Während meines ersten Semesters an der Universität schilderte uns ein exzentrischer Englischprofessor, wie er sich in einem Kaufhaus mit seiner Frau gestritten hatte, weil diese eine teure geblümte Steppdecke für ihr Ehebett kaufen wollte.
»Die passt perfekt in unser Schlafzimmer!«, rief die Frau aus.
»Aber wir haben doch schon eine Decke«, entgegnete der Professor.
»Hast du mal gesehen, wie gammelig das Ding ist?«, fragte sie.
»Ich decke mich jede Nacht damit zu. Die ist wunderbar!«
»Ah!«, rief sie. »Muss du denn wegen jedem Mist Streit anfangen?«
»Es ist immer dasselbe«, seufzte er. »Wenn wir streiten, ist es immer meine Schuld.«
»Ich will doch nur eine Bettdecke kaufen!«, rief sie. »Kannst du mich denn nicht ein einziges Mal lassen?«
»Warum muss sie nur so dominant sein?«, fragte sich der Professor. Er sah seine Frau eisig an und erwiderte: »Ich habe auf der ganzen Welt noch nichts Hässlicheres gesehen als diese Decke!«
Damit lief die Situation vollends aus dem Ruder. »Wie konnte ich nur auf den Gedanken kommen, dich zu heiraten?«, zischte sie.
Der Professor wollte schon davonstürmen, als er bemerkte, dass ein beträchtliches Publikum den Streit verfolgt hatte. Peinlich berührt sah er auf die Uhr, nur um eine weitere Überraschung zu erleben: Sie mussten sich schon seit zwanzig Minuten gestritten haben, obwohl seiner Ansicht nach erst zwei Minuten vergangen sein konnten. Er sagte seiner Frau, wie spät es war, und augenblicklich wich ihr Zorn der Sorge: Sie hatten sich mit Freunden zum Mittagessen verabredet und waren spät dran. Eilig liefen sie zum Restaurant und schüttelten verwundert den Kopf: Wie konnte eine Diskussion um eine geblümte Bettdecke derart eskalieren, dass sie sich in aller Öffentlichkeit anbrüllten?
Die psychologische Kraft, die den Professor und seine Frau in das Stammesdenken hineinzog, bezeichne ich als Schwindelgefühl: ein verzerrter Bewusstseinszustand, in dem eine Beziehung unsere ganze emotionale Energie aufzehrt.1 Im Sog des Schwindelgefühls fiel das Paar in einen tranceartigen Zustand: Nun hörte jeder nur noch auf die zornigen Worte des anderen und war fest entschlossen, den Streit nicht beizulegen, sondern ihn zu gewinnen.2
Die moderne Medizin kennt eine Reihe von Störungen, die mit Schwindelgefühlen einhergehen.3 Ich habe mir diesen Begriff geborgt, um diesen einzigartigen Zustand zu beschreiben, in dem man sich in einer Auseinandersetzung wie gefangen fühlt.4 Der Streit zwischen dem Professor und seiner Frau begann ganz harmlos, doch als ihre Egos verletzt wurden, überschritten beide eine emotionale Schwelle und gerieten in den Sog.5
Stellen Sie sich dieses Schwindelgefühl als einen Wirbelsturm vor, in dem Sie und die andere Person gefangen sind. Der Wirbel hindert Sie daran, über die Grenzen Ihres Streits hinaus zu blicken, so wie der Professor und seine Frau jenseits ihrer Auseinandersetzung alles andere vergaßen.6 Der Wind zerrt an Ihnen und dem anderen, er verstärkt Ihre Emotionen und verwandelt Ärger in Rage und Traurigkeit in Verzweiflung. Im Auge des Wirbelsturms sehen Sie über sich den Himmel, ein lebhaftes Bild für Ihre schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft, während der aufgewühlte Boden Ihre schmerzhafte Vergangenheit zeigt. Dieser Wirbelsturm kann Sie stunden- und tagelang oder über Generationen hinweg in das Stammesdenken sperren.
In diesem Kapitel geht es um die Sogkraft des Schwindelgefühls, warum es solchen Schaden anrichten kann und wie Sie sich daraus befreien können.
Mehrere Faktoren wirken zusammen und machen es schwer, dem Schwindelgefühl zu entrinnen:
Der Schwindel ist eine besonders starke Kraft, die uns das irrige Gefühl vermitteln kann, dass er sich gar nicht auf unser Verhalten auswirkt. Wir sind derart gefangen von den herumwirbelnden Emotionen, dass wir nicht einmal bemerken, wie sie uns immer tiefer in den Streit hineinziehen.7 Wir haben das Gefühl, dass wir vollkommen vernünftig und rational sind: Es ist die Welt um uns, die außer Kontrolle gerät, nicht die Welt in uns.
Unter dem Einfluss des Schwindelgefühls kann eine scheinbar harmlose Situation schnell eskalieren. Eine Meinungsverschiedenheit über eine Bettdecke veranlasst den einen, sich zu fragen: »Wird mich meine Frau für alle Zeiten so unter der Knute haben?«, und die andere, einen ganzen Katalog früherer Verletzungen aufzuschlagen: »Muss er denn wegen jedem Mist einen Streit vom Zaun brechen?«
Selbst wenn das Schwindelgefühl schwächer zu werden scheint, kann es sich noch lange halten und schwanken, obwohl wir es möglicherweise gar nicht mehr bemerken. Es kann unsere Beziehung auf subtile Weise vergiften und den emotionalen Raum zwischen uns und der anderen Seite trüben.
Als Menschen haben wir nicht nur die Fähigkeit zu denken und zu fühlen, sondern auch, über diese Gedanken und Gefühle zu reflektieren. Da der Schwindel unsere emotionale Energie aufbraucht, beeinträchtigt er unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion und zwingt uns, auf gewohnte Verhaltensmuster und vorgefertigte Urteile über die andere Seite zurückzugreifen. Das hat drei erstaunliche Folgen:8
Die Frau des Professors sah den Streit im Kaufhaus nicht als isolierten Vorfall, sondern als neuerlichen Beleg dafür, dass ihr Mann aus jeder einfachen Meinungsverschiedenheit einen Streit macht. Also reagierte sie reflexhaft mit einer gewohnheitsmäßigen Reaktion und brachte dieselbe Frustration zum Ausdruck wie bei zahllosen anderen Gelegenheiten.
Allzu leicht verfallen wir in ein kontraproduktives Muster der Konfrontation. In einem Verhandlungskurs für Offiziere stellte ich fest, dass sie diese Neigung gut verstehen. Ein hochrangiger Offizier berichtete mir, nach einem neunmonatigen Aufenthalt im Irak, bei dem sein Leben täglich in Gefahr war, sei er nach Hause gekommen und habe eines morgens gehört, wie sich seine Eltern darüber stritten, welchen Film sie ansehen sollten. Er konnte nicht glauben, dass sie sich über derartige Belanglosigkeiten in die Haare gerieten, stürmte ins Zimmer und brüllte: »Was zum Teufel spielt es für eine Rolle, welchen Film wir sehen!« und rannte wieder hinaus. Nachdem er fünf Minuten lang vor Wut gekocht hatte, beruhigte er sich und entschuldigte sich bei seinen Eltern. Später wurde ihm klar, dass er sich im Irak, wo er dauernd im lebensgefährlichen Einsatz gewesen war und erlebt hatte, wie Kameraden starben, an ein dauerhaftes Schwindelgefühl gewöhnt hatte und selbst auf harmlose Konflikte mit extremer Heftigkeit reagierte. Dieses Konfliktdrehbuch hatte sich derart in sein Gehirn eingebrannt, dass er es in jeder Situation abrief, auch wenn es vollkommen unangemessen war.
Eine weitere negative Folge des Schwindelgefühls ist, dass es selbstreflexive Emotionen wie Schuld oder Scham unterdrückt.9 Als der Soldat in dem eben angeführten Beispiel seine Eltern anbrüllte, spürte er nichts dergleichen. Selbstreflexive Emotionen kommen in der Regel auf, wenn andere uns ganz anders wahrnehmen, als wir uns dies wünschen würden. Da der Offizier jedoch auf eine schablonenhafte Verhaltensweise zurückgriff, achtete er nicht auf den Moment und war nicht imstande, sein Verhalten von außen zu betrachten. Sobald sich das Schwindelgefühl legte, fragte er sich: »Was ist da in mich gefahren? Bin ich tatsächlich ein derart jähzorniger Mensch?«
Der Schwindel beeinträchtigt nicht nur unsere Fähigkeit, unser eigenes Verhalten zu reflektieren, sondern auch unsere Fähigkeit, andere klar zu sehen. Die Wissenschaftler Susan Fiske und Steven Neuberg haben herausgefunden, dass wir automatisch zu Etikettierungen greifen: Ob uns das bewusst ist oder nicht, wir beurteilen Menschen nach Alter, Geschlecht, Herkunft und anderen äußeren Merkmalen.10 In einer nicht bedrohlichen Umgebung können wir diese Annahmen hinterfragen und auf ihre Richtigkeit überprüfen. Doch im Sog des Schwindelgefühls verwenden wir nur minimale Energie darauf, unsere stereotypen Wahrnehmungen zu hinterfragen.11
Als der Professor und seine Frau stritten, sahen sie einander im Grunde als stark überzeichnete Karikaturen. Sie war die verschwenderische und dominante Ehefrau, er der besserwisserische und knausrige Ehemann. Vergessen war das über Jahre hinweg erworbene Wissen über die Macken, Werte, Wünsche und Ängste des anderen, von der Liebe füreinander ganz zu schweigen. Statt die vernünftigen Absichten des anderen zu ergründen, ging es den beiden nur darum, mit allen Mitteln die vermeintliche Unvernunft des anderen zu bestätigen, auch wenn sie sich dazu in einem Kaufhaus gegenseitig anbrüllen mussten. Die Etikettierung verstärkte die selbstgerechte Sichtweise der beiden.
Das Wort »Stereotyp« kommt vom griechischen stereós für »starr« und týpos für »Form/Ausprägung«. Stereotypen reduzieren die vielstimmige Sinfonie der Persönlichkeit eines Menschen auf einen einzigen Ton. Wenn wir uns an unseren negativen Eindruck von der anderen Seite klammern, und ihre Persönlichkeit damit auf ein Abziehbild reduzieren, statt ihre Nuancen zu würdigen oder unsere eigenen Annahmen zu hinterfragen, dann liefern wir uns dem Sog des Schwindelgefühls aus.
Fiske und Neuberg haben die Verwendung von Stereotypen weiter erforscht und gezeigt, dass wir nach der Etikettierung eines Menschen Beweise suchen, die unsere Sichtweise bestätigen, und alles ignorieren, was ihr widerspricht.12 Die Frau des Professors suchte in ihrem Gedächtnis nach weiteren Beispielen für den Geiz ihres Mannes, entdeckte einige und bestätigte damit ihr Urteil. Und der Professor suchte nach Belegen für die Unersättlichkeit seiner Frau. Vergessen waren die zahllosen Gelegenheiten, bei denen der Professor nicht geizig war und seine Frau nicht verschwenderisch – da diese den starren Eindruck nicht bestätigten, auf den sie sich in diesem Moment festgelegt hatten, wurden sie automatisch übersehen.13
Das Schwindelgefühl verzerrt buchstäblich unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit. Ohne es zu bemerken, blenden wir alles aus, was nicht die unmittelbare Situation betrifft.14 Der Professor und seine Frau waren derart in ihrem Streit gefangen, dass sie gar nicht bemerkten, wie viel Zeit verging, und wie viele Zuschauer sich bereits versammelt hatten.15 Der Schwindel trübt unser Bewusstsein soweit, dass die Welt Kopf stehen kann, ohne dass wir es bemerken.16
Das Schwindelgefühl wirkt sich in zweifacher Weise auf unsere Zeitwahrnehmung aus, vergleichbar mit jemandem, der zum ersten Mal mit dem Fallschirm springt.17 Beim Sprung aus dem Flugzeug scheint sich die Zeit zunächst zu dehnen: Jede Sekunde vergeht langsam, jedes Geräusch und jeder Eindruck wird deutlich intensiver wahrgenommen.18 Doch dann gewöhnt sich der Springer an das Gefühl. Er spürt noch immer Angst, doch das Bewusstsein geht von einem Zustand der Hyperwachsamkeit in eine tranceartige Begeisterung über. Nun verkürzt sich die Zeit und scheint schneller zu vergehen, als es die Uhr anzeigt.19 Beim Landen denkt er: »Was? Schon vorbei?«20
Im Schwindel verlangsamt das Gefühl der Bedrohung zunächst unsere Zeitwahrnehmung, Aufmerksam verfolgen wir jedes Wort, jede Geste, jedes Gefühl der anderen. Aber wenn wir uns daran gewöhnen, beschleunigt sie sich wieder, und Stunden fühlen sich an wie Minuten. In diesem tranceartigen Zustand fliegen wir buchstäblich mit Autopilot und greifen zu vertrauten Konfliktdrehbüchern, um unser Verhalten zu steuern.21 Um es in der Sprache von William James zu sagen: Unser Bewusstsein (das Ich) sitzt am Steuer, während unsere Kernidentität (das Mich) im Hintergrund die bekannten Skripte durchspielt. Sobald wir uns aus diesem Schwindelgefühl befreien, etwa indem wir eine Scheidung vollziehen, uns mit einer Kollegin versöhnen oder die Beziehung zu einem Verwandten kitten, stellen wir oft erstaunt fest, wie viel Zeit vergangen ist.22
Im Sog des Schwindelgefühls schrumpft der emotionale Raum zwischen uns und den anderen und fühlt sich beengt an. Der Professor und seine Frau füllten diesen Raum mit Wut, Verzweiflung und Einsamkeit und fügten mehr und mehr Kummer hinzu, bis es nicht mehr zu ertragen war. Das Ergebnis? Der schmerzhafte Ausruf der Frau, sie könne sich nicht mehr erinnern, warum sie ihren Mann geheiratet habe.
Weil das Schwindelgefühl ein innerer Zustand ist, wirkt dieses Verhalten auf Außenstehende vollkommen irrational; von außen ist nicht zu erkennen, wie heftig die Emotionen sind, die beide Seiten verzehren. Bei meiner Arbeit in Kriegsgebieten höre ich immer wieder die Frage von Unbeteiligten: »Warum geben die sich nicht einfach die Hand?« Tatsächlich bemerken auch die Beteiligten gar nicht, dass sie sich im Sog heftiger Emotionen befinden. Das ist ja das Paradoxe: Der Schwindel verzerrt unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit, ohne dass wir uns dessen bewusst werden.
In heftigen emotionalen Konflikten passiert es häufig, dass wir unbewusst einen Teil der Emotionen der anderen Seite aufnehmen. Wir werden in den emotionalen Wirbelsturm der anderen hineingezogen. Ein Beispiel ist die emotionale Bürde, die Kinder tragen, wenn ihre Eltern ununterbrochen streiten. Ein anderes ist die Herausforderung für Vermittler, die ruhig bleiben müssen, während sich die Streitenden mit Beleidigungen überhäufen. Selbst auf internationaler Ebene wirkt das Schwindelgefühl von anderen ansteckend. Während des Bürgerkriegs in Jugoslawien im Jahr 1990 arbeitete ich in einer Ortschaft in einem Randgebiet von Serbien mit serbischen, kroatischen und bosnischen Flüchtlingen und gewöhnte mich schnell an den emotionalen Strudel in der Region. Als ich meine Mutter anrief, die in den Vereinigten Staaten die Nachrichten aus dem Kriegsgebiet sah, machte sie sich Sorgen um meine Sicherheit. »Kein Angst, Mama«, sagte ich zu ihr. »Hier ist alles in Ordnung.« Das glaubte ich sogar selbst. Erst als ich meine Arbeit abgeschlossen hatte, wurde mir klar, dass ich buchstäblich wie ein Fisch im Wasser gewesen war. Als der Zug, der mich von Serbien nach Budapest brachte, die Grenze überquerte, spürte ich mit einem Mal, wie mir eine Zentnerlast vom Herzen fiel und ich freier atmete. Die Anspannung wich aus meinen Muskeln, und eine sonderbare Ruhe überkam mich. Serbien hatte sich im Sog des Schwindelgefühls befunden, und erst als ich die Region verließ, wurde mir klar, wie sehr ich selbst darin gefangen gewesen war.
Die vielleicht größte Herausforderung, die das Schwindelgefühl an uns stellt, ist jedoch, dass es unsere Aufmerksamkeit auf negative Erinnerungen fokussiert – Erinnerungen, die uns den Beweis dafür liefern, dass wir die Guten und im Recht sind, während die anderen die Bösen und im Unrecht sind. Das Schwindelgefühl zu überwinden bedeutet, diese Fixierung zu durchbrechen. Das kann jedoch extrem schwierig sein, da das Schwindelgefühl negative Erinnerungen an die Vergangenheit und die Zukunft verstärkt.
Während der Zeit der blutigen Auseinandersetzungen in Nordirland machte ein Pilot bei der Landung einen Witz: »Willkommen in Belfast. Stellen Sie bitte Ihre Uhren dreihundert Jahre zurück.« Er traf den Nagel auf den Kopf: Der Konflikt war das Ergebnis eines jahrhundertealten Zorns, der bis in die Gegenwart hineinreichte. Die Zeit hatte nichts getan, um die Wunden des Landes zu heilen.23
Der Psychiater Vamık Volkan hat eine interessante Theorie zu diesem Phänomen aufgestellt. Er beobachtet, dass sich viele Gruppen heute zum Teil über Traumata definieren – leidvolle, nicht verheilte Verletzungen der Vergangenheit.24 Denken Sie zum Beispiel an die Bedeutung des Holocaust für die Juden; des Nakba, der erzwungene Exodus, für die Palästinenser; der europäischen Kolonialzeit für die Afrikaner; oder der Kreuzigung Jesu für die Christen.
Wenn eine traumatisierte Gruppe ihre Gefühle der Scham, Demütigung und Hilflosigkeit nicht ausreichend verarbeitet hat, kann das emotionale Leid über Generationen weitergereicht werden, wie Volkan erklärt. Die Dimension der Zeit wird aufgehoben, Gefühle und Gedanken der Vergangenheit werden in die Gegenwart geholt, und die Gruppe fühlt sich heute als Opfer von etwas, das in einer zum Teil weit zurückliegenden Vergangenheit geschah.25 Wie Michael Ignatieff schreibt: »Berichterstatter auf dem Balkan hörten oft schreckliche Geschichten, aber sie konnten nie wissen, ob diese gestern oder 1941, 1841 oder 1441 passiert waren.«26
Das Schwindelgefühl ist oftmals die Ursache für diese Projektion vergangener Traumata auf die Gegenwart. Wenn dieses Phänomen eine ganze Gruppe erfasst, weckt es schlafende Traumata und tief verwurzeltes Leid, was die Versöhnung ausgesprochen schwer macht. Selbst in unseren Alltagskonflikten kann das Schwindelgefühl die Dimension der Zeit aufheben und eine komplizierte Situation herbeiführen. Im Kaufhaus holte die Frau des Professors frühere Zurückweisungen in die Gegenwart und heizte ihren Ärger mit Erinnerungen an, die Jahrzehnte zurückreichten.
Wie kann man sich an die Zukunft erinnern? Sind Erinnerungen nicht das Produkt vergangener Erfahrungen? Nicht unbedingt. In einem emotional aufgeladenen Konflikt malen wir uns oft in Worst-Case-Szenarien aus, was die andere Seite in Zukunft alles mit uns anstellen könnte, und wie sie uns demütigen und angreifen könnte. Wenn ein solches Szenario ausreichend emotional aufgeladen ist, kann es sich in unser Gedächtnis einbrennen, bis wir im Laufe der Zeit vergessen, dass es sich um unsere Erfindung handelt. Folglich hat unser Gedächtnis diese freischwebende Erinnerung als entsetzliche Möglichkeit zur Verfügung, und wir erleben das erinnerte Szenario so, als habe es sich tatsächlich ereignet. Die befürchtete Zukunft wird de facto zu einer Vergangenheit, und diese »Wirklichkeit« provoziert einen Stammeseffekt. Nun haben wir den »Beweis«, dass wir der anderen Seite nicht trauen können.27
Psychologisch unterscheiden sich Traumata der Vergangenheit nicht von Erinnerungen an die befürchtete Zukunft: Sie haben dieselbe Wirkung, denn in beiden Fällen wird ein emotional bedeutsames Szenario in einen aktuellen Konflikt geholt. Eine ethnische Gruppe kann genauso aufgrund eines Traumas in den Krieg ziehen, das fünfhundert Jahre zurückliegt, wie wegen einem, das sie in fünfhundert Jahren befürchtet. Selbst erlebt haben die Angehörigen der Gruppe weder das eine noch das andere. Trotzdem provoziert die Geschichte eine derart heftige emotionale Reaktion, dass sie zu den Waffen greifen.
Schwindelgefühle wirken als Verstärker für negative Emotionen. Weil wir uns in ein geschlossenes System schmerzhafter Erinnerungen versenken, können Belanglosigkeiten unverhältnismäßige Bedeutung erhalten. In den meisten Stammesexperimenten fliegt die Welt in die Luft, weil sich mindestens ein Stamm ausgegrenzt fühlt. Man sollte meinen, dass diese Furcht vor Ausgrenzung keine Rolle spielt, wenn das Überleben des Planeten auf dem Spiel steht. Doch die Denkverzerrungen des Schwindelgefühls blasen solche Kleinigkeiten zu einer Bedrohung der Stammesidentität auf. Auch die verschiedenen Ansichten zu einer geblümten Bettdecke sind im Grunde genommen vollkommen belanglos, doch durch die verzerrte Sicht des Schwindelgefühls schien sie die Identität des Professors zu bedrohen, und ihre Auswirkungen potenzierten sich.
Wenn das zentrale Problem des Schwindelgefühls darin besteht, dass es unser Denken, Fühlen und Handeln einschränkt, dann benötigen wir eine Strategie, die unser Bewusstsein erweitert, wenn wir uns davon befreien wollen. Dazu sind mehrere Schritte nötig, die in der folgenden Grafik zusammengestellt sind.
Hindernis |
Strategie |
1. Das Schwindelgefühl trifft uns, ohne dass wir es bemerken. |
1. Machen Sie sich die Symptome des Schwindelgefühls bewusst. |
2. Das Schwindelgefühl mindert unsere Fähigkeit der Selbstreflexion. |
2. Reißen Sie Ihre Beziehung aus dem tranceartigen Zustand. |
3. Das Schwindelgefühl verzerrt die Wahrnehmung von Raum und Zeit. |
3. Weiten Sie den Blick. |
4. Das Schwindelgefühl fixiert uns auf negative Erinnerungen. |
4. Externalisieren Sie das Negative. |
Zu Schulzeiten fuhr ich einmal mit einem guten Freund von Boston nach New York. Unterwegs unterhielten wir uns über alles Mögliche, von unseren ersten Freundinnen bis zum Weltfrieden. So vertieft waren wir in unser Gespräch, dass wir die Autobahnausfahrt verpassten, und dies erst zehn Minuten später überhaupt mitbekamen. Ähnlich funktioniert das Schwindelgefühl. Weil es unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion beeinträchtigt, verschwindet die aktuelle Realität aus unserem Bewusstsein. Es ist entscheidend, dieses Bewusstsein wiederzuerlangen, und das erfolgt in drei Phasen.
Das Schwindelgefühl hat in erster Linie drei Symptome:
Haben Sie das Gefühl, dass der Konflikt Sie völlig verzehrt? Beschäftigt der Konflikt Sie mehr als alles andere in Ihrem Leben? Kreisen Ihre Gedanken um Verletzungen, die Ihnen die andere Seite zugefügt hat? Reagieren Sie überempfindlich auf die Kritik der anderen?
Betrachten Sie die andere Seite als Ihre Gegner? Sehen Sie einen Konflikt als emotionalen Kampf oder als Meinungsverschiedenheit?
Sind Sie auf das Negative fixiert? Kreisen Ihre Gedanken um schmerzhafte Ereignisse der Vergangenheit und Befürchtungen für die Zukunft?
Sobald Sie bemerken, dass Sie in den Sog des Schwindelgefühls geraten, atmen Sie tief durch. Und atmen Sie noch einmal tief durch. Treten Sie auf die Bremse. Warten Sie, bis Sie Ihre Objektivität wiedererlangt haben, dann setzen Sie die Diskussion fort.
Oft reicht es schon aus, das Schwindelgefühl zu benennen, um ihm viel von der Macht zu nehmen, die es über Sie hat. Indem Sie ihm einen Namen geben, verwandeln Sie diesen abstrakten Strudel von Emotionen in ein konkretes »Es«, das sie erörtern und überwinden können. So reaktivieren Sie Ihre Fähigkeit der Selbstreflexion. Als meine Frau und ich kürzlich einen Streit hatten, der aus dem Ruder zu laufen drohte, sagte sie: »Ich habe das Gefühl, dass uns das Schwindelgefühl packt. Wollen wir wirklich den ganzen Nachmittag damit zubringen, uns zu streiten?« Es reichte schon aus, den Beginn des Schwindelgefühls zu erkennen, um ihm zu entkommen. Wir einigten uns darauf, die anstehende Frage noch ein paar Minuten weiter zu diskutieren; sollten wir uns nicht einigen, dann würden wir eine Pause einlegen, um uns nicht in den trüben Gewässern zwischen uns zu verlieren.
Manchmal ist ein Ruck nötig, um uns aus diesem tranceartigen Zustand zu befreien – ein abrupter Stoß, der unsere Wahrnehmung der Beziehung zu dem anderen wieder geraderückt. In der Folge stelle ich Ihnen dazu einige Methoden vor.28
Das Schwindelgefühl stürzt uns in einen Strudel von Emotionen. Allzu leicht nehmen wir eine Schutzhaltung ein und sprechen gar nicht mehr über das Thema, um das es eigentlich geht. In dieser Situation können Sie Ihrer Beziehung einen Ruck geben, indem Sie sich fragen: Was ist in dieser Auseinandersetzung mein eigentliches Anliegen? Geht es mir darum, Recht zu behalten, oder darum, besser miteinander auszukommen? Betonen Sie im weiteren Gespräch gemeinsame Ziele. Ein Paar, das sich scheiden lassen möchte, könnte beispielsweise viel gewinnen, wenn es sich daran erinnert, dass es beiden Partnern um das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes geht.
Eine weitere Strategie, um Ihre Beziehung aus dem schwindelerregenden Strudel zu reißen, ist die Macht der Überraschung. Stellen Sie sich vor, was in dieser hässlichen Szene im Kaufhaus passiert wäre, wenn der Professor das Konfliktdrehbuch beiseitegelegt und seine Frau mit einer Überraschung aus ihrem Ärger gerissen hätte. Was würde wohl passieren, wenn sie ihn anfaucht, dass sie nicht mehr wisse, warum sie ihn geheiratet hat, und er antwortet: »Also ich habe dich geheiratet, weil ich dich geliebt habe. Und ich liebe dich immer noch. Wollen wir uns jetzt wieder die Decke ansehen?« Gut möglich, dass der Ärger der Frau in diesem Moment verpufft. Rasch kommen die beiden auf den Boden zurück und sind wieder zu rationalem Denken und Großzügigkeit in der Lage. Vielleicht hätten sie sogar über die absurde Situation lachen können: Sollte ihre Ehe wirklich über einer Bettdecke in die Brüche gehen?
Auch in internationalen Beziehungen kann ein gut getimter Ruck wahre Wunder wirken. Erinnern Sie sich zum Beispiel an den legendären Staatsbesuch des ägyptischen Präsidenten Sadat in Israel. Bis 1975 hatte kein arabisches Staatsoberhaupt auch nur einen Fuß in den jüdischen Staat gesetzt. Israel und Ägypten hatten vier Kriege geführt und Israel hielt seit 1967 die Halbinsel Sinai besetzt. Die Israelis hatten wenig Hoffnung, dass es zwischen beiden Ländern jemals Frieden geben könnte. Bis Präsident Sadat die Welt überraschte, auf dem Flughafen Ben Gurion landete, 36 Stunden in Israel verbrachte, vor der Knesset sprach und sich mit führenden Politikern traf. Der Besuch gab der israelischen Öffentlichkeit den nötigen Stoß und machte ihr klar, dass die Ägypter nicht nur Feinde sein konnten, sondern auch Partner. Am Ende stand ein Friedensabkommen zwischen beiden Ländern.29
Der wirkungsvollste Ruck überhaupt ist vermutlich eine unerwartete Entschuldigung. Während des Streits im Kaufhaus hätte der Professor tief Luft holen und zu seiner Frau sagen können: »Ich habe viele gemeine Sachen gesagt. Es tut mir leid, ich habe geredet, ohne zu denken.« Dieses Eingeständnis hätte sie vermutlich derart überrascht, dass sie abrupt innegehalten hätte. Wenn sie den Eindruck gehabt hätte, dass es sich um eine aufrichtige Entschuldigung handelte, dann hätte sich zwischen ihnen ein Raum für ein konstruktives Gespräch geöffnet.
In einem Café in Harvard konnte ich vor einigen Jahren hautnah miterleben, wie schnell eine Autorität die Streitenden aus dem Sog des Schwindels herausreißen kann. Es war ein kalter Winterabend, ich saß mit einer Tasse Kakao vor meinem Laptop und schrieb einen Artikel, als ich sah, wie sich zwei der Kellner gegenseitig schubsten. Zunächst glaubte ich an einen freundschaftlichen Rempler, bis einer der beiden ausholte und die beiden aufeinander einprügelten. Mein Herz raste, während sich dieser ansonsten so friedliche Ort in einen Boxring verwandelte.
»Wie kann ich dem Einhalt gebieten?«, dachte ich panisch. Sollte ich dazwischengehen? Den Geschäftsführer rufen? Irgendetwas Verrücktes schreien, um die beiden abzulenken? Noch Jahre später erinnere ich mich, wie ich überlegte, ob ich rufen soll: »Schaut mal, da kommt Jerry Seinfeld zur Tür herein!« Seinfeld war der beliebteste Comedy-Star der Zeit, und ich hoffte, dass ich die Boxer damit aus ihrem Schwindelgefühl reißen könnte. Doch ich schwieg.
Inzwischen prügelten die Kellner weiter aufeinander ein. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, schrie ich schließlich: »Stopp!« und versuchte, mich zwischen die beiden zu drängen. Doch die wütenden Streithähne ignorierten mich einfach und schlugen um mich herum.
In diesem Moment betraten zwei Polizisten das Café, und wie von Zauberhand berührt, erstarrten die Boxer. Allein der Anblick der Uniformen rief ihnen die Existenz des Gesetzes ins Gedächtnis und erinnerte sie daran, was sie sich einhandeln konnten, wenn sie es brachen. Sichtlich eingeschüchtert, blickten sie die Polizisten an, und diese Furcht reichte vollkommen aus, um sie aus ihrem Schwindelgefühl herauszureißen. Die Beamten stellten den Kellnern einige Fragen, und drei Minuten später reichten die beiden einander die Hand zur Versöhnung.
Um dem Schwindelgefühl zu entkommen, können Sie eine Autorität anrufen, die alle Beteiligten respektieren: eine Vermittlerin, einen Anwalt, eine Therapeutin, einen Pfarrer, das Familienoberhaupt. So geschehen im Fall der beiden Brüder, die sich in die Haare bekamen, nachdem ihre reiche, verwitwete Mutter gestorben war und ein unklares Testament hinterlassen hatte.30 Der Bruderkrieg war vorprogrammiert: Wer bekommt den Ring der Mutter? Die Gemälde im Esszimmer? Das Haus, in dem sie aufgewachsen waren? Als die Brüder einen Vermittler einschalteten, sah dieser, dass beide bereits mitten im Sog des Schwindelgefühls steckten. Also rief er die einzig verfügbare Autorität an: die Mutter selbst. »Wenn sie hier wäre, was würde sie wollen?«, fragte er. Die Mutter hatte sich den Zusammenhalt der Familie gewünscht, und sobald sich die Brüder daran erinnerten, wollten sie die Werte der Mutter respektieren. Der Vermittler stellte diese Frage immer wieder und holte die Brüder damit jedes Mal vom Rand des Strudels zurück.
Ein früheres Staatsoberhaupt vertraute mir einmal an, wie er mit diplomatischen Krisen umging. »Versuchen Sie nicht, die Meinung der anderen zu ändern. Ändern Sie das Thema.« Das ist die vierte Strategie, um Ihre Beziehung aus dem Strudel und dem damit einhergehenden Schwindelgefühl zu reißen.
Stellen Sie sich vor, wir schreiben das Jahr 1996 und Sie sind Diplomat im Nahen Osten. Nachdem die Israelis in der Altstadt von Jerusalem einen Tunnel für Touristen eröffnet haben, beginnen Proteste, die in blutige Ausschreitungen umschlagen. Die Palästinenser behaupten, der Tunnel gefährde ihren Zugang zur Al-Aqsa-Moschee und ihren Anspruch auf Ost-Jerusalem als ihre künftige Hauptstadt. Was würden Sie empfehlen, um künftige gewalttätige Ausschreitungen dieser Art zu verhindern?
Vor dieser Situation stand der amerikanische Botschafter Dennis Ross. Er sah alle Anzeichen für das Schwindelgefühl und erkannte, dass die Lage »außer Kontrolle« 31 zu geraten drohte. Die Beteiligten reagierten nicht nur auf die aktuellen Umstände, sondern auch auf Traumata und Zukunftsängste, was dazu beitrug, dass sie einander als Feinde betrachteten. Ross erinnert sich: »Wir brauchten etwas, damit sie Abstand gewinnen und Raum zum Denken bekommen konnten.« Also organisierte er ein Treffen zwischen dem damaligen Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat und dem israelischen Präsidenten Benjamin Netanyahu in den Vereinigten Staaten. Das Treffen lenkte die Aufmerksamkeit weg von der Gewaltspirale hin zu einer möglichen Einigung. Das Schwindelgefühl, das beide Seiten erfasst hatte, wurde so auf subtile Weise ausgeschaltet.
Das Schwindelgefühl erzeugt eine emotionale Platzangst; es belastet unsere Beziehung mit negativen Emotionen, die unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit verengen. Um ihm zu entkommen, müssen wir unsere Sinne für diese Dimensionen wieder weiten.32
Ziehen Sie in Betracht, Ihre äußere und innere Orientierung zu ändern, um kooperative Beziehungen zu fördern.
Verändern Sie Ihre räumliche Umgebung. Die Gestaltung des Raums, in dem eine Verhandlung stattfindet, hat erhebliche Auswirkungen auf deren Verlauf. Eine Verhandlung in einem sterilen weißen Raum ist etwas ganz anderes als eine Unterhaltung in einem Wohnzimmer. Selbst in internationalen Beziehungen finden wichtige Verhandlungen oft im Haus von Staatsoberhäuptern statt, während die Kinder herumlaufen; diese Dinge machen die Gespräche menschlich und tragen dazu bei, das Schwindelgefühl im Griff zu behalten. Eine entspannte Umgebung beugt dem Stammesdenken vor. Genauso wichtig sind die kleinen Details: Sitzen Sie einander an einem langen Tisch gegenüber, oder sitzen Sie Seite an Seite und gehen gemeinsam ein Problem an?
Ich erinnere mich an eine besonders faszinierende Variante des Stammesexperiments, das ich mit Politikern, Konzernchefs, Sicherheits- und Gesundheitsexperten durchführte. Nachdem die sechs Stämme ihre Stammeseigenschaften definiert hatten, kehrten sie in einen Plenarsaal zurück, in dem sie in ihren eigenen kleinen Kreisen zusammensaßen. Wie immer kam der Alien und sprach seine furchtbare Drohung aus. Doch dann passierte etwas Ungewöhnliches. Nacheinander erhoben sich Delegierte, stellten sich vor die Gruppe und stellten die Werte ihres jeweiligen Stammes vor. Die Verhandlung verwandelte sich in eine Art Wahlkampf, in dem jeder Stamm um die Stimmen der anderen warb. Das Schwindelgefühl ließ nicht lange auf sich warten. Die Stämme hätten es durchbrechen können, indem sie zum Beispiel einen einzigen großen Kreis gebildet hätten, um ihre Unterschiede zu erörtern, oder indem sie einen kleineren Sitzbereich gebildet hätten, in dem Abgesandte jedes Stammes konferierten. Beides hätte dazu beigetragen, die Kooperation zu verbessern. Stattdessen wählten die Stämme diese ungewöhnliche Sitzordnung, die natürlich dafür sorgte, dass am Ende die Welt in die Luft flog.
Betrachten Sie den Konflikt aus einem neuen Blickwinkel. Unter dem Eindruck des Schwindelgefühls kann uns ein Streitthema derart wichtig vorkommen, dass jedes Zugeständnis an die andere Seite wie eine vernichtende Niederlage erscheint. Dem können Sie begegnen, indem Sie Ihre Situation in einem größeren Zusammenhang betrachten.
Stellen Sie sich vor, Sie fliegen mit einer Rakete zum Mond, blicken auf die Erde zurück und sehen, wie winzig Ihr Konflikt im globalen Zusammenhang ist. Mein Kollege Frank White studierte die Psychologie von Astronauten und stellte fest, dass sie nach ihrer Rückkehr zur Erde die menschlichen Beziehungen vollkommen anders sehen: Für sie waren alle Probleme der Welt zweitrangig gegenüber der Notwendigkeit, die Erde als Ganze zu begreifen. Er bezeichnete diese umfassende Sichtweise als »Überblickseffekt«.33 Selbst wenn Sie niemals ins All fliegen werden, können Sie diese Übung nutzen.
Sie können Ihren Blickwinkel auch auf bescheidenere Weise ändern. Stellen Sie sich Ihren Konflikt als Gebäude mit zwölf Etagen vor, und beide Konfliktparteien befinden sich in der obersten Etage. Dort oben ist die Luft so dick, dass man sie schneiden kann; es herrscht eine lähmende Spannung, es tobt ein emotionaler Wirbelsturm. Stellen Sie sich nun vor, Sie bitten die andere Seite, ein paar Minuten auf Sie zu warten. Dann steigen Sie in den Aufzug und fahren aus dem zwölften Stock nach unten. Während ein Stockwerk nach dem anderen an Ihnen vorüberzieht, atmen Sie tief durch und spüren die Ruhe, die beim Ausatmen in Ihnen aufkommt. Sie spüren Ihre Verwundbarkeit und die der anderen Seite. Wenn Sie unten angekommen sind, sehen Sie klar, was jede Seite zum Konflikt beiträgt. Drücken Sie nun den Knopf, fahren Sie wieder in die zwölfte Etage zurück und setzen Sie das Gespräch fort.
Und schließlich können Sie Ihr Blickfeld weiten, indem Sie Ihre Wahrnehmung der Zeit ändern.
Treten Sie auf die Bremse. Da das Schwindelgefühl einen Dominoeffekt von reaktiven Emotionen in Gang setzt, kann es hilfreich sein, das Tempo aus dem Gespräch zu nehmen und einfach nur zuzuhören – und dabei nicht auf Angriffe zu reagieren, sondern die Emotionen zu erkennen, die dahinterstehen. Sie können das Tempo aus der Kommunikation herausnehmen: Lassen Sie ein paar Stunden verstreichen, ehe Sie eine E-Mail beantworten, über die Sie sich geärgert haben. Sprechen Sie langsamer und denken Sie daran, sich ein wenig Zeit zu nehmen, ehe Sie antworten. Oder wenn Sie in einer langen Unterredung sind, legen Sie hin und wieder Pausen ein, um den emotionale Abstand zum Konflikt zu wahren.
Spulen Sie vor. Im Kaufhaus-Beispiel hätte der Professor beispielsweise zu seiner Frau sagen können: »Stell dir vor, es ist heute in zehn Jahren und wir erinnern uns an diesen Streit um die Bettdecke. Welchen Rat würden wir uns mit unserer zusätzlichen Reife und Weisheit wohl geben?«
Vor einigen Jahren wendete ich diese Technik in einem privaten Workshop für israelische und palästinensische Unterhändler an. Statt sie zu bitten, nach Auswegen aus einer Sackgasse zu suchen – was die Beteiligten sehr schnell in Schwindelgefühle versetzt hätte –, bat ich sie, sich vorzustellen, wie ein Zustand des friedlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Miteinanders in zwanzig Jahren aussehen könnte. Damit wurde aus einer potenziellen Streitfrage eine gemeinsame Brainstorming-Runde. Als sich die Teilnehmer die Zukunft ausmalten, wurde diese greifbarer als die abstrakten Ängste, die das Schwindelgefühl provozierte. Diese Runde sollte schließlich die Saat für eine größere Friedensinitiative legen.
Spulen Sie zurück. Wenn ich mich mit meiner Frau streite, dann verlockt uns das Schwindelgefühl regelmäßig, eine momentane Meinungsverschiedenheit zu einem langfristigen Fiasko aufzublasen. Bei diesen Gelegenheiten bringe ich mich aktiv dazu, mich an besonders glückliche Momente unserer Beziehung zu erinnern: unsere erste Begegnung, unsere Hochzeitsfeier auf Block Island, und unser Gelächter über die albernen Witze unserer drei Söhne. Diese Erinnerungen öffnen einen Raum, in dem ich mich entscheiden kann, ob ich dem Sog des Schwindelgefühls nachgeben will – und fast immer entscheide ich mich dagegen.
Wenn ich »fast immer« sage, dann hat das zwei Gründe: Erstens bin ich auch nur ein Mensch, und manchmal ist der Sog des Schwindelgefühls einfach zu stark. Und zweitens kann selbst das Schwindelgefühl seine Vorteile haben, solange wir es im Griff behalten. Sie können zum Beispiel denken, »Ich spüre das Schwindelgefühl, aber es ist in Ordnung, meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen.« Das mag in diesem Moment gut und richtig sein, aber ich empfehle Ihnen auch, sich ein Zeitlimit zu setzen, ab dem Sie Ihre Gefühle wieder zügeln: »Ich schaue auf die Uhr, und in zehn Minuten schlage ich vor, eine Pause zu machen.« Das mag widernatürlich klingen, doch es hilft Ihnen zu verhindern, dass das Schwindelgefühl Ihr Zeitgefühl beherrscht.
Sie benötigen eine Strategie, um die Fixierung auf das Negative zu durchbrechen, die das Schwindelgefühl mit sich bringt – und zwar eine, mit der Sie schmerzhafte Emotionen äußern können, ohne sich in ihnen zu suhlen. Aber wie kann diese Strategie aussehen?
Oscar Wilde meinte einmal: »Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen.«34 Wenn Sie in einem Konflikt direkt über schmerzhafte Gefühle sprechen, kann das aggressiv wirken, vor allem wenn Sie Ihr Leid als direkte Folge der Worte und Taten eines anderen Menschen sehen. Sie brauchen also eine Technik, um über emotionale Hindernisse zu sprechen, ohne über die Emotionen zu sprechen – mit anderen Worten, um mit indirekten Mitteln ein direktes Gespräch zu führen. Dazu können Sie das Negative externalisieren, also äußerlich machen und in symbolischer Form die emotionalen Kräfte erörtern, die Ihre Beziehung belasten.
Statt auf die Dynamik des Konflikts zu reagieren, die in einem Gespräch wirkt, und sich direkt in den Strudel zu stürzen, können Sie diese Dynamik benennen und laut darüber nachdenken, wie man am besten damit umgehen kann. Indem Sie Ihre subjektive Erfahrung zum Thema machen, geben Sie den unsichtbaren Kräften, die in Ihrem Konflikt wirken, einen Namen und eine konkrete Realität.35
Als mein jüngster Sohn Liam Laufen lernte, suchte mein mittlerer Sohn Zachary seinen Platz in der Hierarchie der Kinder. Er wurde trotzig und verhielt sich aggressiv gegenüber seinen beiden Brüdern. Statt Zachary dafür zu bestrafen, dass er sein emotionales Unbehagen zum Ausdruck brachte, versuchte ich ihm zu helfen, diese emotionale Erfahrung äußerlich zu machen, damit er besser damit umgehen konnte. Eines Sonntagmorgens setzte ich mich mit ihm aufs Sofa.
»Mama und ich sehen, dass du dich respektvoll gegenüber deinen Brüdern verhältst«, sagte ich. »Aber wir sehen auch, dass du in den letzten Tagen Noah und den kleinen Liam geschubst hast. Das ist nicht der Zachary, den wir kennen. Wie wollen wir das Gefühl nennen, das dich dazu bringt, deine Brüder zu stoßen? Kennst du eine Zeichentrickfigur, die das Gefühl beschreibt? Oder eine Farbe? Oder irgendetwas anderes?«
Er dachte eine Weile lang nach, und weil er gerade eines der Star-Wars-Bücher gelesen hatte, rief er dann: »Die dunkle Seite der Macht!«
»Prima!«, sagte ich. »Und was ist, wenn du das Gefühl hast, dass dich die dunkle Seite der Macht allmählich beherrscht?«
»Ich ziehe ein Lichtschwert … und wehre mich!«
»Gute Idee! Und wie machst du das?«
Er grinste und tat so, als würde er ein Laserschwert schwingen. »So!«, rief er, dann lief er nach draußen, um mit seinen Brüdern zu spielen. Durch das Fenster sah ich, wie er kurz darauf wieder seinen kleinen Bruder Liam schubste.
Ich ging in den Hof und fragte: »Zachary, was ist da gerade passiert?«
»Nichts«, sagte er beschämt.
»Hast du Liam geschubst?«
»Ja«, gestand er.
»Hat die dunkle Seite der Macht dich gepackt?«
Indem ich seine Emotionen auf diese Weise thematisierte, konnte ich das Problem ansprechen, ohne dass er sich angegriffen oder bestraft fühlte.
»Ja«, erwiderte er ruhig.
»Wirst du versuchen, dich stärker dagegen zu wehren?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete er mit einem schüchternen Lächeln.
Später kam Zachary zu mir gelaufen. »Papa, rate mal, was passiert ist! Die dunkle Seite wollte, dass ich Liam schubse, aber ich habe meine Selbstbeherrschung eingesetzt!«
Er war genauso stolz auf sich wie ich auf ihn. Eine Situation, in der man ihn hätte bestrafen können, wurde zu einer Lernchance, die letztlich nicht nur Zachary half, sondern der ganzen Familie.
Das Negative äußerlich zu machen, ist eine nützliche Technik in einer ganzen Reihe von Konfliktsituationen. Es verläuft in vier Stufen: Stellen Sie sich erstens eine typische Szene in Ihrem Konflikt vor, etwa Zacharys Streit mit seinen Brüdern. Erinnern Sie sich zweitens an das vorherrschende Gefühl, das Sie in den Streit gezogen hat. Sie müssen dieses Gefühl nicht exakt benennen, es reicht eine allgemeine Beschreibung dessen, was Sie da erfasste. In Zacharys Fall war es ein aggressiver Impuls. Finden Sie drittens ein Bild, das dieses Gefühl beschreibt, zum Beispiel Zacharys »dunkle Seite der Macht«. Und stellen Sie sich viertens vor, wie diese Dynamik auf einem Stuhl neben Ihnen sitzt und überlegen Sie sich eine Strategie für Ihren Umgang damit. Rekonstruieren Sie, welcher Auslöser es provoziert, und was Sie tun wollen, um damit umzugehen. Zachary erkannte, dass das Gefühl aufkam, wenn seine Brüder ihn ausschlossen, und er beschloss, dass er seine Selbstbeherrschung einsetzen würde, um dagegen anzugehen. Die Strategie ging auf. Die dunkle Seite der Macht wurde zu einer Kraft außerhalb seiner selbst, mit der er kämpfen und die er besiegen konnte.
Die Vorstellung des Schwindelgefühls hilft uns zu verstehen, warum Meinungsverschiedenheiten zwischen Ehepartnern eskalieren, bis sich die beiden anbrüllen, oder warum Kollegen nach einem hitzigen Streit handgreiflich werden. Dieser emotionale Zustand hat derart dramatische Auswirkungen auf unsere Psyche, dass selbst die kleinste Reibung in einen heftigen Streit ausarten kann. Aber wenn wir uns die Symptome des Schwindelgefühls bewusst machen, können wir uns davor schützen. Und wenn wir in den Strudel geraten, können wir uns daran erinnern, uns herauszureißen und eine kooperative Haltung einzunehmen. Auf diese Weise wird der Umgang mit emotional aufgeladenen Konflikten unendlich viel einfacher.
Natürlich sind die Probleme damit noch keineswegs aus der Welt. Vier weitere, genauso starke Sogkräfte lauern darauf, die Kontrolle über unser Denken und Fühlen zu übernehmen.
Arbeitsfragen
Wie sehr verzehrt Sie Ihr Konflikt emotional?
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
(schwindelfrei) (schwindelig)
Welche Gedanken und Gefühle verzehren Sie?
Wie können Sie verhindern, vom Schwindelgefühl fortgerissen zu werden? Können Sie sich an Ihr eigentliches Anliegen erinnern? Der Beziehung einen Ruck geben? Das Negative äußerlich machen?
Was können Sie tun oder sagen, um zu verhindern, dass die andere Seite in den Sog des Schwindelgefühls gerät?