In Lewis Carrolls skurrilem Roman Alice im Wunderland1 trifft die junge Hauptfigur auf eine Wasserpfeife rauchende Raupe, die ihr eine vermeintlich einfache Frage stellt: »Wer bist du denn?«
Alice antwortet zögernd: »Ich – im Moment weiß ich es nicht genau, Sir – aber jedenfalls weiß ich, wer ich war, als ich heute Morgen aufgestanden bin. Ich glaube aber, seitdem bin ich mehrere Male verwandelt worden.«
Alice muss sich mit komplizierten Fragen der Identität herumschlagen. Wer ist sie? Wie ist sie das geworden, was sie ist? Und woher weiß sie, dass sie ist, was sie zu sein glaubt? Wenn sie zu dem Schluss kommt, dass sie sich seit dem Aufstehen mehrmals verändert haben muss, dann versteht sie, dass ihre Identität ständig im Fluss ist. Aber obwohl sie das weiß, spürt sie eine Kontinuität in ihrer gelebten Erfahrung, und das beunruhigt sie. Sie weiß, dass sie sich verändert hat, aber sie fühlt sich immer noch genauso.
Dieser Widerspruch führt uns mitten hinein in die Konfliktlösung. Wenn Identität absolut fest und unveränderbar wäre, dann ließe sich der Konflikt nur lösen, indem wir unsere Identität verraten oder die andere Seite dazu bringen, ihre zu verraten. Ein Konflikt wäre damit eine Angelegenheit, bei der eine Seite gewinnt und die andere verliert. Und wenn unsere Identität andererseits vollkommen im Fluss wäre, dann könnten wir nicht sicher sein, dass sich die andere Seite an eine Vereinbarung hält. Wie kann jemand für eine Entscheidung von gestern zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er heute schon ein ganz anderer ist?
Alice entkommt dem Dilemma mit einer Erkenntnis, die auch für die Konfliktlösung entscheidend ist: Einige Aspekte ihrer Identität verändern sich, andere bleiben gleich. Ihre Identität ist fließend und fest zugleich.2
In einem Konflikt verlieren wir dies jedoch leicht aus den Augen. Wenn unsere Identität bedroht scheint, nehmen wir die Fäuste hoch und betrachten sie als eine feste, unveränderbare Größe. Das nenne ich den »Denkfehler der festen Identität«, und aufgrund dieses Denkfehlers bestehen wir darauf, dass die anderen Seite unseren Blickwinkel, unsere Sicht von Richtig und Falsch und unsere Werte akzeptiert. Wenn die andere Seite von derselben egozentrischen Annahme ausgeht, stecken wir in einer Sackgasse, aus der wir nicht mehr herauskommen, und der Konflikt scheint unlösbar.
Das ist jedoch eine Illusion. Wenn wir von Anfang an annehmen, dass ein Konflikt unlösbar ist, begraben wir jede Aussicht auf eine Einigung. Emotional aufgeladene Konflikte sind zwar schwer zu lösen, doch es ist sinnvoller, das Augenmerk auf diejenigen Aspekte der Identität zu richten, die sich verändern lassen, als auf diejenigen, die unveränderbar erscheinen. In der Tat sind fast alle Aspekte unserer Identität ein Stück weit fließend, wenngleich einige leichter zu verändern sind als andere.3
Dieses Kapitel legt die Grundlage für den Rest des Buchs und gibt Ihnen Werkzeuge an die Hand, um den »Denkfehler der festen Identität« zu korrigieren. Obwohl die Wirkung der Identität so weitreichend ist, wissen die Konfliktparteien nur selten, worum es sich handelt und wie sie sich ihrer annehmen sollen. Dieses Kapitel gibt Ihnen eine Orientierung, wie Sie die wichtigsten Aspekte der Identität in einem Konflikt erkennen und nutzen können.
Unsere Identität besteht aus einem ganzen Spektrum fester und fließender Eigenschaften, die uns zu dem machen, was wir sind. Diese Eigenschaften fügen sich zu einem Ganzen zusammen, zu dem Körper und Geist genauso gehören wie unser gesamter neurologischer Apparat und unsere gesellschaftliche Position, unsere unbewussten Abläufe und unsere bewussten Gedanken, unser festes Selbstgefühl und unsere flüchtigen Beobachtungen.
Diese Eigenschaften definieren uns, aber wir definieren umgekehrt auch sie.4 Diese Wechselbeziehung wird in M. C. Eschers Zeichnung »Drawing Hands« sinnfällig, auf der sich die Hände des Künstlers selbst zeichnen. Als ich meinen sechsjährigen Sohn Zachary fragte, was ihm zu dem Bild einfiele, sagte er: »Der macht sich selbst!« Das gilt auch für unsere Identität: Wir machen uns selbst.
In Anerkennung dieser Wechselbeziehung meinen einige Verhandlungstheoretiker, Identität sei »die Geschichte, die wir uns über selbst erzählen«.5 Das stimmt zwar, doch das ist noch nicht alles. Wir sind eine Geschichte, die wir nicht nur erzählen, sondern auch fühlen. Wir sind also gleichzeitig Verkörperung und Erzähler unserer Geschichte.6 Der Psychologe William James nannte die gelebte Erfahrung das »Ich«, und die Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen, das »Mich«.7 Alles, was wir in einem Konflikt erleben – eine Woge der Scham, ein Fluchtinstinkt, ein Bedürfnis zu schreien –, leben und fühlen wir nicht nur, sondern wir erzählen es uns auch gleichzeitig in Echtzeit.
Zwei Facetten der Identität sind entscheidend bei der Lösung eines emotional aufgeladenen Konflikts: unsere Kernidentität und unsere Beziehungsidentität. In den folgenden Abschnitten beschreibe ich diese beiden Aspekte und zeige, wie Sie mit ihrer Hilfe einen Konflikt lösen können.
Unsere Kernidentität ist ein Spektrum von Eigenschaften, die uns als Einzelne oder als Gruppe ausmachen. Dazu gehören zum Beispiel unser Körper, unsere Persönlichkeit, unsere religiösen Überzeugungen oder unsere kulturellen Gepflogenheiten.8 Wenn wir keine Kernidentität hätten, würde die Welt im Chaos versinken. Länder hätten weder Verfassungen noch Flaggen, Unternehmen keine Marken und Menschen keine Namen oder Persönlichkeiten. Unsere Kernidentität ist der feste Punkt, von dem aus wir unsere Erfahrungen zu einem in sich schlüssigen Selbstgefühl zusammenfügen. Für Menschen, die sich ihrer Kernidentität nicht sicher sind, und die nicht wissen, wer sie sind oder wofür sie stehen, werden Entscheidungen jeder Art schwierig.
Zu unserer Kernidentität gehören unsere persönlichen Vorlieben und persönlichen Eigenschaften genauso wie unsere Identifizierung mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Sehen Sie sich als Amerikanerin? Japaner? Deutsche? Spanier? Protestantin? Muslim? Jüdin? Hindu? Atheistin? Als Student? Mutter? Manager? Sozialdemokratin? Konservativer? Weil wir zu einer Vielzahl von Gruppen gehören, haben wir viele gesellschaftliche Identitäten. Ein Mensch kann zum Beispiel Afroamerikaner, Protestant, Lehrer und konservativ sein.
In einem Konflikt müssen wir uns entscheiden, welche dieser gesellschaftlichen Identitäten uns am wichtigsten ist.9 Unsere Religionszugehörigkeit, Herkunft, politischen Ansichten und Staatsangehörigkeit können uns in verschiedene Richtungen ziehen. Vielleicht ist uns unsere Religion am wichtigsten, aber um uns in unser Viertel zu integrieren, betonen wir unsere Staatsangehörigkeit. Selbst in zwanglosen Gesprächen unter Freunden müssen wir uns überlegen, ob wir uns über Politik, Religion oder Arbeit unterhalten wollen, denn jede Entscheidung wirkt sich auf die Konturen unserer Identität aus.
Aber nicht nur wir selbst identifizieren uns als Angehörige bestimmter Gruppen, sondern wir werden auch von anderen identifiziert und in Schubladen gesteckt. Wenn Sie in Ihrem Unternehmen einem Arbeitskreis zum Thema kulturelle Vielfalt angehören und die einzige Türkin sind, dann werden Ihre Kollegen dafür sorgen, dass Sie sich dieser Identität besonders bewusst sind, auch wenn Sie diese Identität vollkommen vergessen, wenn Sie mit einer Freundin in einem Café sitzen. Aber wir sind dieser Art der Etikettierung nicht hilflos ausgeliefert. Diese Beobachtung machte Professor Henri Tajfel, Begründer der Theorie der sozialen Identität, im Zweiten Weltkrieg. Er war polnischer Jude, studierte in Frankreich und meldete sich zu Beginn des Kriegs als Freiwilliger zur französischen Armee. Nach der Besetzung Frankreichs geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurde fünf Jahre lang von einem Lager zum anderen verschoben. Immer wieder wurde er von den Deutschen verhört: Sind Sie Jude? Woher kommen Sie? Er gestand seine jüdische Identität, weil er vermutete, dass die Deutschen eine Lüge durchschauen würden. Aber weil er erkannte, dass seine Identität nicht vollkommen fest war, beschloss er, sich als französischer Jude auszugeben. Hätten die Deutschen seine Identität als polnischer Jude erkannt, dann wäre dies sein sicherer Tod gewesen.10
Unsere Kernidentität ruht auf fünf Säulen: Überzeugungen, Rituale, Bindungen, Werte und emotional bedeutsame Erfahrungen. Diese Säulen bieten einen Rahmen, um zu verstehen, was in einem emotional aufgeladenen Konflikt auf dem Spiel steht. Wird eine dieser Säulen bedroht, löst dies eine Existenzkrise aus, weil wichtige Aspekte unserer Kernidentität in Gefahr scheinen.
Die Aufgabe der Identität besteht nicht darin, uns am Leben zu erhalten oder unsere Gene weiterzuvererben, sondern Sinn im Leben zu finden.11 Die fünf Säulen verleihen unserer Existenz diesen Sinn. So unerlässlich wie Hirn, Herz und Lungen für das Überleben unseres Körpers sind, so unerlässlich sind die fünf Säulen für das Überleben unserer Identität. Sie erklären auch, warum im Stammesexperiment ein ums andere Mal die Welt in die Luft fliegt: Den Teilnehmern geht es weniger darum, die Welt zu erhalten, als darum, die wahrgenommene Bedeutung ihres Stammes zu bewahren.
Je eher wir erkennen, welche unserer fünf Säulen bedroht ist, umso eher können wir uns um diese Säule kümmern und das Augenmerk auf die Lösung unseres Konflikts richten.
Die fünf Säulen der Identität
Überzeugungen sind konkrete Vorstellungen, die wir für wahr halten.
Rituale sind für uns persönlich sinnvolle Gepflogenheiten und feierliche Handlungen, Übergangsriten, regelmäßige Gebete oder Mahlzeiten im Kreise der Familie.
Bindung ist die Loyalität gegenüber Einzelpersonen oder Gruppen, zum Beispiel Angehörigen, Freunden, Autoritätsfiguren, Nationen oder Ahnen.
Werte sind Leitprinzipien und übergreifende Ideale, die oft in einem einzigen Schlagwort wie Gerechtigkeit, Mitgefühl oder Freiheit auf den Punkt gebracht werden.
Emotional bedeutsame Erfahrungen prägen uns im positiven wie im negativen Sinne. Dazu gehört unsere Hochzeit genauso wie die Geburt des ersten Kindes, eine Ohrfeige der Mutter oder die Erinnerung an Gewalt gegen unsere Gruppe.
Wenn sich Ihr Konflikt emotional auflädt, dann gehen Sie die fünf Säulen der Identität durch und sehen Sie sich an, welche bedroht zu sein scheint. Ist eine Ihrer zentralen Überzeugungen gefährdet? Bedroht die andere Seite Ihre Bindungen zu Ihrer Familie oder Religionsgemeinschaft? Nachdem Sie Ihre eigenen Säulen überprüft haben, überlegen Sie, was für die andere Seite auf dem Spiel stehen könnte. Weder Sie noch die andere Seite wird sich auf eine Vereinbarung einlassen, die eine wichtige Säule bedroht.
Mein zehnjähriger Sohn Noah nahm unlängst an einem Fußballspiel teil und erzielte sieben Tore für seine Mannschaft, während die Gegenseite kein einziges schoss. Kurz vor Ende des Spiels fiel dem Sportlehrer ein, ihn in die gegnerische Mannschaft zu stecken. Noah erzielte zwei weitere Tore für seine neue Mannschaft und »verlor« das Spiel 7 : 2. Den ganzen Abend schmollte er, weil er verloren hatte: Binnen Sekunden war seine Loyalität von einer Mannschaft auf die andere übergegangen.
Aber Noahs Kernidentität war natürlich nicht vollständig auf den Kopf gestellt worden. Er war im Ferienlager und fühlte weder zu der einen noch der anderen Mannschaft eine besonders starke Bindung. Wäre es dagegen eine Weltmeisterschaft gewesen, dann wäre es ihm nach einem solchen Wechsel sehr schwergefallen, seine Bindungen neu zu ordnen. Auch die Kernidentität ist zu einem gewissen Grad fließend, auch wenn die tiefsten Säulen der Identität fest zementiert sind.
Auch für eine Gruppe kann sich die Kernidentität verändern. Ein Unternehmen kann sich eine neue Philosophie geben, aber immer noch dasselbe Unternehmen sein, und eine politische Partei kann ihr Programm neu ausrichten und immer noch mehr oder weniger dieselbe Partei sein. In Wirklichkeit verhandeln Gruppen die Ränder ihrer Identität ständig neu aus, sie entscheiden darüber, wer dazu gehört und wer nicht, und was Zugehörigkeit überhaupt bedeutet. Es ist, als würde ein Kreis um die Gruppe gezogen, und die Angehörigen debattieren ständig darüber, welche Werte, Überzeugungen und Rituale in diesen Kreis gehören. Politische, religiöse und gesellschaftliche Gruppen behalten oftmals ihre traditionellen gesellschaftlichen Etiketten, auch wenn sie die Bedeutung dieser Etiketten neu definieren.
Während sich unsere Kernidentität der Veränderung widersetzt, ist eine andere Facette der Identität formbarer und eröffnet ausgezeichnete Möglichkeiten, selbst hochemotionale Konflikte zu lösen.
Ihre Beziehungsidentität ist das Spektrum von Eigenschaften, die unsere Beziehung zu bestimmten Personen oder Gruppen definieren.13 Spüren Sie im Umgang mit Ihrem Partner Distanz oder Nähe? Fühlen Sie sich eingeengt oder haben Sie das Gefühl, so sein zu können, wie Sie sind?14 Während unsere Kernidentität den Sinn der Existenz sucht, sucht die Beziehungsidentität den Sinn in der Koexistenz.15 Weil wir unsere Beziehung ständig neu verhandeln, verändert sie sich dauernd, und deshalb haben wir hervorragende Möglichkeiten, sie zu gestalten.16
Um das Konzept der Beziehungsidentität zu verdeutlichen, sehen Sie sich die Abbildung 3.1 an. Ehe Sie weiterlesen, beantworten Sie diese Frage: Welches Feld ist dunkler – A oder B?
Die Antwort: Sie sind identisch. Obwohl in unserer Wahrnehmung Feld A dunkler ist als Feld B, sind sie in Wirklichkeit gleich. (Wenn Sie mir nicht glauben, decken Sie das Bild bis auf die Felder A und B ab.) Die optische Täuschung ist das Ergebnis der Tatsache, dass wir die Felder nicht so wahrnehmen, wie sie objektiv sind, sondern in ihrer Beziehung zu ihrer Umgebung.
Ähnlich verhält es sich mit unserer Wahrnehmung von unterschiedlichen Identitäten. Wir haben eine Kernidentität, doch bei der Lösung eines Konflikts geht es nicht nur um diese, sondern auch um unsere Beziehungsidentität – wie wir uns in Beziehung zu anderen wahrnehmen und umgekehrt.
Kommen wir noch einmal auf Davos zurück. In dem Experiment begannen die Stämme ihre Verhandlungen mit dem Wunsch, die Welt zu retten. Doch schon bald brachen die Beziehungen der einzelnen Stämme untereinander zusammen – die wachsenden Spannungen hatten so gut wie nichts mit den Unterschieden der Kernidentität der Stämme zu tun. Nachdem sich der Fröhliche Stamm in der ersten Runde zurückgewiesen fühlte, versuchte er, in den folgenden Runden die Zügel in die Hand zu nehmen. Der Abgeordnete des Regenbogen-Stammes schaffte es, zwei weitere Stämme in ein Bündnis zu holen. Die zentrale Frage, die alle Stämme beschäftigte, war: »Wem fühlen wir uns verbunden, und von wem fühlen wir uns zurückgewiesen?«
Es lässt sich nicht exakt nachmessen, wie stark wir uns der anderen Seite verbunden fühlen. Der beste Gradmesser ist, wie wir uns in einer Beziehung fühlen. Aber da sich die Kernidentität meist über konkrete Eigenschaften definiert (»Ich bin Psychologin und lege Wert auf Authentizität.«), bleiben die der Beziehungsidentität eher abstrakt (»Ich habe das Gefühl, unsere Beziehung verkümmert.«).17
Auch wenn die Beziehungsidentität ein wenig vage erscheinen mag, hat sie zwei konkrete Dimensionen: Verbundenheit und Autonomie.18 Wenn Sie sich dieser Dimensionen bewusst werden und verstehen, wie sie wirken, können Sie in einem Konflikt kooperative Beziehungen herstellen.19
Verbundenheit meint unsere emotionale Beziehung zu einem Menschen oder einer Gruppe. Stabile, konstruktive Beziehungen bewirken tendenziell positive Emotionen und den Wunsch zur Zusammenarbeit, selbst in schwierigen Zeiten.20 Als ich Generalleutnant H. R. McMaster interviewte, der seinerzeit Kommandant des Dritten Panzerregiments in Tal Afar im Irak war, erklärte er mir, dass die amerikanischen Truppen bei der Befriedung des Landes vor allem dann erfolgreich waren, wenn es ihnen gelang, Verbundenheit mit den Irakern herzustellen.21 Daher hatte McMaster ein Trainingsprogramm aufgelegt, in dem die Soldaten zum Beispiel lernen sollten, sich erst mit den Einheimischen zusammenzusetzen und Tee zu trinken, und sie erst dann respektvoll um Informationen zu bitten.22 Diese scheinbar einfachen Gesten der Verbundenheit hatten große Auswirkungen auf das Ausmaß der Zusammenarbeit und der Weitergabe von Informationen, und sie sorgten für Sicherheit.
Das Gegenteil der Verbundenheit ist Zurückweisung. Wenn Ihr Vorgesetzter Ihre Kollegen zu einem wichtigen internen Gespräch ruft und Sie nicht dazu bittet, und das obwohl Sie auf dem betreffenden Gebiet eine Koryphäe sind, dann sind Sie vermutlich verärgert. Sie fragen sich, wie Sie Ihre Stellung in diesem Kreis verloren haben, und fürchten, dass sich alle gegen Sie verschworen haben. In anderen Lebensbereichen ist Zurückweisung nicht weniger schmerzhaft. Wenn alle in der Familie eine Einladung zu einem Treffen der Großfamilie bekommen, nur Sie nicht, dann verursacht das vermutlich emotionalen Schmerz.
Hirnforscher haben beobachtet, dass der aus sozialer Zurückweisung entstehende Schmerz den anterioren cingulären Kortex aktiviert – dieselbe Hirnregion, die auch bei körperlichem Schmerz aktiv wird.23 Unser Gehirn reagiert auf Zurückweisung genauso wie auf einen Schlag in die Magengrube: Wenn wir geschlagen werden, verweigern wir die weitere Zusammenarbeit, auch wenn wir damit unseren rationalen Interessen schaden. Und damit wird es schwieriger, unseren Konflikt beizulegen.24
Unter »Autonomie« verstehen wir die Möglichkeit, frei von unserem Willen Gebrauch zu machen – also ohne allzu große Einschränkungen durch andere denken, fühlen, handeln und sein zu können, wie wir wollen. Unlängst wurde ich in einem Café Zeuge eines Streits zwischen einem Pärchen. »Beruhige dich!«, zischte der Mann. Die Frau funkelte ihn an und blaffte: »Sag mir nicht, dass ich mich beruhigen soll! Beruhig du dich doch!« Worum es in dem Streit der beiden auch immer ursprünglich gegangen sein mochte, jetzt ging es um die Autonomie. Keiner wollte sich vom anderen vorschreiben lassen, was er zu tun oder zu lassen hatte. In dem Moment, in dem wir das Gefühl haben, dass jemand unsere Autonomie gefährdet, werden wir wütend und wollen zurückschlagen.25
Das Konzept der Autonomie erklärt, warum etwas scheinbar so Einfaches wie der Name eines Landes zum Auslöser schwerer internationaler Konflikte werden kann. Nach dem Zerfall von Jugoslawien kam es zu Spannungen, als einer der Teilstaaten unter dem Namen »Republik Mazedonien« seine Unabhängigkeit erklärte. Das sorgte für endlose Probleme mit dem Nachbarland Griechenland, dessen nördliche Region Mazedonien heißt. Hier leben drei Millionen Menschen, die sich als Mazedonier bezeichnen und erklären, sie hätten den alleinigen Anspruch auf den Namen.26
Ein griechischer Politiker erklärte: »Wir haben das Gefühl, dass unsere Nachbarn unser kulturelles Erbe stehlen, indem sie auf ihren Plätzen Statuen von Alexander dem Großen aufstellen. Das sind griechische Ikonen. Sie wollen uns unsere Kultur und unsere Seele rauben.« Ein Politiker aus dem Nachbarland hielt dagegen: »Wir haben das Recht, selbst über unseren Namen und unsere Zukunft zu entscheiden. Hat nicht jeder Staat dieses Recht? Wir machen den Griechen ja auch keine Vorschriften. Im Gegenteil. Unsere Kultur respektiert alle Kulturen. Wir sind eine Gemeinschaft von Gemeinschaften. Mutter Teresa hat hier in Skopje gelebt, keine hundert Meter von einer Kirche, einer Moschee und einer Synagoge. Wir zelebrieren unser vielfältiges Erbe.«
Aus Sicht der Beziehungsidentität sagt also die eine Seite: »Wenn ihr Statuen von Alexander dem Großen aufstellt und den Namen Mazedonien für euch in Anspruch nehmt, stellt ihr unsere Autonomie infrage.« Und die andere Seite erwidert: »Wenn ihr von uns verlangt, unseren Namen zu ändern, dann stellt ihr unsere Autonomie infrage.« Es geht also nicht um Inhalte allein, sondern um Autonomie in Fragen wie Grenzen, Geschichte, Kultur und Souveränität.
Ob in diesem Namensstreit oder im Alltag, die Meinungen gehen auseinander, wie viel Autonomie man erwarten kann und wie viel Verbundenheit annehmbar ist. Der Rennfahrer würde auch gern mit 150 Sachen durch ein Dorf rasen, weil er den Rausch der Geschwindigkeit liebt, während sich die Anlieger eine langsame und vorsichtige Fahrweise wünschen. Ein Mädchen will in der Schule einen Hut aufsetzen, und die Schulleitung besteht darauf, dass alle dieselbe Uniform tragen. Die Gesetze, Verfahren und Normen, die eine Gesellschaft zusammenhalten sollen, können sie auch zerreißen und das bewirken, was Freud »das Unbehagen in der Kultur« nannte.
Das wird auch durch das Stammesexperiment unterstrichen. Einige Jahre nach Davos führte ich die Übung in Kairo mit einigen Managern und Politikern durch. Wieder saßen sechs Abgeordnete im Mittelpunkt und sollten darüber verhandeln, welchem Stamm sie sich anschließen sollten, um den Weltuntergang zu verhindern. In Runde zwei sagte ein Manager namens Mohammed: »Wir haben nicht genug Zeit, um uns hier alle Positionen anzuhören und einen Konsens zu finden. Warum ziehen wir nicht willkürlich einen Stamm aus dem Hut und schließen uns dem an.« Fadi, ein weiterer Manager, nickte zustimmend. Mohammed riss ein Blatt Papier in sechs Stücke, schrieb auf jedes den Namen eines Stammes, warf sie in eine Kaffeetasse und zog einen. Zufällig war es sein eigener Stamm. Er und Fadi waren zufrieden und gingen auf ihre Plätze zurück. Sie hatten die Welt gerettet … dachten sie zumindest.
Ich wandte mich den anderen Delegierten zu, die noch in der Mitte des Raums saßen, und fragte sie: »Wollen Sie sich alle Mohammeds Stamm anschließen?«
Sie schüttelten die Köpfe: »Nein«, erwiderte einer.
»Heißt das, ihr wollt meinen Stamm nicht akzeptieren?«, empörte sich Mohammed. »Es war ein faires Verfahren!«
»Sie haben es manipuliert!«, rief ein anderer Delegierter.
»Habe ich nicht!«, keifte Mohammed zurück, holte die Zettel aus der Tasse und zeigte sie den anderen.
»Das spielt keine Rolle!«, erklärte ein Politiker. »Wer hat Ihnen das Recht gegeben, über das Verfahren zu bestimmen?«
Die Gruppe verfiel ins Chaos und stritt sich für den Rest des Experiments. In der Diskussion ging es allerdings nicht mehr um Überzeugungen und Kernidentitäten, und auch nicht darum, wie ein gutes Entscheidungsverfahren aussehen könnte. Es ging darum, ob Fadi und Mohammed das Recht hatten, dieses Verfahren zu bestimmen. Die Gruppe wandte sich gegen die beiden, weil sie mit ihrer einseitigen Entscheidung die Autonomie der Gruppe so stark verletzt hatten, dass sie das Ergebnis ablehnten. Auch in Kairo flog die Welt in die Luft.
In einem Konflikt besteht die große Herausforderung darin, herauszufinden, wie Sie in Ihrer Beziehung zur anderen Seite zwei Bedürfnisse befriedigen können: Ihren Wunsch nach Nähe (Verbundenheit) und Abstand (Autonomie) zur anderen Seite. Anders gesagt: Wie können Sie gleichzeitig als zwei Einzelne und als ein Paar von zweien existieren?
Autonomie und Verbundenheit gehören zu jeder Beziehung, und die Harmonie hängt davon ab, dass es Ihnen gelingt, beide im Gleichgewicht zu halten.27 Heranwachsende versuchen beispielsweise, sich in ihre Familien einzufügen und ihre eigenen Stimmen zu finden. Frischverliebte wollen eine Beziehung aufbauen und gleichzeitig Zeit für sich allein haben. Bei einem Firmenzusammenschluss will die Direktion eine einheitliche Organisation schaffen, während einzelne Abteilungen versuchen, ihre kulturelle und politische Autonomie zu wahren. Und internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen wollen auf den globalen Frieden hinarbeiten und müssen gleichzeitig den einmaligen Wert jedes einzelnen ihrer Mitgliedstaaten respektieren.
Auf einer tieferen Ebene ist die Fähigkeit, Autonomie und Verbundenheit im Gleichgewicht zu halten, eine zentrale ethische Aufgabe des Lebens. Das wusste schon Konfuzius.28 Seiner Ansicht nach waren Himmel, Erde und Menschheit Teil eines einzigen Universums, des großen Ganzen. In unserem Leben haben wir die Chance, immer weitere Kreise des Daseins zu erreichen. Der einfachste ist das Leben in der Natur, das nur von unseren Instinkten beherrscht wird. Sobald wir unser Ego entdecken, erkennen wir, dass wir über die Autonomie verfügen, um unsere Stellung in der Welt zu verbessern – wir können uns selbst verwirklichen. Schließlich gelangen wir zu der Erkenntnis, dass es nicht nur unser Ego gibt, sondern eine größere gesellschaftliche Ordnung; wir treten in die moralische Sphäre des Daseins ein und fühlen uns verpflichtet, der Menschheit zu dienen. Und schließlich erkennen wir, dass auch die gesellschaftliche Ordnung nur Teil des großen Ganzen ist, und dass das Streben nach dem Guten für alles unsere Autonomie und Verbundenheit übersteigt.
Es ist kein Wunder, dass Alice solche Schwierigkeiten hatte, der Pfeife rauchenden Raupe zu erklären, wer sie war. Identität ist eine komplizierte Sache. Sie ist fest und fließend zugleich, sie ist individuell und gesellschaftlich, bewusst und unbewusst. So wie das Wunderland Alice in ihrer Selbstwahrnehmung verwirrte, kann ein emotional aufgeladener Konflikt unser Identitätsgefühl beeinträchtigen. Wenn wir verstehen, inwieweit die Kernidentität jeder Seite auf dem Spiel steht, können wir den Denkfehler der festen Identität überwinden und die eigentlichen Ursachen der Unzufriedenheit sowie verborgene Wünsche und Ängste erkennen.29 Und indem wir die Beziehungsidentität kooperativ gestalten, können wir engere Beziehungen knüpfen.
Trotzdem kann Identität mehr Bürde als Chance sein – es sei denn, wir wissen, wie wir uns vor einer Dynamik hüten können, die in einem Konflikt stärker sein kann als wir. Der Rest des Buchs bietet eine konkrete Methode, um diese Herausforderung zu meistern.
Arbeitsfragen
Das Bewusstsein ist entscheidend, um einen Konflikt in seinem Kern beizulegen. Erinnern Sie sich an einen schwierigen Konflikt und beantworten Sie folgende Fragen:
Was steht in diesem Konflikt für Sie persönlich auf dem Spiel? Denken Sie über Ihre Überzeugungen, Rituale, Bindungen, Werte und emotional bedeutsamen Erfahrungen nach.
Was könnte für die andere Seite persönlich auf dem Spiel stehen?
Inwieweit fühlen Sie sich zurückgewiesen, und warum?
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
(kaum) (sehr)
Inwieweit könnte sich die andere Seite zurückgewiesen fühlen, und warum?
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
(kaum) (sehr)
Inwiefern könnte die andere Seite das Gefühl haben, dass Sie ihre Entscheidungsfreiheit einschränken?