Kapitel 10
Vier Schritte, um den Graben zu überwinden

Die Musik des großen Jazztrompeters Dizzy Gillespie ist ein unvergleichlicher Genuss. Wenn er sein Instrument an den Mund hebt, die Lippen spitzt und die Backen aufbläst, zaubert er Melodien und Rhythmen, die mal rumpeln wie ein Auto auf einer Schlaglochpiste, mal weich dahinfließen wie das Wasser in einem Bach. Während im Hintergrund das Schlagzeug zischt und das Klavier drei dissonante Noten einschiebt, steigert sich Dizzy in ein gewaltiges Stakkato – bop-ditti-bop-bop-BUMM! –, zerhackt immer wieder den Rhythmus und wirbelt dann in schnellem Lauf die Tonleiter hinab. Diese wilde Abfolge von Klängen und Schlägen, disharmonisch und wirr, fieberhaft und überspannt, ergibt ein überraschend harmonisches Ganzes.

Jazz findet Harmonie in der Dissonanz. Die Dissonanz bleibt, doch sie wird von einer tieferen, einenden Kraft zusammengehalten.

Dies ist ein gutes Bild für die Lösung emotional aufgeladener Konflikte. Um beschädigte Beziehungen zu kitten, müssen wir eine Harmonie höherer Ordnung finden. Auch wenn Ihnen Ihre Kernidentität und die des anderen noch so unvereinbar erscheinen mögen – lassen Sie sich nicht von den Sogkräften des Stammesdenkens den Blick auf die Möglichkeiten verstellen. Sie haben es in der Hand, in sich selbst und in Ihren Beziehungen Harmonie herzustellen.1 Nur wenn Sie an diese höhere Harmonie glauben, können Sie sie auch finden. Selbst Dizzy Gillespie hatte vermutlich seine schlechten Abende, an denen er vergeblich den quecksilbrigen Quell seiner kreativen Energie suchte, und vermutlich war er oft enttäuscht von seinem Spiel – die höhere Harmonie ist nur schwer zu fassen. Und dann wieder hat er perfekte Auftritte. Er verband afrokubanische Rhythmen mit afroamerikanischem Jazz, spielte rasante Läufe und schuf ein musikalisches Ganzes, das viel größer war als die Summe der disharmonischen Teile.

Herkömmliche Methoden der Konfliktlösung sind ungenügend

Zwei herkömmliche Methoden der Konfliktlösung – Feilschen und Problemlösung – reichen nicht aus, um in einem emotional aufgeladenen Konflikt diese höhere Harmonie zu erreichen.

Feilschen?

Beim Feilschen nehmen Sie und die andere Seite feste und entgegengesetzte Positionen ein, klammern sich an diese und weigern sich standhaft, von ihnen abzurücken. Diese Methode funktioniert noch am besten in einfachen Transaktionen. Wenn Sie zum Beispiel ein neues Auto kaufen wollen, dann verlangt der Händler einen bestimmten Preis, Sie machen ein möglichst niedriges Angebot, und dann geht es eine Weile lang hin und her, bis Sie sich irgendwo in der Mitte treffen. Am Ende sind alle Beteiligten mehr oder minder zufrieden.

Wenn es um Fragen der Identität geht, scheitert das Feilschen jedoch kläglich. Hier geht es um Bedeutungen, Erinnerungen und Geschichten, die keine Abschläge zulassen. Identität lässt sich nicht wie eine Ware tauschen, denn das geht gegen ihr ganzes Wesen. Einen Kompromiss in derart existenziellen Fragen würden die meisten Menschen als unerträglich empfinden. Stellen Sie sich zwei Politiker vor, die so um ein heiliges Land verhandeln:

Politiker A: Wenn Sie 20 Prozent Ihrer religiösen Werte aufgeben, geben wir Ihnen 20 Prozent mehr Land.

Politiker B: Das ist vollkommen unannehmbar! Ich schlage vor, wir geben bei den Werten einen pauschalen Abschlag von 10 Prozent. Dafür müssen Ihre Leute beim Respekt für uns 20 Prozent draufgeben, und wir versprechen für einen Zeitraum von zwei Jahren 5 Prozent weniger Demütigungen für Ihre Leute.

Politiker A: Aber nur, wenn wir eine Klausel aufnehmen, in der Sie zusichern, dass Ihre Leute alle negativen Erinnerungen an unsere Leute löschen. Können wir uns darauf einigen?

Dieser fiktive Dialog geht davon aus, dass sich Identität messen und handeln lässt, doch diese Annahme wäre völlig falsch. Doch selbst in Davos, vertraten Politiker feste Positionen und nahmen an, ihre Aufgabe bestehe darin, andere in ihr Boot zu holen, bis das Feilschen um Positionen im Weltuntergang endete.

Problemlösung?

Eine zweite verbreitete Methode der Konfliktlösung, die gemeinschaftliche Problemlösung, hält Sie und die andere Seite an, hinter Ihren jeweiligen Positionen nach Ihren eigentlichen Interessen zu suchen und dann eine Einigung zu erarbeiten, die Ihren wahren Motiven am besten entspricht. Doch in einem emotional aufgeladenen Konflikt hat auch diese Methode gravierende Schwächen.2

Nehmen wir eine der bekanntesten Anekdoten aus dem Gebiet der Verhandlungstechnik.3 Zwei Schwestern streiten sich um eine Orange. »Ich will die Orange!«, schreit die eine. »Nein, das ist meine!«, keift die andere. So geht es hin und her. Dann schreitet die Mutter ein. Soll sie die Orange in der Mitte durchschneiden? Soll sie den Mädchen sagen, dass keines von beiden die Orange bekommt? Soll sie sie selbst essen? Als gewiefte Problemlöserin fragt sie jedes der Kinder: »Was willst du mit der Orange?« Die kleinere der beiden Schwestern schnieft und antwortet, sie will das Vitamin C der Orange, weil sie erkältet ist. Und die ältere erwidert, sie will einen Kuchen backen und braucht dazu die Schale. Bingo! Die Lösung liegt auf der Hand. Indem die Mutter hinter die Positionen blickt und die eigentlichen Interessen identifiziert, kann Sie jeder Tochter das geben, was sie will, und keine der beiden muss einen Kompromiss eingehen.

Problem gelöst! Oder doch nicht? Das habe ich zumindest immer geglaubt, bis ich selbst Kinder hatte. Inzwischen habe ich drei Söhnchen mit einem Hang zur Rivalität, und Problemlösungen bringen bestenfalls einen befristeten Waffenstillstand. In der wirklichen Welt kann die Mutter aus dem obigen Beispiel damit rechnen, dass sich die Mädchen ein paar Minuten nach dem Streit um die Orange darüber in die Haare geraten, wer das größere Plätzchen oder das letzte Kuchenstück oder irgendetwas anderes bekommt. Mit anderen Worten hat die Mutter zwar das Problem gelöst, aber die Dynamik bleibt bestehen. Der emotionale Einsatz, mit dem die Schwestern ihren Kopf durchsetzen wollen, lässt auf tiefer liegende Konflikte schließen – und bei diesen Konflikten geht es um Identität. Wer ist die Stärkere? Die Klügere? Wer wird mehr geliebt? Wenn die Eltern diese Fragen nicht angehen und beantworten, ist jede Lösung eines aktuellen Problems nur eine vorübergehende Feuerpause.4

Um emotional aufgeladene Konflikte zu überwinden, sind andere Methoden der Konfliktlösung nötig. Und hier zeigt Dizzy Gillespies schräge Harmonie eine Möglichkeit auf.

Die Macht der integrierenden Dynamik

Um angespannte Beziehungen zu entspannen, können wir die Macht der integrierenden Dynamik nutzen – emotionale Kräfte, die unsere Verbindungen verbessern, wobei die stabilsten Beziehungen diejenigen der Harmonie höherer Ordnung sind. Auf diese Weise überwinden Sie die gegensätzlichen Standpunkte und den Widerstreit von Wir gegen Die.5 Diese integrierende Dynamik stellt eine Verbindung zur anderen Seite her und belässt beiden ihre Autonomie – sie sind eins und doch zwei. So wie die fünf Sogkräfte einen Strudel erzeugen, der uns von der anderen Seite wegzieht (egal wie groß die Ähnlichkeiten sein mögen), stellt die integrierende Dynamik eine Verbindung her (egal wie groß die Unterschiede sein mögen).

Die integrierende Dynamik hat die Kraft, eine antagonistische Beziehung in eine kollegiale6 zu verwandeln, und sie verschiebt das gewohnheitsmäßige Zentrum7 unserer emotionalen Energien von Feindschaft zu Freundschaft. Voraussetzung ist ein intensiver Prozess, der unsere Beziehungen so verändert, dass sich positive Emotionen ohne unser bewusstes Zutun einstellen und uns das Gefühl geben, als habe sich plötzlich eine dunkle Wolke verzogen. Es ist wie eine Bekehrung, die den emotionalen Raum zwischen uns und der anderen Seite verändert. Wie bei einer religiösen Bekehrung müssen Sie dazu glauben, dass Veränderungen möglich sind, und diese zulassen. Natürlich werden Sie weiterhin negative Emotionen empfinden, doch wenn Sie den Möglichkeiten der integrierenden Dynamik vertrauen, werden ihre heilenden Instinkte folgen.

Die integrierende Dynamik schafft einen Gegensog hin zu einer einenden Grundhaltung, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet:

  1. Kooperationsbereitschaft: Statt die andere Seite ausschließlich als Bedrohung zu sehen, erkennen Sie Verbindungen und betonen diese, um eine kooperative Beziehung herzustellen. Sie kehren die Unterschiede nicht unter den Teppich, doch Sie sehen sie auch nicht als Grund für eine Gegnerschaft.

  2. Mitgefühl: Die integrierende Einstellung lässt Mitgefühl gegenüber Ihrer eigenen Situation und gegenüber den anderen zu. Es kann passieren, dass in einem Konflikt die eine Seite mehr leidet als die andere, doch alle erleben ein gewisses Maß an Leid. Mitgefühl ist ein zutiefst menschliches Ideal, weil es zeigt, dass wir nicht nur von Eigeninteresse8 angetrieben werden. Wenn Ihre Beziehungen besser werden, kommt auf natürliche Weise Mitgefühl zwischen Ihnen und der anderen Seite auf.

  3. Offenheit: Mit einer integrierenden Einstellung sind Sie offen dafür, eine Verbindung zu anderen Menschen herzustellen. Die Mauern Ihrer Identität werden durchlässiger und Sie sind in der Lage, mehr über das Anliegen der anderen in Erfahrung zu bringen und mehr von Ihrem mitzuteilen. Statt um Kernidentitäten zu ringen, gestatten Sie es sich, neue, kreative Ansätze für den Umgang miteinander zu suchen.

Polarisierende Einstellung

Integrierende Einstellung

konfrontativ

kooperativ

selbstgerecht

einfühlsam

verschlossen

offen

Die integrierende Dynamik beinhaltet vier Schritte zur Versöhnung beschädigter Beziehungen und zur Beilegung von Konflikten, die auf Identitäten basieren. Die Abbildung 10.1 auf der folgenden Seite zeigt diese Schritte und ihr Zusammenspiel. Vereinfacht gesagt, beginnt der Prozess mit einer konkreten Methode, die Ihnen zu verstehen hilft, wie Sie und die andere Seite in einem Konflikt Ihre Beziehung wahrnehmen. Sobald alle das Gefühl haben, dass Ihre Erzählungen gehört werden und Anerkennung finden, können Sie gemeinsam Ihren emotionalen Schmerz verarbeiten. Wenn die Beziehung besser wird, eröffnen sich Möglichkeiten zu einer aufrichtigen Verbindung, und diese wiederum sind die Grundlage, Ihre Beziehung innerhalb einer neuen Erzählung, die beide Seiten anerkennt, neu zu gestalten. Die folgenden Kapitel führen Sie durch jeden dieser Schritte.

Prinzipien der integrierenden Dynamik

Ehe ich die integrierende Dynamik im Einzelnen vorstelle, möchte ich Ihnen einen Überblick über die Methode und Ihre Ziele geben.

Abbildung 10.1

1.Das Ziel: Harmonie, nicht Sieg

In einem emotional aufgeladenen Konflikt können Sie zwar versuchen, einen Sieg über die andere Seite zu erringen, doch damit werden Sie kaum die Bedingungen für einen stabilen Frieden schaffen. Ihr Sieg ist die Niederlage des anderen, und der daraus resultierende Groll provoziert meist Vergeltung in irgendeiner Form.

Das Ziel der integrierenden Dynamik ist es, harmonische innere und äußere Beziehungen herzustellen. Inhaltliche Differenzen um Territorium oder andere konkrete Objekte lassen sich beilegen, doch bei Differenzen um Identität muss es darum gehen, Harmonie herzustellen. Sie können Ihre Überzeugungen nicht nach dem Willen des anderen verbiegen, doch Sie können die Art Ihrer Beziehung ändern und Ihre Differenzen im Zusammenhang einer übergeordneten Einheit sehen.

2.Der Weg zur Harmonie ist nicht gradlinig

Zwar stelle ich die integrierende Dynamik als ordentlichen zyklischen Prozess aus vier aufeinanderfolgenden Schritten dar, doch das ist eher eine Schematisierung als eine exakte Beschreibung.9 Um eine integrierende Dynamik herzustellen, müssen Sie im emotionalen Auf und Ab mit diesen vier Schritten jonglieren: Vielleicht spüren Sie heute nichts als Verachtung für Ihre Partnerin und morgen einen Anflug von Versöhnlichkeit, um übermorgen wütende Selbstgerechtigkeit zu empfinden und nächste Woche voller Reue zurückkehren wollen.

Diese vier Schritte sind keineswegs erschöpfend, denn es gibt zahllose Wege zur Versöhnung. Aber um keinen tausendseitigen Wälzer zu schreiben, der Sie mit so vielen Informationen überhäuft, dass er in der Praxis nutzlos ist, habe ich die wesentlichen Elemente herausgegriffen, die einprägsam und anwendbar sind, egal ob in einem Ehestreit oder einem internationalen Konflikt.

3.Der Weg zur Harmonie führt über Vergangenheit und Zukunft

Ein emotional aufgeladener Konflikt wirft uns in eine aufgewühlte See von bitteren Erinnerungen und Zukunftsängsten und stellt uns vor eine grundlegende Wahl: Sollten wir unser Augenmerk auf die Heilung der Vergangenheit oder die gemeinsame Arbeit an der künftigen Beziehung richten?

Eine oft psychoanalytisch angehauchte Denkrichtung vertritt die Auffassung, dass, wenn wir uns der Vergangenheit nicht stellen, wir dazu verdammt sind, sie zu wiederholen. Wenn sich eine ethnische Minderheit historisch als Opfer von Unterdrückung durch die herrschende Mehrheit sieht, dann wird sie kaum begeistert Teil der Gesellschaft werden, wenn sie nicht finanziell oder symbolisch für das wahrgenommene Unrecht entschädigt wird. Doch selbst mit dieser Entschädigung könnte die Vergangenheit das Zugehörigkeitsgefühl dieser Gruppe weiter trüben.

Andere Experten sind der Ansicht, dass die Beschwörung der Geister der Vergangenheit nur alte Konflikte wiederaufleben lässt. Sie vertreten die Auffassung, »Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist besser, gemeinsam die anstehenden Probleme zu lösen und eine starke neue Beziehung aufzubauen, als alte Konflikte aufzuwärmen.« In diese Richtung zielt die gemeinsame Problemlösung, die die Konfliktparteien dazu bringen will, zukunftsorientierte Antworten auf drängende Fragen zu finden.

Welches der beiden Lager hat Recht?10

Beide: Sowohl Vergangenheit als auch Zukunft spielen eine wichtige Rolle. Natürlich wirken vergangene Erfahrungen in unsere aktuellen emotionalen Beziehungen hinein, genau wie diese wiederum künftige Beziehungen beeinflussen. Die integrierende Dynamik geht dieses Problem an, indem sie in die Vergangenheit und in die Zukunft blickt. Die ersten beiden Schritte dieser Methode konzentrieren sich auf die Vergangenheit, sie analysieren Identitätserzählungen und kümmern sich um die Wunden der Beziehung.11 Die letzten beiden Schritte sind der Zukunft zugewandt, sie reparieren Beziehungen und suchen nach einer übergreifenden Einheit.

4.Der Weg zur Harmonie verlangt emotionalen und strukturellen Wandel

Die Lösung von emotional aufgeladenen Konflikten verlangt nicht nur, mit negativen Emotionen umzugehen, sondern auch, die Struktur der Beziehung zu verändern.12 Eine Frau in einer Missbrauchsbeziehung kann mit ihrem Mann an einer Therapie teilnehmen und dort ihre Wut und ihren Schmerz bewältigen, aber wenn sich die Verhaltensmuster nicht ändern, geht der Missbrauch weiter. Genauso können die Unterhändler zweier verfeindeter Gruppen Verhandlungen führen, um ihre politischen Differenzen beizulegen, aber wenn sie an ihrer feindseligen Haltung gegenüber der jeweils anderen Seite festhalten, wird der Konflikt weitergehen. Daher sind negative Emotionen und trennende Strukturen Hindernisse auf dem Weg zur Konfliktlösung, die in der Methode der integrierenden Dynamik behandelt werden.

Wie ein Berg entsteht

Die integrierende Dynamik lässt sich durch einen Vergleich mit der Geologie veranschaulichen. Unter unseren Füßen liegen gewaltige Erdplatten, die Kontinente und Inseln bilden. Diese Platten gehören zu einem riesigen Puzzle und bewegen sich in Reaktion auf Kräfte im Erdinneren. Wo zwei Platten aneinanderstoßen, befinden sich Zonen heftiger geologischer Aktivität, die Erde bebt und Gebirge werden aufgeschoben.

Stellen Sie sich nun vor, diese Platten sind unsere Kernidentität, die durch unsere gesellschaftlichen Interaktionen treibt. Meist passiert gar nichts, aber wenn die Identitäten zweier Personen aufeinanderprallen, kann es zu schweren emotionalen Erschütterungen kommen. Die Frage ist: Erzeugt das Aufeinanderprallen ein Beben oder einen Berg?

Ein Erdbeben ist zerstörerisch, es schadet uns und anderen und erschüttert uns bis in die Grundfesten unserer Identität. Der Berg ist dagegen konstruktiv, er verbindet unsere Identitäten zu etwas, das größer ist als die Summe der Teile. Die integrierende Dynamik schafft die Voraussetzung, dass das Aufeinanderprallen von Identitäten einen Berg hervorbringt.