (Bion 1967), sondern es schafft auch die Grundlage für eine vertrauensvolle Beziehung. Deshalb ist es wichtig, ein Umfeld zu schaffen, das allen Beteiligten Sicherheit bietet und von allen als sinnvoll angesehen wird.
Unwillkürlich rief die Therapeutin aus: »Aber wer würde Sie denn lieben, wenn Sie sich so verhalten?« Entsetzt über das, was sie gerade gesagt hatte, fuhr sie fort: »Aber da sprechen ja nicht Sie, es ist etwas anderes. Rache. Die Rache spricht mit Ihrer Stimme. Sie ist wie ein Tier, das auf Ihrer Schulter sitzt, und das ihn dauernd angreifen muss, auch wenn es Sie dabei kaputt macht.« In diesem Moment sah die Frau »den Teufelskreis, in dem sie ihrem Mann die Schuld für ihr eigenes unmögliches Verhalten geben musste, nur um nicht den Verstand zu verlieren, während das Rache-Tier seinen Sieg feierte.« (Zander und Zander 2000, S. 189).
Freud (1920, S. 16) unterstrich die Macht des Wiederholungszwangs in »Personen, bei denen jede menschliche Beziehung den gleichen Ausgang nimmt: Wohltäter, die von jedem ihrer Schützlinge nach einiger Zeit im Groll verlassen werden, so verschieden diese sonst auch sein mögen, denen also bestimmt scheint, alle Bitterkeit des Undankes auszukosten; Männer, bei denen jede Freundschaft den Ausgang nimmt, dass der Freund sie verrät; andere, die es unbestimmt oft in ihrem Leben wiederholen, eine andere Person zur großen Autorität für sich oder auch für die Öffentlichkeit zu erheben, und diese Autorität dann nach abgemessener Zeit selbst stürzen, um sie durch eine neue zu ersetzen; Liebende, bei denen jedes zärtliche Verhältnis zum Weibe dieselben Phasen durchmacht und zum gleichen Ende führt usw.«
Nach Ansicht von Freud (1920) stand hinter dem Zwang, dysfunktionales Verhalten zu wiederholen, das Bedürfnis nach Triebabfuhr. Das erinnert an Jacob Morenos Konzept vom »Aktionshunger« eines psychischen kranken Menschen, der sich im Psychodrama gezwungen fühlt, eine bestimmte Szene aus der Vergangenheit immer wieder nachzuspielen. (Moreno und Moreno 1946).
(1) Gewohnheit: Stellen Sie sich vor, jedes Mal wenn ein Mann seine Frau kritisiert, antwortet diese mit einer kritischen Gegenbemerkung. Das Paar macht sich weiter keine Gedanken über dieses Muster, es passiert ganz einfach. Eine Gewohnheit ist nicht mehr als eine Abfolge von Reiz und Reaktion. Diese Gewohnheit könnte ein Gefühl der Feindseligkeit zwischen Mann und Frau hervorrufen, doch der Gewohnheit ist das egal. Ihr geht es nicht darum, uns zu gefallen, zu belohnen oder zu bestrafen. Sie verbindet lediglich Reiz (Kritik) und Reaktion (Gegenkritik). Je öfter dieses Muster wiederholt wird, umso mehr verfestigt es sich. Wir weigern uns, bestimmte Verhaltensweisen, Gedanken oder Gefühle zu verändern, einfach weil wir das »schon immer« so gemacht haben.
Eine Gewohnheit kann nützlich oder schädlich sein. Zähneputzen ist eine gute Gewohnheit, Rauchen eine schlechte. Die Summe unserer Gewohnheiten bindet uns an das Leben, das wir führen, und sie hält die ganze Gesellschaft zusammen. William James (1917, S. 142) beobachtete, dass die Gewohnheit »der konservativste aller Akteure« der Gesellschaft ist und uns »im Rahmen der Ordnung hält.« Die Gewohnheit »schütze die reichen Kinder vor den neidischen Aufständen der Armen. Sie allein ist dafür verantwortlich, dass die härtesten und widrigsten Lebensformen nicht aufgegeben werden: Sie hält Fischer und Matrosen im Wintersturm an Deck, sie sperrt den Bergmann in die Finsternis, sie nagelt den Bauern in den Monaten des Schnees in Hütte und Hof fest, und sie schützt uns vor dem Einmarsch der Wüsten- und Polbewohner.«
(2) Nutzen. Der Nutzen eines Verhaltensmusters ist ein weiterer Grund, warum wir uns weigern, es aufzugeben. Warum sollte meine Großmutter mit dem Rauchen aufhören, wenn sie damit ihre Angst vor dem Tod beschwichtigt? Warum sollte ein Diktator damit aufhören, Menschen zu töten, wenn sein Verhalten seine politische Position festigt? Nutzen heißt, dass wir aus der Wiederholung von Verhaltensweisen, Gedanken oder Gefühlen einen greifbaren persönlichen Vorteil haben. Es mag triftige moralische oder gesundheitliche Gründe geben, diese Verhaltensweisen einzustellen, doch jemanden, der Nützlichkeitserwägungen in den Vordergrund stellt, ficht das nicht an, denn er denkt nur in den Begriffen einer amoralischen Kosten-Nutzen-Analyse. Kurzsichtige Nutzenrechner – und das sind in emotional aufgeladenen Konflikten viele von uns – machen sich nicht einmal die Mühe, Kosten und Nutzen einer aktuellen Verhaltensweise gegen die einer anderen, möglicherweise konstruktiveren Verhaltensweise abzuwägen. Wir fragen uns gar nicht: »Sollte ich weiter streiten oder lieber verhandeln?«. Sondern »Nutzt mir der Streit mehr, als er mich kostet?« Wenn ja, dann streiten wir eben weiter.
Psychologen sprechen von einer »funktionellen Analyse«, um diese Suche nach dem persönlichen Nutzen der wiederholten Verhaltens-, Denk- und Fühlmuster zu beschreiben. Diese Analyse bewertet den persönlichen Nutzen, den wir aus scheinbar schädlichen Verhaltensweisen ziehen. Warum streitet sich ein Ehepaar tagaus tagein über Banalitäten? Vielleicht wurden die beiden zufällig von Amors Pfeil zusammengebracht, aber vielleicht hat der Konflikt ja auch eine tiefere Funktion: Jedes Mal, wenn sie streiten, lassen sie Dampf ab und fühlen sich einander nachher wieder näher. Für einige Paare scheint heftiger Streit einen höheren Nutzen zu haben.
(3) Identifizierung. Unser größter Widerstand, der zugleich den Wiederholungszwang nährt, richtet sich gegen den Druck, uns selbst zu verändern. Der Wiederholungszwang kann von Gewohnheit oder Nutzen verstärkt werden, doch sein Kern ist unsere Identifizierung mit einer bestimmten Art der Interaktion mit anderen. Eine Bedrohung unserer Identität bringt uns dazu, ein Verhaltensmuster zu wiederholen, das uns in der Vergangenheit beschützt hat. In einer von Emotionen getriebenen Geschichte wiederholen wir dieses Muster wieder und wieder, und in der Regel steckt dahinter der unbewusste Versuch, unsere Identität vor Verletzung oder Vernichtung zu bewahren, ganz unabhängig davon, wie schrecklich sich dieses Verhalten auf unser reales Überleben auswirkt.
Siehe Russell 2006. Siehe auch Denise Shull (2003), die den Wiederholungszwang neurobiologisch nachweist. Sie stellt die Behauptung auf, dass Kindheitserfahrungen auf das Gehirn – zum Beispiel auf die Position von Synapsen oder das prozedurale Gedächtnis – wirken und damit Filter für künftiges Lernen, Wahrnehmen und Verhalten bilden. Wenn wir Verhaltensweisen wiederholen, dann vielleicht aufgrund des daraus resultierenden Verhältnisses zwischen Gehirnmechanismen und -strukturen, etwa der Amygdala, Adrenalin, Dopamin und Oxytocin.
Siehe LaPlanche und Pontalis, 1973, S. 78: »Auf der Ebene der konkreten Psychopathologie ist der Wiederholungszwang ein unkontrollierbarer Prozess, der im Unbewussten beginnt. Er bewirkt, dass sich das Subjekt gezielt in leidvolle Situationen begibt und damit alte Erfahrungen wiederholt, ohne sich des Musters bewusst zu sein; im Gegenteil, es hat den überzeugenden Eindruck, dass die Situation ganz von aktuellen Umständen bestimmt wird.«
Man beachte den Unterschied zwischen unbesonnenem und zwanghaftem Verhalten. Unbesonnenes Verhalten dient der kurzfristigen Belohnung und bezieht mögliche Folgen nicht ein. Unbesonnene Esser machen sich nicht klar, dass sie viel Kuchen essen, bis sie ihn aufgegessen haben. Unbesonnenes Verhalten ist ich-syntonisch: Wir verhalten uns so, weil wir uns so fühlen. Zwanghaftes Verhalten dient dagegen dem Abbau von Belastungen und Leid, etwa wenn wir nicht zur Feier eines Freundes eingeladen werden, uns einsam fühlen, und den Zwang verspüren, ihn anzurufen und anzuschreien. Der Zwang ist ich-dystonisch: Wir mögen das Gefühl nicht und wollen es loswerden.
In unserem Gehirn befindet sich etwas, das Hirnforscher als »autoassoziative neuronale Netzwerke« bezeichnen – Erinnerungsschablonen, die uns helfen, selbst aus kleinen Informationsschnipseln ein ganzes Bild herzustellen. Nehmen wir an, ich streite mit meinem Nachbarn über die Grundstücksgrenze. Wir setzen uns zusammen, um darüber zu diskutieren, und dabei bedient sich mein Gehirn unbewusst bei einer uralten Schablone meiner Beziehung zu einem jähzornigen und arroganten Mitschüler. Diese Schablone – ein autoassoziatives neuronales Netzwerk – bewirkt zweierlei: Erstens fülle ich alle Leerstellen über meinen Nachbarn mit Rückgriff auf diese uralte Vorlage auf. Egal ob mein Nachbar jähzornig ist oder nicht, unterstelle ich ihm bei jedem seiner Worte und Handlungen sofort negative Absichten und Arroganz. Wenn er sagt: »Ich freue mich, dass wir uns treffen können«, dann denke ich sofort, »Das sagt er doch nur, um mich zu manipulieren.« Und zweitens – und hier wird es wirklich schräg – ignoriere ich alle Abweichungen von meiner Schablone als »Rauschen«. Sobald das autoassoziative neuronale Netzwerk eingeschaltet ist, bin ich nicht mehr in der Lage, Abweichungen von meiner Schablone zu erkennen. Selbst wenn mein Nachbar meinen Forderungen nachkommt und meine Beschwerden nachempfinden kann, bin ich blind dafür. Ich sehe nur seine Arroganz, und wenn ich ihm unverschämt antworte, reagiert er seinerseits unverschämt. Das heißt, ich mache mir den Feind, den ich von Anfang an in ihm sehe.
In Jenseits des Lustprinzips schrieb Freud, der Wiederholungszwang rühre möglicherweise nicht aus dem Lebens-, sondern dem Todesinstinkt, einem »dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes«. Der Zweck der Wiederholung wäre demnach, den Todesinstinkt zu beherrschen.
Das passt zu Paul Russells (1998, S. 46) Theorie des Wiederholungszwangs. Die Reaktion auf die emotionale Verletzung (Trauma) ist der Wiederholungszwang. Ein Trauma stellt uns vor zwei Möglichkeiten: Wir können 1. wachsen und unsere verwundeten Emotionen beherrschen, oder 2. uns weigern, neue Formen des Seins zu erlernen, und im Wiederholungszwang gefangen bleiben. Der Wiederholungszwang »stellt genau das Beziehungsproblem her, das noch nicht gelöst wurde« – etwa Gefühle des Verlassenwerdens, der Unfähigkeit, der Wertlosigkeit.
Die Überwindung des Wiederholungszwangs erfordert eine schwierige innere Verhandlung. Paul Russell (1998, S. 111) schreibt: »Das Einzige, was zur Überwindung des Wiederholungszwangs hilft, ist eine Verhandlung, und zwar eine Verhandlung darüber, ob diesmal wieder alles genau wie immer ablaufen soll.« Mit anderen Worten: Wollen Sie die Vergangenheit wiederholen und den üblichen Preis dafür bezahlen, oder wollen Sie sich um eine wünschenswertere Zukunft bemühen? Die Antwort auf diese Frage verlangt eine schwierige innere Verhandlung.
Russell (1998, S. 20) schreibt: »Der Wiederholungszwang ist eine Einladung zur Krise. Die Wiederholung kann sich allein einstellen, die Krise nicht. Mein Modell hat große Ähnlichkeit zur Albert Ellis’ ABC-Modell der kognitiven Verhaltenstherapie, das Patienten den Umgang mit emotionalem Leid erleichtert, indem sie lernen, Auslöser, Verhalten und Auswirkungen zu erkennen. Ein entscheidender Unterschied ist, dass sich Ellis’ Modell auf konkrete Verhaltensweisen bezieht, während es in meinem Modell um Konfliktzyklen geht!
Eine entscheidende Strategie bei der Überwindung des Wiederholungszwangs ist, den Funken einzufangen, ehe er Flammen schlägt: sich der Verhaltensabsichten klar zu werden, die dem Wiederholungszwang vorhergehen. Es gibt einen kurzen Zeitraum, in dem Sie verhindern können, dass ein Verhaltensmuster durchschlägt, und somit eine unbewusste Wiederholung durchbrechen. In einem bekannten Experiment bat der Hirnforscher Benjamin Libet seine Versuchsteilnehmer, auf eine Uhr zu blicken und ihre Hand zu bewegen, wann immer sie wollten. Dann sollten sie den präzisen Moment festhalten, in dem sie beschlossen, die Hand zu bewegen. Die Teilnehmer waren an ein EEG angeschlossen, das die elektrischen Ströme in ihrem Gehirn maß; Libet beobachtete, dass das EEG schon eine halbe Sekunde vor der eigentlichen Entscheidung der Versuchspersonen Ausschläge anzeigte.
Es ist ein starkes Ich nötig, um die Verlockung des Zwangs zu erkennen, ohne ihr nachzugeben. Das widersprüchliche Ziel ist, sich zu verändern, und dabei derselbe zu bleiben, dem Zwang zu entkommen, aber die Kernidentität beizubehalten. Russell (1998, S. 12) erklärt die Bedeutung der Ich-Stärke, um diesen Widerspruch auszuhalten.
Ronald Fisher beschreibt eine ähnliche Erfahrung, die er bei der Vermittlung eines Gesprächs im Zypernkonflikt machte. Türkische Zyprioten widersetzten sich den Friedensgesprächen aus Furcht, traumatische Ereignisse der Vergangenheit könnten sich wiederholen. Fisher und sein Kollege Herbert Kelman vermittelten in einer Diskussion, in der jede der beiden Seiten die traumatische Geschichte der anderen anerkannte und versicherte, dass sich dieses Verhalten nicht wiederholen werde. Dann gingen die Teilnehmer zur Erörterung von gemeinschaftlichen Projekten über (Fisher 2010).
Radcliffe-Brown (1939) beschreibt das Tabu: »In den Sprachen Polynesiens bedeutet das Wort einfach ›verbieten‹ und wird für alle möglichen Arten des Verbots verwendet. Eine Vorschrift der Etikette, die Anordnung eines Häuptlings, eine Anweisung an die Kinder, die Sachen der Älteren in Ruhe zu lassen, all das wird vom Wort Tabu erfasst.«
R. D. Laing (1969, S. 77) geht auf die sozialen Zwickmühlen des Tabus ein, auch wenn er das Wort nicht ausdrücklich verwendet. Er beschreibt, wie in Familien bestimmte Dinge tabu sind, und dass es selbst tabu ist, über das Tabu zu sprechen, weshalb die Dynamik der Familie nicht thematisiert werden kann: »Die Familie weigert sich systematisch anzuerkennen, was vor sich geht, und wendet komplexe Kniffe an, um alle im Dunkeln zu lassen – und im Dunkeln sind sie im Dunkeln. Wir wüssten besser, was los ist, wenn es uns nicht verboten wäre, und wenn es uns nicht verboten wäre zu wissen, dass es uns verboten ist.«
Tabus werden gesellschaftlich konstruiert und durch den Kontext definiert. Mit anderen Worten kann die Grenze zwischen Tabu und Nicht-Tabu je nach Beziehung und Streitfrage anders verlaufen. Fiske und Tetlock identifizieren vier Arten der Beziehung (Teilen, Markt, Hierarchie und Gleichheit) und stellen die Hypothese auf, dass »Menschen einen Austausch nur insoweit als natürlich und verständlich akzeptieren, wie er im Rahmen gesellschaftlich sinnvoller Beziehungen und Transaktionen stattfindet, wie sie die jeweilige Beziehungsstruktur definiert«. Darüber hinaus wird ein Austausch als tabu empfunden. Als Beispiel führen sie einen Liebhaber an, der sagt: »Ich will mehr Küsse. Ich umarme dich doppelt so oft, wenn du mir doppelt so viele Küsse gibst.« Die Bedingungen dieses Austauschs scheinen falsch, denn hier wird eine Beziehung, die auf Teilen basiert, so behandelt, als handele es sich um eine Marktbeziehung. Die Normen dessen, was tabu ist, sind je nach Art der Beziehung andere.
Fiske und Tetlock legen dar, dass Konflikte zwischen unterschiedlichen Typen – zum Beispiel eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft und gegenüber der Autorität – als besonders belastend empfunden werden: »Soll ich meine sterbende Mutter besuchen, wenn ich dazu die Truppe verlassen muss und meiner Einheit Unehre mache? Soll ich der Polizei verraten, dass meine Mutter eine Spionin ist und in Kriegszeiten für den Feind arbeitet? Soll ich eine Todsünde begehen, um meinen besten Freund zu schützen, der das bei einer früheren Gelegenheit auch für mich getan hat?« Die von Fiske und Tetlock (1997) präsentierten Zwickmühlen sind emotional provokant, da sie etwas herausfordern, was ich als »das grundlegende Tabu des Stammes« bezeichne: Sie verlangen den Verrat an der eigenen Identitätsgruppe. Sie zwingen uns, unsere Loyalitäten zu definieren, und zu klären, welche Opfer wir für sie zu bringen bereit sind. Sie verlangen Entscheidungen zu dem, was uns am heiligsten ist.
Die Sozialpsychologen Lee Ross und Richard Nisbett (2011, S. 9) unterstreichen eine Erkenntnis von Kurt Lewin, einem der Begründer der Sozialpsychologie: »Bei dem Versuch, Gewohnheiten von Menschen zu ändern, ist der soziale Druck der Peergruppe das größte Hindernis und gleichzeitig, wenn er genutzt werden kann, die stärkste Motivationskraft.«
Tabus sind bewahrende gesellschaftliche Mechanismen. Niemand will seiner Gemeinschaft entfremdet oder gar von ihr geschändet werden, weshalb Tabus die Grenzen des gesellschaftlich annehmbaren Verhaltens festlegen. Wer das Tabu überschreitet, riskiert Entfremdung und Ausschluss. Doch nicht immer bewahren Tabus Werte, die dem Gemeinwohl dienen. Während eines Besuchs im amerikanischen Außenministerium am 7. Oktober 2009 lernte ich Botschafter Luis deBaca kennen, der darüber sprach, wie Tabus oftmals den eigentlichen Sinn unserer Kommunikation verschleiern und uns von der Wahrheit entfernen. So erwähnte er zum Beispiel, dass wir von »sexueller Gewalt« sprechen, wenn wir »Vergewaltigung« meinen. Er sprach sich dafür aus, Tabus in der Sprache entgegenzutreten.
Psychoanalytiker R. D. Laing (1970, S. 1) beschreibt Tabus als »Knoten«, in die wir uns begeben: »Sie spielen ein Spiel. Sie spielen, dass sie nicht spielen. Wenn ich ihnen zeige, dass ich sehe, dass sie spielen, dann verstoße ich gegen die Regeln und sie bestrafen mich. Ich muss ihr Spiel mitspielen und so tun, als würde ich das Spiel nicht durchschauen.« Es ist sinnvoll, die emotionalen Knoten aufzudröseln, die destruktive Konflikte fördern.
Der nordkoreanische Führer Kim Jong Un lernte Dennis Rodman während einer Basketballvorführung in Nordkorea kennen; die beiden schlossen schnell Freundschaft, und Rodman nannte Kim später einen »Freund fürs Leben«. Siehe Silverman 2013. Viele Amerikaner zweifelten darauf Rodmans Verstand an, weil er Freundschaft mit einem verrückten Tyrannen schloss, und selbst CNN schloss sich in einem Artikel an. Das alles bestätigt meine These: Tabus legen unserem Denken Grenzen auf und geben vor, welche Antworten wir in einem Konflikt für möglich halten. Siehe auch Blake 2013.
In dem genannten Artikel erklärt Bojan Marceta, ein 28-jähriger Kameramann, der das Geld für die Statue gesammelt hatte: »Niemand aus den Kriegen der Neunziger oder dem ehemaligen Jugoslawien verdient ein Denkmal, denn die Führer dieser Zeit haben uns nur daran gehindert, uns zu entwickeln … Meine Generation findet keine Vorbilder, also müssen wir anderswo suchen. Hollywood kann eine Antwort geben.«
Die Vorstellung, dass man sich nach dem Kontakt mit dem Tabu reinigt, geht mindestens auf Kapitän Cooks Reise in den Pazifik zurück. Er schrieb: »Bei einem Tabubruch ist es leicht, sich etwa durch Ehrerbietung gegenüber einer großen Persönlichkeit davon reinzuwaschen.« Tatsächlich haben viele Religionen Reinigungsrituale, etwa die katholische Beichte, die eine Reinwaschung von den Sünden bewirkt. Für psychologische Erkenntnisse zur Reinwaschung siehe Tetlock u. a. 2000.
Die Forschung des Psychologen Daniel Gilbert (2005) zur affektiven Vorhersage lässt vermuten, dass wir kein besonders glückliches Händchen haben, wenn es darum geht, unser künftiges Glück vorherzusehen. Sie können die Auswirkungen eines Tabubruchs besser einschätzen, wenn Sie zum Beispiel einen Freund oder Kollegen um seine Meinung bitten.
Nach Boulding reduziert sich der Unterschied zwischen Krieg und Frieden auf Tabus. In Friedenszeiten könnten die Vereinigten Staaten einen Verbündeten bombardieren, mit dem sie sich im Streit befinden, doch sie unterlassen es, weil es tabu ist: »Was ist der wesentliche Unterschied zwischen einer Partei, die sich im Krieg befindet, und einer, die sich nicht im Krieg befindet? Die Antwort auf diese Frage scheint in der Natur des Tabusystems der Beteiligten zu liegen … Aus Sicht der im Krieg befindlichen Partei ist der Übergang vom Frieden zum Krieg vor allem eine Verlegung der Tabugrenze. Eine ganze Reihe von Handlungen sind in Friedenszeiten tabu, aber in Kriegszeiten nicht.«
Außerdem ist nach Ansicht von Boulding das Selbstbild jeder Gruppe von äußerster Bedeutung: »Auch wenn der Automobilkonzern Ford noch so sehr unter dem Wettbewerb mit General Motors leidet, käme es den Managern von Ford nie in den Sinn, die Manager von General Motors zu töten und deren Fabrik in die Luft zu sprengen. Vermutlich würden sie diesen Gedanken nicht einmal in einer Aufsichtsratssitzung aussprechen, weil das Selbstbild von Ford dieses Verhalten nicht zulassen würde, selbst wenn es theoretisch möglich wäre.« Allerdings schiebt er eine Einschränkung nach: »Selbstbilder können sich natürlich unter Belastung verändern, genau wie unter Mangel an Belastung.« (Ebd., S. 15 f.).
Sollte der Präsident der Vereinigten Staaten in wichtigen politischen Fragen nicht mit dem Papst übereinstimmen, dann machen es Tabus unvorstellbar, dass die Vereinigten Staaten den Vatikan bombardieren. Bedauerlicherweise können tragische Gewalttaten, etwa der Massenmord von Kindern in einer Schule oder der Einsatz von Chemiewaffen im Krieg, die Tabugrenze in eine negative Richtung verschieben und dafür sorgen, dass für labilere Persönlichkeiten das Tabu neutralisiert wird und bestimmte Verhaltensweisen in den Bereich des Möglichen rücken. Ein Gegenmittel ist die Wiederherstellung konstruktiver Tabugrenzen (»Wir werden dieses unmenschliche Verhalten nicht dulden!«), die Durchsetzung dieser Grenzen sowie ihre Bestätigung durch Türhüter in der Gemeinschaft der Täter. Erkenntnisse aus der Anthropologie zeigen, wie wichtig Tabus gegen Gewalt beim Aufbau friedlicher Gesellschaften sind. Siehe Fry 2006.
Tabus sind auch Instrumente der Identitätspolitik. Wenn die Präsidentin eines Landes die Kritik an einem Militäreinsatz als »unpatriotisch« geißelt, wird das Tabu aktiv. Natürlich können Protestgruppen eine Gegenkampagne starten und den Militäreinsatz ihrerseits als »unpatriotisch« bezeichnen. Nun beginnt ein Konflikt darüber was tabu ist: der Militäreinsatz oder die Kritik daran.
Siehe Report on the Middle East Summit, World Economic Forum 2008, Genf. Eine kurze Zusammenfassung meiner Veranstaltung (»Building Peace, Breaking Taboos«) finden Sie unter http://www.internationalnegotiation.org/89-2/
Nach Ansicht von Mircea Eliade hat das Heilige ganz besondere Bedeutung, da es die gesamte »Wirklichkeit« trägt: Das Heilige ist die Quelle unserer Werte. Angesichts eines moralischen Dilemmas befragen wir unsere heiligen Werte, um einen Ausweg zu finden. Ein Anschlag auf etwas, das uns heilig ist, bedroht die Grundlagen unserer Wirklichkeit.
Der Anschlag auf das Heilige ist der schwerste Angriff auf die Autonomie. So erklärt beispielsweise der Psychiater Robert Jay Lifton (2001) die anti-amerikanische Stimmung, die nach Beginn des Afghanistankriegs im Nahen Osten aufkam, mit der Stationierung amerikanischer Soldaten an heiligen Stätten, darunter auch in Saudi-Arabien.
Tetlock u. a. (2000, S. 853) definiert einen heiligen Wert als »jeden Wert, dem eine moralische Gemeinschaft implizit oder explizit ewige oder transzendente Bedeutung beimisst, und der Vergleiche, Kompromisse oder Vermischung mit profanen Werten verbietet«. Analog zu meiner Theorie hält Tetlock fest, dass heilige Werte unendlich sind und daher weder getauscht noch eingeschränkt werden können.
Das Heilige hat einmalige Auswirkungen auf unsere Erfahrung des Lebens. Rudolf Otto (1917) beschreibt die spirituelle Erfahrung der Verehrung des Heiligen als »Kreaturgefühl« und meint damit eine nicht rationale, nicht sinnliche Erfahrung, deren Gegenstand sich außerhalb von uns selbst befindet. Dieses Gefühl setzt sich zusammen aus einem mysterium fascinans, einer Faszination, die zum Heiligen hinzieht, und einem mysterium tremendum, einer großen Furcht vor der Macht des Heiligen.
Was ist die Funktion des Heiligen? Darauf gibt es verschiedene mögliche Antworten. Aus psychologischer Sicht könnte es so etwas wie ein Grundbedürfnis nach der Erfahrung transzendenter Emotionen geben. Das Heilige spricht diese Emotionen an und erlaubt uns, die Grenzen unserer Alltagsexistenz zu überschreiten und unsere bescheidene Existenz im Verhältnis zu einer höheren Macht, einer zutiefst signifikanten Beziehung oder was immer wir als Göttlich ansehen zu begreifen. Ähnlich vermittelt das Heilige den Gläubigen einen unbewussten Glauben an das Allmächtige; ein subjektives und intersubjektives Gefühl der Identität, Kontinuität und Kohärenz sowie Sicherheit und Geborgenheit in Zeiten der Sorge. Siehe LaMothe 1998.
Aus soziologischer Sicht könnte das Heilige einem unerklärlichen und elektrisierenden Gemeinschaftsgefühl entspringen, das Durkheim als »kollektive Efferveszenz« bezeichnet.
Aus theologischer Sicht erklärte Paul Tillich, dass das Heilige die tief sitzenden Ängste der Menschen vor Verlust und Auslöschung beruhige, was keiner Therapie gelinge.
Durkheim (1912, S. 52) schrieb: »Unter heiligen Dingen darf man nicht einfach nur jene individuellen Wesen verstehen, die Götter oder Geister genannt werden. Ein Fels, ein Baum, eine Quelle, ein Kiesel, ein Stück Holz, ein Haus, mit einem Wort, jedes Ding kann ein heiliges Wesen sein«. Seiner Ansicht nach erhielt das Heilige seine Macht nicht aus einem heiligen Wesen, sondern aus der gesellschaftlichen Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen.
Alles kann heilig sein – es hängt nur davon ab, was die Gläubigen glauben. Diese Erkenntnis haben sich Konfliktforscher zu Herzen genommen und auf politische Konflikte übertragen, die ansonsten rational scheinen. Siehe zum Beispiel Dehghanis (2009) Analyse der Verhandlungen zum iranischen Atomprogramm.
Siehe Iran Data Portal (2015) der Princeton University. http://irandataportal.syr.edu/fatwa-against-salman-rushdie. Deutsche Übersetzung: http://www.deutschlandfunk
kultur.de/empoerung-ueber-satanische-verse.932.de.html?dram:article_id=130352
Ein Journalist der New York Times fragte Rushdie, ob er einen Rat für andere Autoren in einer ähnlichen Situation habe. Er antwortete: »Geh keinen Kompromiss ein. Es geht darum, dass man weiß, wer man ist und warum man tut, was man tut.« Siehe »Life During Fatwa: Hiding in a World Newly Broken«, New York Times, 18. September 2002. Das Interview führte Charles McGrath.
Wenn eine Seite einen Konflikt mit heiliger Bedeutung auflädt, dann ist es wahrscheinlich, dass dies auch die andere Seite tut. Als Terroristen den Anschlag auf das World Trade Center in der Sprache des Heiligen rechtfertigten und Osama bin Laden den Vereinigten Staaten einen Heiligen Krieg erklärte, reagierten Politiker in den Vereinigten Staaten, indem sie von der Verteidigung heiliger Werte wie Leben, Freiheit und amerikanischen Institutionen sprachen. (Mahoney u. a. 2002).
Baron und Spranca sind mit die ersten Wissenschaftler, die sich mit der Rolle heiliger Werte bei der Entscheidungsfindung beschäftigt haben. Sie bezeichnen heilige Werte als »geschützte Werte« und beschreiben sie als resistent gegen Tausch mit wirtschaftlichen Werten. Das liegt an fünf Eigenschaften: Sie sind nicht quantitativ erfassbar, hängen von Akteuren ab, gehen mit moralischen Verpflichtungen einher, ein Tausch provoziert Ärger und die Notwendigkeit eines Tauschs wird durch Wunschdenken geleugnet. Die erstgenannte Eigenschaft entspricht meiner in diesem Kapitel festgehaltenen Beobachtung, dass selbst kleine Verletzungen des Heiligen große emotionale Wirkung nach sich ziehen können. Siehe Baron und Spranca (1997) sowie Scott Atran und Robert Axelrod (2008), die als Beleg für diesen Punkt anführen, dass Armeen oft viele Soldaten riskieren, um wenige zu retten, weil sie dies als ihre heilige Pflicht ansehen.
Philip Tetlock hat gezeigt, dass ein Konflikt um heilige Werte häufiger zu kompromisslosen Verhandlungen führt, die in Sackgassen enden. Tetlock (2000) liefert empirische Beweise dafür, dass die Bedrohung heiliger Werte moralische Entrüstung und kognitive Starre bewirkt. Das macht eine kompromisslose Verhandlungsführung wahrscheinlicher. Indem man den Konflikt so wendet, dass er nicht um heilige Werte geführt wird, sondern um »Kosten und Nutzen«, könnte man ihn verändern oder zumindest einen emotionsgeladenen heiligen Tausch verkleiden.
Warum widersetzt sich das Heilige einer Lösung? Unter anderem, weil man in einem Konflikt um das Heilige keine herkömmliche Kosten-Nutzen-Analyse durchführen kann, um die Befriedigung beider Seiten zu ermitteln. Befriedigung wird in Abhängigkeit von der Zeit gemessen, aber in der Welt des Heiligen ist die Zeit unendlich. Fragen nach dem kurz- oder langfristigen Nutzen sind sinnlos – es gibt nur einen grenzenlosen Nutzen in der Ewigkeit. Weil das Heilige endlos von grenzenlosem Wert ist, provoziert ein Angriff auf das Heilige unnachgiebigen und scheinbar unverhältnismäßigen Widerstand.
Ein gutes Beispiel ist die Frage, ob die Evolutionstheorie in der Schule unterrichtet werden sollte. Gegner halten an einem Ursprungsmythos fest, nach dem die Welt von einer allmächtigen Gottheit erschaffen wurde; eine andere Erzählung bedroht diese Kernidentität. Befürworter gründen ihren Ursprungsmythos in der Vorstellung, dass der Mensch nicht in seiner jetzigen Form von Gott erschaffen wurde, sondern sich durch Vererbung und Auslese entwickelte.
Wenn sich ein Unterhändler auf das Heilige beruft, sehen Bazerman, Tenbrunsel und Wade-Benzoni (2008) drei mögliche Szenarien: (1) Das Thema ist wirklich heilig. Hier sehen die Autoren keine Möglichkeit zu Diskussion oder Kompromiss. Ich argumentiere jedoch, dass diese Themen sehr wohl verhandelbar sind, etwa mithilfe einer Hermeneutik, die die Vorstellung des Heiligen neu auslegt. Oder mithilfe der Sprache des Heiligen, die es uns erlaubt, die Botschaft auf die Identitätssphäre des anderen zuzuschneiden. (2) Das Thema ist nicht heilig, sondern wird aus taktischen Gründen nur so dargestellt. (3) Das Thema ist »pseudoheilig«, also heilig unter bestimmten Bedingungen.
In einer späteren Untersuchung präsentieren Tenbrunsel u. a. (2009) Belege, dass Menschen in einer Auseinandersetzung eher für heilige Werte eintreten, wenn sie eine starke Alternative zu einer Verhandlungslösung haben. Dann können sie es »sich leisten«, auf Grundsätzen zu beharren. Diese Beziehung zwischen heiligen Werten und der Stärke einer Alternative zu einer Verhandlungslösung zeigt sich darin, ob die Verhandlungsteilnehmer in der anstehenden Frage moderate oder extreme Ansichten vertreten. Diese Erkenntnis lässt vermuten, dass der Zusammenhang mit darüber entscheidet, wie stark Verhandlungsteilnehmer an heiligen Werten festhalten, auch wenn es meiner Ansicht nach einige Themen gibt, die »absolut heilig« und nicht vom Zusammenhang abhängig sind.
– Routinetausch: profan gegen profan,
– Tabutausch: heilig gegen profan,
– tragischer Tausch: heilig gegen heilig.
In einem faszinierenden Artikel untersucht Tetlock (2003, S. 323) Möglichkeiten, wie sich angesichts eines Tabutauschs in einer Verhandlung moralische Grenzen wahren lassen. »Effizienzexperten können bei einer Giftmüllbeseitigung dem Vorwurf des Tabutauschs entgehen, wenn sie den Gewinn nicht beim Umsatz zu Buche schlagen, sondern bei der künftigen Rettung von Leben.« Damit wird der Tabutausch zu einem tragischen Tausch. Tetlock merkt allerdings auch an, dass sich nicht alles rhetorisch ummünzen lässt: »Einige Tabus – Abtreibungsrechte, Rassismus oder der heilige Grund und Boden von Jerusalem oder Kaschmir – sind derart vermint, dass man sich mit einem Kompromissvorschlag unwiderruflich Schmähungen aussetzt.«
Symbolische Zugeständnisse (zum Beispiel eine rückhaltlose und aufrichtige Entschuldigung) können in Fragen des Heiligen die Aussicht auf einen Kompromiss verbessern. Jeremy Ginges, Scott Atran, Douglas Medlin und Khalil Shikaki (2007) zeigen in einer Untersuchung, dass Menschen, die über Heiliges verhandeln, ihren Widerstand vergrößern, wenn man ihnen materielle Anreize bietet, dass sie den Widerstand jedoch verringern, wenn sie ein symbolisches Kompromissangebot erhalten. In der Untersuchung ging es um den israelisch-palästinensischen Konflikt, die Befragten waren unmittelbar Betroffene.
Atran und Axelrod (2008) bieten Strategien für einen Konflikt, bei dem heilige Werte betroffen sind, etwa die Anerkennung der heiligen Werte der anderen Seite. So forderten beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg die Anthropologinnen Ruth Benedict und Margaret Mead, die Regierung der Vereinigten Staaten solle den japanischen Kaiser anerkennen und so die Wahrscheinlichkeit verringern, dass die Japaner, die ihn verehrten, bis zum Tod für ihn kämpfen würden.
In Konflikten um das Heilige legen die Beteiligten keine Kosten-Nutzen-Analyse an, sondern moralische Regeln und Vorstellungen. Siehe Ginges u. a. 2007. Außerdem beobachteten die Wissenschaftler, dass symbolische Zugeständnisse den Widerstand der moralischen Absolutisten gegen Friedensabkommen verringern.
Zwei weitere Beispiele zeigen, wie ein Tabutausch in einen tragischen Tausch verwandelt werden kann. Lily Kong (1993) beschreibt, wie die Regierung von Singapur religiöse Zentren (heilige Institutionen) aufkaufte und oftmals abriss, um Platz für Wohnungen, Industrieanlagen und Parks zu machen. Die Regierung nahm dem Widerstand den Wind aus den Segeln, indem sie diesen Tabutausch (heiliges Anliegen gegen weltliches Anliegen) als tragischen Tausch verkaufte (heiliges Gebäude gegen heiliges Gemeinwohl) und erklärte, das Gemeinwohl durch die neue Infrastruktur sei bedeutsamer als die heiligen Gebäude. So interviewte Kong »einen Methodisten, der meinte, wenn ein religiöses Gebäude dem Ausbau einer Straße weichen müsse, dann sei das zum Wohl aller, und als Christen ›sollten wir etwas zum Wohl des Landes tun und nicht zuerst an uns selbst denken‹«.
Ein zweites Beispiel lieferte Ariel Sharon, ehemaliger Premierminister Israels, der die israelischen Siedlungen im Gazastreifen räumen wollte, um die Region der Kontrolle der Palästinenser zu unterstellen. Ein führendes Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats beurteilte die Strategie später so: »Sharon wurde zu spät klar, dass er die Siedler nicht dafür hätte kritisieren dürfen, dass sie israelisches Geld kosteten und das Leben israelischer Soldaten gefährdeten. Er sagte mir, er habe eingesehen, dass es besser gewesen wäre, ein symbolisches Zugeständnis zu machen und sie zum Beispiel als Helden des Zionismus zu feiern, die ein weiteres Opfer brachten.« (Atran u. a., 24 August 2007, S. 1040).
William James sieht das Heilige als Besitz des Einzelnen, Durkheim beschreibt es dagegen als soziales Gebot, das die Gesellschaft bestätigt und den Einzelnen an sie bindet. (Coleman und White 2006). Mit anderen Worten richtet James sein Augenmerk auf den Aspekt des Heiligen in der privaten Brust des Einzelnen, während Durkheim das Heilige und die Religion ganz allgemein als etwas behandelt, das einer gesellschaftlichen Funktion dient und ein starkes Band herstellt, das Menschen motiviert, diejenigen Werte zu leben, die der Gesellschaft ihre Kontinuität geben.
Nach meiner Theorie der Beziehungsidentität kann eine gemeinsame heilige Überzeugung ein Band sein, das eine Verbindung zwischen zwei Personen herstellt. Das passt zu Durkheims Theorie der kollektiven Funktion des Heiligen. Doch der Glaube an das Heilige vergrößert paradoxerweise auch unsere Autonomie: Wer sich dem Heiligen unterwirft, schränkt zwar seine Autonomie ein, die Heiligkeit des Heiligen zu hinterfragen, erweitert sie jedoch durch eine Beziehung zum unendlichen Wert des Heiligen.
– biologische Unsterblichkeit (meine biologischen Nachkommen überleben mein sterbliches Ich);
– kreative Unsterblichkeit (meine Arbeit überlebt mein sterbliches Ich);
– theologische Unsterblichkeit (meine Seele überlebt mein sterbliches Ich);
– natürliche Unsterblichkeit (die Natur überlebt mein sterbliches Ich: »Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück«) und
– Transzendenz der Erfahrung (meine Erfahrung führt mich über mein sterbliches Ich hinaus).
Das trifft auch auf die heutige globale Gesellschaft zu, in der finanzielle Anreize oft nicht ausreichen, um religiöse Extremisten von Gewalttaten abzuhalten. Stattdessen benötigen wir unter anderem globale Plattformen, auf denen religiöse Führer, die in den Augen der Extremisten über die entsprechende Legitimität verfügen, Gewalt als Mittel für den Umgang mit Werteunterschieden ablehnen.
Nach Ben Dupré (2009, S. 72–75) geht der Begriff »Fundamentalismus« auf die fundamentalistischen Christen der Vereinigten Staaten zurück, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts »in Reaktion auf die Reformtendenzen liberaler Theologen aufkamen … Fundamentalistische Bewegungen verschiedener Religionen eint die Überzeugung, dass es eine einzige Lehrmeinung gibt, die die fundamentale Wahrheit über Gott und seine Beziehung zu den Menschen enthält. Der heilige Text ist buchstäblich das Wort Gottes und daher ganz entschieden nicht für Interpretation und Kritik offen. Im Text enthaltene moralische Gebote sind buchstabengetreu einzuhalten.«
Die Grundhaltung, die ich als »fundamentalistisch« bezeichne, hat gewisse Ähnlichkeit mit dem, was Konfliktforscher Scott Atran als »aufopferungsvolle Akteure« bezeichnet. Diese sind im Gegensatz zu rationalen Akteuren bereit, außergewöhnliche Opfer auf sich zu nehmen, die in keinerlei Verhältnis zu den Erfolgsaussichten zu stehen scheinen oder von diesen sogar unabhängig sind. Diese Vorstellung der Aufopferung für die Gruppe erklärt das ansonsten irrational erscheinende Verhalten der Teilnehmer in meinem Stammesexperiment, die lieber für ihre neu geschaffene Gruppe sterben wollen, als die Welt zu retten. Mehr dazu in Atran 2003.
Tetlock (2000) versteht die Entscheidungsfindung in heiligen Fragen ähnlich und spricht von intuitiven Moralisten und Theologen.
Es ist auffällig, dass religiöse Eiferer und biologische Deterministen in die fundamentalistische Identitätssphäre fallen, da beide der Ansicht sind, dass die Identität durch etwas entsteht, das sich unserer Kontrolle entzieht. Religiöse Eiferer sind der Überzeugung, dass eine göttliche Macht die Eckdaten ihrer Identität festlegt, und biologische Deterministen sehen die Biologie, die DNA oder Ähnliches in dieser Rolle.
Im Grunde sind wir aber vielleicht alle Fundamentalisten. Konstruktivisten glauben genauso hartnäckig an ihre Sicht der Identität wie religiöse Eiferer. Neuropsychologische Untersuchungen lassen vermuten, dass wir uns nicht durch Argumente von Überzeugungen abbringen lassen, die wir als lebenswichtig für unsere Identität erachten. Wissenschaftler haben festgestellt, dass objektive Aussagen (»2 + 2 = 4«) und subjektive Behauptungen (»Es gibt einen Gott«) in denselben Hirnregionen beurteilt werden, nämlich in denen, die mit Emotionen, Geschmack und Geruch zusammenhängen. Siehe Harris u. a. 2008.
Ich verwende den Begriff »anattistisch« sehr eng. In einer E-Mail-Korrespondenz schrieb mir der Religionswissenschaftler Richard Oxenberg: »Die buddhistische Vorstellung anatta ist eher funktioneller Natur und im Grunde keine metaphysische Lehre; sie soll den Schülern helfen, sich nicht als isoliertes Wesen zu begreifen, das vom Rest der Welt getrennt ist und dazu im Gegensatz steht. Ein Mensch mit nirwanischem Bewusstsein sieht sich nicht als identitätslos, sondern in gewisser Hinsicht als identisch mit allem. Es geht um die Erweiterung der Identität, nicht deren Beseitigung. Es geht um das Gefühl des Einsseins mit allem. Es überwindet das dualistische Bewusstsein eines Ich, das im Gegensatz zu einer Welt des Nicht-Ich steht (und von dieser bedroht wird). Thich Nhat Hanh sagt, ein Mensch mit nirwanischem Bewusstsein überwindet die Furcht vor dem Tod, weil er sich als Fortsetzung all dessen sieht, das vor ›ihm‹ kam und ›ihn‹ überleben wird.«
Der Dalai Lama (2005, S. 46–50) bezieht sich auf die buddhistische Vorstellung der Leere, die besagt, dass »alle Dinge und Ereignisse leer sind, in dem Sinne, dass sie über keine unveränderliche Essenz, keine immanente Wirklichkeit und kein absolutes und unabhängiges ›Sein‹ verfügen. Diese grundsätzliche Wahrheit darüber, ›wie die Dinge wirklich sind‹, wird in buddhistischen Schriften als ›Leere‹ bezeichnet, oder shunyata in Sanskrit.« Der Dalai Lama fährt fort: »Wenn die Materie auf Quantenebene weniger solide und definierbar ist, als sie scheint, dann habe ich den Eindruck, dass sich die Naturwissenschaften der buddhistischen kontemplativen Erkenntnis der Leere und gegenseitigen Abhängigkeit annähern.«
Der Dalai Lama bezieht sich auf den buddhistischen Lehrer Nagarjuna, der zwei Wahrheiten unterscheidet: (1) die herkömmliche Wahrheit, also die Wirklichkeit, wie wir sie erfahren und zu der auch Kernidentitäten gehören, und (2) die letzte Wahrheit, die ontologische und tiefere Ebene der Wirklichkeit (S. 67). Nach Ansicht des Dalai Lama (S. 51) birgt die Annahme, dass Dinge nicht voneinander abhängig sein könnten, sogar ethische Gefahren: »Einmal habe ich meinen Freund, den Physiker David Bohm, gefragt: Was stimmt aus Sicht der modernen Naturwissenschaften nicht an der Vorstellung, dass die Dinge für sich selbst und unabhängig voneinander existieren? Er antwortete, wenn wir uns verschiedene Ideologien ansehen, die die Menschheit spalten, zum Beispiel Rassismus, Nationalismus oder den Marxistischen Klassenkampf, dann gehen alle davon aus, dass Dinge an sich und getrennt voneinander existieren. Aus dieser falschen Vorstellung beziehen sie die Überzeugung, dass diese Spaltungen im Wesentlichen unabhängig sind und für sich selbst existieren.« Mehr zu Denken und Fühlen im Buddhismus finden Sie in Mark Epstein, Gedanken ohne den Denker: Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Krüger, 1996.
Hermeneutik ist die Lehre von der Textinterpretation. Ein Dialog kann als lebendiger und für Interpretation offener Text gesehen werden. Der Philosoph Martin Heidegger (1962) gibt eine gute Darstellung der Hermeneutik als Methode, um die untrennbare Beziehung zwischen Selbst und Kultur zu verstehen – was er als »In-der-Welt-Sein« bezeichnet. Der Handwerker existiert nicht unabhängig von seinem Handwerk – von seinen Werkzeugen, seiner Werkstatt und seinem Material –, sondern ist vollends damit verbunden. Damit steht der Handwerker der Welt nicht gegenüber, sondern nimmt an Tätigkeiten teil, die mit kultureller Bedeutung durchtränkt und Teil eines größeren Ganzen sind. Mit anderen Worten sind Mensch und Kultur nicht unabhängig, sondern an sich miteinander verbunden. Übertragen auf die Konfliktlösung bedeutet das, dass man über kulturelles Verständnis das Selbstverständnis verändern kann, so wie man das Selbstverständnis ändern kann, um das kulturelle Verständnis zu verändern.
Der Sozialpsychologe Kurt Lewin hält fest, dass ein Opfer für eine Organisation die Loyalität gegenüber dieser Organisation stärkt. Ich glaube, dass wir in jedem Konflikt Opfer für unsere Seite bringen, und dass wir auf diese Weise unsere Loyalität zu unserer Seite festigen. Doch das Opfer kann auch zu beiderseitigem Nutzen gebracht werden: Wenn die Kontrahenten in einem Konflikt gemeinsam und im Sinne einer Einigung ein als gleichwertig wahrgenommenes Opfer bringen, dann kann dies ein Band zwischen beiden herstellen.
Aristoteles war der Ansicht, dass der Staat ein Produkt der Natur ist, und da der Mensch im Staat existiert, sei er von Natur aus ein zoon politikon, ein »politisches Wesen«. Diese Vorstellung passt zu meiner Theorie des Stammeseffekts. Aristoteles schrieb, »dass ein von Natur, und nicht bloß zufällig, außerhalb des Staates stehendes Wesen entweder schlecht ist, oder übermenschlich, wie auch Homer einen solchen schimpflich als ›fremden Stammes‹ und als einen ›Recht- und Herdlosen‹ bezeichnet. Ein solcher verlangt auch von Natur nach dem Kriege, weil er außerhalb aller Verbindung lebt, wie es bei den Vögeln vorkommt«. Ein solcher Mensch wäre vollständig autonom, stünde außerhalb jeder moralischen Ordnung und könnte zu allen Mitteln greifen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Der Stammeseffekt kann zwar Aggression bewirken, doch seine Funktion besteht darin, diejenigen zu schützen, mit denen wir uns zusammenschließen. Ohne Stamm laufen wir Gefahr, »ein Mensch ohne Herd« zu werden.
Mit dem Begriff der »Identitätspolitik« bezeichne ich einen neutralen psychologischen Einflussmechanismus. Das steht im Gegensatz zur herkömmlichen Verwendung des Begriffs in den Vereinigten Staaten, die damit vor allem den Kampf unterdrückter Minderheiten um Macht meint, etwa die Bürgerrechts- oder die Frauenbewegung, die Veränderungen im politischen System bewirken wollen, um ihre gesellschaftlichen und politischen Rechte auszubauen.
Nach Ansicht von Foucault (1984) ist Identität nichts, was wir besitzen, sondern eine emergente Eigenschaft, die spontan in menschlichen Interaktionen entsteht. Entsprechend definiert Identität Machtbeziehungen, etwa wenn ein Staat in der Verteilung seiner Mittel bestimmte Gruppen gegenüber anderen bevorzugt. Siehe Gagnon 1994.
Schafft ethnische Spaltung Konflikt oder bewirkt Politik ethnische Spaltung? Nach Ansicht des britischen Sozialwissenschaftlers Michael Banton verschärft die Politik die ethnische Spaltung und sorgt damit dafür, dass traditionell friedliche ethnische Gruppen Opfer von Gewalt werden. Für die Hutu und Tutsi in Burundi und Ruanda folgte die Gewalt auf eine Phase des gesellschaftlichen Umbruchs und der gesteigerten Profilierung der ethnischen Identität. Banton (1997, S. 76) kam zu dem Schluss: »Die jüngste Geschichte von Ruanda und Burundi zeigt, dass das ethnische Bewusstsein nicht etwa den Konflikt verursachte, sondern dass im Gegenteil der Konflikt in erheblichem Maße dazu beigetragen hat, das ethnische Bewusstsein zu schärfen.« Ähnlich argumentiert die amerikanische Juristin Martha Minow (1998, S. 119): »Der Wechsel zwischen Vergessen und Erinnern zeichnet den Weg der Macht.« Mit anderen Worten formt die Politik die Machtdynamik, die wiederum ethnische Beziehungen formt.
Der Machiavellist kann die Geschichte als Instrument der politischen Manipulation nutzen. Bedrohte Gruppen neigen zu etwas, was Vamık Volkan (2001) selbstgewählte Traumata und Triumphe nennt: »Diese kollektiven Erzählungen von vergangenen Katastrophen und Siegen wurden zu Kennzeichen der Gruppenidentität … Im Falle der selbstgewählten Traumata gehören dazu nicht verwundene Demütigungen und Verluste, die zwar zum Teil Jahrhunderte zurückliegen können, deren Erzählung jedoch tief im Identitätsgefühl der Gruppe verankert sein kann, und die, wenn sie wieder aktiviert werden, in der Gegenwart Aggression stiften und ein Gefühl der Diskriminierung wecken können.« Nach Ansicht von Volkan verstehen viele politische Führer instinktiv, diese Traumata anzusprechen und zur politischen Beeinflussung zu nutzen.
Utani ist die Verbindung zwischen Stämmen oder Dörfern, und die Beteiligten bezeichnen sich als watani – Menschen, die durch utani verbunden sind. Utani institutionalisiert Freundschaft und schützt vor politischer Gewalt durch gute Laune, Großzügigkeit in Geldangelegenheiten und Unterstützung in schwierigen Zeiten, etwa indem man bei der Beisetzung eines watani kocht und im Haushalt hilft. Siehe Tsuruta 2006.
Siehe Putnam 1988 sowie Walton und McKersie 1965, die im Zusammenhang mit Unternehmensverhandlungen die Vorstellung des einheitlichen Akteurs widerlegen. Lax und Sebenius (2006) bieten einen nützlichen theoretischen Rahmen, um die verschiedenen internen und externen Kräfte zu verstehen, die auf einen Entscheidungsprozess wirken.
Die Regierungen Großbritanniens und der Republik Irland versuchten immer wieder, Identität positiv darzustellen. Im Mai 2011 stattete zum Beispiel Queen Elizabeth als erstes britisches Staatsoberhaupt der Republik Irland einen Staatsbesuch ab und die irische Präsidentin Mary McAleese erklärte: »Irland und Großbritannien schaffen eine neue Zukunft, die ganz anders ist als die Vergangenheit, und unter einem ganz anderen Vorzeichen steht.« (Siehe »McAleese Hails ›Extraordinary Moment‹«, Irish Times, 16. Mai 2011.) Als sich Queen Elizabeth einige Jahre später an ihren Besuch erinnerte, sagte sie: »Wir arbeiten heute auf allen staatlichen Ebenen zusammen; zu keinem anderen Land unterhält meine Regierung engere Arbeitsbeziehungen als zu Irland.« (Siehe »The Queen’s Banquet Speech for the State Visit of Irish President Michael Higgins: In Full«, Belfast Telegraph, 4. August 2014.) Anlässlich des Staatsbesuchs des irischen Präsidenten Michael Higgins in Großbritannien im Jahr 2014 sagte sie: »Wir, die Bürger dieser Inseln, sollten als Nachbarn und Freunde zusammenleben. Wir sollten die Staatlichkeit, Souveränität und Traditionen des anderen achten. Zum gemeinsamen Nutzen zusammenarbeiten. Uns in Gesellschaft des anderen wohlfühlen.« (Siehe »Queen Says Ireland, Britain Should Live as Friends«, Irish Times, 9. April 2014.) Der irische Präsident erklärte während dieses Besuchs: »Anlässlich der wichtigen Jubiläen, vor denen unsere Inseln stehen, können und müssen wir darüber nachdenken, wie wichtig die Achtung vor unseren unterschiedlichen, wenngleich eng verwobenen Erzählungen ist. Diese Reflexion ist eine Möglichkeit, aus den breiten Gemeinsamkeiten eine leuchtende Zukunft zu schaffen, und aus unseren unterschiedlichen Sichtweisen Mitgefühl füreinander zu entwickeln.« (Siehe »Irish President Talks of Lasting Reconciliation in Historic Speech«, The Guardian, 8. April 2014.)
Ein Grundsatz von Nyereres Partei war »Stammesdenken und andere Faktoren zu bekämpfen, die die Einheit zwischen Afrikanern behinderten«. Siehe M. H. Abdulaziz, »The Ecology of Tanzanian National Language Policy«, in Language in Tanzania, hrg. v. Edgar C. Polome und C. P. Hill Oxford: Oxford University Press, 1980.
Übergreifende Einigkeit ist letztlich das Ziel der Versöhnung. Erin Daly und Jeremy Sarkin (2007) beschreiben die Versöhnung als »Zusammenkommen von Dingen, die einst vereint waren, dann jedoch getrennt wurden – eine Rückkehr zum oder eine Neuschaffung des Status quo ante, ob real oder nur vorgestellt.«
Versöhnung ist etwas, das in uns passieren kann: Wir können Spannungen zwischen widerstreitenden Emotionen beilegen. In Rückgriff auf die Freudsche Psychoanalyse beschreibt David Bakan (1966, S. 45) den Weg von der Neurose zur emotionalen Versöhnung: (1) Wir spalten das, was wir mögen, von dem ab, was war nicht mögen, und verdrängen Letzteres. (2) Wir versuchen, unsere emotionale Situation zu beherrschen. (3) Wir leugnen die verdrängten Gefühle. (4) Wir nehmen die geleugneten Gefühle zur Kenntnis. In letzter Instanz ist es also die Aufgabe der Psychoanalyse, »die innere Einheit hinter Abspaltung und Verdrängung« zu erkennen (S. 48). Wie bei der integrierenden Dynamik suchen wir hinter der Trennung nach einer höheren Einheit. Verdrängung lässt sich zum Beispiel durch etwas entdecken, das Sigmund Freud in seinem gleichnamigen Aufsatz als »Verneinung« bezeichnete. Ein Patient sagt zu Freud: »Sie fragen, wer diese Person im Traum sein kann. Die Mutter ist es nicht.« Als Freud das hört, ist er sicher, dass es genau die Mutter ist. »Mit Hilfe der Verneinung wird nur die eine Folge des Verdrängungsvorganges rückgängig gemacht, dass dessen Vorstellungsinhalt nicht zum Bewusstsein gelangt. Es resultiert daraus eine Art von intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung.«
Das Beispiel der Orange stammt aus Fisher und Ury, 1981. Meine erste Kritik daran formulierte ich in meiner Disputatio im Jahr 1999 an der University of Massachusetts, Amherst. Dort präsentierte ich einen selbst gezeichneten Cartoon über zwei Mädchen, die sich um eine Orange streiten, die Schale und die Frucht teilen und sich wenig später über etwas ganz anderem in die Haare kriegen.
Ekel stellt ein noch größeres Hindernis dar. Ich nehme an, wenn der Stammeseffekt greift, spüren wir Ekel für die andere Seite, weil sie eine andere Sichtweise annimmt und kein Mitgefühl mit unserer zeigt. Ekel bewirkt das Bedürfnis, die Ursache des Ekels zu beseitigen, und diese heftige negative Reaktion kann stärker sein als jede rationale Überlegung. Siehe Han u. a. 2010.
Joseph Campbell beschreibt die Transzendenz als »wesentliche Erfahrung jeder mythischen Realisierung. Unser Fleisch stirbt und unser Geist wird wiedergeboren. Wir identifizieren uns mit dem Bewusstsein und Leben, das in unserem Körper lediglich ein vorübergehendes Gefäß gefunden hat.« (Campbell und Moyers 1988, S. 134).
(1) Kognitive Komplexität: Verständnis der komplexen Erzählungen jeder Seite.
(2) Widerspruchstoleranz: Toleranz gegenüber Informationen, die der eigenen Erzählung widersprechen, und Vermeidung von Vereinfachungen von Streitfragen und Lösungen.
(3) Offenheit und Ungewissheit: Suche nach widersprüchlichen Informationen.
(4) Emotionale Widerstandskraft: Strategien zur emotionalem Verarbeitung, mit denen sich Gefühle in konstruktives Handeln überführen lassen.
In ethnopolitischen Konflikten ist die Versöhnung besonders komplex, da Opfer und Täter beteiligt werden müssen und verschiedene Methoden zur Wahrheitsfindung, Rechtsprechung, Wiedergutmachung und Heilung zur Anwendung kommen müssen. Ein ausgezeichneter Ratgeber zur Versöhnung von Gruppen ist Bloomfield 2003.
Nach Ansicht von Jérôme Bruner (2002, S. 89) ist die Erzählung unser »bevorzugtes, vielleicht obligatorisches Medium, um unsere Ziele und die Hindernisse auf dem Weg dorthin zu benennen. Unsere Erzählungen verleihen unserem Erleben eine Struktur und eine überzeugende Wirklichkeit, ja sogar eine philosophische Haltung.« Bruner (1990, S. 77) betont, dass Erzählung notwendigerweise eine Perspektive beinhaltet; sie ist nie »ohne Stimme«.
Man könnte die Geschichte als Darstellung mit einem Handlungsbogen verstehen, und die Erzählung als das, was der Geschichte eine Perspektive verleiht. Die Geschichte wäre dann das Gebäude, und die Erzählung unsere Interpretation davon. Wenn zehn Menschen dasselbe Gebäude sehen, dann interpretieren es alle zehn anders. In einem Konflikt ist die Geschichte der Verlauf, während die Erzählung die Sichtweise der Beteiligten auf diesen Verlauf ist. Eine Erzählung braucht keine Geschichte. Wenn ich Blues höre, dann erlebe ich eine persönliche Erzählung, aber diese kommt ohne den Handlungsbogen einer Geschichte aus. Die integrierende Dynamik soll den Beteiligten helfen, die prägenden Erzählungen – den Mythos der Identität – der anderen zu erkennen und anzuerkennen und die unterschiedlichen Perspektiven zu enthüllen, die hinter der Geschichte des Konflikts stehen.
»Könnten wir die geheime Geschichte unserer Feinde lesen, dürften wir im Leben eines jeden Einzelnen so viel Schmerz und Trauer finden, dass dies unsere Feindseligkeit entwaffnen würde«, schrieb Henry Wadsworth Longfellow. Siehe Prose Works of Henry Wadsworth Longfellow, Bd. 1. Boston: James R. Osgood and Company, 1873, S. 452.
In einer Veranstaltung der Harvard Business School vom 15. Februar 2007 bemerkte Emotionsforscher Paul Ekman: »Nur wenige werden widerstehen können, ihre Geschichte zu erzählen, wenn sie glauben, dass sie verstanden werden. Es gibt kaum jemanden, der nicht verstanden werden möchte. Es geht nicht darum, wie Sie meine Geschichte sehen, sondern darum, warum ich mein Leben so und nicht anders gelebt habe. Es gibt nur einen Grund, dieses Bedürfnis zu unterdrücken, meine Geschichte zu erzählen, und dieser Grund ist die Verachtung: meine Verachtung für Sie.« Wenn wir den Mythos aller Beteiligten verstehen, verstehen wir auch, warum wir die Geschichte leben, die wir leben.
Für einen moralisch einwandfreien Plan zur Verteilung der Ressourcen hätten sich die Eliten auf die Arbeit des Philosophen John Rawls stützen können. Nach Ansicht von Rawls sollten die Gruppen, die über gesellschaftliche Grundsätze zur Verteilung von Ressourcen entscheiden, sich dieser Entscheidung durch den »Schleier des Nichtwissens« nähern, das heißt, sie sollten bei ihrer Entscheidung davon ausgehen, dass sie selbst nicht wissen, an welcher Stelle der Gesellschaftsordnung sie sich später wiederfinden werden. Diese Methode soll persönliche Vorlieben verringern, da sie allen Angehörigen einer Gesellschaft denselben moralischen Wert beimisst. Hätten die Eliten in diesem Experiment die Verteilung der Ressourcen durch den Schleier des Nichtwissens hindurch entschieden, dann hätten sie dem Rest der Gruppe ihr Verfahren erklären und auf diese Weise dem Zorn der unteren Schichten zumindest einen Teil des Windes aus den Segeln nehmen können.
Nach Ansicht von Jung besteht unser Unbewusstes aus zwei Hauptbestandteilen: dem persönlichen und dem kollektiven Unbewussten. Unser persönliches Unbewusstes ist der Ort der verborgenen Gefühle, heimlichen Fantasien und verdrängten Traumata. Unser kollektives Unbewusstes ist dagegen der Ort von Vorstellungen und Bildern, die unabhängig von unserer persönlichen Erfahrung existieren und allen Menschen gemeinsam sind. Die Archetypen sind der Inhalt des kollektiven Unbewussten.
Jung unterschied zwischen dem Archetypus (der sich für immer im kollektiven Unbewussten befindet) und dem archetypischen Bild (das ins Bewusstsein dringt und unser intuitives Weltverständnis prägt). Ich benutze den Begriff »Archetypus« jedoch für das archetypische Bild. Den Archetypus selbst sehen wir nie, er manifestiert sich im archetypischen Bild. Wie es Jung selbst schreibt: »Der Begriff ›Archetypus‹ passt daher nur mittelbar auf die ›représentations collectives‹, indem er nämlich nur jene psychischen Inhalte bezeichnet, welche nur keiner bewussten Bearbeitung unterworfen waren, mithin also noch eine unmittelbare seelische Gegebenheit darstellen. Als solche differiert der Archetypus nicht unerheblich von der historisch gewachsenen oder herausgearbeiteten Formel. Namentlich auf den höheren Stufen der Geheimlehren erscheinen die Archetypen in einer Fassung, welche den urteilenden und bewertenden Einfluss der bewussten Beschreibung in der Regel unmissverständlich aufweist. Ihre unmittelbare Erscheinung dagegen, wie sie uns in Träumen und Visionen entgegentritt, ist viel individueller, unverständlicher oder naiver als zum Beispiel im Mythus. Der Archetypus stellt wesentlich einen unbewussten Inhalt dar, welcher durch seine Bewusstwerdung und das Wahrgenommensein verändert wird, und zwar im Sinne des jeweiligen individuellen Bewusstseins, in welchem er auftaucht … An einer objektiven Erklärung der objektiven Dinge liegt dem Primitiven zunächst wenig, dagegen hat er ein unabweisbares Bedürfnis, oder besser gesagt, hat seine unbewusste Seele einen unüberwindlichen Drang, alle äußeren Sinneserfahrungen an seelisches Geschehen zu assimilieren.« (Jung 1976, S. 15 f.)
Es ist sehr schwer zu »beweisen«, dass Archetypen ursprünglich und nicht gesellschaftlich konstruiert sind. Wie soll ein Wissenschaftler die Wirklichkeit eines latenten Archetypus nachweisen, wenn dieser noch nicht vollständig ausgeprägt oder sichtbar ist? Wo im Gehirn existiert der Archetypus? Zum Zwecke der Konfliktlösung sollten wir uns über die Realität der Archetypen nicht unnötig den Kopf zerbrechen. Konflikte nehmen den Verlauf von Erzählungen, und jede Erzählung hat zentrale Themen. Die Suche nach Archetypen ist letztlich die Suche nach zentralen Beziehungsthemen, die in einem Konflikt Emotionen, Denken und Verhalten motivieren.
Brian Arao und Kristi Clemens entwickelten das Konzept des »beherzten Raums« und erörtern die Kritik am »Übereinkommen, verschiedener Meinung zu sein«. Siehe Brian Arao und Kristi Clemens, »From Safe Spaces to Brave Spaces«, in L. Landreman, Hrg., The Art of Effective Facilitation: Stories and Reflections from Social Justice Educators. Sterling, VA: Stylus, 2013, S. 135–50. Siehe auch R. Boostrom, »Safe Spaces: Reflections on an Educational Metaphor«, Journal of Curriculum Studies 30/4 (1998): S. 397–408.
1. Verlagerung in einen Minikonflikt: Die Parteien inszenieren während des Gesprächs eine Kleinkrise, die eine geballte und an Symbolen reiche Version der zentralen Konfliktthemen ist.
2. Das Echophänomen: Die Parteien wiederholen aktuelle äußere Ereignisse, an denen ihre widerstreitenden Identitäten beteiligt sind.
3. Wettstreit selbstgewählter Traumata: Die Beteiligten streiten, wessen historisches Leid größer ist, und weigern sich, das Leid der anderen Seite anzuerkennen.
4. Das Akkordeonphänomen: Jede Partei nähert sich an der anderen an, zieht sich wieder zurück und so weiter.
5. Übertragungen: Die Beteiligten übertragen unerwünschte Aspekte ihrer eigenen Identität auf die anderen.
6. Zeitsprung und Vererbung von Traumata: Die Beteiligten vermischen Traumata der Vergangenheit mit ihrer aktuellen Erfahrung und beleben Gefühle wieder, die mit diesen Traumata zusammenhängen.
7. Narzissmus der kleinen Differenzen: Die Beteiligten messen kleineren Unterschieden in der Identität große Bedeutung bei, sie markieren die Grenze zwischen ihrer Kernidentität und derjenigen der anderen Seite und schützen sie vor Aufweichung.
Hier beziehe ich mich unter anderem auf die theoretischen Erkenntnisse von C. Sluzki (1992, S. 2), der Geschichten definiert als »selbstregulierte semantische Systeme mit einem Handlungsstrang (was), Protagonisten (wer) und Ort (wo und wann). Diese Komponenten werden wieder von einer moralischen Ordnung (einem übergreifenden Thema) zusammengehalten, die alternative Interpretationen unterbinden soll, und sie wirken auf diese zurück. Um eine Geschichte zu ändern, kann es zum Beispiel sinnvoll sein, Etiketten für das Verhalten zu ändern und zum Beispiel zu fragen: ›Unter welchen Umständen fühlen Sie …?‹«
Die meisten Fragen stammen aus einem Artikel von Sara Cobb (2003), die dies als »zirkuläre Frage« bezeichnet. Diese Technik wurde in den 1980ern von systemischen Familientherapeuten in Mailand entwickelt und stellt Fragen, die Vergleiche über Zeiträume, Konfliktparteien oder Beziehungen hinweg ermöglichen sollen.
Manchmal benötigt ein Mediator Unterstützung, um die Mythen aller Beteiligten zu hören. Retzinger und Scheff (2000, S. 76) schreiben: »In festgefahrenen Verhandlungen ist oft das größte Hindernis, dass eine oder alle Seiten der Ansicht sind, ihre Geschichte sei nicht erzählt oder nicht gehört worden. Wenn sich alle Beteiligten gehört und verstanden fühlen, kann sich die Stimmung so weit verändern, dass Verhandlungen beginnen können. Die Mediatoren müssen den Beteiligten helfen, ihre Geschichten so zu erzählen, dass ihre Emotionen zum Ausdruck kommen, und dass diese von der anderen Seite anerkannt werden.«
Um den Mythos eines anderen zu verstehen, müssen wir die persönlichen Auswirkungen des Konflikts genauso verstehen wie das Umfeld mit seinen politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Auswirkungen. Der Sozialpsychologe Kurt Lewin (1997, S. 337) stellte eine vom Grundgedanken her ähnliche Formel zur Vorhersage von Verhalten auf: Verhalten (B) ist abhängig von der Person (P) und ihrem Umfeld (E). Kurz: B = f(P, E). Er erklärte: »Um Verhalten vorhersagen zu können, müssen die Person und ihr Umfeld als Konstellation wechselseitig abhängiger Faktoren aufgefasst werden.« (S. 338). Das hat Auswirkungen auf die Versöhnung. Ein Mythos ist nicht das Produkt des Einzelnen oder seines Umfeldes, sondern aus beidem.
Symbolische Darstellungen menschlicher Erfahrung können uns helfen, jenseits der weltlichen Analyse die tiefer liegenden spirituellen Motive des Verhaltens zu erkennen. Die Analyse von Ritualen kann beispielsweise die Aufmerksamkeit auf symbolische Praktiken richten, die den Hunger nach spirituellem Sinn befriedigen.
Nach B. H. Raven, »A Power Interaction Model on Interpersonal Influence: French and Raven Thirty Years Later«, Journal of Social Behavior and Personality 7/2 (1992): S. 217–44. Raven fügte 1965 eine sechste Machtdimension hinzu, die Information. Siehe B. H. Raven, »Social Influence and Power«, in Current Studies in Social Psychology, hrg. v. I. D. Steiner und M. Fishbein. New York: Holt, Rinehart, Winston, 1965, S. 371–82.
In einem Konflikt mit asymmetrischen Machtverhältnissen kann sich jede Seite weigern, ihre Geschichte zu erzählen. Die Seite, die sich für mächtiger hält, könnte fürchten, ihre Macht zu verlieren, wenn sie ihre Geschichte erzählt. Und die Seite, die sich für schwächer hält, könnte sich vor Vergeltung fürchten.
Doch auch wenn nur eine Seite ihre Geschichte erzählt, können beide davon profitieren. Das zeigt die Arbeit des Sozialpsychologen Ervin Staub, der nach dem Völkermord in Ruanda ein Programm zur Versöhnung von Hutu und Tutsi durchführte. In dem Konflikt waren mehr als eine Million Menschen ermordet worden, wobei es sich bei den Opfern überwiegend um Tutsi und gemäßigte Hutu handelte, die von extremistischen Hutu getötet worden waren. Als Staub in Ruanda war, waren die Tutsi an der Macht, doch er arbeitete mit einer Gruppe aus beiden Ethnien zusammen. Die Hutu weigerten sich zwar, ihre Geschichten zu erzählen, doch Staub beobachtete, dass ihnen die Geschichten der Tutsi halfen, Mitgefühl zu entwickeln, und zum Versöhnungsprozess beitrugen. Siehe Staub und Pearlman 2001, S. 203.
Vergeltung kann ein nützlicher strategischer Schachzug, sollte jedoch keine unbesonnene Reaktion, sondern das Ergebnis einer bewussten Entscheidung sein. Zum Beispiel in der Beziehung des zwölfjährigen Nick zu seinem jüngeren Bruder Joe. Wenn Nick Joes Lieblingsbuch klaut, dann könnte sich Joe rächen, indem er Nicks Lieblingsbuch an sich nimmt und ihm so die Botschaft vermittelt: Lass meine Sachen in Ruhe. Aber wenn Joe seinen Bruder zusätzlich schlägt, dann hat die ursprüngliche Vergeltung nicht mehr den beabsichtigten Effekt. Die Verarbeitung von emotionalem Schmerz soll uns auch ermöglichen, die optimale Strategie zu verfolgen statt blind für einen vermeintlichen Übergriff Rache zu üben.
Die Heilung muss in derselben Dimension der Identität erfolgen, die vom Schmerz betroffen wurde: persönlich, gesellschaftlich, spirituell. Wenn meine Fußballmannschaft eine vernichtende Niederlage einstecken muss, dann leidet zwar meine Psyche, doch Psychotherapie wird weniger gegen den Schmerz ausrichten als ein Sieg der Mannschaft in der Woche darauf. Eine emotionale Verletzung aus einem Streit mit meiner Schwester wird dagegen ohne eine offene Aussprache mit ihr kaum heilen.
Stellen Sie sicher, dass die Beteiligten an einem Konflikt Verantwortung für die ganze Bandbreite ihrer Emotionen übernehmen. Der Sozialpsychologe James Averill (1982) beobachtete, dass wir sehr bereitwillig zu unseren selbstlosen Emotionen stehen, während wir die Verantwortung für Zorn und andere negative Emotionen gern abwälzen. Der Philanthrop entschuldigt sich nicht für eine großzügige Spende, aber wenn er sich aufregt, weil jemand seine Geschäftspraktiken kritisiert, dann wird er versuchen, eine Entschuldigung dafür zu finden.
Dieser Ansatz ähnelt der kognitiven Verhaltenstherapie, die Patienten auffordert, die negative Selbstkritik zu erkennen und sich mit einer Gegenrede davor in Schutz zu nehmen. Der indische Philosoph Krishnamurti (1991, S. 215) empfahl Tagebuchschreiben, um solche Gedanken zu fassen zu bekommen: »Wir müssen diese rasende Maschinerie verlangsamen, um sie zu beobachten. Deshalb kann es hilfreich sein, jeden Gedanken und jedes Gefühl aufzuzeichnen. So wie wir in einem Film, der in Zeitlupe abgespielt wird, jede Bewegung sehen können, hilft uns die Verlangsamung des Denkens, jeden Gedanken zu sehen, ob belanglos oder wichtig.«
Wenn wir mit anderen über unsere schmerzhaften Emotionen sprechen, kann uns dies befangener machen. Wir können befürchten, dass andere uns verurteilen, und uns für unsere Scham schämen. Thomas Scheff (1988) spricht daher von der »Schamspirale«. In solchen Situationen werden wir extrem sensibel dafür, wie andere uns wahrnehmen, ein Phänomen, das Charles Horton Cooley (1902, S. 179–85) als »Looking Glass Self« bezeichnet hat. Cooley schrieb: »Wir stellen uns vor, was der andere über unser Äußeres, unser Verhalten, unsere Ziele und Taten denken könnte, und werden auf verschiedene Weise davon beeinflusst. Dieses Selbstbild setzt sich aus drei Elementen zusammen: einer Vorstellung davon, wie diese Erscheinung im Kopf des anderen aussieht; einer Vorstellung davon, wie er diese Erscheinung beurteilt; und einer Emotion, sei es Stolz oder Scham« (S. 184). Scham gehört zu den am schwierigsten anzuerkennenden und zu verarbeitenden Emotionen. Ärger bezieht sich auf etwas, das wir oder andere getan haben, aber Scham bezieht sich auf das, was wir sind.
Ein Mediator kann Konfliktparteien helfen, Scham und Demütigung zu verarbeiten. Diese Emotionen sind in der Regel verborgen, und darüber zu sprechen, kann sie weiter verstärken. Herkömmliche Ansätze der Konfliktlösung halten uns an, diese Emotionen »herauszulassen«, doch das kann unser Gegenüber beschämen und Beziehungen beschädigen; und die Verwundbarkeit des direkten Gesprächs kann auf beiden Seiten Scham hervorrufen. In einem emotional aufgeladenen Konflikt kann ein Mediator daher einen »beherzten« und geschützten Raum schaffen, indem die Konfliktparteien ihre Mythen sowie Gefühle der Zurückweisung, Entfremdung und Demütigung anerkennen können. Mehr zur Rolle der Scham in der Eskalation von Konflikten finden Sie bei James Gilligan (1996).
Lifton (1979) ist der Ansicht, Trauer sei die Voraussetzung für die Verarbeitung eines Verlustes. Volkan (1981) schlägt vor, eine Gemeinschaft könne nach einem Konflikt zur kollektiven Trauer Objekte schaffen, die einen Bezug zu dem Verlust herstellen, etwa Gedenkstätten, Feiertage und andere Rituale.
Freud war der Ansicht, eine Heilung setze voraus, das Unbewusste bewusst zu machen. In seinem Artikel »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« erörtert er zwei Möglichkeiten zum Umgang mit traumatischen Erinnerungen: (1) Wiederholung der dysfunktionalen Muster durch unbewusste Erinnerung an das Trauma und (2) Durcharbeiten des Traumas durch bewusste Erinnerung und Verarbeitung. Siehe Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 126–36. (Erstveröffentlichung: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, Bd. 2 (6), 1914, S. 485–91.) In seinem Aufsatz »Trauer und Melancholie« beschreibt Freud zwei Reaktionen auf den Verlust: (1) Melancholie als unbewusste Reaktion, eine krankhafte Fixierung auf das verlorene Objekt, die uns emotional verzehrt. Und (2) Trauer als bewusste Trauerarbeit; wir akzeptieren den Verlust, lösen uns emotional von dem verlorenen Objekt und können uns einem neuen zuwenden. Siehe Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 428–46. (Erstveröffentlichung: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, Bd. 4 (6), 1917, S. 288–301).
Der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu und seine Tochter Mpho Tutu erläutern, dass wir entscheiden müssen, ob wir eine Beziehung erneuern oder hinter uns lassen wollen. Um eine Beziehung zu erneuern, müssen wir vergeben und innerhalb der Beziehung den nächsten Schritt gehen; im anderen Fall müssen wir die Beziehung verlassen und den nächsten Schritt ohne sie gehen. Die Autoren betonen: »Erneuerung und Versöhnung sind in jedem Fall vorzuziehen, es sei denn, die eigene Sicherheit steht auf dem Spiel … In der Erneuerung der Beziehung ernten wir die Früchte der Vergebung … Es ist möglich, eine neue Beziehung zu begründen, egal wie die alte ausgesehen haben mag. Es ist sogar möglich, eine Beziehung zu erneuern, die aus der Gewalt geboren wurde.« (Tutu und Tutu 2014, S. 148).
Jonathan Cohen (1999) hat einen ausgezeichneten Artikel über die juristischen Aspekte der Entschuldigung geschrieben. Er ist der Ansicht: »Anwälte sollten öfter mit ihren Klienten über die Möglichkeit einer Entschuldigung sprechen, da diese damit oft besser fahren … In vielen Fällen hat die Entschuldigung potenziell große Vorteile, und wenn sie sorgfältig vorbereitet wird – innerhalb ›sicherer‹ legaler Mechanismen wie der Mediation und mit Blick auf Details, um zwar die Verantwortung zu übernehmen, aber etwaige Haftungszahlungen durch eine Versicherung nicht zu gefährden – dann birgt sie kaum Risiken.« (S. 1068).
Diese Geschichte habe ich aus drei Quellen: (1) einem persönlichen Gespräch mit Roelf Meyer in Tansania während des Africa Summit des World Economic Forum; (2) seinem Vortrag im Program on Negotiation der Harvard Law School am 11. April 2014 und (3) der Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Roger Fisher, Cyril Ramaphosa und Roelf Meyer über ihre Angelpartie und deren Auswirkungen auf die Verhandlungen zum Ende der Apartheid. (siehe Fishers Video Five Skills for Getting to Yes.)
Nach Gordon Allports (1954, S. 267) Kontakthypothese reicht es zur Verbesserung der Beziehungen nicht aus, einfach zwei Gruppen zusammenzustellen. Die Art des Kontakts hat Auswirkungen auf die Art der Beziehung. »Vorurteile lassen sich abbauen, wenn Mehrheits- und Minderheitsgruppen bei der Verfolgung gleicher Ziele gleichberechtigten Kontakt haben. Dies umso mehr, wenn dieser Kontakt durch Institutionen (zum Beispiel Gesetze oder Gepflogenheiten) unterstützt wird und wenn er so gestaltet ist, dass die Beteiligten ihre gemeinsamen Interessen und ihre gemeinsame Menschlichkeit erkennen.«
Zugehörigkeit ist hier eine entscheidende Größe. So wie sich Einbeziehung gut anfühlt, fühlt sich Ausgrenzung schlecht an und wird in denselben Hirnregionen wahrgenommen wie körperlicher Schmerz. Wissenschaftler der University of California beobachteten das Gehirn von Versuchspersonen, die in einem fMRT-Scanner lagen, während sie am Computer ein Ballspiel spielten. Die Teilnehmer glaubten, sie spielten mit anderen menschlichen Mitspielern, doch in Wirklichkeit handelte es sich um ein Programm. Zunächst warfen die Mitspieler einen Ball hin und her, dann begannen die beiden programmierten Avatare, ihren menschlichen Mitspieler systematisch auszuschließen. Diese Ausgrenzung aktivierte den dorsalen anterioren cingulären Kortex (dACC), eine Hirnregion, die mit körperlichem Schmerz in Zusammenhang steht. Selbst als Teilnehmer erfuhren, dass sie nicht von Menschen, sondern von einem Programm ausgeschlossen wurden, fühlten sie sich noch immer zurückgewiesen (Eisenberger u. a. 2003).
Es gibt Hirnschaltkreise, die diesen Schmerz der Zurückweisung lindern. In einer anderen Untersuchung verabreichten die Wissenschaftler der einen Hälfte der Teilnehmer drei Wochen lang Paracetamol und der anderen ein Placebo. Keine der beiden Gruppen wusste, was sie einnahm. Jeden Abend füllten die Teilnehmer einen Fragebogen aus, in dem sie angeben sollten, wie sie Zurückweisung empfanden. Ab dem neunten Tag berichteten die Teilnehmer, die Paracetamol eingenommen hatten, über weniger sozialen Schmerz als die Kontrollgruppe. Mit jedem Tag wurde der Unterschied größer. In einer Nachfolgeuntersuchung empfanden die Teilnehmer, die drei Wochen lang das Schmerzmittel eingenommen hatten, im Ballspiel keine Zurückweisung, selbst wenn ihnen niemand den Ball zuwarf. (DeWall u. a. 2010). Diese Untersuchungen bestätigen etwas, das uns der gesunde Menschenverstand sagt: Zurückweisung tut weh. Dieser Schmerz lässt sich lindern, doch das wirft komplexe Fragen darüber auf, mit welchen Methoden. Es wäre sinnlos, zwei kriegführenden Nationen zu empfehlen, doch einfach ein Schmerzmittel zu nehmen.
In ihrer wegweisenden Untersuchung zur Spiegelung des Mitgefühls machte Tania Singer (2004) zwei wichtige Beobachtungen. Erstens werden dieselben Hirnregionen (darunter Inselrinde, Brodman-Areal 24, Hirnstamm und Kleinhirn) aktiv, egal ob Sie den körperlichen Schmerz empfinden oder Ihr Partner. Wenn wir Mitgefühl mit dem Schmerz des Partners empfinden, dann werden Hirnregionen aktiv, die uns den Schmerz buchstäblich mitfühlen lassen. Zweitens erleben wir den Schmerz jedoch nicht im ganzen Umfang. Mitgefühl kopiert die emotionale Färbung des Schmerzes Ihres Partners, aber in der Regel ohne die gesamte sinnliche Erfahrung. Sie spüren die Nervosität des Partners, aber ohne das Magengrummeln und die zugeschnürte Brust. Siehe auch Vignemont und Singer 2006.
Nachfolgeuntersuchungen lassen vermuten, dass sich das Mitfühlen von Schmerzen unter bestimmten Umständen auch auf Menschen ausweitet, die wir nicht kennen. Wenn wir in einem Video sehen, wie einem Fremden mit einer Nadel in die Hand gestochen wird, dann zucken wir selbst vor Schmerz zusammen. Wir können allerdings nicht den Schmerz und die Freude aller mitfühlen, denn dann wäre kein Platz mehr in unserem Gehirn für eigene Emotionen. Mitgefühl beschränkt sich in der Regel auf Beziehung, die emotional bedeutsam für uns sind. Siehe zum Beispiel Morrison u. a. 2004.
Meine Definition der Bindung orientiert sich an der klassischen Definition der Psychologin Mary Ainsworth (Ainsworth und Bell, 1970, S. 50), einer Pionierin auf dem Gebiet der Bindungstheorie. Sie definierte Bindung als »das gefühlsmäßige Band, welches eine Person oder ein Tier zwischen sich selbst und einer bestimmten anderen Person oder einem bestimmten anderen Tier knüpft – ein Band, das beide räumlich verbindet und zeitlich andauert«. John Bowlby (1969/1982, S. 194), ein weiterer Vordenker auf dem Gebiet der Bindungstheorie, definiert die Bindung als »dauerhaftes psychologisches Verbundensein zwischen Menschen«.
Querverbindungen haben den entscheidenden Vorteil, dass alle Beteiligten emotional in die Beziehung investieren. Man könnte es wie eine Ehe sehen: Das Prinzip des geringsten Interesses lässt vermuten, dass derjenige mit dem geringsten Interesse an der Beziehung in dieser Beziehung die größte Macht hat. Wenn beide Seiten etwa in gleichem Maße in die Beziehung investieren, haben beide etwa dasselbe Interesse daran, sie zu erhalten. (Waller 1938.)
Die Darstellung von Park51 basiert teils auf einer realen Auseinandersetzung und ist teils fiktiv, um bestimmte Überlegungen klarer herauszuarbeiten. Im wirklichen Leben trat Bürgermeister Bloomberg für das Recht der muslimischen Gemeinde ein, das Zentrum und die Moschee an ihrem ursprünglichen Ort zu belassen. Außerdem wurde bis heute keine Einigung erzielt. Ich war an den Verhandlungen nicht beteiligt. (Anm. d. Red.: Inzwischen scheint eine Einigung gefunden zu sein. Die ursprüngliche Idee, eine Moschee in dem Areal unterzubringen, wurde aufgegeben. Stattdessen ist die Errichtung eines Luxusappartmentkomplexes geplant, der ein dreistöckiges Museum für islamische Kultur beinhaltet. Auch der Name des geplanten Komplexes wurde geändert.)
Einige Methoden zum Aufbau von Beziehungen zwischen Gruppen mögen wie eine Synthese erscheinen, sind es jedoch nicht. Ohne übergeordnete Regierung und Beziehung ist Multikulturalismus zum Beispiel nichts als Theater. Der Melting-Pot ist ebenfalls keine Synthese, sondern eine Anpassung aller an eine gemeinsame Gruppenidentität. Synthese erfordert, dass jeder Stamm seine eigene Identität bewahrt, und sich gleichzeitig über eine gemeinsame Gruppenidentität mit anderen Stämmen in Beziehung setzt; so entsteht eine Gemeinschaft von Stämmen. Mit anderen Worten geht es darum, Autonomie und Zugehörigkeit zu optimieren. Mehr zur Gruppenidentität siehe Gaertner u. a. 1993.
Die Sozialpsychologin Karina Korostelina (2007) beschreibt, wie der König von Marokko die widerstreitenden Identitäten der Istiqlal (eine politische Partei der arabischstämmigen Marokkaner) und der Berberstämme in seinem Land zu einer Synthese führte. Die Berber hatten lange unter politischer und gesellschaftlicher Ausgrenzung gelitten, etwa zwischen 1956 und 1958, als die Istiqlal anordnete, dass nur Araber politische Ämter innehaben durften und Rundfunksendungen in Berbersprachen verboten wurden. König Mohammed erkannte, dass nur eine synthetisierte Identität Frieden und Sicherheit gewährleisten konnte. Korostelina schreibt: »Der König von Marokko erfand das Konzept der ›arabisierten Berber‹ und vereinte damit die Interessen der Araber (die zum Beispiel Arabischunterricht in allen Schulen verlangten) und die der Berber (die eine Anerkennung für ihre politische Partei forderten) unter dem Dach eines gemeinsamen Staates.«
Der Politikwissenschaftler Donald Horowitz (1985, S. 598) stellt eine Reihe struktureller Maßnahmen vor, die Synthese fördern: (1) Streuung des Konflikts durch eine Vervielfältigung von Machtpunkten, die das Zentrum entlastet, etwa durch die Verteilung von Macht auf mehrere Institutionen um das Zentrum; (2) Betonung der Unterschiede innerhalb von ethnischen Gruppierungen, die die Aufmerksamkeit von Unterschieden zwischen den ethnischen Gruppierungen ablenkt; (3) Maßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Gruppen; (4) Maßnahmen zur Angleichung von Interessen, nicht Gruppen; und (5) Abbau der Ungleichheiten zwischen Gruppen.
Ein ähnliches Modell zur Lösung von Konflikten zwischen Gruppen finden Sie in Haslam (2004, S. 128).
Der amerikanische Dichter Robert Frost meinte zwar, dass ein guter Zaun für gute Nachbarschaft sorgt, doch die Theorie der sozialen Identität zeichnet ein komplexeres Bild. Zäune trennen zwar, doch sie spalten auch in »Wir« und »Die« und legen den Grundstein für sozialen Vergleich und mögliche Diskriminierung. Siehe Tajfel und Turner 1979.
Ein weiterer Aspekt der Trennung ist die Schwierigkeit der Reintegration. Wie zum Beispiel sollte der Staat die Friedensmauern entfernen? Die naheliegende Antwort lautet: »Niederreißen!« Doch damit drückt der Staat den Gemeinden seinen Willen auf, und diese sind möglicherweise nicht bereit für eine Veränderung. Wer Veränderungen erzwingt, läuft Gefahr, den Stammeseffekt zu provozieren. David Ford, ehemaliger Justizminister von Nordirland, schlägt daher vor, die Friedensmauern nur mit Zustimmung der Gemeinden einzureißen. Das könnte zwar den Interessen vor Ort eher entsprechen, erfordert jedoch Zeit, Koordination und Geld.
Siehe J. Shapiro, »Bill Clinton Endorses Muslim Center Near Ground Zero«, in DNAinfo, 21. September 2010, https://www.dnainfo.com/new-york/20100921/downtown/bill-clinton-endorses-muslim-center-near-ground-zero/.
Den Zweck der Dialektik beschrieb Hegel so: »Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt.« (Hegel, Die Wissenschaft der Logik, § 81).
Hegels dialektische Methode inspirierte Karl Marx und Friedrich Engels zur Erfindung des »dialektischen Materialismus«, einer Philosophie der Wissenschaft und Natur. Nach Ansicht von Marx führte der dialektische Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu einem berechenbaren Zyklus von Revolutionen. Die Kapitalbesitzer leben in Saus und Braus (These), während die Lohnarbeiter für einen Hungerlohn arbeiten (Antithese), woraufhin letztere sich erheben. Als neue Elite nehmen sie die Zügel in die Hand, es kommt zu neuen Revolten, und allmählich nähert sich das politische System seiner letzten Synthese, dem Kommunismus, einer klassenlosen Gesellschaft, in der es keinen Staat mehr gibt, und die auf dem gemeinsamen Eigentum der Produktionsmittel basiert.
Die griechische Mythologie kennt drei Rachegöttinnen namens Erinnyen (besser bekannt unter ihrem lateinischen Namen »Furien«): Alecto (die unaufhörliche Wut), Tisiphone (Vergeltung) und Megaira (neidischer Zorn). Bob Bailey Mucker (2014, S. 16) schreibt dazu: »So groß war die Furcht der alten Griechen, sie zu verärgern, dass man sie möglichst nicht beim Namen nannte.« In Konflikten sind diese drei Emotionen für einen Gutteil der destruktiven Dynamik verantwortlich.
Wenn wir das Gefühl haben, dass uns jemand bewusst Leid zugefügt hat, dann neigen wir zu dem Wunsch, es ihm mindestens in demselben Maße heimzuzahlen. Es ist das klassische »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Außenstehende mögen das Vergehen als lächerlich und unsere Rache als maßlos empfinden, doch für die Betroffenen kann es sich um einen bedrohlichen Angriff auf die Identität handeln, der schwere Vergeltungsmaßnahmen rechtfertigt. So beschreibt auch der italienische Dichter Dante Alighieri (1265–1321) in seinem Inferno, wie die Sünder in der Hölle mit passenden Strafen für ihre Sünden auf Erden büßen. Ehebrecher werden zum Beispiel für ihre Wollust von einem Höllensturm gepeinigt. Wenn wir selbst zu Opfern werden, verspüren wir oft ein Danteskes Bedürfnis, es den anderen mit einer Strafe heimzuzahlen, die ihrer Tat ähnelt.
Der Gedanke der Katharsis, der Reinigung, hat eine lange Geschichte. Aristoteles verwendete sie als Bild für die emotionale Wirkung von Tragödien. In Romeo und Julia begehen die unseligen Liebenden Selbstmord als Opfer für ihre Liebe, und die Katharsis ist die Aussöhnung der Familien der beiden, die ihre Blutfehde beilegen. Jahrhunderte später führte der österreichische Arzt Josef Breuer die Katharsis in die Psychologie ein. Er hypnotisierte traumatisierte Patienten und forderte sie auf, unterdrückte Emotionen im Zusammenhang mit einem Trauma zu äußern; dies befreie sie von ihren Symptomen. Sigmund Freud (1925), einst Breuers Schüler, führte die Katharsis in die Psychoanalyse ein; er war der Ansicht, Emotionen stauten sich in uns an wie in einem Druckkessel und wir müssten sie freisetzen, wenn wir nicht explodieren wollen. Dies wird auch als das hydraulische Modell der Gefühle bezeichnet.
Wer mitfühlen kann, kann sich versöhnen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Mitgefühl angeboren ist; der Soziologe Dacher Keltner (2010) ist der Ansicht, dass es sich beim Menschen um ein instinktives Verhalten handelt, das sich schon bei Kleinkindern beobachten lässt. Selbst Kinder, die noch nicht sprechen können, »helfen anderen in einer Vielzahl von Situationen bereitwillig, ihre Ziele zu erreichen« (Warneken und Tomasello 2006).
Ein Sozialpakt geht weiter als ein Gesellschaftsvertrag. Letzterer ist ein zweckdienlicher Vertrag, der Rechte und Pflichten der Gesellschaft festlegt. Ein Sozialpakt ist dagegen eine moralische Vereinbarung, die positive Beziehungen zwischen Gruppen wiederherstellen kann, wenn deren Vertrauen zerbrochen ist – etwa zwischen Staat und Bürgern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, oder Eltern und Kindern. Der Global Agenda Council on Values des World Economic Forum, dem ich angehöre, hat eine Initiative gegründet, die Unternehmer und Politiker anregt, eigene Sozialpakte zu entwickeln und auf Werten basierende Führung zu fördern. Die Entwicklung eines solchen Sozialpakts konfrontiert uns mit schwierigen Fragen darüber, wer wir sind und wer wir sein wollen. Werte geben keinen exakten Weg vor, sondern sind lediglich Grundsätze, auf die wir unsere Entscheidungen gründen.
Wer Möglichkeiten sieht, kann seine Vorstellungskraft nicht nur zum Guten, sondern auch zum Bösen verwenden. Die Nationalsozialisten verbrachten Jahre damit, ihre Völkermordtechniken zu optimieren, beginnend mit Massenerschießungen bis zu fabrikmäßigen Gaskammern und Krematorien; im Vernichtungslager Auschwitz wurden pro Tag rund 4 400 Menschen ermordet und verbrannt. Es gibt jedoch zahllose Beispiele für Menschen, die ihre Vorstellungskraft dazu verwenden, die Situation der Menschheit zu verbessern.
Michelangelo beschrieb seine Arbeit am David als Versuch, die Statue von allem überflüssigen Material zu befreien. Ganz ähnlich besteht meiner Ansicht nach die Aufgabe der konstruktiven Konfliktlösung darin, Menschen zu helfen, das Überflüssige an ihren Beziehungen zu beseitigen und ihre gemeinsame Menschlichkeit zu entdecken.