Im Jahr 1991 wurde ein Mann namens Cyril Ramaphosa von einem Freund übers Wochenende zum Fliegenfischen eingeladen. Cyril liebte Angeln und nahm die Einladung gern an. Drei Stunden nachdem die beiden aufgebrochen waren, eröffnete ihm der Freund, dass ein gewisser Roelf Meyer mit seiner Familie am Samstag zum Mittagessen kommen würde.
So weit, so uninteressant – wäre Cyril Ramaphosa nicht der Generalsekretär des Afrikanischen Nationalkongresses ANC gewesen und Roelf Meyer der Verteidigungsminister der damals regierenden Nationalpartei von Südafrika. Zwei Wochen später war ein Treffen zwischen beiden geplant, auf dem sie über die strittigsten Aspekte des Endes der Apartheid verhandeln sollten.1
An diesem Samstag im afrikanischen Busch ging es jedoch nicht nur um Politik. Meyers Sohn fragte Ramaphosa: »Bringen Sie mir Angeln bei?« und so zogen sie alle los. Auch Meyer wollte sein Glück versuchen, doch als er die Angel auswarf, flog die Leine in die falsche Richtung und der Haken blieb ihm in der Hand stecken. Er wandte sich Ramaphosa zu und klagte: »Und was jetzt?«
Zunächst versuchte Ramaphosas Frau, eine gelernte Krankenschwester, den Haken zu entfernen, doch ohne Erfolg. Aber Ramaphosa wusste, was zu tun war. »Hol mir eine Zange«, sagte er zu ihr. Er gab Meyer ein Glas Whisky und sagte: »Okay, trinken Sie, sehen Sie weg und vertrauen Sie mir.« Dann zog er den Haken heraus.
Zwei Wochen später saßen sie sich als Unterhändler am Verhandlungstisch gegenüber. Sie waren in eine Sackgasse geraten. Im Laufe der Jahre hatte das Apartheid-Regime zahlreiche Gegner der Rassentrennung eingesperrt, darunter ANC-Führer Nelson Mandela. Inzwischen waren viele, aber längst nicht alle wieder auf freiem Fuß. Das Regime war bereit, die verbleibenden politischen Häftlinge freizulassen, wenn der ANC seinen bewaffneten Widerstand beendete; doch der ANC weigerte sich, die Waffen niederzulegen, solange die Gefangenen noch inhaftiert waren. Eine der beiden Seiten musste nachgeben.
Meyer lehnte sich über den Tisch und sagte zu Ramaphosa: »Ich höre wie Sie mir sagen: Vertrauen Sie mir.«
Er ordnete die Freilassung der Häftlinge an, und eine Woche später verkündete der ANC das Ende des bewaffneten Kampfes.2
Wie diese Geschichte eindrucksvoll zeigt, ist die zwischenmenschliche Beziehung das A und O der Versöhnung. Wenn wir streiten, sehen wir den anderen in der Regel als Feind und die Beziehung als »Wir gegen Die«. Doch selbst mitten in einem emotional aufgeladenen Konflikt gibt es immer Möglichkeiten, eine positive Verbindung herzustellen, die die Beziehung vertieft und das Eigeninteresse hinter sich lässt. Der Schlüssel dazu sind »Querverbindungen«.
Beziehungen lassen sich durch verschiedene Verbindungen zwischen Ihnen und den anderen stärken. Je zahlreicher und bedeutsamer diese Verbindungen, umso stärker Ihre Beziehung.3 Ramaphosa und Meyer stellten eine Beziehung über das Angelabenteuer, die Gespräche im Busch und ihre gemeinsame Rolle als Unterhändler her. Diese vielfältigen Verbindungen schufen Vertrauen und ermöglichten ihnen die kreative Lösung der Probleme. Innerhalb dieses Kokons von Verbindungen waren sie in der Lage, klarer zu argumentieren; beide fühlten sich in der Beziehung sicher genug, um frei ihre Bedenken zum Ausdruck zu bringen und Informationen auszutauschen. Einen Verbündeten kann man eher beeinflussen als einen Gegner. Freunde hören eher zu als Feinde.
Dieses Kapitel zeigt Ihnen, wie Sie kooperative Beziehungen aufbauen können, indem Sie aktiv Querverbindungen herstellen. Hier erfahren Sie, wie Sie (1) die aktuelle Qualität der Verbindung erkennen, (2) sich eine bessere Beziehung vorstellen, (3) über eine Verbesserung der Beziehung entscheiden und (4) drei Instrumente zu deren Stärkung heranziehen können.
Die Qualität der menschlichen Verbindung lässt sich ermitteln; je enger die Verbindung, umso wahrscheinlicher ist es, dass Sie in Schwierigkeiten und Konflikten zueinanderstehen.4 Um den Grad der emotionalen Nähe zu ermitteln, können Sie die folgende Anleitung verwenden. Diese Nähe ist zwar nicht konstant – es kann durchaus passieren, dass Sie sich Ihrem Mann morgens nah und nachmittags fern fühlen –, doch die folgenden Seiten sollen Ihnen außerdem helfen, sich auf diese Dynamik einzustellen.
Ich unterscheide fünf Verbindungsebenen, die ich nach ihrer Nähe angeordnet habe:
Anerkennung der Existenz des anderen
mitfühlendes Verstehen
Verbundenheit
Zuneigung
Seelenverwandtschaft
Behandelt Ihr Gegenüber Sie wie Luft, oder erkennt er Ihre Existenz an? Im Film Reichtum ist keine Schande spielt Steve Martin einen Tankwart namens Navin Johnson, der seinen Platz in der Welt sucht. Eines Tages erhält die Tankstelle ein neues Telefonbuch, und Navin jubelt, als er seinen Namen darin findet. »Jetzt bin ich jemand!«, ruft er. »Hier schauen jeden Tag Millionen Menschen rein! Dein Name in einem Buch! Das ist die Art Spontanwerbung, die erfolgreich macht!« Seine Begeisterung unterstreicht, wie mächtig diese einfachste Form der menschlichen Verbindung ist: die Anerkennung der Existenz des anderen.
Jeder von uns hat das Bedürfnis, »jemand« zu sein – gesehen und gehört zu werden und ein wichtiger Teil der Welt zu sein.5 Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Besprechung, und niemand geht auf Ihre Beiträge ein. Oder Sie sitzen mit Ihrer Familie am Esstisch, und niemand schaut Sie an. Ethnopolitische Gruppierungen können extreme Frustration erleben, wenn ihnen die politische Anerkennung verweigert wird, oder wenn sie von diplomatischen Diskussionen ausgeschlossen werden.6 Wer nicht anerkannt wird, fühlt sich wie ein Niemand, und das gefällt keinem.
Tut der andere Ihre Emotionen als irrelevant ab, oder nimmt er sie aufrichtig zur Kenntnis? Mitgefühl zu haben, bedeutet, die emotionale Welt des anderen zu bewohnen. Wir spüren die Erfahrung des anderen und verstehen die emotionale Bedeutung, die er ihr beimisst.7
Es gibt zwar Arten des Mitgefühls. Das ist zum einen das kognitive Mitgefühl, das heißt, dass wir die emotionale Erfahrung eines anderen im Kopf nachvollziehen, dass die Emotionen aber nicht beteiligt sind. Es ist die Art von Mitgefühl, wie sie ein Psychopath mitbringt, der ein Mädchen verführt, weil er ihre Schwächen versteht, ohne irgendetwas zu fühlen. Emotionales Mitgefühl ist dagegen ein tatsächliches Mitempfinden der Gefühle des anderen. Unser Gehirn hat Schaltkreise, die dies möglich machen, und diese werden in sinnvollen Beziehungen besonders aktiv. Die deutsche Hirnforscherin Tania Singer hat beispielsweise gezeigt, dass diese Schaltkreise schon aktiv werden, wenn wir sehen, wie ein geliebter Mensch einen leichten Schlag auf die Hand bekommt, und dass wir die emotionale Färbung des Schmerzes mitempfinden.8
Nimmt der andere Sie als austauschbar wahr, oder als emotional unersetzlich? Durch die Bindung erleben wir eine dauerhafte Verbundenheit.9 In einer Ehe können wir vermutlich nichts Schlimmeres erleben, als dass unser Partner uns betrügt und uns signalisiert, dass wir austauschbar sind. Verbundenheit bedeutet Zusammenhalt, emotionaler Kleister, der uns an die andere Person bindet. Deshalb ist die Verbundenheit bei einer Versöhnung so wirkungsvoll: Sie schafft verbindliche Beziehungen.
Suchen Sie nach den Zeichen der Verbundenheit. Das erste ist der Wunsch, emotional in Verbindung zu bleiben. Mein vierjähriger Sohn Liam klammert sich dauernd an das Bein seiner Mutter, wenn sie am Computer sitzt oder in der Küche steht, und wagt sich nur ein paar Meter von ihr weg. Wenn sich so manches geschiedene Paar auch nach der Scheidung lange weiter streitet, dann auch, um diese Verbundenheit nicht aufgeben zu müssen. Diese Sehnsucht, eine Beziehung aufrechtzuerhalten, erklärt auch scheinbar irrationale Verhaltensweisen. Ein klassisches Beispiel ist die verärgerte Ehefrau, die ihren Koffer packt, verkündet, dass sie die Nase voll hat von der Ehe, und zur Tür hinausstürmt, woraufhin ihr Mann ihr nachläuft und ruft: »Ich kann auch nicht so weiterleben! Warte, ich komme mit!«
Das zweite Zeichen der Verbundenheit ist die Trennungsangst. Wenn unser Bedürfnis nach einer emotionalen Verbindung nicht befriedigt wird, dann schrillen innere Alarmglocken. Im Fall des kleinen Liam äußern sich diese in Trotzanfällen: »Mama! Halt mich!« Wenn er die Mutter wieder spürt, schüttet sein Gehirn opiatartige Schmerzmittel aus, die seine Bindung festigen und ein Lächeln auf sein Gesicht zaubern. Nicht anders ergeht es geschiedenen Paaren, die weder zusammen noch getrennt sein können.
Haben Sie das Gefühl, dass es dem anderen gleichgültig ist, was mit Ihnen passiert, oder hat er Sie gern? Am einen Ende des Spektrums liebt der andere Sie bedingungslos; die Größe der Opfer, die der andere für Ihr Wohl bringt, ist ein Maß seiner Liebe für Sie. Ich kenne eine Mutter, die sich so sehr um ihren kokainsüchtigen Sohn sorgte, dass sie ihn von der Polizei verhaften ließ und aus Angst um sein Leben ihre Beziehung opferte.
»Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit«, sagte der Nobelpreisträger Elie Wiesel. Als Überlebender des Holocaust wusste er, dass es für die Juden in den Konzentrationslagern vielleicht nur eines gab, was vielleicht noch schlimmer war als Grausamkeiten der Nazis: die anfängliche Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft gegenüber ihrer Notlage.
Sieht der andere Sie als ideologischen Gegenpol an, oder eher als Seelenverwandten? Die Seelenverwandtschaft ist ein heiliges Band, das auf spirituellen oder geistigen Bindungen basiert. Malcolm X machte sich anfangs über die Vorstellung lustig, dass Menschen unterschiedlicher Hautfarbe friedlich zusammenleben könnten. Doch dann reiste er nach Mekka und sah dort »Zehntausende Pilger aus aller Welt. Sie waren von jeder Hautfarbe, von blauäugigen Blonden bis zu schwarzen Afrikanern. Doch wir alle nahmen an demselben Ritual teil und zeigten dabei einen Geist der Einheit und Brüderlichkeit, die nach meiner Erfahrung in Amerika zwischen Weißen und anderen nicht bestehen konnte.«10
Nationalismus ist ein anderes Beispiel der Seelenverwandtschaft. Der Soldat, der auf dem Schlachtfeld sein Leben riskiert, um einen Kameraden zu retten, wird nicht nur durch Liebe motiviert, sondern auch durch Patriotismus. Jede religiöse oder anderweitig heilige Erfahrung kann Grundlage einer Seelenverwandtschaft sein. Als mein ältester Sohn Noah neun Jahre alt war, brachte ich ihn im Morgengrauen an den Strand, und zusammen sahen wir zu, wie die Strahlen der aufgehenden Sonne auf den Wellen tanzten. Ich spürte eine Seelenverwandtschaft mit ihm und der Schönheit der Natur um uns her.
Mithilfe dieser fünf Ebenen können Sie die Qualität Ihrer Beziehungen besser bewerten. Denken Sie an jemanden, mit dem Sie in Konflikt stehen, zum Beispiel eine Verwandte, einen Kollegen oder eine Nachbarin. Nehmen Sie eine aufrichtige Einschätzung Ihrer aktuellen Beziehung vor. Wie anerkannt fühlen Sie sich? Wie gut emotional verstanden? Wie stark verbunden? Spüren Sie Zuneigung? Seelenverwandtschaft?
Nehmen Sie die folgende Tabelle zur Hand, um Spannungen in der Beziehung zu analysieren. In einem Familienunternehmen könnten Sie beispielsweise das Gefühl haben, dass Ihre Schwester Sie zwar emotional versteht, aber nicht in dem Maße, wie Sie es sich wünschen würden. Das lässt auf ein Defizit beim Mitgefühl schließen (Ebene 2). Setzen Sie innerhalb jeder Ebene ein A an die Stelle, an der Ihre Beziehung aktuell steht. Dann fragen Sie sich, was der erwünschte Grad der Verbindung sein sollte, und setzen Sie ein E an die entsprechende Stelle. Die Differenz zwischen dem aktuellen und erwünschten Maß an Beziehung steht für die Spannung, die Sie spüren.
Versetzen Sie sich als Nächstes in die Lage des anderen und fragen Sie sich, wie er die Beziehung zu Ihnen beurteilen würde. Fühlt er sich anerkannt? Emotional verstanden? Sehen Sie wieder die Tabelle an, schätzen Sie den wahrgenommenen Grad der Verbindung ein und überlegen Sie, ob er sich mehr oder weniger wünschen könnte.
Verbindungsebene |
Spektrum möglicher Gefühle |
||
1. Anerkennung |
unsichtbar |
↔ |
anerkannt |
2. Mitgefühl |
unsichtbar |
↔ |
angenommen |
3. Verbundenheit |
austauschbar |
↔ |
unersetzlich |
4. Zuneigung |
unbedeutend |
↔ |
geliebt |
5. Seelenverwandtschaft |
geistig fern |
↔ |
geistig geeint |
Wenn Sie die aktuelle Qualität der Verbindung eingeschätzt haben, stellen Sie sich die Art von Beziehung vor, die Sie sich wünschen würden. Je detaillierter Ihr Bild, umso erfolgreicher können Sie einen Konflikt beilegen. Letztlich wollen Sie eine gemeinsame Vorstellung der Zusammenarbeit entwickeln, die so konkret ist, dass sie nicht nur möglich, sondern unvermeidlich scheint.11
Ein brillantes Beispiel stammt von Martin Luther King, der einen kühnen Traum von den künftigen Beziehungen zwischen Afroamerikanern und Weißen hatte. In seiner legendären Rede, die er auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsproteste in den Vereinigten Staaten vor dem Lincoln-Denkmal in Washington hielt, kritisierte er nicht nur die aktuelle Politik seines Landes, sondern hatte eine Vision: »In den roten Hügel von Georgia werden eines Tages die Söhne der einstigen Sklaven und die Söhne der einstigen Sklavenbesitzer am Tisch der Bruderschaft zusammensitzen.« King war klar: Um die Fesseln der Rassentrennung zu überwinden, mussten die Amerikaner an eine Gesellschaft glauben, an der alle teilhaben können.
Wenn Sie nun Ihre eigene Vision einer besseren Beziehung entwerfen, dann behalten Sie Folgendes im Kopf:
1. Malen Sie Ihre Vorstellung lebendig aus. Eine lebendige Vision ist konkret und spricht emotional an. Stellen Sie sich ein kurzes Video vor, das Ihre Sicht einer besseren Beziehung darstellt. Sind Sie gut gelaunt, wenn Sie sich mit Ihrem Ex-Mann unterhalten? Arbeiten Sie kollegial mit einer konkurrierenden Kollegin zusammen? Sitzen Sie neben Ihrem Nachbarn, um sich über einen strittigen Zaun auszutauschen?
2. Urteilen Sie nicht. Kritisieren Sie Ihre Vision nicht. Im Eifer des Gefechts mag Ihnen jede Form von Versöhnung unrealistisch erscheinen. Aber ohne eine konkrete Vorstellung davon, wie eine Versöhnung aussehen könnte, sind Sie dazu verurteilt, den Konflikt fortzusetzen. So wie Sie im Schlaf Ihre Träume nicht beurteilen, sollten Sie im Wachzustand Ihre Visionen nicht beurteilen. Ihr Ziel sollte sein, sich ein möglichst lebhaftes Bild einer möglichen Zukunft auszumalen. Gestatten Sie es sich, frische Möglichkeiten auszuloten.
Dieser Prozess kann Ihnen bei Konfliktlösungen auf allen Ebenen helfen. In einem Workshop für israelische und palästinensische Politiker und Manager forderte ich die Teilnehmer auf, sich ganz konkret auszumalen, wie der Frieden in zwanzig Jahren aussehen könnte.12 Zunächst überwog die Skepsis und einige Teilnehmer hielten die Übung für pure Zeitverschwendung, weil der Frieden in weiter Ferne sei. Doch ich bat sie, kreativ zu sein, auch wenn es ihnen noch so unrealistisch vorkam, und schließlich taten sie mir den Gefallen. Innerhalb von zehn Minuten sprang der Funke über, und als die Gruppe eine Stunde später ihre Ideen präsentierte, waren die Ergebnisse verblüffend. Begeistert beschrieben die Teilnehmer Möglichkeiten für gemeinsame Wirtschaftsvorhaben, soziale Projekte und politische Kooperationen. Weil die Teilnehmer nicht abstrakt argumentieren, sondern sich konkrete Schritte zur Verbesserung der Beziehung ausdenken sollten, waren sie mit Feuereifer bei der Sache. Der Frieden schien plötzlich eine reale Möglichkeit, und das veranlasste diese Politiker und Unternehmer, eine breitere Initiative anzuschieben, die schließlich die offiziellen Verhandlungen aus der Sackgasse führte. Auch als die politischen Verhandlungen stockten, trafen sich die Teilnehmer weiter und arbeiteten gemeinsam an ihrer Vision des Friedens.
Bevor Sie Ihre Vision in die Tat umsetzen, müssen Sie jedoch einen ganz wichtigen Schritt einschieben: Fragen Sie sich, ob Sie überhaupt willens und bereit sind, die Beziehung zu vertiefen. Allzu oft einigen sich die Beteiligten darauf, neue Formen der politischen und persönlichen Beziehung einzugehen, nur um kurz darauf einen Rückzieher zu machen, weil sie in Wirklichkeit nicht willens und bereit sind, diese umzusetzen. Stellen Sie sich also die beiden folgenden Fragen:
Der Wille ist die zielgerichtete Absicht, etwas zu tun. In diesem Fall ist es sinnvoll, zwischen einem emotionalen und einem politischen Willen zu unterscheiden, und Sie müssen überprüfen, ob Sie beide mitbringen, um Ihre Beziehung zur anderen Seite zu vertiefen.
Der emotionale Wille ist die Absicht, sich in einem Konflikt emotional zu öffnen, um eine bessere Verbindung zur anderen Seite herzustellen. Wenn der Schmerz tief sitzt, dann könnte Ihr emotionaler Wille schwach sein. Das ist verständlich; der emotionale Wille ändert sich im Laufe der Zeit, und wenn Sie heute Widerstand verspüren, kann sich das schon morgen ändern.
Wenden Sie sich dann dem politischen Willen zu und fragen Sie sich, ob Sie bereit sind, Maßnahmen zur Verbesserung der Beziehung zu ergreifen. Emotional könnten Sie sich eine Versöhnung mit einem entfremdeten Bruder wünschen, aber in der Praxis könnten Sie einfach nicht die Entschlossenheit aufbringen, zum Hörer zu greifen und den ersten Schritt zu machen. Oder als Leiterin einer Forschungsabteilung könnten Sie emotional durchaus willens sein, die Spannungen mit der Marketingabteilung beizulegen, doch politisch sind Sie nicht gewillt, das politische Kapital dazu zu investieren.
Nachdem Sie Ihren Willen zur Veränderung eingeschätzt haben, treffen Sie eine Entscheidung: Sind Sie tatsächlich gewillt, etwas zu verändern? Ein entschiedenes Ja eröffnet die Möglichkeit, die Beziehung zu vertiefen. Ein entschiedenes Nein sagt Ihnen, dass Sie diese Vertiefung zumindest im Moment nicht wünschen. Unklarheit schafft dagegen absehbare neue Beziehungsprobleme. Stellen Sie sich vor, ein Pfarrer fragt eine Frau: »Wollen Sie Ihren Mann lieben und achten und ihm die Treue halten alle Tage seines Lebens?« Und die Frau antwortet: »Also eigentlich schon, aber ich hätte da noch ein paar Bedingungen.« Diese Ehe wird nicht funktionieren. Und genauso wenig werden Sie eine Beziehung vertiefen, wenn Sie sich nicht im Klaren sind, ob Sie es wollen oder nicht.
Wenn Sie offen sind, sich auf die Emotionen der anderen Seite einzulassen und Ihre eigenen zu zeigen, dann ist die Antwort wahrscheinlich Ja. Aber wenn Sie zwar den Willen haben, Ihre Beziehung zu vertiefen, aber emotional nicht dazu bereit sind, dann kann das Probleme mit sich bringen.
Ein Beispiel ist eine Beziehung zwischen einem Mann, der gern den Bund der Ehe eingehen würde, und einer Frau, die das nicht möchte. Ihr Widerwille muss nichts mit ihrer Liebe oder Treue zu tun haben – es könnte einfach sein, dass sie noch nicht bereit dazu ist. Emotionale Bereitschaft ist zwar eine abstrakte Vorstellung, doch die meisten von uns lernen diesen Zustand früher oder später kennen. Wir wissen, wann der rechte Moment gekommen ist, um zu heiraten, ein Haus zu kaufen, Kinder zu bekommen, den Job zu wechseln oder irgendeine andere wichtige Entscheidung zu treffen. Dazu müssen wir nicht auf die Uhr schauen – solche Entscheidungen kommen oft einfach von innen.
Wenn Sie eine zerrüttete Beziehung kitten wollen, dann tun Sie etwas für Ihre Bereitschaft. Überlegen Sie, ob und wo Sie sich gegen Veränderungen sperren. Haben Sie Angst vor einer engeren Beziehung? Spüren Sie eine innere Ablehnung? Gibt es eine Wunde, die nicht verheilt ist? Dann arbeiten Sie an diesem Widerstand. Als einer der Vermittler im Nordirlandkonflikt half der Politiker George Mitchell den verfeindeten Parteien, sich nicht nur auf Veränderungen vorzubereiten, sondern sich auch emotional dafür bereit zu machen. Dazu mussten sich die Beteiligten auf neue Formen der Beziehung einlassen. Mitchell arbeitete mit Politikern, um Institutionen und Bürger auf die neue Wirklichkeit des Friedens vorzubereiten. Diese Vorarbeit war eine wesentliche Voraussetzung für die Aufnahme der Friedensverhandlungen.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer fragte sich einmal, wie sich wohl Stachelschweine in einer kalten Nacht gegenseitig wärmen. Dazu müssen Sie einander nahe genug kommen, um sich warmzuhalten, aber genug Abstand halten, um sich nicht gegenseitig zu verletzen. Das trifft auch auf das »richtige« Maß an menschlicher Verbindung zu. Nennen wir es das Igel-Prinzip: Wenn Sie eine Beziehung verbessern wollen, müssen Sie nahe genug kommen, um den Nutzen einer positiven Verbindung zu haben, und gleichzeitig müssen Sie ausreichend Abstand halten, um sich nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken.13 Machen Sie es sich zur Gewohnheit, die Qualität Ihrer Verbindung zu ermitteln und darüber nachzudenken, ob der Abstand zu groß wird, oder ob Sie sich unangenehm nahekommen.
Wenn Sie eine Beziehung vertiefen wollen, gibt es drei Formen der Verbindung: physisch, persönlich und strukturell. Diese lassen sich in einer Vielzahl von Zusammenhängen umsetzen, egal ob wir eine zerstrittene Familie, eine zerrüttete Organisation oder eine gespaltene Nation wieder zusammenführen wollen. In jedem Fall sind sie wesentlich zum Aufbau tragfähiger Querverbindungen. Eine authentische Beziehung lässt sich zwar nicht auf Befehl herstellen, doch diese drei Dimensionen schaffen die Voraussetzungen für einen positiven Austausch.
Form der Verbindung |
Verbindet uns durch … |
1. Physisch |
räumliche Nähe |
2. Persönlich |
emotionale Nähe |
3. Strukturell |
Zugehörigkeit zur selben Gruppe |
Physische Nähe bedeutet ganz einfach, dass wir anderen räumlich nahe sind. Diese Nähe ist ein guter Hinweis darauf, wie wir uns unsere Beziehung vorstellen. Wenn Sie einen Konflikt erörtern, sitzen Sie dann nebeneinander als Einheit an einem Tisch, oder sitzen Sie sich an einem langen Tisch wie an einer Front gegenüber? Selbst kleine Unterschiede in der räumlichen Anordnung können große Auswirkungen haben. Wenn Sie das nächste Mal mit einem Freund essen gehen, dann setzen Sie sich näher als sonst und schauen Sie, was passiert. Fühlt er sich unwohl und rückt unbewusst weg? In einer echten Verhandlung kann die falsch kalkulierte Nähe fatale Folgen haben.
Räumliche Nähe kann einen erheblichen unbewussten Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Verbindung haben. In einem Unternehmen kann es schon ausreichen, dass verschiedene Abteilungen auf unterschiedlichen Etagen untergebracht sind, um ein Gefühl der Stammesrivalität zu schüren. Selbst Mitarbeiter, die auf einer Etage arbeiten, fühlten sich den Kollegen im selben Zimmer verbundener als denen im Nebenraum. Auch in großem Maßstab kann räumliche Distanz die soziale Distanz vergrößern: Ein gutes Beispiel war die Berliner Mauer, ein konkretes Hindernis zwischen Ost- und Westdeutschen, oder die Rassentrennung, die Afroamerikaner dazu zwang, im Bus auf den hinteren Sitzplätzen zu sitzen und in eigenen Restaurants zu essen.
Wie der Sozialpsychologe Henri Tajfel gezeigt hat, reicht schon die willkürliche Einteilung von Menschen in Gruppen aus, damit wir eine Vorliebe für die Angehörigen der eigenen Gruppe empfinden. Diese Erkenntnis bestätigt sich im Stammesexperiment: Bevor die Stämme ihre Verhandlung beginnen, werden sie in sechs räumlich getrennte Gruppen gesetzt, was die Wahrnehmung der Trennung verstärkt. Stammesangehörige fühlen sich der eigenen Gruppe automatisch stärker verbunden und spüren größere Distanz zu den anderen, und zwar nicht nur räumlich, sondern auch emotional. Erstaunlicherweise kam keine Gruppe je auf den Gedanken, eine neue Sitzordnung in einem großen Kreis vorzuschlagen. Wenn das passieren würde, dann gerieten die trennenden Mauern vermutlich ins Wanken.
Gestalten Sie bei einem Gespräch die Sitzordnung so, dass sie zur Zusammenarbeit anregt. Sitzt jemand auf einem Podium und schaut auf die anderen herunter, oder sitzen Sie Seite an Seite? Wenn Sie an einem runden Tisch oder nebeneinander vor dem Problem sitzen, stellt dies tendenziell eine bessere Verbindung her, als wenn Sie einander an einem Tisch gegenübersitzen oder gar an verschiedenen Tischen Platz nehmen. Außerdem können Sie unterschiedliche Gesprächsformen konkreten Orten zuordnen. Ein befreundeter Berater sollte zwei Geschwister beraten, die gemeinsam ein großes Unternehmen führten, aber unentwegt über alles Mögliche stritten – Managementfragen genauso wie private Konflikte. Darunter litt auch das Unternehmen. Der Berater empfahl den beiden, unternehmerische Differenzen im Unternehmen und private Konflikte zu Hause zu klären, und sich jeweils eine bestimmte Zeit dafür zu reservieren. Diese einfache Regel funktionierte, weil sie den Geschwistern half, ihre Konflikte in Kategorien einzuteilen und sich um jeden am geeigneten Ort zu kümmern.
Für Srđja Popović, dessen Jugendbewegung maßgeblich am Sturz des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević beteiligt war, waren persönliche Verbindungen entscheidend. Am Tag vor jeder Protestaktion trafen sich Abgesandte seiner Organisation mit dem Polizeichef und erklärten ihm: »Wir werden dies und jenes machen. Wir wissen, dass Sie uns festnehmen müssen, und wir haben unsere eigenen Sicherheitsleute da, damit alles in Ordnung ist.«14 So bauten die Revolutionäre systematisch eine gute Beziehung zur Polizei und dem Militär auf und bezogen sie in ihre Aktionen mit ein.
Wenn wir eine Verbindung herstellen, identifizieren wir uns mit dem emotionalen Empfinden des anderen und fühlen uns so näher. Egal ob es um einen wichtigen Geschäftsabschluss oder die Versöhnung in einem Dauerkonflikt geht, sind persönliche Verbindung eine Voraussetzung für langfristigen Erfolg. Um diese herzustellen, haben sich fünf Strategien als besonders hilfreich erwiesen:
Stellen Sie Fragen, um herauszufinden, woran der anderen Seite emotional gelegen ist. Ihr Ziel sollte es sein, über Äußerlichkeiten hinauszukommen und Dinge in Erfahrung zu bringen, die die anderen ihren Freunden mitteilen würden. Fragen Sie aus aufrichtigem Interesse und gehen Sie über den Lebenslauf hinaus zu persönlicheren Themen.
»Haben Sie Geschwister/Kinder? Erzählen Sie mir mehr.«
»Was machen Sie in Ihrer Freizeit?«
»Wo sind Sie aufgewachsen? Haben Sie noch Verbindungen dorthin?«
Betreten Sie diese persönliche Sphäre jedoch behutsam. Beginnen Sie mit sicheren Themen wie dem Wetter, dem Straßenverkehr, den aktuellen Geschehnissen oder anderen unpersönlichen Themen, und gehen Sie dann nach und nach zu persönlichere Fragen über. Aus den Antworten der anderen können Sie heraushören, was ihnen am Herzen liegt. Was wollen sie zum Ausdruck bringen? Worüber wollen sie sprechen? Wenn sie das Gespräch immer wieder auf ein bestimmtes Thema zurückbringen, dann ist das ein Hinweis auf eine emotionale Priorität.
Wenn Sie entdecken, was den anderen wichtig ist, stellen Sie eine Verbindung zwischen deren Erfahrung und Ihrer eigenen her. Wenn der andere Ihnen beispielsweise erzählt, dass seine Mutter vor kurzem gestorben ist, dann könnten Sie antworten: »Das tut mir leid. Ich erinnere mich, wie wir uns im Urlaub kennen gelernt haben – sie war eine wunderbare Frau. Macht es Ihnen etwas aus, mir von ihr zu erzählen?«
Das Pendant der Frage ist die Auskunft. Indem Sie etwas von Ihrem eigenen Leben preisgeben, zeigen Sie Ihre Menschlichkeit und kommunizieren Informationen, die andere erkennen und weitergeben können.
Wenn Sie über Persönliches sprechen, dann versuchen Sie, einen Bezug zum Leben des anderen herzustellen. »Ich verstehe, wie schwierig es sein kann, Kinder großzuziehen. Ich habe selbst drei kleine Jungs. Ich liebe sie abgöttisch, aber sie können entsetzlich anstrengend sein.« Beschreiben Sie Erlebnisse lebendig, damit der andere einen Eindruck davon bekommt, was sie emotional für Sie bedeuten. »Erst gestern bin ich heimgekommen und habe gesehen, wie mein vierjähriger Sohn Liam den ganzen Küchenboden mit blauer Farbe vollgeschmiert hat. Wir haben zwei Stunden gebraucht, um die Küche wieder sauber zu bekommen!« Bringen Sie den Mut auf, nicht nur Ihre Stärken, sondern auch Ihre Schwächen zu zeigen. Sie können den anderen erzählen, worauf Sie stolz sind – »Mein Sohn hat grade einen Studienplatz bekommen!« –, aber gestehen Sie auch Ihre Verwundbarkeit ein. »Ich mache mir ein bisschen Sorgen, dass es ihm nicht leichtfallen wird, sich an der Uni einzuleben.«
Beobachten Sie in Konflikten, wann sich die Verbindung zur anderen Seite natürlich und flüssig anfühlt. Die persönliche Chemie verbessert Ihren Austausch und Ihre gemeinsame Entscheidungsfindung.15 Wenn die Chemie jedoch nicht zu stimmen scheint, dann überlegen Sie, ob es sinnvoll ist, einen Vermittler hinzuziehen, der eine gute Beziehung zur anderen Seite hat. Vor einigen Jahren sollte ich beispielsweise in einem Dauerkonflikt zwischen einem Regierungschef und einem führenden Unternehmer eines Landes vermitteln. Der Politiker empfand eine derartige Abneigung gegen den Unternehmer, dass er sich weigerte, direkt mit ihm zu sprechen. Die beiden Männer standen vor der Aufgabe, wichtige politische Differenzen auszuräumen, doch ihr Gespräch war in einer Sackgasse. Die Einigung kam schließlich durch Unterhändler zustande, zwischen denen die Chemie stimmte.
Achten Sie auf subtile Zeichen, dass die andere Seite eine Verbindung zu Ihnen sucht, und gehen Sie darauf ein.16 Nehmen wir an, ein Mann fragt seine Frau, ob sie mit ihm einen Film sehen will, und sie lehnt ab, weil sie das Abendessen machen will. Wenn der Mann daraufhin verärgert ist, kann sie seine »irrationale Reaktion« genauso wenig verstehen wie er ihre – bis beide einsehen, dass der Vorschlag eine subtile Einladung war, eine Verbindung herzustellen, und dass er sich durch ihre Ablehnung zurückgewiesen und beschämt fühlte. Glückliche Paare sprechen in der Regel mehr solcher Einladungen aus und nehmen sie häufiger an. Selbst in internationalen Verhandlungen haben erfahrene Diplomaten ein feines Gespür für subtile Versöhnungsangebote und abgeschwächte Vorwürfe.
Wir haben zahllose Alltagsrituale, derer wir uns gar nicht bewusst sind: Wir verabschieden unsere Kinder mit einem Kuss, wenn sie morgens in die Schule gehen, wir setzen uns abends zum Abendessen zusammen und so weiter. Rituale tragen dazu bei, im Laufe der Zeit eine Beziehung durch berechenbare und sinnvolle Interaktionen zu vertiefen. Sie müssen nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, sie müssen nur wiederholt werden und sinnvoll sein.17 In einer Partnerschaft können Sie beispielsweise die Versöhnung nach einem Streit ritualisieren, indem Sie sich gegenseitig massieren. In einem internationalen Konflikt können Sie Teile der Verhandlung ritualisieren, indem Sie zum Beispiel mit einer Schweigeminute im Gedenken an die Opfer beginnen, gemeinsam essen oder sich verpflichten, sich selbst in politisch schwierigen Zeiten einmal pro Woche auszutauschen.
Strukturelle Verbindungen basieren auf der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Organisation. Gehören Sie und die Vertreter der anderen Seite derselben Vereinigung, Institution oder Nation an? Während persönliche Verbindungen die emotionale Nähe betonen, geht es bei der strukturellen Verbindung um die gemeinsame Teilhabe. Diese können Sie durch drei Strategien fördern.
Kommen Sie aus derselben Stadt? Sind Sie auf dieselbe Schule gegangen? Haben Sie dasselbe Hobby? Schon kleine strukturelle Gemeinsamkeiten können genügen, um eine positive Verbindung zu knüpfen. Als ich vor Jahren im Nahen Osten ein Schwimmbad besuchte, stand ich an einer Wasserrutsche in der Schlange, als ein Mann hinter mir fragte: »Woher kommen Sie?« Ich antwortete: »Aus den Vereinigten Staaten.« »Ich auch!«, rief der Mann freudig aus. Die Vereinigten Staaten haben 330 Millionen Einwohner, und zu Hause hat diese Gemeinsamkeit keinerlei Bedeutung. Aber hier im Ausland war sie Anlass für einen halbstündigen Plausch.
Konfliktparteien übersehen oft die Möglichkeit, eine neue, übergreifende Gemeinschaft herzustellen, um ihre Differenzen beizulegen. Nur in einer einzigen Durchführung des Stammesexperiments schlossen sich alle Beteiligten zusammen, um sich gemeinsam gegen die Anweisungen des Aliens aufzulehnen. Aber keine Gruppe kam je auf den Gedanken, den Alien vom Feind zum Partner zu machen, etwa durch die Gründung eines Intergalaktischen Stammesrats mit dem Alien als ehrenwertem Gründungsmitglied.
Im wirklichen Leben können streitende Gruppen jeder Größe unter der Ägide einer Gemeinsamkeit zusammenfinden. Auch wenn wir uns spontan eher Angehörigen, Freunden und unserem kulturellen Stamm verbunden fühlen, können wir eine Gemeinschaft von Stämmen gründen, einen übergreifenden Rahmen, unter dem sich verschiedene Gruppen in einer gemeinsamen Sache vereinen können. Die wirkungsvollste Strategie ist die Suche nach Symbolen, die diese Gruppen zu einer Gemeinschaft machen. Länder bestehen beispielsweise oft aus einer Vielzahl von Stämmen mit ihren eigenen Kulturen und Traditionen, und doch herrscht oft der Nationalgeist vor. Warum? »Nationen haben Flaggen, Parks, Schulen, Regierungsgebäude, eine Währung, Zeitungen, Feiertage, Armeen und historische Dokumente«, wie der Sozialpsychologe Gordon Allport festhält – alles Symbole, die diese Nation in den Köpfen und Herzen der Menschen zu etwas Einzigartigem machen.18
Es gibt viele Beispiele für zerstrittene Gruppen, die sich versöhnen, indem sie eine übergreifende Gemeinschaft aus Stämmen gründen. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen einige europäische Nationen, den Kontinent stärker zu einen. Nach zahlreichen Schritten begründete der Vertrag von Maastricht schließlich die Europäische Union, die die Mitgliedstaaten wirtschaftlich, rechtlich und gesellschaftlich eint. Um diese Einheit zu unterstreichen, hat sich die Europäische Union eine Flagge, eine Gemeinschaftswährung, eine Hauptstadt und ein gemeinsames diplomatisches Korps gegeben. Die kulturellen und sprachlichen Unterschiede der Mitgliedstaaten bleiben zwar erhalten, doch diese regionalen Besonderheiten und Traditionen wurden eher noch zum Motor des Wirtschaftswachstums und des Zusammenhalts.
Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung einer solchen übergreifenden Struktur kommt ausgerechnet aus dem Nahen Osten. Das Israelisch-Palästinensische Netzwerk für Verhandlungspartner, das ich beraten durfte, wurde als Reaktion auf das Scheitern der Camp-David-II-Verhandlungen ins Leben gerufen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit kamen israelische und palästinensische Teilnehmer zu einem einwöchigen Workshop an die Universität Harvard, wo sie Verhandlungsmethoden lernten und die Gelegenheit hatten, Verbindungen zu knüpfen.19 Nur wenige kannten sich bereits vor dem Workshop, doch in dem Kurs arbeiteten sie gemeinsam in Rollenspielen, tauschten sich auf informellen Veranstaltungen aus und übernahmen in den Vorträgen gemeinsam die Rolle der »Lernenden«. Dank dieser und anderer Aktivitäten lernten sie, sich nicht als Gegner, sondern als Kollegen zu sehen, die gemeinsam an gemeinsamen Problemen arbeiteten. Mit verblüffendem Ergebnis. So waren es zum Beispiel israelische und palästinensische Teilnehmer dieses Kurses, die während des 38 Tage dauernden blutigen Konflikts um die Geburtskirche von Bethlehem im April 2002 hinter verschlossenen Türen verhandelten und eine Lösung erreichten.
Die stärksten strukturellen Verbindungen gehen weit über alltägliche Belange hinaus und bringen uns in den Bereich der Seelenverwandtschaft. Eine Verbindung höherer Ordnung ist zum Beispiel die gemeinsame Wertschätzung für ein universelles Ideal, sei es spiritueller, historischer, kultureller, natürlicher oder sozialer Natur. Wenn die Gemeinde in einer religiösen Feier zusammenkommt, erlebt sie eine universelle Beziehung zu einer göttlichen Macht, und wenn ein Paar einen Sonnenuntergang bewundert, spürt es eine universelle Verbindung zur Welt. Zwei Gruppen können unterschiedlichen Religionen angehören und dennoch über die gemeinsame Religiosität ein Band knüpfen. Wenn wir Möglichkeiten finden, eine Verbindung höherer Ordnung herzustellen, dann können wir auch Dauerkonflikte einfacher lösen und den Weg zu einem friedlichen Miteinander ebnen.
Auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen die Apartheid in Südafrika richtete Erzbischof Desmond Tutu seine Anstrengungen darauf, diese allgemein menschliche Verbindung herzustellen. Er benutzte dazu die traditionelle afrikanische Lebensphilosophie ubuntu, die besagt: »Meine Menschlichkeit ist untrennbar mit deiner verbunden.«20 Bei der Überwindung der Rassentrennung wurde Ubuntu zu einer mächtigen gesellschaftlichen Kraft und half Menschen, von Feinden zu Brüdern und Schwestern einer gemeinsamen spirituellen Tradition zu werden und von der traumatischen Vergangenheit in eine gemeinsame Zukunft zu gehen.
Wenn ich überlege, wie sich positive Verbindungen stärken lassen, dann denke ich an die Schlittschuhe, die mein Sohn Noah zum Eishockeyspiel trägt: Die Schnürsenkel sind so eng verschnürt, dass er nach dem Spiel fünf Minuten braucht, um sie wieder aufzubekommen. Querverbindungen sind ähnlich stark, wenn es darum geht, die Verbindung zwischen uns und der anderen Seite zu erhalten. Je zahlreicher und vielfältiger unsere Querverbindungen sind, umso fester und belastbarer sind unsere Beziehungen, und dies wiederum hilft uns, auch noch die emotional aufgeladensten Konflikte zu lösen.
Arbeitsfragen
Wie stark ist Ihre Beziehung zur anderen Seite?
Stellen Sie sich vor, wie eine bessere Beziehung zur anderen Seite aussehen könnte. Beschreiben Sie sie.
Wie offen sind Sie dafür, Ihre Beziehung zu verbessern?
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
(nicht offen) (sehr offen)
Was können Sie tun, um eine Verbindung zu stärken? Können Sie Gemeinsamkeiten hervorheben, den anderen Fragen zu bedeutsamen Aspekten Ihres Lebens stellen oder Persönliches über sich mitteilen? Seien Sie konkret.