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Meine Theorie der Beziehungsidentität soll den praktischen Anforderungen der Konfliktlösung dienen. Sie basiert auf der Arbeit von William James, Henri Tajfel, Erik Erikson, Jean Baker Miller und anderen. Die Theorie der Beziehungsidentität stützt sich zwar auch auf Erkenntnisse der Psychoanalyse, doch sie ist auch eine Reaktion darauf. Nach Ansicht ihres Begründers Sigmund Freud ist der Hauptantrieb des menschlichen Handels das Lustprinzip: Wir suchen Lust und meiden Leid. Unser Motor wäre demnach der Sexualtrieb. Der Psychoanalytiker Ronald Fairbairn widerspricht dieser Annahme entschieden und behauptet, dass wir nicht Lust, sondern ein Objekt suchen. Im psychoanalytischen Sprachgebrauch ist ein »Objekt« die innere Darstellung eines Menschen oder einer Gruppe, mit der wir interagieren. Nach Ansicht von Fairbairn suchen wir die Beziehung zu anderen Menschen nicht, um unseren Sexualtrieb zu befriedigen, sondern genau umgekehrt: Wir suchen Lust, um uns zu anderen in Beziehung zu setzen. Wir verspüren gewissermaßen einen Beziehungstrieb. Fairbairns Forschung bestätigt dies. So beobachtete er zum Beispiel, dass Kinder, die zu Hause Misshandlung erfuhren, trotzdem lieber nach Hause gingen, als an einem sicheren Ort zu bleiben. Mit anderen Worten sorgte die Zurückweisung durch die Mutter nicht dafür, dass sich die Kinder von ihr abwanden, sondern im Gegenteil, sie fühlten eine stärkere Verbindung. Das unbefriedigte Bedürfnis nach Beziehung konnte nur von der Mutter befriedigt werden. Siehe Celani 1994, S. 29. Auch der Psychoanalytiker D. W. Winnicott (1952, S. 99) betonte die zentrale Bedeutung der Beziehung in der menschlichen Erfahrung und beobachtete, in der Einheit aus Mutter und Kind »beginnt das Gravitationszentrum des Seins nicht im Einzelnen. Es ist in der ganzen Einheit.«

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In unserem Gehirn befindet sich etwas, das Hirnforscher als »autoassoziative neuronale Netzwerke« bezeichnen – Erinnerungsschablonen, die uns helfen, selbst aus kleinen Informationsschnipseln ein ganzes Bild herzustellen. Nehmen wir an, ich streite mit meinem Nachbarn über die Grundstücksgrenze. Wir setzen uns zusammen, um darüber zu diskutieren, und dabei bedient sich mein Gehirn unbewusst bei einer uralten Schablone meiner Beziehung zu einem jähzornigen und arroganten Mitschüler. Diese Schablone – ein autoassoziatives neuronales Netzwerk – bewirkt zweierlei: Erstens fülle ich alle Leerstellen über meinen Nachbarn mit Rückgriff auf diese uralte Vorlage auf. Egal ob mein Nachbar jähzornig ist oder nicht, unterstelle ich ihm bei jedem seiner Worte und Handlungen sofort negative Absichten und Arroganz. Wenn er sagt: »Ich freue mich, dass wir uns treffen können«, dann denke ich sofort, »Das sagt er doch nur, um mich zu manipulieren.« Und zweitens – und hier wird es wirklich schräg – ignoriere ich alle Abweichungen von meiner Schablone als »Rauschen«. Sobald das autoassoziative neuronale Netzwerk eingeschaltet ist, bin ich nicht mehr in der Lage, Abweichungen von meiner Schablone zu erkennen. Selbst wenn mein Nachbar meinen Forderungen nachkommt und meine Beschwerden nachempfinden kann, bin ich blind dafür. Ich sehe nur seine Arroganz, und wenn ich ihm unverschämt antworte, reagiert er seinerseits unverschämt. Das heißt, ich mache mir den Feind, den ich von Anfang an in ihm sehe.

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Die Regierungen Großbritanniens und der Republik Irland versuchten immer wieder, Identität positiv darzustellen. Im Mai 2011 stattete zum Beispiel Queen Elizabeth als erstes britisches Staatsoberhaupt der Republik Irland einen Staatsbesuch ab und die irische Präsidentin Mary McAleese erklärte: »Irland und Großbritannien schaffen eine neue Zukunft, die ganz anders ist als die Vergangenheit, und unter einem ganz anderen Vorzeichen steht.« (Siehe »McAleese Hails ›Extraordinary Moment‹«, Irish Times, 16. Mai 2011.) Als sich Queen Elizabeth einige Jahre später an ihren Besuch erinnerte, sagte sie: »Wir arbeiten heute auf allen staatlichen Ebenen zusammen; zu keinem anderen Land unterhält meine Regierung engere Arbeitsbeziehungen als zu Irland.« (Siehe »The Queen’s Banquet Speech for the State Visit of Irish President Michael Higgins: In Full«, Belfast Telegraph, 4. August 2014.) Anlässlich des Staatsbesuchs des irischen Präsidenten Michael Higgins in Großbritannien im Jahr 2014 sagte sie: »Wir, die Bürger dieser Inseln, sollten als Nachbarn und Freunde zusammenleben. Wir sollten die Staatlichkeit, Souveränität und Traditionen des anderen achten. Zum gemeinsamen Nutzen zusammenarbeiten. Uns in Gesellschaft des anderen wohlfühlen.« (Siehe »Queen Says Ireland, Britain Should Live as Friends«, Irish Times, 9. April 2014.) Der irische Präsident erklärte während dieses Besuchs: »Anlässlich der wichtigen Jubiläen, vor denen unsere Inseln stehen, können und müssen wir darüber nachdenken, wie wichtig die Achtung vor unseren unterschiedlichen, wenngleich eng verwobenen Erzählungen ist. Diese Reflexion ist eine Möglichkeit, aus den breiten Gemeinsamkeiten eine leuchtende Zukunft zu schaffen, und aus unseren unterschiedlichen Sichtweisen Mitgefühl füreinander zu entwickeln.« (Siehe »Irish President Talks of Lasting Reconciliation in Historic Speech«, The Guardian, 8. April 2014.)

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Jung unterschied zwischen dem Archetypus (der sich für immer im kollektiven Unbewussten befindet) und dem archetypischen Bild (das ins Bewusstsein dringt und unser intuitives Weltverständnis prägt). Ich benutze den Begriff »Archetypus« jedoch für das archetypische Bild. Den Archetypus selbst sehen wir nie, er manifestiert sich im archetypischen Bild. Wie es Jung selbst schreibt: »Der Begriff ›Archetypus‹ passt daher nur mittelbar auf die ›représentations collectives‹, indem er nämlich nur jene psychischen Inhalte bezeichnet, welche nur keiner bewussten Bearbeitung unterworfen waren, mithin also noch eine unmittelbare seelische Gegebenheit darstellen. Als solche differiert der Archetypus nicht unerheblich von der historisch gewachsenen oder herausgearbeiteten Formel. Namentlich auf den höheren Stufen der Geheimlehren erscheinen die Archetypen in einer Fassung, welche den urteilenden und bewertenden Einfluss der bewussten Beschreibung in der Regel unmissverständlich aufweist. Ihre unmittelbare Erscheinung dagegen, wie sie uns in Träumen und Visionen entgegentritt, ist viel individueller, unverständlicher oder naiver als zum Beispiel im Mythus. Der Archetypus stellt wesentlich einen unbewussten Inhalt dar, welcher durch seine Bewusstwerdung und das Wahrgenommensein verändert wird, und zwar im Sinne des jeweiligen individuellen Bewusstseins, in welchem er auftaucht … An einer objektiven Erklärung der objektiven Dinge liegt dem Primitiven zunächst wenig, dagegen hat er ein unabweisbares Bedürfnis, oder besser gesagt, hat seine unbewusste Seele einen unüberwindlichen Drang, alle äußeren Sinneserfahrungen an seelisches Geschehen zu assimilieren.« (Jung 1976, S. 15 f.)