Kapitel 15
Die Beziehungsdialektik

Eine alte indianische Geschichte erzählt von einem Großvater, der seinem Enkel ein Geheimnis anvertraut: »In mir kämpfen zwei Wölfe. Einer ist der Wolf der Liebe und der Freundschaft. Der andere ist der Wolf des Hasses und der Gier.«

Der Junge reißt die Augen auf. »Und welcher gewinnt?«, fragt er.

Der Großvater schweigt einen Moment lang, dann antwortet er: »Der, den ich füttere.«

Versöhnung setzt Dialog zwischen Menschen voraus, doch der schwierigste Teil ist der Dialog mit uns selbst. In jedem Konflikt müssen wir uns entscheiden, welchen Wolf wir füttern wollen. Können wir den Groll loslassen, vergeben und den nächsten Schritt gehen? Wollen wir den anderen unser Vertrauen schenken und sie wieder in unsere Gemeinschaft aufnehmen? Sind wir grundsätzlich zu einer Veränderung bereit? Die Antwort finden Sie in keinem Verhandlungsratgeber, sondern in Ihrem Herzen.

Diese Fragen sind so schwierig zu beantworten, weil wir uns selbst uneins sind. Auf der einen Seite wollen wir einen Konflikt beilegen, aber auf der anderen wollen wir uns schützen. Den anderen wieder in unser Leben zu lassen, ist riskant. Er hat uns schließlich verletzt. Woher wollen wir wissen, dass er das nicht wieder tut? Versöhnung macht verwundbar und ist ein zweischneidiges Schwert. Selbst der mitfühlendste Mensch kennt den Wunsch nach Vergeltung, selbst der friedlichste spürt einen Anflug von Groll und selbst der toleranteste urteilt.

Diesen inneren Widerspruch bezeichne ich als »Beziehungsdialektik«. Damit meine ich die beiden Wölfe in uns, die unsere Emotionen in entgegengesetzte Richtungen ziehen: hin zur Beziehung und weg davon. In einem Konflikt lassen sich diese beiden Impulse nicht vermeiden oder auflösen – sie gehören untrennbar zum Menschsein dazu. Aber sobald wir uns ihrer bewusst werden, können wir entscheiden, welchen wir füttern wollen.

Eine kurze Geschichte der Dialektik

Die Vorstellung der Dialektik reicht Jahrtausende weit zurück. Der griechische Philosoph Heraklit sprach von der »Vereinigung der Gegensätze« und meinte damit, dass alles auf der Welt von seinem Gegenteil geprägt wird. So hat zum Beispiel in der Politik das Programm der Regierung Auswirkungen auf das Programm der Opposition und umgekehrt. Das steckt hinter dem Begriff der Dialektik: das Verhältnis zweier gegensätzlicher Kräfte.

Der Philosoph Immanuel Kant ging noch einen Schritt weiter.1 Seiner Ansicht nach entwickeln sich Ideen in drei Schritten: Eine These trifft auf eine Gegenthese und bringt eine Synthese hervor. Diese so einfache wie elegante Formel erklärt die Entwicklung von Ideen, Geschichte, Wirtschaftstheorie und so weiter. Ein Seemann des Mittelalters glaubte, die Erde sei eine Scheibe und ende am Horizont (These). Aber wenn er eines Tages so weit segelte, dass er an der gegenüberliegenden Küste seines Landes ankam, dann musste er diese Annahme überdenken (Gegenthese). Und schließlich kam er zu dem Schluss, dass die Erde eine Kugel sein musste (Synthese).

So genial Kants Theorie war, sie hatte ihre Lücken – oder, um es in den Begriffen der Dialektik zu sagen, seine These war nicht ohne Gegenthese. Diese Lücken wollte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel schließen. In Hegels Augen war die Idee der Gegenthese zu schwammig, weshalb er erklärte, dass sich Ideen durch drei Phasen entwickelten: abstrakt, negativ und konkret. Die erste These ist abstrakt und ihr fehlt die »negative« Präzision durch Versuche. Jeder Gedanke, so ausgefeilt er auch sein mag, bleibt an sich unvollständig. Die Vorstellung, dass die Welt am Horizont endet, beinhaltet einen Denkfehler, ein »Negatives«, das erst durch den neuen Gedanken überwunden wird, der die Dialektik abschließt.2 Wenn das Abstrakte auf das Negative trifft, entsteht eine konkretere Synthese.3

Die Dialektik demonstriert die notwendige Zweideutigkeit, den unausweichlichen Konflikt in uns selbst. Aber das muss uns nicht daran hindern, eine Lösung zu finden – wenn wir es verstehen, mit diesen entgegengesetzten Kräften umzugehen.

Wie Sie mit inneren Widersprüchen umgehen können

Die emotionale Welt des Konflikts wird von verschiedenen Widersprüchen beherrscht: Akzeptanz versus Veränderung, Versöhnung versus Vergeltung und Autonomie versus Zugehörigkeit. Wir wollen den anderen akzeptieren, doch wir hoffen, dass er sich ändert. Wir wollen uns versöhnen und sehnen uns nach Vergeltung. Wir wollen dazugehören und fühlen uns gleichzeitig eingesperrt. Beim Umgang mit diesen Widersprüchen empfehle ich einen dreigleisigen Ansatz.

Erstens, machen Sie sich Ihre inneren Widersprüche klar. Wenn Sie diese Dialektik ignorieren, können ihre widerstrebenden Kräfte selbst die beste Einigung zerreißen. Achten Sie also darauf, wie Sie was empfinden. Spüren Sie einen inneren Widerstand gegen eine Versöhnung? Sperren Sie sich gegen Veränderung?

Zweitens, spüren Sie die Kraft, die Sie an das gewünschte Ziel bringt. Wenn Sie sich beispielsweise eine bessere Beziehung zu Ihrer Ex-Frau wünschen, weil Sie sich zum Beispiel gemeinsam um die Kindererziehung kümmern müssen, dann spüren Sie zunächst diesen inneren Kampf, der Sie gleichzeitig in Richtung Versöhnung und Vergeltung zieht. Dann gestalten Sie Ihre Beziehung neu, konzentrieren Sie sich auf die Versöhnung und akzeptieren Sie gleichzeitig, dass sich in den Jahren des Ärgers in Ihrem Herz der Wunsch nach Rache angestaut hat. Erkennen Sie diese feindseligen Gefühle an, aber nähren Sie sie nicht weiter.

Drittens, machen Sie sich klar, dass die andere Seite ähnliche Widersprüche spürt. Indem Sie ihre Dialektik erkennen, können Sie ihr helfen, die Angst vor der Versöhnung mit Ihnen zu überwinden. Beispielsweise können Sie Ihrer Ex-Frau signalisieren, dass Sie wissen, wie schwer es für sie sein muss, nach dem ganzen Schmerz in Ihrer Beziehung nun eine Partnerschaft aufbauen zu müssen.

Abbildung 15.1

Dialektik 1: Akzeptanz versus Veränderung

In den allermeisten Konflikten wirken zwei grundlegende Tatsachen: (1) Alle Beteiligten wollen sich akzeptiert fühlen und (2) niemand will sich verändern. Zum Beispiel Susan und Ron, die seit dreißig Jahren verheiratet sind und nun auf der Couch vor dem Fernseher sitzen. Susan sagt: »Fürs neue Jahr habe ich mir vorgenommen, zehn Kilo abzunehmen. Ich will damit anfangen, dass ich weniger zwischendurch esse. Kannst du mir dabei helfen?«

»Klar«, antwortet Ron und lächelte sie an.

»Ach so«, blafft Susan. »Du glaubst also, dass ich zu viel esse?«

Da ist der arme Ron doch glatt zwischen die dialektischen Fronten in Susans Kopf geraten. Hinter ihrer Bitte um Unterstützung stecken zwei Fragen: »Soll ich mich so akzeptieren, wie ich bin, oder soll ich mich ändern?« Und: »Akzeptiert mich Ron so, wie ich bin, oder will er, dass ich mich verändere?« Indem Ron sie in ihrem Neujahrsvorsatz bekräftigt, hat er unabsichtlich seine Unterstützung für sie geschwächt.

Natürlich kennt die Dialektik keine richtige Antwort. Hätte Ron gesagt: »Wozu willst du abnehmen? Du bist perfekt, so wie du bist!«, dann hätte sie geantwortet: »Warum kannst du mich nicht unterstützen?«

Wir sehnen uns danach, akzeptiert zu werden

Wenn wir uns so angenommen fühlen, wie wir sind, mit all unseren Macken und Schwächen, dann fühlen wir uns wohl und frei. Wir müssen uns keine Gedanken mehr darüber machen, was wir sagen oder wie wir uns verhalten. Wir haben das Zutrauen, dass uns der andere bedingungslos unterstützt.

Wenn wir uns jedoch verurteilt fühlen, dann geht es uns genau umgekehrt. Urteil ist der Feind der Akzeptanz. Wir haben einen sensiblen emotionalen Radar, mit dem wir jeden noch so leisen Hinweis auf Zurückweisung erkennen. Wenn uns jemand eine »unfaire« Behandlung, einen »falschen« Gedanken oder eine »schlechte« Eigenschaft vorwirft, dann fühlen wir uns nicht angenommen, und das tut weh.

Das schmerzhafte Urteil ist aber unser eigenes. Wir weisen uns selbst teilweise oder ganz zurück, wir verurteilen unsere Verhaltensweisen und Gefühle und kommen zu dem Schluss, dass wir nicht gut genug sind. Der Psychologe William James beschrieb eines seiner eigenen Bücher als »widerwärtigen, aufgeblasenen, geschwollenen und wassersüchtigen Haufen Dreck, der nur zwei Dinge belegt: Erstens, dass die Psychologie keine Wissenschaft ist und nie sein wird, und zweitens, dass William James unfähig ist.«4 James galt als einer der angesehensten Denker seiner Zeit, doch auch er war nicht vor vernichtender Selbstkritik gefeit.

Diese Art der destruktiven Selbstkritik ist ausgesprochen schwer zu überwinden. Wir geraten in einen Teufelskreis aus sich selbst verstärkenden Denkfehlern, die Psychologen als »kognitive Verzerrungen« bezeichnen. Je mehr wir uns selbst kritisieren, umso gerechtfertigter erscheint uns diese Kritik.5

Wir widersetzen uns der Veränderung

Ein Konflikt füllt uns mit Anspannung, und um diese abzubauen, wollen wir das Verhalten des anderen ändern, aber nicht unser eigenes. Wir glauben, dass wir im Recht sind – warum sollten wir also etwas anders machen? Aber die andere Seite denkt das auch, und je mehr jeder den anderen bedrängt, umso weniger fühlen sich beide akzeptiert. Oder um es mit Hegel zu sagen, die andere Seite stellt unserer Sicht ein Negatives gegenüber, und deshalb beharren wir umso sturer auf unserer Position.

Im Stammesexperiment wurde ich wieder und wieder Zeuge, wie der Veränderungsdruck mit der Sehnsucht nach Akzeptanz kollidiert. In der ersten Runde versuchen die Stammessprecher, die anderen Stämme zu überzeugen, sich ihnen anzuschließen, wobei sie die Vorzüge des eigenen Stammes preisen und die der anderen kleinreden. Dabei übersehen sie, wie resistent die Identität gegen Veränderungen ist. Je mehr Veränderungsdruck ein Stamm spürt, umso mehr verlangt er von den anderen, so angenommen zu werden, wie er ist. Es beginnt ein Kampf um die Autonomie, und jeder Stamm besteht darauf, dass sich die anderen ihm anschließen. Das führt fast unweigerlich zum Streit.

Die fünf Sogkräfte des Stammesdenkens bestärken uns noch in unserer Veränderungsunwilligkeit. Das Schwindelgefühl saugt uns in eine verzerrte Welt der Konfrontation. Der Wiederholungszwang zieht uns tiefer in polarisierende Muster. Tabus verhindern, dass wir mit der anderen Seite auch nur über Veränderungen sprechen. Und die Kombination aus Anschlägen auf das Heilige und Identitätspolitik bringt uns immer weiter gegeneinander auf.

Akzeptanz oder Veränderung?

Wenn Sie die Dialektik von Akzeptanz und Veränderung erkennen, können Sie und die andere Seite besser mit dieser Spannung umgehen. Zum Beispiel Marshall und Betty, die zu mir kamen, weil sie sich ständig heftig stritten. Marshall klagte, Betty gerate dauernd aus unerfindlichen Gründen in Rage, und er versuche, sie zu beruhigen, indem er sagte: »Beruhige dich, wir finden schon eine Lösung.« Darauf wurde sie jedoch nur noch wütender, und Marshall zog sich zurück.

Beide glaubten, dass sie wegen der Art ihrer Gefühlsäußerungen nicht vom anderen akzeptiert wurden. Betty spürte keinerlei Hemmungen, ihre Verärgerung zum Ausdruck zu bringen, wohingegen Marshall sich unwohl fühlte. Er war in einer konfliktscheuen Familie aufgewachsen, die nur selten heftige Gefühle zum Ausdruck brachte. Bettys Eltern schrien einander dagegen dauernd an, um sich danach wieder zu versöhnen. Je mehr Betty ihren Ärger zum Ausdruck brachte, umso weniger akzeptierte Marshall sie, und je weniger akzeptiert sie sich fühlte, umso wütender wurde sie. Das Paar war in einem Teufelskreis gefangen, und im Mittelpunkt stand die Dialektik von Akzeptanz und Veränderung.

Nachdem ich Marshall diese Dynamik erklärt hatte, sah er die Beziehung in neuem Licht. Er lernte, in einem Streit anders zu reagieren: Er erkannte, dass ihm Bettys Ärger Unbehagen bereitete, doch er reagierte nicht und versuchte nicht, sie zu beschwichtigen. Zu seiner Überraschung flaute Bettys Ärger rasch ab. Indem er die Dialektik akzeptierte, trug Marshall dazu bei, die Beziehung zu verändern.

Um einen emotional aufgeladenen Konflikt beizulegen, sind sowohl Akzeptanz als auch Veränderung nötig – die entscheidende Frage ist, was man akzeptieren und was man verändern soll. Die Kernidentität des anderen verändern zu wollen, wäre sinnlos – jeder Versuch, unsere zentralen Überzeugungen und Werte zu verändern, provoziert nur unseren Widerstand. Aber es ist auch keine Lösung, eine angespannte, unproduktive Beziehung zu akzeptieren.

Versuchen Sie daher, die Kernidentität des anderen so akzeptieren, wie sie ist, und erkennen sie seine Werte und Überzeugungen an, ohne zu urteilen. Versuchen Sie jedoch gleichzeitig, die Beziehung zu verändern und die Kernidentität aller Beteiligten in die Erzählung dieser Beziehung einzubeziehen. Marshall veränderte seine Beziehung zu Betty, indem er ihren Ärger anerkannte, aber nicht darauf reagierte. Das funktionierte.

Abbildung 15.2

Dialektik 2: Versöhnung versus Vergeltung

Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?
Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?
Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?
Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?

William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig

Stellen Sie sich vor, Sie teilen einer Freundin unter dem Siegel der Verschwiegenheit Ihr intimstes Geheimnis mit, nur um dann festzustellen, dass sie es im Internet veröffentlicht hat. Sie sind außer sich. In dem Moment, in dem Sie den Verrat bemerken, beginnt die Dialektik aus Versöhnung und Vergeltung. Einerseits drängt Sie ein Instinkt dazu, sich zu rächen, indem Sie einige ihrer Geheimnisse publik machen. Andererseits ist sie Ihre Freundin, und Sie fühlen das Bedürfnis, mit ihr darüber zu sprechen. Auf welche Stimme sollten Sie hören?

Die große Herausforderung besteht nun darin, nicht impulsiv zu reagieren. Selbst der kleinste Angriff auf unsere Identität kann ein heftiges Bedürfnis nach Rache wecken. Wenn Sie sich dieses Impulses nicht bewusst sind, werden Sie sein Opfer. Der Impuls selbst lässt sich nicht vermeiden, aber Sie können gründlich überlegen, wie Sie darauf reagieren wollen.

Um sich dieses Bedürfnis nach Vergeltung bewusst zu machen, beobachten Sie etwaige Rachefantasien.6 Wenn Ihr Boss Sie dauernd herunterputzt, träumen Sie dann davon, ihn vor aller Welt mit seinen Schwächen bloßzustellen? Fantasien sind grenzenlos, sie können asozial und schockierend sein. Wir geben uns diesen Tagträumen hin, weil sie unser verletztes Ego verhätscheln und Gerechtigkeit versprechen: Ihr Boss trampelt auf Ihnen herum, und nun zahlen Sie es ihm mit gleicher Münze heim. Ob Sie diese Fantasie in die Tat umsetzen, ist allerdings eine ganz andere Frage.

Rache ist süß

Rache kann Sie stärken und Ihnen zu Gerechtigkeit, Macht und Katharsis verhelfen.

Gerechtigkeit

Vergeltung soll ein Unrecht wiedergutmachen und eine Scharte auswetzen.7 Verwandte, die uns von einer Urlaubsfahrt ausschließen, sollten nicht damit rechnen, dass sie zur nächsten Familienfeier eingeladen werden. Die Rache hat nicht die Reue des Missetäters zum Ziel, sondern seine Bestrafung. Die Verwandten sollen denselben Schmerz empfinden, den sie uns zugefügt haben, und es verschafft uns Befriedigung zu wissen, dass sie unser Leid nun verstehen und dafür büßen. Damit ist die Gerechtigkeit wiederhergestellt.

Die Androhung von Vergeltung kann auch abschrecken wirken und künftiges Unrecht verhindern. Wenn der Klassenrüpel weiß, dass Ihre Tochter ihm eine reinhaut, wenn er sie beleidigt, dann wird er es sich demnächst zweimal überlegen. Sie könnte ihm mit völlig überzogenen Maßnahmen drohen – so irrational diese Drohung erscheinen könnte, sie schreckt ab und könnte die Kooperationsbereitschaft fördern.

Macht

Der Wunsch nach Vergeltung stachelt uns an, unsere Position gegenüber der anderen Seite zu verbessern. Wenn Ihre Tochter ihrem Mobber droht, könnte ihr dies die Möglichkeit geben, ihre Macht zum Ausdruck zu bringen und die Hierarchie der Klasse neu zu ordnen. Dieser Machthunger kann noch stärker sein als der Wunsch nach Gerechtigkeit.

Katharsis

Vergeltung ist eine Art Katharsis, sie reinigt uns von schmerzhaften Emotionen. Wir befreien uns aus der Opferrolle und setzen Demütigung und Scham ein Ende.8 Wissenschaftler der Universität Zürich haben sogar gezeigt, dass Vergeltung die Belohnungszentren im Gehirn aktiviert, darunter den Nucleus caudatus und den Thalamus – dieselben Hirnregionen, die aktiv werden, wenn Sie einen Zug an der Zigarette nehmen oder Kokain schnupfen.9

Rache ist bitter

So befriedigend Rache sein mag, lassen wissenschaftliche Erkenntnisse und unsere eigenen Beobachtungen Zweifel an ihrer Wirksamkeit aufkommen.

Neues Unrecht

Vergeltung kann uns das Gefühl vermitteln, dass wir die Gerechtigkeit wiederhergestellt haben – aber nur für uns selbst. Der andere wird Ihr Recht als sein Unrecht wahrnehmen, und so kommt eine Vendetta in Gang. Auch wenn Sie glauben, dass Ihre Rache dem entspricht, was man Ihnen angetan hat, wird der andere sie als unverhältnismäßig empfinden. Wie meine Oma zu sagen pflegte: »Das ist dein Finger, der tut mehr weh.« Mit anderen Worten halten wir selbst unseren eigenen Schmerz immer für schlimmer als den der anderen. Deshalb ist es auch ein Irrglaube anzunehmen, dass sich mit der Vergeltung weitere Vergehen verhindern lassen.

Vergängliche Macht

Vergeltung kann uns kurzfristig stärken, doch der Täter, jetzt Opfer, wird bald seine eigene Rache planen. Wenn sich zum Beispiel ein Mann an seiner Exfrau rächt, indem er sie nicht ins Haus lässt, um ihr Lieblingsgemälde abzuholen, dann fühlt er sich momentan stark. Aber es dauert nicht lange, und das Lachen vergeht ihm, wenn nämlich die Frau mit ihrem Anwalt anrückt.

Flüchtige Katharsis

Die Süße der Rache hält nicht lange vor. Wir fühlen uns zwar wieder lebendig, wenn wir unsere Vergeltung an einem fiesen Ex-Partner oder Kollegen aushecken, doch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass wir uns nach vollzogener Rache bei weitem nicht so gut fühlen, wie wir vorher angenommen hatten. Wir hinterfragen unsere eigene Moral und unsere Gedanken kreisen zunehmend um den Missetäter.10 Außerdem lenkt uns die Befriedigung über die Rache nur kurz von unserem Schmerz ab. Ein Soldat, der einen Kameraden hat sterben sehen, mag eine gewisse Befriedigung empfinden, wenn er den Täter tötet, doch nun muss er mit seiner eigenen Tat leben, er muss fürchten, selbst Ziel der Rache des Feindes zu werden, und sein Kamerad wird von alledem auch nicht wieder lebendig.

Dampf ablassen: Ein Mittelweg?

Statt Vergeltung zu suchen, könnten Sie erwägen, Ihrem Ärger Luft zu machen. Sie könnten ein Kissen schnappen, sich vorstellen, dass es sich um den Übeltäter handelt, und auf es einschlagen. Oder Sie könnten mit einem guten Freund sprechen und das Unrecht, das Sie erlitten haben, in schillerndem Detail ausbreiten. Diese beliebten Formen der Reinigung sind doch wirkungsvoll, oder? Sind sie nicht. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Dampf ablassen nach hinten losgeht: Je mehr Sie wüten, umso wütender werden Sie.11

»Dampf ablassen« geht davon aus, dass Ärger so etwas ist wie ein Kessel unter Druck: Wenn man das Ventil öffnet, entweicht der Druck. Leider funktioniert Ärger anders. Je mehr wir über das Unrecht nachdenken, das man uns angetan hat, umso mehr steigern wir uns in unseren Zorn hinein.12 Der Ärger wird nicht kleiner, sondern größer.

Der Sozialpsychologe Brad Bushman hat dies in einem ungewöhnlichen Experiment bestätigt.13 Die Versuchsteilnehmer sollten einen Aufsatz über Abtreibung schreiben und sich entweder dafür oder dagegen aussprechen. Dann bewertete ein Student im Nebenraum die Aufsätze und gab sie mit einem handschriftlichen Kommentar zurück: »Das ist einer der schlechtesten Aufsätze, die ich je gelesen habe!« Was die Teilnehmer nicht wussten: Im Nebenzimmer saßen keine Studenten, der Kommentar stammte vom Projektleiter selbst und sollte die Teilnehmer wütend machen. Dann wurden die Versuchsteilnehmer in drei Gruppen eingeteilt: Die Angehörigen der ersten Gruppe sollten auf einen Sandsack einprügeln und an die Person denken, die den Aufsatz angeblich bewertet hatte, die der zweiten sollten auf einen Sandsack einprügeln und daran denken, dass sie etwas für ihre Fitness taten, und die aus der dritten sollten sich einfach still hinsetzen.

Danach erhielten alle Teilnehmer einen Kopfhörer und spielten ein Computerspiel gegen den vermeintlichen Korrektor. Der Verlierer jeder Runde wurde mit einem Dröhnen im Kopfhörer bestraft, und der Gewinner durfte die Dauer und Lautstärke bestimmen. Das Spiel war so manipuliert, dass die Teilnehmer im Durchschnitt jedes zweite Spiel gewannen. Was glauben Sie, wer den Gegner am härtesten bestrafte? Diejenigen Teilnehmer, die den Sandsack bearbeitet hatten, und zwar unabhängig davon, ob sie dabei an Rache oder Fitness gedacht hatten.14 Das ist ein Hinweis auf die Gefahren des Dampfablassens.

Natürlich gibt es wirkungsvollere Formen der Katharsis. Klinische Untersuchungen haben wieder und wieder gezeigt, wie wichtig es ist, über Gefühle zu sprechen, um ihnen einen Sinn zu geben. Dampfablassen soll den Ärger abbauen, aber bessere Formen der Katharsis nutzen die Macht des Gesprächs, um die Wut zu verstehen und zu verarbeiten, etwa wie in den vorigen Kapiteln zur integrierenden Dynamik beschrieben. Entscheidend ist dabei jedoch die innere Einstellung.

Suchen Sie Versöhnung, nicht Vergeltung

Wenn Rachegelüste unsere Beziehungen zersetzen, dann öffnet Versöhnung Raum für eine integrierende Einstellung. Versöhnung bedeutet, an die Möglichkeit der Wiederherstellung einer Beziehung und der Wiedergutmachung zu glauben. Dabei handelt es sich eher um eine innere Einstellung als um etwas, was man tut. Sie zeichnet sich durch den Mut aus, unsere eigene Unsicherheit zu erkennen, durch Mitgefühl für das Leid der anderen und durch die moralische Entschlossenheit zum Aufbau einer besseren Beziehung. Jeder hat das Potenzial zu dieser Einstellung15 – hier einige konkrete Vorschläge, wie Sie Zugang dazu bekommen.

1.Finden Sie den Mut, nach innen zu blicken

Vor einigen Jahren sprach ich auf einer internationalen Konferenz mit einem der Chefunterhändler im israelisch-palästinensischen Konflikt. Als wir einige der sensibleren Aspekte des Themas berührten, lief er rot an, ruderte mit den Armen und überschlug sich fast. Nachdem ich ihm eine Weile zugesehen hatte, fragte ich ihn: »Haben Sie den Eindruck, dass Sie sich in diesem Konflikt von Ihren Emotionen leiten lassen?« Er zuckte zusammen und erwiderte: »Natürlich nicht!« Ganz offensichtlich weigerte er sich, nach innen zu blicken. Seine Analyse des Konflikts mochte noch so korrekt sein – seiner Ansicht nach ging es in der Hauptsache um Strukturprobleme –, doch innerhalb dieses scheinbar rationalen Problems befanden sich er und die anderen Interessengruppen in einer emotionalen Sackgasse. Es verlangt Mut, sich objektiv seine Ängste und Unsicherheiten anzusehen, um dem anderen die Hand zur Versöhnung zu reichen.

2.Haben Sie Mitgefühl mit dem Leid der anderen

Sie mögen den Überzeugungen und Verhaltensweisen der anderen Seite nicht zustimmen, und vielleicht sind sie sogar davon angewidert. Aber denken Sie daran, wir sind alle Menschen, und in einem emotional aufgeladenen Konflikt können Sie sich sicher sein, dass auch die andere Seite leidet. Sensibilität für ihr Leid ist der beste Weg zur Wiederherstellung positiver Beziehungen.

Mitgefühl bedeutet, das Leid der anderen zu spüren und den Wunsch zu haben, es zu lindern.16 Für Buddha war Mitgefühl »das, was im Angesicht des Leids anderer das Herz des Guten bewegt«. Mitgefühl veranlasst uns emotional zum Handeln.

Zwar hat jeder von uns die Fähigkeit zum Mitgefühl, trotzdem ist es gar nicht so einfach, es zu wecken. Wie können wir Mitgefühl mit einem Menschen haben, der uns vorsätzlich verletzt hat? Dazu sollten Sie sich als Erstes bewusst machen, dass Mitgefühl für einen Menschen uns nicht daran hindert, auf unserem Recht zu bestehen, wenn dieser Mensch uns ein Unrecht angetan hat.

Zweitens, erkundigen Sie sich nach dem Leid des anderen. Sie könnten fragen, »Wie betrifft Sie dieser Konflikt persönlich?«. Hören Sie zu, um zu verstehen, nicht, um sich zu verteidigen.

Drittens versetzen Sie sich in die Situation des anderen und identifizieren Sie sich mit seinem Leid. Als ich neulich von Boston nach Chicago flog, saß ein paar Reihen hinter mir ein vierjähriges Mädchen, das ununterbrochen weinte. Meine Sitznachbarn und ich sahen uns mitleidig an, aber uns bleib nichts anderes übrig, als es zu ertragen. Plötzlich fiel mir auf, dass ich das Mädchen als Angehörige eines anderen Stammes betrachtete, als meine Feindin. Ich stellte mir vor, wie sich wohl ihre Eltern fühlten, und schon bald verwandelte sich meine Verärgerung in Mitgefühl. Ich stand auf, ging zu der Kleinen und versuchte, sie mit Grimassen ein wenig aufzuheitern. Ein paar Minuten lang war sie tatsächlich ruhig, und ihre Mutter sah mich dankbar an.

Viertens finden Sie schon Zugang zu Ihrem Mitgefühl, wenn Sie eine noch so banale emotionale Verbindung herstellen. Paare von Studenten, die einander in einem Laborexperiment gegenübersaßen und zu Musik synchron mit den Fingern auf die Tischplatte klopften, halfen ihrem Partner später bei einer kniffligen 45-minütigen Aufgabe mit 31 Prozent größerer Wahrscheinlichkeit als andere, die asynchron geklopft hatten. Sie halfen einander im Durchschnitt sieben Minuten lang, die anderen nur eine.17

Aber wie können Sie Mitgefühl für einen Menschen entwickeln, den Sie als widerwärtig empfinden? Diese Frage stellte ich dem Botschafter Lakhdar Brahimi, einem erfahrenen Diplomaten, der in Afghanistan, Irak, Syrien, Südafrika und dem Jemen mit Diktatoren und Militärs über politische Stabilität verhandelt hat. Mit der für ihn typischen Ernsthaftigkeit dachte er über die Frage nach, dann erwiderte er: »Ich finde etwas Bewundernswertes an ihm.« Er erkennt die Menschlichkeit in allen, denen er begegnet, und sucht nach etwas, das er wertschätzen kann, sei es ihr Einsatz für ihre Sache oder die Liebe zu ihren Kindern.

Eine andere wirkungsvolle Methode, das Mitgefühl zu wecken, sind kontemplative Praktiken. Eine gut erforschte Technik ist die Metta-Meditation18, mit deren Hilfe Sie positive Emotionen stärken, indem Sie systematisch Güte zu sich und anderen entwickeln. Das mag substanzlos klingen, doch die Hirnforschung hat die positiven Auswirkungen nachgewiesen. Der Neurowissenschaftler Richard Dawkins hat beispielsweise beobachtet, dass die Metta-Meditation Gehirnregionen stärkt, die mit dem Mitgefühl in Zusammenhang stehen, und die Psychologin Barbara Fredrickson konnte beobachten, dass diese Form der Meditation »eine Vielzahl persönlicher Ressourcen stärkt, darunter achtsame Aufmerksamkeit, Selbstakzeptanz, positive Beziehungen zu anderen Menschen sowie körperliche Gesundheit«.19

In der Metta-Meditation lernen Sie zunächst, ein Gefühl der liebenden Güte auf sich selbst zu richten, es anzunehmen, und ihm durch den Körper zu folgen. Allmählich beziehen Sie Freunde, Bekannte und Fremde in dieses Gefühl mit ein. Schließlich stellen Sie sich Menschen vor, die Sie ablehnen, und beziehen auch sie in Ihr Mitgefühl mit ein.20

In einem emotional aufgeladenen Konflikt sind wir also versucht, Vergeltung zu üben. Verurteilen Sie diesen Wunsch nicht, aber geben Sie ihm auch nicht nach. Ihr Mantra sollte lauten: Versöhnung statt Vergeltung.

3.Stärken Sie Ihre moralische Entschlossenheit

Um Ihrem Wunsch nach Rache etwas entgegenzusetzen, können Sie die Versöhnung auch mit moralischer Entschlossenheit angehen: Beißen Sie die Zähne zusammen, richten Sie den Blick fest auf Ihr Ziel und lassen Sie nicht locker. Dazu können Sie zunächst Ihre Werte definieren und sich daran halten. Letzteres ist entscheidend: Im Stammesexperiment behaupten die Gruppen gern, für Gleichheit, Harmonie und Mitgefühl zu stehen, doch sobald die Verhandlungen beginnen, sind diese Werte schnell vergessen.

Nehmen Sie sich einige Minuten Zeit, auf einem Zettel drei bis fünf Werte festzuhalten, die Ihnen ganz besonders am Herzen liegen, etwa Würde, Mitgefühl, Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit oder Respekt. Kleben Sie diesen Zettel an Ihren Kühlschrank, um sich diese Werte immer wieder ins Gedächtnis zu rufen und darüber nachzudenken, ob Sie sich im Alltag an diese Werte halten. Wenn nicht, ändern Sie Ihr Verhalten oder definieren Sie Ihre Werte neu.

In einigen Konflikten kann es sinnvoll sein, gemeinsam Werte zu definieren. Ehepartner, die zu heftigem Streit neigen, könnten sich in einem ruhigen Moment zusammensetzen und die drei wichtigsten Werte definieren, die ihre Beziehung prägen sollen – Würde, Fairness, Respekt, Güte, Mitgefühl und so weiter – und sich auf sie verpflichten. Im Grunde schließen sie so eine Art Gesellschaftsvertrag, ein verbindliches Bekenntnis zum moralischen Fundament ihrer Beziehung.21 In neuen Auseinandersetzungen kann ein solcher Vertrag dazu beitragen, den Respekt füreinander zu stärken.

Aber nicht alle Beziehungen lassen sich einfach versöhnen. Das größte Hindernis auf dem Weg dorthin ist die Überzeugung, dass die andere Seite jenseits von Gut und Böse ist. Wir verurteilen ihr Verhalten als unmoralisch und lehnen sie selbst mit solcher Vehemenz ab, dass Ihnen eine emotionale Verbindung nicht nur unerträglich sondern schlechterdings unmöglich erscheint. In diesem Fall erfordert die Versöhnung eine moralische Festigkeit, eine Verbindung zu jemandem zu ertragen, dessen Moral wir ablehnen.

Vor dieser Herausforderung stand mein Kollege Robert Jay Lifton. Er interviewte Dutzende nationalsozialistische Ärzte, denen vorgeworfen wurde, abscheuliche medizinische Experimente mit Männern, Frauen und Kindern durchgeführt zu haben. Diese Arbeit verlangte seine ganze moralische Festigkeit, zumal er Jude war. Er berichtete mir, vor Beginn der Untersuchung habe er sich mit seinem Mentor, dem Psychologen Erik Erikson beratschlagt, und dieser habe gemeint: »Vielleicht werden Sie sogar Kontakt zu Ihrer Menschlichkeit finden.«22 Um die Psyche dieser Ärzte wirklich zu verstehen, musste sich Lifton in sie hineinversetzen und begreifen, wie sie diese Verbrechen vor sich selbst gerechtfertigt und wie sie Folter als Forschung rationalisiert hatten.

Lifton ist ein überzeugter Humanist, doch selbst er spürte, dass die Versöhnung ihre Grenzen haben könnte. Die Interviews verursachten ihm Albträume, und er berichtete: »Die größte Herausforderung war eine Reise nach Bayern, wo ich einen der widerwärtigsten Nazi-Ärzte der Geschichte interviewen sollte. Als ich klingelte, öffnete mir ein freundlicher alter Herr, der nie für seine Verbrechen vor Gericht gestellt worden war. Ich fand ihn sonderbar sympathisch. Natürlich schämte ich mich zutiefst für dieses Gefühl, angesichts all dessen, was ich über ihn wusste. Doch der Mann beantwortete alle meine Fragen mit völliger Offenheit und lud mich sogar zum Essen ein.«

Die Dialektik zwischen Versöhnung und Vergeltung spitzte sich schnell zu. Lifton vermied es meist, mit seinen Interviewpartnern zu essen, um sich seine Objektivität zu wahren. Doch dieses Interview fand auf dem Land statt, und weil er seine wertvolle Zeit nicht mit der Suche nach einer Gastwirtschaft verlieren wollte, nahm er die Einladung an. Später schrieb er: »Die nächste Stunde war eine der schwierigsten meiner gesamten Zeit als Wissenschaftler. Nachdem wir unsere klar definierten Rollen als Interviewpartner abgelegt hatten, befanden wir uns plötzlich in einer normalen sozialen Situation und mussten Small Talk führen.« Er spürte, wie er sich selbst dafür verurteilte, »dass ich mich so leutselig mit diesem Mann unterhielt«, doch er kam zu dem Schluss, dass seine Forschung dies rechtfertigte. Später befand er: »Ich bereue es nicht«.23

Aber so unerschütterlich unsere moralische Festigkeit auch sein mag, ist Versöhnung nicht immer möglich. Politiker auf unterschiedlichen Seiten eines Konflikts können zu dem Schluss kommen, dass es gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch auf lange Sicht opportun sein kann, gute Beziehungen herzustellen, doch sie können auch erkennen, dass es politischer Selbstmord wäre, die Hand zur Versöhnung auszustrecken. Was sollten sie tun?

In diesem Fall ist es sinnvoll, die moralische Entschlossenheit nicht aufzugeben, sie aber in eine andere Richtung zu lenken. In politisch aufgeladenen Konflikten könnte ein Dritter nötig sein, um eine Einigung »zu erzwingen«. Die beiden politischen Führer könnten Stellvertreter zu einer privaten Unterredung beim Oberhaupt eines neutralen Staats entsenden, der ihnen hilft, eine Einigung zu schmieden. Dieses Staatsoberhaupt kann die Führer der beiden verfeindeten Länder zu einem Gipfel in sein Land einladen, um die Einigung zu besiegeln und in politisch sensiblen Fragen eine Entscheidung herbeizuführen.

Abbildung 15.3

Dialektik 3: Autonomie versus Zugehörigkeit

Die Zahl 1 hat etwas Mystisches. Wenn zwei Menschen heiraten, werden sie eins. Wenn ein Kind gezeugt wird, geht aus zwei Leben eins hervor. Wenn sich Unternehmen zusammenschließen, werden aus zwei eins. Doch dieser Prozess des Zusammenschlusses birgt Spannung: Partner fühlen sich einander verpflichtet, das Kind sehnt sich nach Unabhängigkeit und das fusionierte Unternehmen muss die ursprünglichen Zweige unter einem Dach zusammenbringen.

Dieser Wunsch, eins mit anderen (Zugehörigkeit) und eins für sich zu sein (Autonomie) ist die dritte Dialektik.24 Ich glaube, sie ist der Kern der menschlichen Koexistenz und bewirkt zwei Dynamiken, die Konflikte verschärfen können: Eine bedroht unsere Autonomie, die andere unsere Zugehörigkeit.

Revierstreitigkeiten

Jedes Unternehmen kennt Revierstreitigkeiten, in denen es darum geht, Zuständigkeiten und Autonomie zu erweitern oder einzuschränken. Die Tatsache, dass die Mitarbeiter demselben Unternehmen zugehörig sind, schränkt ihre Unabhängigkeit ein. Autonomie wird zu einer begrenzten Ressource, um die ein Konkurrenzkampf geführt wird: Wenn jemand in mein Revier eindringt, dann wehre ich mich.

Nehmen wir dieses allzu vertraute Szenario: Zwei Unternehmen schließen sich zusammen. Auf dem Papier verspricht die Fusion größere Gewinne, doch die Umsetzung des Zusammenschlusses wird zur Katastrophe. Die neue Zusammengehörigkeit provoziert Revierstreitigkeiten: Weil die Mitarbeiter nicht ausreichend in das neue Unternehmen eingewiesen werden, bleiben sie innerlich dem alten treu. So entstehen zwei Stämme, die Angst davor haben, dass sie ihre Arbeitsplätze, Macht und Kultur verlieren könnten. Es beginnt ein Machtkampf, der die Produktivität und Arbeitsmoral beschädigt.

Damit ein Firmenzusammenschluss funktioniert, muss das Management erkennen, dass solche Revierstreitigkeiten unvermeidlich sind, und vorbeugen. Es muss abteilungs- und ebenenübergreifende Beratungsgruppen einrichten, die den Erfolg der Fusion sicherstellen sollen. Diese können beispielsweise gewährleisten, dass im neuen Unternehmen Angehörige jedes Stammes wichtige Funktionen übernehmen. Eine Institutionalisierung dieser Beratungsgruppen schafft eine neue Unternehmensidentität für alle. Es wird zwar immer noch zu Revierstreitigkeiten kommen – die Dialektik von Zugehörigkeit und Autonomie ist unvermeidlich –, doch sie lassen sich abmildern, wenn durch vorbeugende Maßnahmen die Zugehörigkeit aller zum neuen Unternehmen genauso gestärkt wird wie ihre Autonomie innerhalb des Unternehmens.

Invasion

Während es in Revierstreitigkeiten um Autonomie geht, geht es bei der Invasion um die Zugehörigkeit. In diesem Szenario entstehen Spannungen, weil wir uns emotional derart erdrückt fühlen, dass wir unsere Identität nicht mehr von der des anderen unterscheiden können. Übermäßige Zugehörigkeit raubt uns die Autonomie.

Innerhalb von Familien sind solche Invasionen unvermeidlich. Solange die Schwiegermutter meines Freundes Peter immer nur für ein paar Tage zu Besuch kam, war das Verhältnis zwischen beiden entspannt. Doch als die Dame irgendwann einzog, fingen die Probleme an, denn nun stellte Peter fest, dass er nie mehr mit seiner Frau und seinen Kindern allein war. Bald mischte sich die Schwiegermutter in sämtliche Familienangelegenheiten ein. Ihrer Ansicht nach steuerte sie wertvolle Ideen bei, doch Peter fühlte sich daran gehindert, Entscheidungen zu treffen. Mit seiner Schwiegermutter konnte er nicht darüber sprechen, wenn er sie nicht vor den Kopf stoßen wollte. Aber wenn er schwieg, würde er immer mehr von seiner Autonomie verlieren. Er hatte das Gefühl, dass er nur verlieren konnte.

Doch dem war nicht so. Peter vertraute sich mir an und kam zu dem Schluss, dass es besser war, die Sache mit seiner Frau zu besprechen, als seine Beziehung zu seiner Schwiegermutter zu gefährden. Seine Frau konnte seine Situation nachempfinden und sprach mit ihrer Mutter darüber, wie sich die Rollen in der Familie am besten verteilen ließen. Die Schwiegermutter hatte Verständnis und hielt sich fortan aus den Entscheidungen der Familie heraus. Ihr konstruktives Gespräch entschärfte die Invasion.

Wenn es Ihnen nicht gelingt, die Spannung zwischen Autonomie und Zugehörigkeit in den Griff zu bekommen, kann sie Ihre gesamte Energie aufzehren. Das wurde mir vor einigen Jahren klar, als ich zusammen mit einem Kollegen einen Kurs für Manager und Regierungsbeamte anbot. Gemeinsam führten wir das Stammesexperiment durch, und obwohl wir in der Regel ohne Mikrofon arbeiten, hatten wir an diesem Tag eines zur Verfügung. Das hatte die unvorhergesehene Folge, dass das Chaos eingedämmt wurde, weil die Delegierten nacheinander sprachen und einander aufmerksamer zuhörten. Gleich zu Beginn nutzte ein Delegierter namens John die Situation und übernahm die Moderation. Er stellte sich in die Mitte des Raums und reichte das Mikrofon an die verschiedenen Stämme weiter, um ihre Eigenschaften zu präsentieren; außerdem hielt er die Ergebnisse auf einer Tafel fest und vermittelte den Entscheidungsprozess. In der letzten Verhandlungsrunde wandte sich John mir zu und sagte: »Wir haben uns geeinigt.«

»Wirklich?«, fragte ich skeptisch. Die sechs Delegierten nickten und deuteten auf Johns Stamm. Als ich die Teilnehmer bat, sich zur Abschlussbesprechung wieder auf ihre Plätze zu setzen, flüsterte ich meinem Kollegen zu: »Das wird eine langweilige Diskussion werden.«

Ich hatte mich getäuscht.

Ich eröffnete die Diskussion, indem ich in die Runde fragte: »Wie fühlen Sie sich?«

Eine Unternehmer hob die Hand, deutete auf John und fragte: »Wieso haben Sie das Mikro bekommen?«

»Genau«, warf einer der anderen ein, ehe John antworten konnte. »Wer hat Ihnen das Recht dazu gegeben? In der ersten Runde hat jeder von uns das Mikrofon bekommen, dann haben Sie es an sich gerissen!«

»Sie haben mir nicht zugehört!«, klagte eine Frau am Nebentisch mit verschränkten Armen. »Sie haben sich benommen wie ein Diktator!«

»Aber ich habe euch das Leben gerettet!«, warf John ein.

Ein Unternehmer aus der hinteren Ecke, der die ganze Zeit den Kopf geschüttelt hatte, stand auf und rief: »Ich möchte lieber sterben, als mit Leute wie Ihnen in einem Stamm zu sein!«

Ein Schweigen fiel auf den Raum, und ich fragte den Unternehmer, was genau er damit meinte. Er sagte, er sei zutiefst verletzt gewesen, wie weit John während der Verhandlungen in die Autonomie der anderen eingegriffen habe. John hatte zwar die besten Absichten gehabt – er wollte schließlich die Welt retten –, doch er hatte nicht die »Unterabhängigkeit« aller respektiert. Folglich fühlten sich der Unternehmer und die Mehrheit der anderen Teilnehmer zurückgesetzt und gedemütigt, und jetzt wollten sie sich wehren.

Aber was hätte John denn tun sollen? Er war in einer Zwickmühle. Indem er die Führungsrolle übernahm, rettete er die Welt, doch dabei hatte er alle gegen sich aufgebracht. Hätte er diese Rolle nicht übernommen, wäre die Welt vermutlich in die Luft geflogen. Keine der beiden Optionen war gut. Dank Johns Führung erreichten die Stämme zwar eine Einigung, aber ich zweifle nicht, dass der neue Zorn der Stämme im wirklichen Leben bald einen Bürgerkrieg provoziert hätte.

Zusammenfassung

Um einen emotional aufgeladenen Konflikt zu lösen, müssen Sie zu einer integrierenden inneren Einstellung finden. Aber wie ein Schiff, das auf hoher See Kurs hält, müssen Sie diese Einstellung beibehalten und dabei das dauernde Hin und Her der Dialektik im Auge behalten. Sie müssen einen Ausgleich suchen zwischen Akzeptanz und Veränderung; Sie müssen Versöhnung statt Vergeltung suchen; und für alle Beteiligten Zugehörigkeit und Autonomie im Gleichgewicht halten.

Das ist der Weg zur Aussöhnung.

Arbeitsfragen

Akzeptanz versus Veränderung

  1. In welcher Hinsicht fühlen Sie sich von der anderen Seite nicht angenommen?

  2. Was können Sie selbst nur schwer an den anderen akzeptieren?

  3. Wie können Sie den anderen helfen, Ihre Sichtweise besser zu verstehen?

Versöhnung versus Vergeltung

  1. Spüren Sie jemals den Wunsch nach Vergeltung? Wann?

  2. Glauben Sie, dass die andere Seite jemals den Wunsch nach Vergeltung spürt? Warum?

  3. Was können Sie tun, um Ihr Mitgefühl für das Leid der anderen zum Ausdruck zu bringen?

Zugehörigkeit versus Autonomie

  1. Fühlen Sie sich in einer Beziehung je erdrückt?

  2. Könnte sich die andere Seite erdrückt fühlen?

  3. Wie können Sie Raum zum Atmen schaffen, damit die Beziehung Luft bekommt?