Kapitel 11
Verstehen Sie den Mythos der Identität

Wir Menschen sind geborene Geschichtenerzähler. Vom Moment unserer Geburt an hüllen unsere Familien uns in Erzählungen – sie geben uns einen Namen, erklären uns unsere Kultur und trichtern uns ein, wer unsere historischen Freunde und Feinde sind. Diese Geschichten halten unser Leben zusammen und sagen uns, wer wir sind.1

Von den vielen Geschichten, die Konflikte schüren, hat keine mehr Einfluss auf uns als der Mythos der Identität – die zentrale Erzählung, die uns erklärt, wie wir uns in Verhältnis zu den anderen wahrzunehmen haben. In einem Konflikt sehen wir uns mit großer Wahrscheinlichkeit als Opfer und die anderen als Täter.2 Den Mythos schmücken wir mit Einzelheiten über unser Leid und die Schuld der anderen aus. Aber natürlich sehen die anderen den Konflikt durch ihren eigenen Mythos, und in diesem sind sie das Opfer. Solange wir diese Schablone für den Umgang mit anderen – den Mythos – nicht ändern, bleibt der Konflikt bestehen.

Aber es wäre falsch, den Mythos nur als Hindernis zu begreifen. So wie sich die Atomenergie produktiv nutzen lässt, um Strom zu erzeugen, lässt sich unser Mythos auch dazu verwenden, um Konflikte beizulegen. Je besser wir den Mythos der anderen verstehen, umso mehr Spielraum haben wir, um positive Beziehungen aufzubauen. Das vermeintlich irrationale Verhalten der anderen wird mit einem Mal verständlich.3

Dieses Kapitel stellt Ihnen eine einzigartige Methode vor, um den Mythos der anderen Seite zu verstehen. Um einen emotional aufgeladenen Konflikt beizulegen, reicht es nicht aus, einfach den Kummer der anderen Seite anzuerkennen. Wir benötigen Instrumente, um die symbolische Bedeutung des Konflikts zu verstehen und unsere Beziehungen neu zu gestalten, damit wir erfolgreicher in Dialog treten und selbst die explosivsten Konflikte entschärfen können.4

Die unbewusste Macht des Mythos

Der Mythos, den wir auf einen Konflikt projizieren, hat gewaltige unbewusste Auswirkungen auf dessen Verlauf. Das konnte ich zum Beispiel in einem Verhandlungsworkshop auf einer internationalen Konferenz in Europa beobachten. Ich teilte die fünfzig Teilnehmer willkürlich in wirtschaftliche Klassen ein, von der Unterschicht bis zur Elite. Erstere hatten kaum Ressourcen, letztere viele. In drei Runden sollten die Teilnehmer Ressourcen tauschen, mit wem sie wollten, um ihren unabhängigen wirtschaftlichen Erfolg zu maximieren. Während die Angehörigen der Oberschichten immer reicher wurden, wuchs in den unteren Schichten der Frust.

Vor Beginn der dritten Runde gab ich dem Spiel einen überraschenden Dreh. Die Angehörigen der Elite hatten inzwischen ein derartiges Vermögen angehäuft, dass sie die Gelegenheit bekommen sollten, für die letzte Verhandlungsrunde eigenmächtig neue Regeln aufzustellen: Sie konnten den Wert von Ressourcen neu definieren und Regeln formulieren, wer mit wem verhandeln durfte. Ich bat sie in einen elegant eingerichteten Nebenraum mit bequemen Sofas, wo Champagner und edle Pralinen gereicht wurden.

Sie waren begeistert, doch die gute Stimmung hielt nicht lange vor. Als sie den eigentlichen Verhandlungsraum verließen, wurden sie von den Teilnehmern der unteren Schichten ausgebuht. Ein wütender Unternehmer stellte sich auf seinen Stuhl und brüllte: »Denen können wir nicht vertrauen!« Ein anderer rief: »Machen wir doch eine Revolution!« Ein Dritter verlangte: »Warum klauen wir denen nicht einfach ihr Zeug!« Gesagt, getan – kaum hatten die Eliten den Raum verlassen, als sich ein Teilnehmer eine ihrer Mappen schnappte.

Interessanterweise unterhielten sich die Eliten ganze zwanzig Minuten lang darüber, wie sie die Verhandlungsregeln so ändern könnten, dass sie den Unterschichten nutzten – nicht ihnen selbst. Doch diese hatten sich inzwischen in eine Raserei hineingesteigert, und als die Angehörigen der Elite zurückkamen und die neuen Regeln erklären wollten, wurden sie mit wütendem Gebrüll überschrien. Die Armen warfen den Reichen vor, ihre Macht zu missbrauchen, und die Reichen reagierten mit Verachtung und verteidigten ihre guten Absichten. Alle begannen durcheinander zu schreien, und mir wurde klar, dass diese letzte Verhandlungsrunde schon zu Ende war, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Die Gruppe brauchte zehn Minuten, um sich wieder so weit zu beruhigen, dass wir den Workshop mit einer Abschlussbesprechung beenden konnten.

Wie konnte es passieren, dass diese international erfahrenen Manager und Politiker in diesem Experiment in einen virtuellen Klassenkampf gerieten? Ein entscheidender Faktor war der Mythos der Identität der Beteiligten. Die Angehörigen der unteren Schichten sahen sich als Opfer einer Diktatur, und an diesen Mythos klammerten sie sich, noch ehe die Angehörigen der Oberschicht die neuen Verhandlungsregeln überhaupt erklären konnten. Mit anderen Worten nahmen sie von vorneherein an, dass die Reichen sie ausbeuten würden, obwohl das gar nicht deren Absicht war. Die Reichen wiederum machten sich den Mythos zu eigen, sie seien die Retter, die den Armen beispringen mussten. Bei Champagner und Pralinen überlegten sie, wie sie die Armen »retten« konnten und verließen sich dazu ausschließlich auf hierarchische Entscheidungsmodelle. Es gab keine Regel, die ihnen verboten hätte, sich mit den Angehörigen der unteren Schichten zu besprechen, aber auf diesen Gedanken kamen sie nicht einmal.5 So griff jede Seite auf einen Mythos zurück, der die Absichten der anderen nicht verstand. Das Ergebnis war ein emotionaler Wirbelsturm.

Wie der Mythos funktioniert

Um einen Mythos zu erkennen, müssen wir zunächst seine Grundeigenschaften verstehen.

Ein Mythos gibt unsere emotionale Wirklichkeit vor

In einem Konflikt fügt der Mythos unsere tiefsten Emotionen zu einer schlüssigen Erzählung zusammen, die sich anfühlt, als sei sie die unerschütterliche Wahrheit. Wer versucht, diese Erzählung anzugreifen, der zieht unseren Zorn auf sich. Wie in dem Konflikt zwischen Unter- und Oberschichten im eben erwähnten Workshop: Die Reichen versuchten, die Armen davon zu überzeugen, dass ihnen am Gemeinwohl gelegen war, doch diese klammerten sich an ihren Mythos und ließen keinerlei Widerspruch zu.

Unser Mythos kann sich mit den Umständen verändern. Als die Angehörigen der unteren Schicht gegen die Eliten revoltierten, verwandelte ihr Mythos sie von »Unterdrückten« zu »Revolutionären«. Dieser neue Mythos war eine ebenso überzeugende Erzählung für ihre emotionale Wirklichkeit, wie es die alte gewesen war.

Ein Mythos hat biologische und biografische Wurzeln6

Nach Ansicht von Sigmund Freud war Konflikt vor allem das Ergebnis von Kindheitserfahrungen, wie im Falle des Wiederholungszwangs. Andere Denkrichtungen sehen die Wurzeln des Konflikts eher in unserer biologischen Natur7, das heißt, dass angeborene Eigenschaften des Menschen zum Konflikt beitragen.

Nach Ansicht des Psychiaters Carl Gustav Jung haben wir Menschen ein »kollektives Unbewusstes«, einen »Hort und Fundus unbewusster Bilder«, die unabhängig von unserer persönlichen Erfahrung existieren.8 Diese Bilder, die Jung als Archetypen9 bezeichnete, sind prototypische Eigenschaften der Menschheit. So wie Zugvögel wissen, dass sie im Herbst nach Süden fliegen müssen, haben wir Menschen unbewusste Verhaltensschablonen, mit deren Hilfe wir mit unserer sozialen Umwelt interagieren.10 Jeder von uns reagiert emotional auf Archetypen wie Geburt oder Tod; Vater, Mutter, Held und Teufel; sowie Geschichten der Schöpfung und des Weltuntergangs. Auch wenn sich mein konkretes Bild des Archetyps »Mutter« von Ihrem unterscheidet, haben wir dasselbe primitive Verständnis von dessen emotionaler Bedeutung.

Mit seiner Vorstellung, dass Menschen angeborene Strukturen mitbringen, um ihre gesellschaftliche Umwelt zu verstehen, ist Jung in guter Gesellschaft. Die Neurowissenschaften haben im Gehirn zahlreiche Strukturen entdeckt, die unser Sozialverhalten beeinflussen. Der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky hat gezeigt, dass wir über Tiefenstrukturen verfügen, mit deren Hilfe wir Sprache an sich verstehen, und Oberflächenstrukturen, um konkrete Inhalte zu kommunizieren.11 Und ethologische Untersuchungen haben Muster des Sozialverhaltens ausfindig gemacht, die allen Tieren gemeinsam sind – auch den Menschen.

Ein Mythos verwebt diese archetypischen Bilder (Biologie) mit unserem aktuellen Kontext (Biografie) und vertieft so unsere emotionale Wirklichkeit. Stellen Sie sich vor, ein Mann und eine Frau laden ihre Angehörigen und Freunde ein, ihnen dabei zuzusehen, wie sie in einem Saal einen Gang hinuntergehen. Das wäre ein recht banales Ereignis. Aber wenn es sich um die Trauung der beiden handelt, hat dieselbe Szene tiefe emotionale Bedeutung für die Beteiligten. Das Paar ruft Archetypen wach, die sich zu einer starken Erzählung über menschliche Partnerschaft zusammenfügen: Die Familien übernehmen die Rolle der Zeugen, und die Partner werden mythische Liebende, die in einer heiligen Zeremonie einen Bund eingehen.

Ein Mythos vertieft die persönliche Bedeutung eines Konflikts

Zu allen Zeiten haben sich Menschen mit uralten Mythen identifiziert, in denen es um Liebe, Eifersucht, Ablehnung und Demütigung geht. Ein Mythos überträgt diese Geschichten auf den Kontext unseres aktuellen Konflikts.12 Wenn wir unsere persönliche Biografie auf einen Archetypus projizieren, verwurzeln wir uns sowohl in unserer eigenen Erfahrungen als auch in dem langen Strom der kollektiven menschlichen Erfahrung. Unser Konflikt mag uns einzigartig erscheinen, doch das zugrundeliegende Thema ist zeitlos.

So kann uns ein Konflikt in eine mythische Zeit versetzen. Wenn wir unbewusst in die Rolle des mythischen Helden oder Märtyrers schlüpfen, transportieren wir unsere psychologische Wirklichkeit in die Zeit des ursprünglichen Mythos. Emotional sehen wir keinen Unterschied zwischen dem mythischen Archetypus und der Wirklichkeit, mit der wir gerade konfrontiert sind, und treten in das ein, was der Religionswissenschaftler Mircea Eliade als »ewige Wiederkehr«13 bezeichnet hat. Ich verstehe Eliades Vorstellung sehr allgemein: Wann immer wir eine mythische Erzählung – ob aus einem alten Text oder der jüngeren Geschichte – auf unseren Konflikt projizieren, treten wir in die ewige Wiederkehr ein. Ein Außenstehender mag unseren Konflikt als »Grenzstreitigkeit« oder als »innerbetriebliche Auseinandersetzung« beschreiben, doch wir erleben ihn als mythischen Kampf zwischen Gut und Böse.

Die Strategie der kreativen Introspektion

Die kreative Introspektion ist eine einfache Methode, die ich entwickelt habe, um den Mythos beider Seiten zu erkennen.14 Sie bedient sich bei großen Künstlern, dir ihre archetypischen Fantasien und Ängste in Geschichten und Kunstwerken zum Ausdruck gebracht haben. Analog können auch Sie in einem Konflikt versuchen, die unbewussten Archetypen in konkrete Bilder zu übersetzen, die Ihnen dabei helfen, die Beziehungsidentitäten aller Beteiligten besser zu verstehen. Um es mit Jung zu sagen, geht es darum, unsere »mythopoetische Imagination« zu wecken – unsere Fähigkeit, Erzählungen und Bilder zu schaffen, die unbewusste Erfahrungen zutage fördern.

Abbildung 11.1 zeigt die wichtigsten Schritte der kreativen Introspektion: Schaffen Sie einen Raum für aufrichtigen Dialog über kontroverse Themen; klären Sie, was für jede Seite auf dem Spiel steht; entdecken Sie den Mythos, der hinter den Sorgen und Ängsten jeder Seite steht; und revidieren Sie den Mythos, um die Beziehung zu verbessern.

1.Schaffen Sie einen Raum für aufrichtigen Dialog

Der gesunde Menschenverstand rät uns, einen »geschützten Raum« zu schaffen, in dem wir kontroverse Themen erörtern können, doch das kann auch nach hinten losgehen. Ein geschützter Raum kann zu geschützt sein, wenn die Regeln unsere Gefühle so weit ausklammern, dass die harten Themen gar nicht zur Sprache kommen. Nehmen wir beispielsweise die verbreitete Regel, die erlaubt, einen Konflikt zu unterbrechen, indem man sich darauf einigt, dass man sich nicht einig ist. Diese Regel vermittelt Ihnen das Gefühl des Schutzes, aber vor allem gibt sie allen Beteiligten das Recht, einem unangenehmen Gespräch aus dem Weg zu gehen. Außerdem kann sie die Mächtigen begünstigen, die einfach sagen können: »Ihre Ansichten sind mir egal. Ich stimme Ihnen einfach zu, dass wir unterschiedliche Auffassungen haben.« Damit bleibt der Konflikt bestehen.

Um die eigentlichen Streitthemen hinter einem emotional aufgeladenen Konflikt anzusprechen, muss der Dialog notwendig emotional aufwühlen. Daher würde ich Ihnen und der anderen Seite raten, einen »beherzten Raum« zu schaffen – ein Lernumfeld, in dem Sie sich ein Herz nehmen, kontroverse Gespräche zu führen, persönliche Risiken einzugehen und Sichtweisen zu überdenken.15 In dieser Atmosphäre ist emotionale Verwundbarkeit kein Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke.

Abbildung 11.1

Die Regeln des »beherzten Raums« unterscheiden sich gar nicht so sehr von denen des »geschützten Raums«: Sie einigen sich auf Vertraulichkeit, kommunizieren aufrichtige Gefühle, hören offen und respektvoll zu. Der Rahmen spielt jedoch eine entscheidende Rolle. In einem Rahmen, der persönlichen Mut betont, sind Teilnehmer eher bereit, emotional empfindliche Themen anzusprechen als in einem Rahmen, der die Illusion der Sicherheit vermittelt.16

2.Klären Sie, was auf dem Spiel steht

Suchen Sie nach den persönlichen Motiven, die Sie und die andere Seite in den Konflikt treiben. Dem äußeren Anschein nach könnte es in Ihrem Konflikt einfach um Ressourcen, Maßnahmen oder ein anderes inhaltlich kontroverses Thema gehen. Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, was wirklich auf dem Spiel steht. So können Sie zum Beispiel unablässig mit einer arroganten Kollegin zanken, bis Sie erfahren, dass Sie als Kind gehänselt wurde und sich nach sozialer Anerkennung sehnt. Wenn Sie dieses Bedürfnis nach Status verstehen, können Sie mehr Geduld aufbringen und den emotionalen Graben überwinden.

Erkennen Sie die Ebenen der menschlichen Motivation

Die menschliche Erfahrung hat drei große Dimensionen, und in jeder werden wir durch andere Dinge motiviert. Die erste betont die Vernunft, die zweite die Emotionen und die dritte die Spiritualität. Je tiefer die Dimension, umso größer ihre persönliche Bedeutung, und umso mehr unternehmen wir zu ihrem Schutz. Sollten sie in einem Konflikt ausgeklammert werden, wird die Lösung schwieriger, und eine Einigung geht schneller in die Brüche.17

Vernunft ist die Ebene der Logik, des rationalen Verständnisses und der systematischen Analyse. Hier motivieren Argumente und Vernunftgründe unser Handeln. In einem Konflikt haben wir und die andere Seite unsere Gründe für unser Handeln: In der Verhandlungstechnik bezeichnet man diese als »Interessen«. Konfliktparteien können entgegengesetzte Positionen vertreten, doch ihre Interessen können mehr oder weniger miteinander vereinbar sein.

Emotionen bringen persönliche Spannung in unsere Umwelt. In einem Konflikt reagieren wir oft emotional, weil unsere Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Zusammen mit Roger Fischer habe ich fünf Grundbedürfnisse benannt, die in einem Konflikt Emotionen auslösen können: Wertschätzung, Verbundenheit, Autonomie, Status und Rolle.18 Wird ein Grundbedürfnis befriedigt, empfinden wir dies als positiv und werden kooperativer; wenn nicht, verursacht dies Schmerz. In meiner Arbeit mit Managern und Politikern bitte ich diese oft, ihre Konflikte zu analysieren und die unbefriedigten Grundbedürfnisse beider Seiten zu benennen. Auf diese Weise finden sie verborgene Konfliktquellen, und das scheinbar irrationale Verhalten der anderen Seite wird verständlicher und leichter zu handhaben.

Spiritualität ist vermutlich die komplexeste der drei Dimensionen, und zugleich diejenige, die bei der Beilegung emotional aufgeladener Konflikte am wichtigsten ist. Mit der spirituellen Dimension ist nicht unbedingt etwas Göttliches gemeint, sondern allgemeiner der tiefere Sinn, den wir den Dingen geben. Während ein Aufeinanderprallen rationaler Sichtweisen eine lebhafte Debatte provozieren kann, kann ein spiritueller Konflikt heftigen Widerstand provozieren.

Spiritualität motiviert uns durch Berufung – eine instinktive Vorstellung vom Sinn des Lebens. Sie ruft uns an, mal flüsternd, mal mit lauter Stimme, und zwingt uns, diesen Weg zu gehen und keinen anderen. Einer Berufung zu folgen, heißt, auf eine Weise zu handeln, die unser Gefühl der emotionalen Ganzheit stärkt. Wir identifizieren uns mit etwas, das größer ist als wir selbst (zum Beispiel Familie, Nation, Ethnie, Religion oder Ideologie), das uns zum Handeln auffordert und uns sagt, was wir zu tun haben, um uns emotional ganz zu fühlen, koste es, was es wolle.

Unsere Vernunft kann dieser Berufung folgen, unsere Emotionen drängen uns zum Handeln. Doch der Ruf kommt aus dem Allerheiligsten der Identität – dem, was Religionen als »Seele« bezeichnen. Wir können uns taub stellen oder den Ruf mit Alltagslärm übertönen, aber wenn wir ihn ignorieren, machen wir keinen Gebrauch vom diesem wichtigen Wegweiser zur Versöhnung.

Suchen Sie die tiefere Bedeutung des Konflikts

Bei der Beschäftigung mit der rationalen Bedeutung eines Konflikts stoßen Sie auf die Grundbedürfnisse, die auf dem Spiel stehen, und diese wiederum helfen Ihnen, die spirituelle Bedeutung des Konflikts zu erkennen. Um diese drei Dimensionen des Konflikts freizulegen, gehen Sie folgenden Fragen nach – erst allein, dann gemeinsam mit der anderen Seite:

1. Welche Interessen stehen auf dem Spiel? Suchen Sie hinter den Positionen nach den eigentlichen Interessen.19 Nehmen wir einen Streit zwischen John und Sarah, Eigentümer eines kleinen Unternehmens, das in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist, und die sich nun nicht einigen können, ob sie zwei Mitarbeiter entlassen sollen oder nicht. »Damit das Unternehmen überlebt, sind wir gezwungen, die beiden zu entlassen«, meint John. Doch Sarah sieht das ganz anders. »Auf gar keinen Fall. Wenn wir sie entlassen, zerstören wir die Seele unseres Unternehmens.« John wird wütend und fragt sie, warum sie so halsstarrig ist. Die beiden haben zwar unterschiedliche Positionen, doch ihre Interessen sind miteinander vereinbar. Beide wollen Kosten sparen, das Wesen des Unternehmens erhalten und ihre Zusammenarbeit bewahren. Sie wägen Optionen ab, die für beide vorteilhaft sind, und entscheiden sich für eine, die beiden möglich scheint: Sie behalten die beiden Mitarbeiter und ziehen das Unternehmen in ein Gebäude um, in dem sie weniger Miete zahlen.

2. Welche Grundbedürfnisse stehen auf dem Spiel? Überlegen Sie, welche Bedürfnisse in diesem Konflikt die Emotionen besonders anheizen. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Sichtweise nicht ausreichend berücksichtigt wird? Dass Sie als Gegenspieler behandelt werden? Dass Sie vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen werden? Dass Ihr Status herabgesetzt wird? Dass Sie eine unbefriedigende Rolle übernehmen sollen? Dann versetzen Sie sich in die Lage der anderen und überlegen Sie, welche ihrer Grundbedürfnisse nicht befriedigt sein könnten.

Um ihr Problem beizulegen, mussten John und Sarah zunächst dem Sog des Schwindelgefühls entkommen. Sarah machte sich bewusst, welche ihrer Grundbedürfnisse nicht befriedigt wurden. Sie erkannte, dass Ihre Sichtweise nicht ausreichend gewürdigt wurde; dass John ihre Autonomie verletzte, indem er ihr Anweisungen gab, was zu tun sei; dass sie sich als Gegenspielerin behandelt fühlte; dass sie das Gefühl hatte, ihr Status werde nicht ausreichend anerkannt; und dass sie meinte, im Unternehmen eine unbedeutende Rolle zu erhalten. Und sie erkannte, dass es John vermutlich kaum anders ging. Mit dieser Reflexion über Grundbedürfnisse konnte sie ihre Emotionen beruhigen und einen Raum zur Problemlösung schaffen.

3. Welche Säulen der Identität stehen auf dem Spiel? Die Erkundung Ihres Mythos kann ein intensiver Prozess sein, der von Ihnen verlangt, nach innen zu blicken und über Ihr Handeln aufrichtig Rechenschaft abzulegen. Aber durch die spirituelle Erkenntnis können Sie Aspekte Ihrer selbst entdecken, die Ihr Verhalten in erheblichem Maße beeinflussen: Aspekte, von denen Sie kaum etwas wussten oder die Sie verdrängt haben.

Um sich der spirituellen Dimension eines Konflikts bewusst zu werden, reflektieren Sie über Säulen Ihrer Identität. Welche Ihrer Grundüberzeugungen, Rituale, Bindungen, Werte oder bedeutsame Erfahrungen sehen Sie gefährdet? Welche Säulen sind Ihre Hauptmotive? Außerdem können Sie sich vergleichende Fragen20 stellen, um zu verstehen, worum es in diesem Konflikt wirklich geht. Wenn Sie mit der anderen Seite eine gute Verhandlungsbeziehung hergestellt haben, können Sie ihr dieselben Fragen stellen:21

Vielleicht glauben Sie, dass das Motiv der anderen Seite ausschließlich rationaler, emotionaler oder spiritueller Natur ist, doch Sie sollten sich nicht täuschen lassen. In der Regel spielen alle drei Dimensionen eine Rolle. Die folgende Tabelle auf Seite 185 gibt Ihnen einige weitere Fragen, mit deren Hilfe Sie die tiefere Bedeutung eines Konflikts verstehen können.

Selbst ein Vernunftmensch kann die Welt eines spirituellen Menschen nachvollziehen. Unlängst traf ich zufällig meinen Kollegen Mooly Dinnar in einem Café. Sein Vater war gestürzt und eine Woche zuvor an einer Hirnblutung gestorben. Mooly ist zwar kein besonders spiritueller Mensch, doch er erzählte mir, die letzten Momente im Leben seines Vaters hätten für ihn eine geradezu mystische Bedeutung erhalten. Der Zustand seines Vaters hätte sich rasant verschlechtert, weshalb Mooly den nächsten Flug genommen habe, um ihn zu besuchen. Als er ankam, war sein Vater ins Koma gefallen; seit zehn Stunden sagten die Ärzte, er könne jeden Moment sterben. Mooly eilte ins Krankenzimmer und nahm seine Hand. »Papa, ich bin da. Ich liebe dich. Wir sind alle am Bett bei dir, wir lieben dich.« In diesem Moment tat sein Vater seinen letzten Atemzug. Mooly war zutiefst berührt: Es war der israelische Nationalfeiertag Jom haSikaron, an dem der gefallenen israelischen Soldaten und Opfern des Terrorismus im Konflikt mit Palästina gedacht wird, und der Vorabend des Sabbat, und dieses Zusammentreffen symbolisierte für ihn den höheren Sinn des Lebens und Sterbens seines Vaters.

Kernidentität

Beziehungsidentität

Welche Ihrer …

In welcher Hinsicht fühlen Sie sich …

1.  Überzeugungen werden
an­gegriffen?

1.  in Ihren Sichtweisen nicht aus­reichend anerkannt?

2. Rituale scheinen bedroht?

2.  in der Autonomie Ihrer Handlungen und Gefühle eingeschränkt?

3. Bindungen scheinen gefährdet?

3. als Gegenspieler behandelt?

4. Werte scheinen in Gefahr?

4. in Ihrem Status nicht gewürdigt?

5.  emotional bedeutsamen Erfahrungen oder Erinnerungen scheinen infrage gestellt?

5. in Ihrer Rolle nicht zufrieden?

Fragen, um die tiefere Bedeutung eines Konflikts zu verstehen.

Hören Sie zu und lernen Sie – selbst in den schwierigsten Momenten

Konflikte können Sie aus der Bahn werfen, aber haben Sie keine Angst davor, sich die Erzählung der anderen Seite anzuhören. Nehmen Sie Ihr Unbehagen an: Es ist ein Zeichen, dass Sie auf einer emotionalen Ebene lernen. Allzu oft stellt jemand eine gute, offene Frage, nur um auf die Antwort mit einer Abwehr zu reagieren. Ihnen sollte es darum gehen, zu lernen, und nicht darum, den anderen zu widerlegen.

Aktives Zuhören ist eine beliebte Methode, doch in einem emotional aufgeladenen Konflikt bleibt sie unzureichend. Wenn Sie die Aussagen Ihres Gegenübers mechanisch wiederholen, zeigen Sie nur, dass Sie gehört haben, was er sagt, aber Sie demonstrieren nicht, dass Sie die tiefere Bedeutung verstanden haben. Und wenn Sie nur sein Gefühl der Zurückweisung anerkennen, würdigen Sie seinen Mythos nicht. Statt die Aussagen des anderen wiederzugeben, sollten Sie aktiv zu verstehen suchen, wie die Identität des anderen in den Konflikt hineinspielt.22

Zuhören findet vor allem in Ihnen selbst statt. Ihre Aufmerksamkeit kann derart von selbstgerechter Entrüstung, Scham oder Verurteilung abgelenkt sein, dass Sie buchstäblich taub sind für die Botschaft der anderen. Deshalb ist es wichtig, alle paar Minuten Ihren emotionalen Zustand zu überprüfen, und verletzte Gefühle, verärgerte Gedanken und körperliche Anspannung zu registrieren. Wenn Sie diese Erfahrungen wahrnehmen, können Sie sie in Klammern setzen und sich ihnen zuwenden, nachdem Sie der Erfahrung der anderen Seite Ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt haben. So werden Sie ein besserer Zuhörer und verhindern impulsive Reaktionen.

Nachdem Sie der Erzählung der anderen Seite aufmerksam zugehört haben, geben Sie Ihre eigene wieder. Aber verlieren Sie dabei Ihr Ziel nicht aus den Augen: Sie wollen, dass sich die andere Seite Ihre Erzählung anhört und sie anerkennt. Das gelingt Ihnen am besten in einer nicht bedrohlichen Sprache. Statt zum Beispiel zu klagen: »Sie sind verrückt, mir Machtmissbrauch vorzuwerfen« könnten Sie sagen: »Ihre Anschuldigung hat mich ein wenig verärgert. Meine wirkliche Absicht war …« Um den anderen nicht vor den Kopf zu stoßen, zeigen Sie ihm, dass Sie verärgert waren, aber dass Ihre Emotionen komplex sind; so lassen Sie Raum für Versöhnung.

3.Entdecken Sie Ihren Mythos und den der anderen Seite

Um eine haltbare Einigung zu erzielen, müssen Sie Ihre Sichtweise auf die Beziehung mit der anderen Seite – Ihren Mythos der Identität – neu schreiben. Zwei Politiker können einen Friedensvertrag unterzeichnen, aber wenn sie sich nach wie vor als Feinde betrachten, dann wird diese Einigung kaum von Dauer sein. Unser Mythos der Identität stellt uns und die anderen unbewusst als archetypische Feinde gegenüber, die sich in berechenbarer Weise zueinander verhalten: Wir sehen uns als David, der Goliath gegenübertritt, oder als Opfer, das von einem Täter als Geisel genommen wird, aber in jedem Fall sehen wir uns als schwach und den Gegner als übermächtig. Um die Kontrolle über den Konflikt wiederzuerlangen, müssen wir diese Archetypen und den Mythos, in dem sie auftreten, erkennen.

Die Verwendung der Archetypen hat gleich mehrere praktische Vorteile. Erstens gibt sie Ihnen die Möglichkeit, aus sich herauszutreten und Ihre Beziehung aus einem gewissen Abstand heraus zu betrachten. So fällt es Ihnen leichter, sich Veränderungen der Beziehung vorzustellen, weil Sie nicht mehr direkt über sich selbst sprechen, sondern dazu Bilder und Metaphern verwenden.

Zweitens können Sie emotionale Streitfragen durch Symbole erörtern, statt direkt über Emotionen zu sprechen.23 In Konflikten zögern viele Menschen, über ihre Emotionen zu sprechen, weil sie sich keine Blöße geben wollen und Angst haben, Dinge zu sagen, die eine feindselige Reaktion provozieren. Die Verwendung von Archetypen kann dieser Furcht begegnen.

Drittens sind Archetypen einfach zu merken. In einem Konflikt kann es schwer sein, sich in allen Einzelheiten an das Gefühlsleben und an die Beschwerden, Hoffnungen und Ängste aller Beteiligten zu erinnern. Ein Archetypus lässt sich dagegen leicht im Kopf behalten, er ist bildlich und randvoll mit emotionalen Informationen. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr in allen Einzelheiten an die komplexen Emotionen der anderen Seite, doch sie können uns leicht daran erinnern, dass sie in Ihnen einen Goliath sieht. Der Archetypus kann Ihnen helfen, weitere Kommunikation schnell in einen Zusammenhang zu stellen, und fördert Mitgefühl und Verständnis.

Und viertens können Sie mit der Suche nach dem Archetypus Ihren Blick weiten und über Ihren eigenen Schmerz hinausblicken. Während der Konflikt Ihren Blick verengt und auf Ihren eigenen Schmerz richtet, hilft Ihnen die Arbeit mit Archetypen, Ihren Konflikt in einen größeren Zusammenhang zu stellen.24 Sie sind nicht mehr das einsame Opfer, sondern einer der Protagonisten in einem Urdrama.25 Die Frage lautet nicht mehr, »Warum ich?«, sondern »Warum wir?«. Warum leiden wir Menschen unter den Mächtigen? Warum trauern wir um den Verlust der Liebe? Der Archetypus nimmt dem Konflikt den isolierenden Stachel.

Mir gefällt dieser Ansatz. Wenn ich mit meiner Frau streite, dann erinnere ich mich daran, dass die Welt nun einmal so ist: Paare streiten sich – das war schon immer so und wird sich auch nie ändern. Mia und ich sind nicht allein mit unserem emotionalen Schmerz, sondern wir inszenieren ein archetypisches Drama, das so alt ist wie die Menschheit. Wenn wir unseren Konflikt in den Zusammenhang der Erfahrungen der Menschheit stellen, relativiert sich vieles.

Nun, da Sie die Bedeutung der Archetypen verstehen, können Sie sie anwenden, um den Mythos der anderen Seite aufzudecken.

Finden Sie eine Metapher für Ihre Konfliktbeziehung

Welches Bild entspricht Ihrer emotionalen Erfahrung in diesem Konflikt am ehesten? Sehen Sie sich als mächtigen Löwen? Als hilfloses Kind? Welches Bild entspricht der anderen Seite? Suchen Sie nach Bildern aus Mythen, Märchen oder spirituellen Geschichten – je kreativer, umso besser. Sie können sich die andere Seite auch als hinterhältigen Affen, als gefährlichen Wirbelsturm oder als harten Boxer vorstellen.

Wenn Sie einen beherzten Raum geschaffen haben, dann können Sie diese Bilder auch zusammen mit der anderen Seite suchen. Ich habe dieses Verfahren bei den Teilnehmern von ethnopolitischen Konflikten angewendet und war überrascht, mit welcher Leichtigkeit sich die Parteien auf Metaphern einigen konnten. Die Suche nach Bildern ist vor allem deshalb so wertvoll, weil die Konfliktparteien einander zuhören, unterschiedliche Sichtweisen anerkennen und diese in ihre gemeinsame Entscheidung einbeziehen müssen.

Vor einigen Jahren leitete ich einen Workshop im Nahen Osten26, bei dem es darum ging, Streitigkeiten zwischen Schiiten und Sunniten der Region beizulegen. Die Spannung war so groß, dass ein direktes Gespräch über ein beliebiges Thema fast unweigerlich in einem unproduktiven Streit endete. Also teilte ich die Teilnehmer in mehrere Gruppen ein und gab jeder den Auftrag, gemeinsam eine Metapher für den Konflikt zu finden. Nach einer halben Stunde präsentierten sie ihre Ergebnisse. Die einen zeichneten den Konflikt als ein Krebsgeschwür, das seinen eigenen Körper zerfraß, die anderen als einen klassischen Bruderzwist. Letzteres Bild sprach alle Beteiligten an und ermöglichte einen Perspektivwechsel hin zu der Frage, wie sich dieser Streit zwischen Brüdern beilegen ließ. Ein Teilnehmer schlug vor, dass nur Führer »aus der Familie« die Versöhnung vermitteln konnten. Nun entwarf die Gruppe Strukturen, innerhalb derer sich die Oberhäupter der Schiiten und Sunniten treffen, Meinungen austauschen und einen Versöhnungsprozess entwickeln konnten. Obwohl die Streitfragen komplex waren und von geopolitischen Auseinandersetzungen weiter angeheizt wurden, half die Übung den Teilnehmern, die Aufgabe klarer zu sehen und effektiver anzupacken.

Es gibt eine Vielzahl kreativer Methoden, um die geeignete Metapher zu finden. Zum Beispiel können Sie ein Bild wählen und es auf Ihre Situation zuschneiden. Sie können aus der Liste »Beispiele für Archetypen« auf Seite 194 f. einen auswählen und sich überlegen, wie Sie ihn auf Ihre emotionale Wahrnehmung des Konflikts zuschneiden können. Nehmen wir an, Sie wählen einen Löwen – sind Sie ein junger Löwe, der die alte Garde bedroht? Oder ein verwundeter Löwe, der leidet, sich nach außen aber nichts anmerken lässt?

Eine andere Methode besteht darin, zusammen mit einem Freund oder Verbündeten eine Metapher zu erfinden. Diese Methode funktionierte im Falle von Jungs Patienten. Jung beschäftigte sich über Jahrzehnte hinweg mit den Mythologien der Welt, und wenn Patienten ihm ihre Probleme anvertrauten, konnte er aus einem reichen Fundus von Bildern schöpfen, um den passenden Archetypen für ihre Erfahrung zu finden. Ihr Vertrauter muss kein Jungianer und Mythenforscher sein, es reicht schon ein kreativer Mensch.

Sie können sich auch bei der Kunst bedienen. Blättern Sie durch ein paar Kunstbände und suchen Sie nach einem Gemälde, das Ihre Konflikterfahrung darstellt, oder trauen Sie sich und malen Sie selbst etwas. Das Ergebnis kann sehr erhellend sein. In einem Verhandlungskurs mit Managern der mittleren Führungsebene bat ich die Teilnehmer zu zeichnen, wie sie sich in ihrem aktuellen Konflikt wahrnahmen. Die Bilder waren faszinierend und zeigten alles vom entschlossenen Kämpfer bis zum verschreckten Kind.

Woher wissen Sie, ob Sie die »richtige« Metapher gefunden haben? Das Entscheidende ist, dass es emotional stimmt. Sie sollten ein Bild wählen, das Ihrer emotionalen Erfahrung des Konflikts entspricht. Das Ziel ist nicht Perfektion – es gibt nicht das eine Bild, das Ihre Gefühle vollkommen wiedergibt. Also suchen Sie, bis Sie ein Bild finden, das ausreichend stimmig ist, um Sie weiterzubringen.

Klären Sie die Beziehung zwischen den Bildern

Wenn Sie eine Metapher gefunden haben, denken Sie über die Beziehung zwischen den Bildern nach. Ist es wie ein Kampf zweier wütender Löwen um ein Territorium? Oder ein Wettstreit um die Zuneigung des Rudelführers?

Der Psychiater Vamık Volkan experimentierte mit der Macht von Metaphern in internationalen Konflikten und vermittelte kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen inoffiziellen Dialog zwischen Politikern aus Estland und Russland. Während einer der Sitzungen bat er die Teilnehmer, eine Metapher für das Verhältnis der beiden Länder zu finden.

Die Delegierten fanden zwei Bilder: einen Elefanten für Russland und ein Kaninchen für Estland. Dann überlegten sie, wie die Dynamik zwischen Elefant und Kaninchen aussehen konnte. Die Tiere konnten Freunde sein, meinten sie, doch das Kaninchen müsse aufpassen, dass der Elefant es nicht versehentlich zertrat. »Die Metapher des Elefanten und des Kaninchens half einigen russischen Teilnehmern zu verstehen, dass die Esten nicht etwa undankbar für die sowjetische Vergangenheit waren, sondern dass sie verständlicherweise vorsichtig sein mussten«27, so Volkan und seine Kollegin Joyce Neu. Die Esten sorgten sich, ihre neu gewonnene Autonomie wieder zu verlieren, und jedes Land kämpfte darum, inmitten des ungewissen politischen Geländes ihren Mythos zu definieren. Dank der Metaphern konnten die Politiker ihr Verhältnis sicher erörtern. Statt ihre Gefühle direkt auszusprechen, konnten sie sie indirekt kommunizieren.

Um Ihre Metapher zu schärfen, überlegen Sie, wie sie die Bedeutung des Konflikts aus Sicht jeder der beiden Parteien besser vermitteln kann. Achten Sie darauf, dass die Bilder nicht nur die rationalen, sondern auch die emotionalen und spirituellen Interessen darstellen. Wenn Sie zwischen der Analyse der Bedeutung des Konflikts und der Verfeinerung der Metapher wechseln, klären Sie zugleich das Wesen Ihres Mythos der Identität.

Natürlich werden Sie nicht immer mit der anderen Partei übereinstimmen, welche archetypischen Bilder Ihre Beziehung am besten wiedergeben. Sie können sich selbst als zahme Hauskatze wahrnehmen, während die andere Seite in Ihnen eher eine reißende Löwin sieht. Wenn sich Ihre Bilder unterscheiden, können Sie sich darüber austauschen, warum jede Seite das Verhältnis so und nicht anders darstellt. Es kann sogar eine nützliche Übung sein, die Beteiligten nach Archetypen suchen zu lassen, die ihrer Ansicht nach die Wahrnehmung der Beziehung durch die andere Seite repräsentieren, und dann über die unterschiedlichen Bilder zu sprechen.

4.Passen Sie den Mythos auf Ihre Situation an

Der letzte Schritt der kreativen Introspektion ist die Anpassung des Mythos auf Ihre konkrete Situation.28 An diesem Punkt behalten Sie die Bilder, die Sie und die andere Seite für sich gefunden haben, Ihre Kernidentitäten bleiben also sicher. Was Sie ändern, ist das Verhältnis zwischen diesen Bildern, so wie die russischen und estnischen Delegierten das Verhältnis von Elefant und Kaninchen neu interpretiert haben.

Stellen Sie sich eine bessere Beziehung zwischen den Bildern vor

Stellen Sie sich folgenden Konflikt zwischen mir und meiner Frau vor. »Wir leben aneinander vorbei«, klagt Mia und ich stimme zu. Wir stellen einander dar, wie wir die Situation erleben und stellen fest, dass wir beide frustriert sind. Ich unterrichte und schreibe an meinem Buch, sie kümmert sich rund um die Uhr um die Kinder und den Haushalt. Wenn wir denn einmal zwei Minuten füreinander haben, reden wir aneinander vorbei. Es fühlt sich gut an, sich einmal auszusprechen, doch danach bleibt alles beim Alten.

Später tauschen wir uns wieder aus, doch diesmal verwenden wir Bilder dafür, wie wir uns in unserem Konflikt fühlen. Wir kommen überein, dass ich wie eine Wolke bin, die während der Arbeit an meinem Buch in einer Welt der Theorie schwebt. Mia ist dagegen ein Anker, der sich nicht bewegt, während sie sich um die endlosen Aufgaben im Haushalt kümmert. Sofort fühlen wir uns besser verstanden, und die Stimmung klart sich auf.

Spielerisch stellen wir uns nun vor, wie die Wolke und der Anker besser miteinander kommunizieren können. Manchmal braucht der Anker einen Helikopter, um in die Wolken zu fliegen – aber nicht so lange, dass ihm der Treibstoff ausgeht. Wir sprechen auch über die Möglichkeit, zusammen einen Ballon zu besteigen, der am Himmel steht und gleichzeitig am Boden verankert ist. Unsere Geschichten sind nicht logisch – kein Anker fliegt mit einem Hubschrauber –, aber das spielt keine Rolle. Bei der kreativen Introspektion geht es darum, die emotionale Dimension unserer Beziehungserfahrung zu erfassen, egal wie schief die Kombination der Metaphern sein mag.

Setzen Sie Ihre Erkenntnis in der Praxis um

Überlegen Sie, wie Sie die neuen Sichtweisen auf Ihre Beziehung anwenden können. In meinem Konflikt mit Mia erkannte jeder den Einsatz des anderen für unsere Familie und gesellschaftliche Belange an. Wir erkannten auch, dass wir zwei unterschiedliche Sprachen verwendeten: Ich sprach Theorie, Mia Praxis. Wir beschlossen, einander mindestens zehn Minuten am Tag in unseren Welten zu besuchen. Sie besuchte die Wolke, um über Theorie zu sprechen, und die Wolke besuchte den Anker, um über den Alltag zu sprechen. Das brachte uns einander näher.

Dieser Prozess der kreativen Introspektion erwies sich auch im Fall von Maria und Gail als hilfreich, einer Mutter und ihrer jugendlichen Tochter, die Schwierigkeiten hatten, einander zu verstehen. Tagelang stritten sie sich und drohten einander »nie mehr ein Wort« mit der anderen zu sprechen. Dann versöhnten sie sich wieder, nur um sich eine Woche später wieder in die Haare zu kriegen. Als ich mit den beiden über Archetypen sprach, die ihrer Ansicht nach das Wesen ihrer Beziehungsdynamik erfassten, beschrieb sich Gail als Fischlein, das von einem aggressiven Hai bedroht wurde. Ihre Mutter stimmte zu, mit dem Unterschied, dass sie sich als das Fischlein sah und ihre Tochter als den Hai.

Als ich die beiden bat, das Verhältnis zwischen einem Hai und einem kleinen Fisch zu beschreiben, begannen die beiden ein lebhaftes Gespräch über ihre jeweiligen Enttäuschungen und brachten den starken Wunsch zum Ausdruck, ihre Beziehung zu verbessern. Gail schlug vor zu überlegen, wie sie zwei befreundete Haifische werden und die Gefühle der anderen schützen konnten. Ihre Mutter stimmte zu, und die beiden suchten nach Möglichkeiten, wie sie dies in der Praxis umsetzen konnten.

In der Vergangenheit waren Mutter und Tochter immer wieder daran gescheitert, einander ihre Gefühle mitzuteilen: Rasch waren sie im Wiederholungszwang gefangen und gerieten in den Sog des Schwindelgefühls. Ihre Beziehung war inzwischen derart beschädigt, dass sich der indirekte Weg über die kreative Introspektion als besonders sicherer und effektiver Weg zur Versöhnung erwies. Die Mutter konnte nun hinter Gails zornige Worte horchen und die eigentliche Dynamik erkennen, und Gail erkannte, dass ihr Zorn nur eine Rüstung war, mit der sie ihre Identität beschützen wollte.

Beispiele für Archetypen

Familienbeziehungen

  • böses Kind

  • die Geschiedene

  • das schwarze Schaf der Familie

  • strenge Mutter

  • braves Kind

  • gehörnter Ehemann

  • Ausgestoßene/r

  • Adoptivkind

  • Witwe

  • entfernter Cousin

  • konkurrierender Verwandter

Typen

  • Retter

  • Clown

  • Hexe

  • Heiler

  • Held

  • Verräter

  • Schurke

  • Patient

  • Dieb

  • Ratgeber

  • Vampir

  • freches Kind

Griechische Mythologie

Olympier: sitzen im Götterhimmel und herrschen über die Sterblichen auf Erden.

Zeus: Göttervater, nutzt seine Macht, um Göttern und Menschen Schutz und Stabilität zu geben.

Sisyphos: verdammt, einen Fels auf einen
Berg zu rollen und es nie zu schaffen, weil er immer wieder herunter rollt.

Hera: Göttermutter, gezwungen, die dauernde Untreue ihres Gatten Zeus zu ertragen.

Tantalos: an einen Baum gefesselt, erreicht er nie, was er zum Leben braucht – weder die Früchte über ihm noch das Wasser unter ihm.

Theseus: verhandelt in gutem Glauben, wird übertölpelt und verbringt ein Leben in der Hölle.

Tierreich

König der Löwen: führt sein
Rudel in der Jagd auf ein einsames Zebra.

Weißer Hai: furchtloser Räuber des Meeres, fällt über alles her, was sich nicht in Sicherheit bringen kann.

Maus: schlau, macht Winzigkeit durch Flinkheit wett.

Wolf: hetzt große Beutetiere, bis sie erschöpft sind, und fällt dann über sie her.

Gepard: schnell, elegant und wild. Greift schnell an, aber gibt genauso schnell auf.

Beispiele für Archetypen

Was, wenn die anderen mächtiger sind?

Ein Mythos ist nicht nur eine Erzählung, sondern auch ein Instrument der Machtausübung. Das Prinzip ist ganz einfach: Wer meinen Mythos kontrolliert, der kontrolliert auch mich. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in einem Konflikt die Gegenseite versuchen könnte, unseren Mythos in ihrem Sinne zu manipulieren. Das ist Identitätspolitik in ihrer schlimmsten Form. Stellen Sie sich vor, ein Mann, der seine Frau emotional missbraucht, erzählt eine Geschichte der Herrschaft über diese Frau und vermittelt ihr das Gefühl, dass sie diese Beziehung nicht verlassen kann, ohne zugrunde zu gehen; sie sieht keinen Spielraum, um ihren Widerspruch zu äußern. Oder nehmen wir die rassistischen Erzählungen in den Vereinigten Staaten, etwa die Gesetze zur Rassentrennung, die Weißen besseren Zugang zu Waren, Dienstleistungen und gesellschaftlichem Einfluss verschafften.

Gewinnen Sie die Kontrolle über Ihren Mythos zurück

In den meisten Konflikten hat jede Seite das Gefühl, die andere stelle ihre Identität falsch dar oder mache sie in der einen oder anderen Form schlecht. Um die Kontrolle über Ihren Mythos zurückzugewinnen, können Sie Folgendes tun:

1.Machen Sie sich bewusst, welchen Mythos Ihnen die andere Seite überstülpen will

Die Frau in der Missbrauchsbeziehung kann sich klarmachen, dass der Mann versucht, sie als abhängig und unterwürfig zu definieren. Er ist der Zeus im Götterhimmel, und sie fühlt sich wie die schwache Sterbliche. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, fragte sie sich, welche Identität ihr Mann ihr vorgibt, und ob diese Rolle für sie annehmbar ist.

2.Fragen Sie sich, woher die andere Seite ihre Macht nimmt

Verfügt die andere Seite über folgende Arten der Macht?29

In unserem Beispiel stellt die Frau fest, dass der Mann sich mit seinem Mythos als einzige legitime Macht in der Ehe darstellt: Er ist der einzige, der darüber entscheidet, ob und wohin die beiden zum Essen gehen, wo sie Urlaub machen und was sie an den Wochenenden unternehmen. Er beansprucht Expertenmacht und behauptet, er wisse besser als sie, was für ihre Ehe gut ist. Er nutzt seine Belohnungsmacht, indem er ihr ein wöchentliches Haushaltsgeld zahlt. Und er verfügt über Zwangsmacht, indem er droht, ihr keinen Cent zu zahlen, sollte sie sich von ihm trennen.

3.Fragen Sie sich, welche Formen der Macht Sie nutzen können

Die Frau besucht einmal in der Woche eine Selbsthilfegruppe, baut ihr soziales Netzwerk aus und stärkt so ihre Beziehungsmacht. Sie erkennt, dass auch sie in der Beziehung als Trägerin legitimer Macht agieren kann, und dass sie über das Schicksal der Ehe mitentscheiden kann. Sie sucht eine Anwältin auf, um sich über ihre finanziellen Rechte zu informieren, womit sie ihre Informationsmacht stärkt und die Zwangsmacht ihres Mannes schwächt. Gleichzeitig stärkt sie ihre eigene Zwangsmacht, indem sie den Umzug zu ihrer Schwester vorbereitet, für den Fall, dass er sich nicht ändert.

4.Holen Sie sich Ihren Mythos zurück

Die Frau geht auf den Mann zu, bringt ihre Enttäuschungen zum Ausdruck und verlangt von ihm, sein Verhalten zu ändern – andernfalls werde sie ihn verlassen. Die Warnung ist glaubwürdig, sie hat ihre Machtposition gestärkt. Der Mann droht ihr damit, ihr keinen Cent zu zahlen, doch darauf ist sie vorbereitet. Er behauptet, sie sei nicht in der Lage, ohne ihn zu überleben, doch sie vertraut ihrem Unterstützernetzwerk. Aus Furcht, seine Frau zu verlieren, gibt er ihren Forderungen nach und lässt sich widerwillig darauf ein, die Beziehung zu ändern – ein Prozess, der viel Zeit und intensive und umfassende persönliche Auseinandersetzung und Dialog erfordert.

Was, wenn sich die andere Seite dem Dialog verschließt?

Sie können die anderen nicht dazu zwingen, ihren Mythos preiszugeben oder sich Ihren anzuhören. Wenn sie über mehr Macht verfügen, sollten Sie sogar mit Widerstand rechnen. Die anderen könnten befürchten, dass Sie in einem Gespräch ihre Erzählung und damit die Quelle ihrer Macht aushöhlen.30

Es ist daher ratsam, die andere Seite mit diplomatischen Mitteln zu überzeugen, in Dialog zu treten. Auch Drohungen können sie an den Tisch holen, doch mit Widerwillen. Hier einige Vorschläge, wie Sie die Dialogbereitschaft der anderen Seite verbessern können:

Ein Fallbeispiel

In einem Konflikt Ihren Mythos der Identität zu erkennen, verlangt Arbeit und setzt die Bereitschaft zu kreativer Konfliktlösung voraus. Auch wenn es Ihnen albern vorkommen mag, sich selbst als verbogenen Löffel oder furchtsamen Hasen zu beschreiben, kann es Ihre Sicht auf eine schwierige Situation radikal verändern. Das wurde einem Manager namens Adam klar, den ich begleiten durfte.

Adam hatte gerade seine Position an der Spitze einer gemeinnützigen Organisation aufgegeben und wollte sein Glück in der Wirtschaft versuchen. Aber bei diesem Übergang erwies sich die Einstellung seines neuen Vorgesetzten Jerry als echtes Hindernis. »Der Mann hat mich auf dem Kieker«, meinte Adam. »Vor zwei Wochen hat er mich gebeten, ein Angebot für einen wichtigen Kunden zusammenzustellen. Eine Woche lang habe ich Tag und Nacht daran gearbeitet, das ganze Wochenende drangehängt und meine Familie völlig vernachlässigt. Ich habe ihm das Angebot zugeschickt, und am nächsten Tag hat er es mir mit ein paar kleineren Anmerkungen zurückgeschickt und mir gesagt, ich hätte nicht das Zeug für das Geschäft. Ich war stinksauer.«

Wir identifizierten Adams eigentliche Interessen in diesem Konflikt, nämlich seinen Job zu behalten und sich für eine Beförderung zu empfehlen. Wir loteten seine Grundbedürfnisse aus, darunter seinen Wunsch nach Anerkennung für seine Arbeit durch Jerry. Und wir sprachen über seine spirituelle Berufung: Er wollte seiner Gemeinschaft dienen.

Dann kamen wir zur Frage der Archetypen. »Mit welcher Metapher würden Sie Ihre Beziehung zu Jerry beschreiben?«, fragte ich ihn. Adam dachte eine Weile nach. »Er ist Gründungsmitglied in einem exklusiven Club, und alle in dem Club sind reich und erfolgreich und nur auf Geld aus. Er hält mich für einen Hochstapler, einen Eindringling, der alles tut, um sich in seinen Club zu drängen. Für den bin ich einfach der Stiftungstyp, der keine Ahnung von der freien Wirtschaft hat. Er glaubt nicht, dass ich genug Schneid für die Unternehmenswelt mitbringe.«

»Und? Haben Sie den Schneid?«, fragte ich.

»Natürlich!«, erwiderte Adam, doch er klang abwehrend und zögerlich.

»Wirklich?«, bohrte ich nach.

»Um ehrlich zu sein, habe ich meine Zweifel, ob ich für die Unternehmenswelt gemacht bin. Ich weiß nicht, ob ich da reinpasse. Aber das gibt Jerry doch kein Recht, meine Arbeit niederzumachen.«

»Natürlich nicht«, stimmte ich zu. »Aber es gibt ein paar offene Fragen. Eine ist, ob Sie wirklich da arbeiten wollen. Eine weitere ist, was Jerry wirklich von Ihnen hält. Und die dritte ist, was Sie tun können, um Ihre Situation zu verbessern.«

Wir erforschten Adams Mythos der Identität. Wie sah in diesem Konflikt seine Erzählung über die Beziehung zu Jerry aus? Hatte er das Gefühl, sich mit dem Abschied vom gemeinnützigen Sektor verkauft zu haben? Zweifelte er an seiner Fähigkeit, im Dschungel der Wirtschaft zu überleben?

Dann wechselten wir zur Sicht seines Vorgesetzten und suchten nach Hinweisen auf seinen Mythos. Adam wusste zufällig, dass Jerrys Eltern beide in der Kommunalpolitik aktiv waren. Ich vermutete, dass Adams sozialer Antrieb eine Bedrohung für Jerry sein könnte, weil sie eine implizite Kritik an seiner Unternehmenslaufbahn war. Im Kontakt mit Adam könnte sich Jerry selbst als Hochstapler und Verräter an den Werten der Familie fühlen, und dies könne den Stammeseffekt auslösen.

Die Metaphern halfen Adam, darüber nachzudenken, wie er seine Laufbahn in der Wirtschaft verfolgen konnte, ohne seine Identität aufzugeben. Nach unserem Gespräch lud er Jerry zum Essen ein und sprach auch seine gemischten Gefühle über die Arbeit in der freien Wirtschaft an. Zu seiner Überraschung berichtete ihm Jerry von seinen eigenen inneren Konflikten und erklärte, er sehe seinen Job als eine Möglichkeit, seine Familie ernähren und den Rest seines Lebens der Gemeindearbeit widmen zu können. Hätten sie sich nicht die Zeit zu diesem Gespräch genommen, hätten sie möglicherweise nie eine Verbindung hergestellt, und Adams Job hätte in Gefahr geraten können.

Zusammenfassung

Um angespannte Beziehungen zu verbessern, sollten Sie als Erstes besser verstehen, wie die anderen den Konflikt wahrnehmen. Aber eine rationale Erörterung reicht nicht aus, um die tieferen emotionalen Konflikte zu verstehen. Auch ein direktes Gespräch über Emotionen ist nicht genug, da wir mit denselben Worten ganz unterschiedliche Erfahrungen beschreiben: Wir haben »Angst«, dass es regnen könnte und wir haben »Angst«, dass uns eine Bombe auf den Kopf fällt.

Dieses Kapitel stellt die kreative Introspektion als Methode vor, mit der Sie die emotionale Erzählung hinter einem Konflikt besser verstehen können. Nichts ist für beide Seiten realer und stärker als ihr Mythos der Identität. Dabei handelt es sich um eine archetypische Geschichte in zeitgenössischem Gewand, eine allgemeingültige und persönliche Erzählung, die Licht auf Dinge von tiefster Bedeutung wirft. Wenn wir die Mythen aller Beteiligten erkennen, schlagen wir eine Brücke über den Graben.

Arbeitsfragen

  1. Was ist Ihr persönliches Motiv in diesem Konflikt?

    • rationale Interessen (Geld, andere konkrete Objekte)

    • emotionale Bedürfnisse (Anerkennung, Autonomie, Zugehörigkeit, Status, Rolle)

    • Säulen der Identität (Überzeugungen, Rituale, Bindungen, Werte, emotional bedeutsame Erfahrungen)

  2. Was könnten die Motive der anderen Seite sein?

  3. Finden Sie eine Metapher für die angespannte Beziehung. Wenn Sie Beispiele suchen, ziehen Sie die Aufstellung in diesem Kapitel heran.

  4. Wie könnten Sie diese Metapher so auf Ihre Situation anpassen, dass Sie mehr Macht erhalten?

  5. Sind Sie und die andere Seite offen für ein Gespräch? Wenn ja, wie können Sie einen beherzten Raum schaffen? Garantieren Sie Vertraulichkeit und stellen Sie eine Agenda auf, die beiden Seiten Zeit gibt, Ihre Sichtweise darzustellen.