Stellen Sie sich vor, neun Jahre nachdem islamistische Terroristen zwei Flugzeuge in das World Trade Center gelenkt haben, erhalten Sie einen Anruf vom Bürgermeister von New York City: »Ich brauche Ihre Hilfe. Wir kommen im Streit um den Neubau der Moschee an der Park Avenue nicht weiter. Ich möchte die Beteiligten zu einem Gespräch einladen – könnten Sie vermitteln?«1
Ein Immobilienunternehmen hat eine alte Textilfabrik im Süden von Manhattan gekauft, um an dieser Stelle ein 15-stöckiges muslimisches Kulturzentrum mit Moschee zu errichten. Aber weil das Zentrum, das nach seinem Standort Park51 heißen soll, nur zwei Straßenzüge vom ehemaligen Word Trade Center entfernt wäre, beginnt ein Proteststurm. Gegner argumentieren, ein muslimisches Zentrum so dicht am Ort des Anschlags wäre ein Hohn für die Opfer und eine emotionale Belastung für ihre Angehörigen. Und die Befürworter halten ebenso leidenschaftlich dagegen, die Moschee vermittle die Botschaft, dass die Terroristen nicht repräsentativ für den Islam seien und dass die Vereinigten Staaten für religiöse Toleranz stünden.
Ihre Aufgabe ist klar: Sie sollen den Parteien helfen, eine Lösung in der Kontroverse um das Kulturzentrum zu finden. Aber warum sollten die Beteiligten überhaupt aufeinander zugehen?
In diesem Buch sind wir der Frage nachgegangen, wie wir den fünf Sogkräften des Stammesdenkens widerstehen und eine integrierende Dynamik herstellen können, zum Beispiel indem wir den Mythos der Identität der Beteiligten erkennen, emotionale Verletzungen verarbeiten und Querverbindungen herstellen. Diese Strategien helfen uns zwar, unsere Beziehungen zu verbessern, doch in einem Konflikt müssen wir uns immer noch Gedanken darüber machen, wie wir die anstehenden Probleme lösen können, ohne in unserer Kernidentität Zugeständnisse zu machen. In diesem Kapitel stelle ich Ihnen das TAS-System vor, mit dem Sie solche Konflikte lösen können.
Wenn unsere Kernidentität gefährdet ist, kann sich ein Konflikt schnell auf ein Nullsummenspiel reduzieren: Entweder die andere Seite beugt sich unserer Identität, oder wir beugen uns ihrer. Weil wir selbstverständlich kein Interesse daran haben, unsere Identität zu verraten, bleibt nur eine Option: Die andere Seite muss nachgeben. Aber weil die sich unserer Identität natürlich genauso wenig beugen will, enden die Verhandlungen in der Sackgasse. Geld und Güter sind verhandelbar, doch unsere Kernidentität ist es nicht. Wie das Stammesexperiment zeigt, würden die meisten Menschen lieber die Welt in die Luft jagen, als ihre Identität zu opfern.
Aber wie verhandelt man dann über das Nicht-Verhandelbare? Ist das überhaupt möglich?
Es ist möglich, wenn wir folgende entscheidende Erkenntnis beherzigen: Das Problem lässt sich nicht von innen heraus lösen. Weil wir den Kampf um die Identität nicht gewinnen können, muss unser Ziel darin bestehen, unsere Beziehung so zu verändern, dass unsere Kernidentität und die der anderen Seite nebeneinander existieren können. Aber Koexistenz allein reicht nicht aus – man kann auch im Elend koexistieren. Vielmehr geht es um harmonische Koexistenz und eine Lösung ohne Kompromisse.
Das TAS-System besteht aus drei Schritten: Klären Sie erstens, welche Rolle die Identität in Ihrem Konflikt spielt, stellen Sie sich zweitens Szenarien einer harmonischen Koexistenz vor und bewerten Sie drittens, welches dieser Szenarien der Harmonie am zuträglichsten ist. Nach diesen drei Schritten haben Sie gute Aussichten, selbst die schwierigsten inhaltlichen Fragen zu lösen.
Erinnern Sie sich, wie leicht Sie in den Sog des Stammesdenkens geraten und Ihr Konflikt aus dem Ruder laufen kann. Anfangs nehmen Sie vielleicht lediglich Anstoß daran, dass eine Kollegin Sie nicht zu einer Sitzung eingeladen hat, doch innerhalb kürzester Zeit geraten Sie in den Sog von Schwindelgefühlen und Wiederholungszwang und werden wütend. Suchen Sie also nach der tieferen Bedeutung des Konflikts – dem Mythos der Identität. Oft sind die Sachfragen eines Konflikts zwar wichtig, doch bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich als Stellvertreterkrieg um die Identität. Im Streit um das muslimische Kulturzentrum ging es natürlich auch um die Nutzung des Gebäudes, doch dahinter stand die Frage der nationalen Identität: Wer ist Amerikaner? Wer gehört in die Vereinigten Staaten, wer ist Außenseiter? Welche Rolle spielt der Islam in der amerikanischen Gesellschaft?
Da sich solche Themen nur schwer direkt diskutieren lassen, wurde das Gebäude zum emotionalen Ersatzobjekt – ein Gegenstand, über den sich Hoffnungen und Ängste rund um die Identität zum Ausdruck bringen ließen.2 Über ein solches Ersatzobjekt lässt sich einfacher sprechen als über Identität. In diesem Fall war die Moschee eine greifbare Größe, und man konnte darüber diskutieren, ob sie zwei oder zehn Straßenzüge entfernt vom Ground Zero, dem Ort der Anschläge der islamistischen Terroristen, errichtet werden sollte. Aber in dem Moment, in dem man persönliche Standpunkte zur Identität selbst äußert, öffnet man sich für direkte Angriffe auf das eigene Ego.
Versuchen Sie, die tieferen Motive zu verstehen, die die Beteiligten in einem Streit antreiben. Fragen Sie zunächst, ob ein aufgeladenes Thema nicht ein Stellvertreterkrieg sein könnte, und ob es in der Auseinandersetzung nicht in Wirklichkeit um Identität geht. Geht es bei dem Streit zwischen zwei Firmensparten wirklich nur um Geld, oder geht es nicht vielmehr darum, welche Sparte in den Augen des Aufsichtsrats die wichtigere ist? Geht es in dem Streit mit Ihren Geschwistern wirklich um das Erbe, oder geht es nicht eher darum, wen Mama am liebsten hatte?
Als ich vor einigen Jahren ein junges Paar beriet, ging es mir darum, die eigentlichen Motive ihres Streits zu verstehen. Die Ehe von Linda und Josh schien vor dem Aus zu stehen. Die beiden hatten sich an der Universität kennen gelernt und nach drei Jahren Beziehung geheiratet. Die Ehe war glücklich, bis ihre beiden Zwillingstöchter vier Jahre alt waren und damit alt genug, um den Nikolaus kennen zu lernen. Das Problem war, dass Linda Protestantin war und Josh Jude. Als Weihnachten näher rückte, standen sie vor der Frage, wie sie das Fest so begehen konnten, dass es beiden entsprach. Je mehr sich Linda einen Weihnachtsbaum wünschte, umso hartnäckiger wehrte sich Josh. Die beiden diskutierten endlos, lasen Verhandlungsratgeber auf der Suche nach einer Win-win-Lösung und baten Freunde um Rat. Aber schon bald hatte sich ein solcher Groll aufgebaut, dass ein Kompromiss unmöglich schien, zumal ihre Töchter betroffen waren.
Ich hatte den Eindruck, dass der Kampf um den Weihnachtsbaum nur ein Stellvertreterkrieg für viel grundlegendere Fragen der Identität war, die das Paar beantworten musste. Also fragte ich sie: »Welche Aspekte Ihrer Identität stehen in diesem Streit auf dem Spiel?« Ich wollte herausfinden, welche der fünf Säulen der Identität für jeden am meisten bedroht schien: Überzeugungen, Rituale, Bindungen, Werte oder emotional bedeutsame Erfahrungen.
Linda berichtete mir, als sie zehn Jahre alt war, sei ihre Mutter gestorben und ihr Vater habe sie allein großgezogen. Linda fühlte sich ihm sehr verbunden und erinnerte sich daran, wie sie am Weihnachtsmorgen aufwachte und einen großen Stapel Geschenke fand. Der Weihnachtsbaum war zum Ersatzobjekt für Lindas enge Beziehung zu ihrem Vater geworden, der sie emotional verwöhnt hatte – auf den Baum zu verzichten, kam ihr vor wie ein Verrat an ihrem Vater. Für Josh dagegen weckte der Winter ein Gefühl der besonderen Bindung zu seinen Eltern und Großeltern und den Wunsch, jüdische Rituale und Werte zu leben. Er malte sich aus, wie enttäuscht sie wären, wenn sie wüssten, dass er einen Weihnachtsbaum im Haus aufstellte und dass seine Töchterchen auf Santa Claus warteten. Für ihn war der Baum ein Verrat an seinem kulturellen Erbe und eine Entweihung seiner familiären Wurzeln.
In der Diskussion verstanden Linda und Josh zwar besser, warum der andere so stur war, und sie festigten ihre Beziehung, doch die Frage nach dem Weihnachtsbaum beantworteten sie nicht.
Das TAS-System bietet Ihnen drei Ansätze der Koexistenz: Trennung, Assimilation und Synthese.3 Es gibt keine Patentlösung, doch die folgenden drei Fragen helfen Ihnen immerhin, eine breite Palette von möglichen Szenarien zur Beilegung Ihres Konflikts zu entwickeln.
In einer Ehekrise könnten Sie eine Trennung auf Zeit oder eine Scheidung für sinnvoll halten. Wenn Ihr Nachbar Ihre Grundstücksgrenzen nicht respektiert, könnte ein Zaun die Lösung sein. Um einen Krieg zu beenden, ist der erste Schritt ein Rückzug der Truppen. Und was mache ich, wenn sich meine beiden älteren Söhne streiten? Ich trenne sie.
Aber räumliche Trennung ist nicht die einzige Lösung. Auch eine psychische Trennung ist möglich, etwa wenn Sie bestimmte Themen aus Ihrer Beziehung ausklammern. Als Jugendlicher wurde ich regelmäßig von meiner Mutter mit Fragen nach den Mädchen bombardiert, mit denen ich zusammen war. Ich antwortete: »Das ist tabu!« Und damit blieben diese Themen in unserer Beziehung außen vor. Selbst Staaten nutzen diese Taktik manchmal und klammern strittige Fragen aus, um gute Beziehungen zu erhalten und den Einsatz von Militär zu verhindern.
Assimilation bedeutet, einen Teil der Identität der anderen in die eigene aufzunehmen. Trennung lässt unsere Identität intakt, Assimilation erweitert sie. Ein Beispiel ist ein guter Freund, der aus Russland in die Vereinigten Staaten einwanderte und sich schnell in der pragmatischen, schnellen Kultur einlebte, aber gleichzeitig seine Identität bewahrte, indem er zu Hause Russisch sprach und regelmäßig seinen Borschtsch kochte.
Assimilation kann auch die Form von Anpassung oder Bekehrung annehmen. Anpassung bedeutet, das Spiel nach den Regeln des anderen zu spielen, ohne diese Regeln zu verinnerlichen. Als Präsident Obama Japan besuchte, verbeugte er sich vor Kaiser Akihito, das heißt, er passte sich dem japanischen Ritual an, doch er nahm es nicht in seine Identität auf und verbeugte sich nicht in ähnlicher Weise vor anderen Staatenlenkern.4 Bekehrung bedeutet dagegen, Aspekte der Kernidentität des anderen zu verinnerlichen, etwa wenn Missionare Menschen überzeugen, eine neue Religion anzunehmen. Da Bekehrung freiwillig ist, bleibt die Kernidentität unangetastet.5
Die dritte Möglichkeit, eine Beziehung zu verändern, ist die Synthese: Sie definieren Ihre Beziehung zur anderen Seite auf eine Weise neu, dass Ihre Kernidentitäten nebeneinander existieren.6 Sie sind getrennt und doch verbunden, Sie sind autonom und gehören doch zusammen. Ein Beispiel ist die Vielzahl von ethnischen Gruppierungen in den Vereinigten Staaten, von denen jede ihre eigene kulturelle Vergangenheit mitbringt und sich trotzdem als »Amerikaner« bezeichnet.7
In Südkorea bin ich einem kreativen Beispiel für die Synthese begegnet. Nach einem Workshop in Seoul brachte mich meine Gastgeberin ins Stadtzentrum. Dort zeigte sie mir das alte Rathaus, ein strenges Gebäude, das in der Zeit der japanischen Besatzung errichtet worden war.8 Nach der Befreiung war die Stadtverwaltung zunächst in diesem Gebäude geblieben, doch 2005 ließ der Bürgermeister Lee Myung-bak ein neues errichten. Was sollte nun mit dem alten geschehen?
Die Bürger von Seoul waren sich uneins. Die einen plädierten für einen Abriss – warum sollte man dieses Überbleibsel aus der schmerzhaften Vergangenheit erhalten, wenn ein neues Gebäude die Modernisierung des Landes zum Ausdruck bringen konnte?9 Andere sprachen sich gegen den Abriss aus, weil sie meinten, dass jeder Aspekt der koreanischen Geschichte seine Berechtigung habe. Für beide Seiten war das Rathaus ein Ersatzobjekt in einer Auseinandersetzung um die südkoreanische Identität.10
Als mich meine neue Bekannte an dem Gebäude vorbeiführte, sah ich, dass die Stadtverwaltung das mit Identität aufgeladene Dilemma durch Synthese gelöst hatte. Im alten Gebäude hatten sie eine Stadtbibliothek untergebracht, und dahinter hatten sie das neue Rathaus errichtet – ein modernes Gebäude aus Glas und Stahl, das aussah wie eine Welle, die im Begriff war, über das alte Gebäude hinwegzuschwappen.11 Die beiden Gebäude waren wie eine Gegenüberstellung der dunklen Vergangenheit und der hoffnungsvollen Zukunft und erzählten eine Geschichte über die vielseitige Identität Südkoreas.12
Linda und Josh waren in einer Sackgasse: Sie hatten keine Ahnung, wie sie ihr Weihnachtsbaum-Dilemma lösen sollten. Um ihnen die Möglichkeit zu geben, mögliche Szenarien für eine harmonische Koexistenz auszuloten, stellte ich ihnen das TAS-System vor. Obwohl beide ihre festen religiösen Überzeugungen hatten, waren sie bereit, nach Wegen zu suchen, die diese Kluft überbrücken konnten. Ich bat sie, in einem Brainstorming verschiedene Optionen zusammenzutragen und dabei auch scheinbar weit hergeholte Ideen zuzulassen, in der Hoffnung, dass sie mit kreativem Denken eine Lösung fanden, die beide Seiten als richtig empfanden. Dabei sollten sie zunächst keines der Szenarien beurteilen – das sollte erst später kommen.
Die beiden begannen mit Trennungsszenarien. Sie konnten so tun, als gäbe es den Konflikt nicht, sie konnten diese unüberbrückbaren Unterschiede den Großteil des Jahres aus ihrer Beziehung ausklammern und sich erst dann damit beschäftigen, wenn Weihnachten vor der Tür stand. Eine andere Alternative war, dass sich eine Seite der anderen beugte, aber Groll hegte. Oder sie konnten einen ungewöhnlichen Schritt unternehmen und ihr Haus zweiteilen: »In einem Teil feiern wir Weihnachten, im anderen Chanukka.« Als allerletzte Möglichkeit blieb natürlich noch die Scheidung.
Dann entwickelten sie Assimilationsszenarien. Josh konnte zu Lindas Glauben übertreten und Christ werden. Oder er konnte den Weihnachtsbaum akzeptieren und sich entweder als Verräter an seiner Kultur fühlen oder sich überlegen, wie er den Baum mit seinen Überzeugungen vereinbaren konnte. Umgekehrt konnte Linda zustimmen, sich an die Rituale des Judentums anzupassen, ihrem Glauben treu bleiben, aber jüdische Rituale leben. Oder sie konnte zum Judentum übertreten.
Und schließlich überlegten die beiden, wie eine Synthese ihrer unterschiedlichen Standpunkte aussehen könnte. Sie konnten einen Weihnachtsbaum kaufen, ihn gemeinsam mit den Kindern schmücken, und ihm dann ihre persönliche Bedeutung geben: Linda konnte ihn als Weihnachtsbaum sehen, und Josh als Chanukka-Dekoration.
Nach dem Brainstorming gab ich Linda und Josh einige Minuten, um über die Szenarien nachzudenken und schließlich die Optionen zu bewerten. Dabei sollte folgende Frage im Mittelpunkt stehen: »Welches Szenario oder welche Kombination aus Szenarien erscheint Ihnen am attraktivsten und am ehesten zu verwirklichen?«
Linda und Josh merkten schnell, dass es den einen richtigen Weg zur harmonischen Koexistenz nicht gibt. Trennung kann die emotionale Heftigkeit des Konflikts lindern: Trennt die Armeen, und die Krise wird abgewendet. Andererseits kann die Trennung zwar helfen, Frieden zu stiften, doch sie kann daran hindern, ihn einzuhalten.14 Während der blutigen Auseinandersetzungen in Nordirland wurden »Friedensmauern« errichtet, um Stadtviertel zu befrieden, die als Brennpunkte der Gewalt bekannt waren. Während eines Besuchs in Nordirland sah ich erstaunt, dass diese Mauern auch über zehn Jahre nach dem Karfreitagsabkommen noch standen, und dass es seither sogar noch mehr geworden waren.15 Die Mauern schützten Stadtteile, doch sie standen auch der Integration im Weg.16
Auch Assimilation kann kurzfristig eine Einigung ermöglichen, aber langfristig Groll bewirken. Wenn Sie sich an die Identität des anderen anpassen, diese aber im Grunde Ihres Herzens ablehnen, dann kann die Reaktion explosiv sein. Stellen Sie sich vor, Josh lässt sich darauf ein, einen Weihnachtsbaum aufzustellen, und ändert seine Meinung, wenn er im Wohnzimmer leibhaftig vor ihm steht. Der Groll, der nie ganz besänftigt war, reißt ihn in einen Strudel und er fragte sich: »Wie konnte ich nur meine Herkunft verraten?«
Die Synthese hat viele Vorteile. Wenn Sie und die andere Seite Wege finden, beide Identitäten nebeneinander existieren zu lassen, dann kann Ihre Beziehung auch heftigem Gegenwind standhalten. Die Verbindung wird immer stärker und Sie fühlen die Verpflichtung, in guten wie in schlechten Zeiten zusammenzustehen. Weil Sie »in einem Boot sitzen«, haben Sie keinen Anreiz, die Beziehung zu sabotieren.
Aber auch die Synthese ist kein Allheilmittel. Es kann sehr schwer sein, eine Schnittmenge zu finden, die beiden Seiten genehm ist und in der die Gegenspieler nebeneinander existieren können. Wie könnte beispielsweise ein Rechtsstaat eine Synthese mit einer Terrorgruppe herstellen? Außerdem besteht die Gefahr, dass eine mächtigere Gruppe einer schwächeren ihre Vorstellungen aufzwingt und die Einigung auf deren Kosten geht. Ganz abgesehen davon, dass der Erhalt der Synthese bewusstes und langfristiges Engagement voraussetzt. Die Ehe ist ein großartiges Beispiel für eine Synthese, doch um sie zu erhalten, reicht es nicht, einmal vor dem Traualtar »Ja« zu sagen.
Es ist schwer, einen Konflikt beizulegen, wenn Sie eine Synthese wollen und die andere Seite verlangt, dass Sie sich anpassen. Wenn die Vorstellungen hier nicht übereinstimmen, eskaliert der Konflikt nur noch weiter. Die Gegner des muslimischen Kulturzentrums Park51 verlangten, dass die Moschee weiter von Ground Zero entfernt sein müsse – sie bestanden auf einer Trennung. Die Befürworter neigten jedoch zu einer Synthese: Sie sprachen sich für den geplanten Standort aus und schlugen vor, in der Moschee ein Gemeindezentrum mit einem Gebetsraum und einer Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags unterzubringen.
Statt sich um Szenarien zu streiten, sollten Sie lieber nach Möglichkeiten suchen, die Beziehung so zu ändern, dass den Ängsten und Hoffnungen aller Beteiligten Rechnung getragen wird. An diesen Rat hielten sich Linda und Josh und fanden so schließlich eine Lösung, die alle drei Herangehensweisen miteinander verband. Sie kamen überein, keinen Weihnachtsbaum aufzustellen, sondern das Fest jedes Jahr bei Lindas Vater zu feiern. Das entsprach beiden Mythen der Identität: Die Familie feierte Weihnachten bei Lindas Vater, womit sie sowohl Lindas Ritual als auch Joshs Überzeugungen berücksichtigten. Damit hielt sich Linda an die Vereinbarung, die beide schon von ihrer Ehe getroffen hatten, die Kinder im jüdischen Glauben zu erziehen, und besänftigte Joshs Furcht vor einem Verrat an seinem Erbe. Beide Partner verstanden und akzeptierten die Identität des anderen, bezogen die Unterschiede in die Beziehung ein und wuchsen an dem Konflikt. Der Weg war nicht einfach, aber sie hatten einen großen Schritt getan.
Wir lieben Macht und haben Angst, sie zu verlieren. Daher wollen die Mächtigen, dass andere sich an sie anpassen, während die weniger Mächtigen die Synthese bevorzugen.17 Das Ergebnis kann eine explosive Auseinandersetzung sein. Ein Beispiel dafür ist der Vertrag von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg. Die Sieger »wollten ihren Feind – allen voran die Deutschen – demütigen und vernichten«18, sie schlossen Deutschland aus den Verhandlungen aus und verlangten Reparationszahlungen, die die deutsche Wirtschaft ausbluteten. Deutschland fühlte sich gedemütigt, und das bereitete den Boden »für einen Führer wie Adolf Hitler mit seiner ultranationalistischen Agenda – etwas, das nur zwanzig Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre«.19
Machen Sie sich klar, wann Sie sich auf einen Kampf um die strukturelle Macht einlassen, also um die Frage, wer die Autorität hat, den anderen Vorschriften zu machen. Wenn Sie um den Preis eines Neuwagens feilschen, dann verhandeln Sie nicht auf Augenhöhe mit dem Händler: Sie können ihn nicht zwingen, Ihnen den Wagen zu dem Preis überlassen, der Ihnen genehm wäre. Aber wenn eine Minderheit darum verhandelt, mehr Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, dann geht es sehr wohl um strukturelle Macht. Genau wie in einem Fall, in dem zwei Teileigentümer eines Unternehmens versuchen, sich einen Anteil von mehr als 50 Prozent zu sichern: Nur einer wird in der Lage sein, die Unternehmenspolitik zu bestimmen.
In den heftigsten Konflikten geht es oft um Macht: Die Mächtigen haben Angst, sie zu verlieren, und die weniger Mächtigen wollen mehr. Daher sollten Sie versuchen, die Machtbeziehungen auszugleichen. Hier einige Vorschläge.
Vermeiden Sie alles, was die andere Seite demütigen könnte, vor allem wenn Sie am längeren Hebel sitzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die Siegermächte, die Verlierer nicht zu demütigen, und trugen stattdessen mit dem Marshall-Plan zu deren Wiederaufbau und Wiedereingliederung in die internationale Gemeinschaft bei.
Versuchen Sie, die Institutionen zu verändern. Die Bürgerrechtsgesetze der Vereinigten Staaten verordneten die Gleichbehandlung von Schwarzen und Weißen.
Ziehen Sie Vermittler hinzu. Vermittler tragen dazu bei, gleiche Bedingungen für alle zu schaffen. Sie stellen sicher, dass alle Beteiligten gleichermaßen gehört, Sachfragen gelöst und Beziehungen zur allseitigen Zufriedenheit neu gestaltet werden.
Vergessen Sie nicht, dass Opfer nötig sind. Denken Sie immer daran, dass die harmonische Koexistenz von allen Zugeständnisse verlangt und es nötig machen kann, einen gewissen Grad an Autonomie aufzugeben.
Kurz bevor Sie auflegen, erinnert Sie der Bürgermeister daran: »New York und die Nation zählen auf Sie.« Also bereiten Sie sich auf das Treffen vor, in dem Sie die Rolle des Vermittlers übernehmen sollen – Sie stellen eine Tagesordnung zusammen, setzen sich mit den Teilnehmern in Verbindung und erinnern alle daran, dass das Gespräch vertraulich ist. Es bereitet Ihnen jedoch einiges Kopfzerbrechen, dass es im Grunde nur zwei Optionen zu geben scheint: Entweder setzt sich die eine Seite durch oder die andere. Kompromissvorschläge wurden kaum gemacht, und die wenigen – zum Beispiel die Einrichtung einer Gedenkstätte in der Moschee – wurden rundweg abgelehnt.
Einige Tage später treffen sich zwölf der Diskussionsteilnehmer zu einem zweitägigen Workshop in einem Landhotel, weit weg von allen Kameras. Nachdem Sie ihnen den Zweck des Workshops dargelegt haben, erklären Sie den Teilnehmern das Stammesdenken mit seinen fünf Sogkräften und moderieren dann ein zweistündiges Gespräch, in dem es um die Frage geht, wie die Konfliktparteien die Auseinandersetzung angeheizt haben könnten. Die Teilnehmer des Workshops tauschen sich darüber aus, wie die Medien und das ganze Land in der Diskussion um Park51 in den Sog der Schwindelgefühle gezogen worden sein könnten; inwieweit in der Reaktion auf das Trauma der Anschläge ein Wiederholungszwang am Werk sein könnte; und inwieweit es in den Vereinigten Staaten tabu ist, ausdrücklich die ganze Bandbreite an Geisteshaltungen zum Islam zu thematisieren. Einzelne Teilnehmer erkennen auch, dass ihnen die Diskussion nicht nur wie ein Anschlag auf ihre heiligsten Werte vorkommt, sondern auch auf die heiligsten Werte und Überzeugungen der anderen Seite. Einige besonders Mutige räumen sogar ein, dass Park51 vor den Karren der Identitätspolitik gespannt worden sein könnte, und erkennen an, dass einige lautstarke Politiker das Thema für ihren Wahlkampf missbraucht haben könnten.
Im nächsten Abschnitt des Workshops leiten Sie die Gruppe durch eine vereinfachte Version der integrierenden Dynamik, indem Sie jeden Teilnehmer bitten, in fünf Minuten seinen Mythos der Identität darzustellen, und dann die anderen auffordern, Fragen dazu zu stellen. Jeder Teilnehmer soll die Frage beantworten: »Was bedeutet Park51 für mich persönlich?« Sie erinnern die anderen daran, aufmerksam und respektvoll zuzuhören – sie sollen lernen, nicht debattieren.
Während die Teilnehmer reihum sprechen, schält sich ein gemeinsames Thema heraus: Alle Beteiligten sind emotional verletzt und vorsichtig. Der Anschlag auf das World Trade Center hatte erhebliche Auswirkungen darauf, wie die Menschen in den Vereinigten Staaten ihre Identität und Sicherheit wahrnehmen. Die Teilnehmer schweigen, und Sie spüren, wie sich die Dynamik verändert. Sie trauern gemeinsam, und das ist ein wichtiger Schritt bei der Verarbeitung ihres emotionalen Schmerzes. Dabei stärken sie ihre zwischenmenschliche Verbindung.
Die Teilnehmer sprechen darüber, was sie dazu gebracht hat, sich in der Diskussion um Park51 zu Wort zu melden, und klären so ihre eigene Motivation. Gegen Mittag scheint die Gruppe bereit, einige praktische Differenzen anzupacken. Sie erläutern das TAS-System und stellen zwei Regeln auf: Die Teilnehmer sollen im Brainstorming so viele Szenarien wie möglich entwerfen und noch keine der Ideen beurteilen. Sie leiten die Runde mit der Frage ein: »Wie könnte man mit Park51 umgehen?«
Während die Gruppe mögliche Lösungen entwickelt, schälen sich zwei Trennungsszenarien heraus: Man könnte das Zentrum weiter von Ground Zero entfernen oder dort belassen, wo es ist. Assimilationsszenarien sehen vor, Park51 als Kulturzentrum aufzubauen, es ausschließlich als Gedenkort für die Anschlagsopfer zu verwenden, oder die Moschee in ein Gemeindezentrum zu integrieren. Und Syntheseszenarien schlagen vor, aus Park51 ein Zentrum für alle Religionen zu machen, es als muslimisches Kulturzentrum zu erhalten, aber ein Denkmal für die Anschlagsopfer zu integrieren, oder den Vorschlag des früheren Präsidenten Bill Clinton aufzugreifen und das Zentrum all denjenigen Muslimen zu widmen, die in den Anschlägen ums Leben kamen.20
Dann sollen die Teilnehmer gemeinsam diejenigen Szenarien bewerten, die alle Beteiligten am besten zufriedenstellen könnten. In einer freundschaftlichen Debatte wird die Liste auf drei Szenarien reduziert. Diese geben Sie an den Bürgermeister weiter, der begeistert ist: Jeder dieser drei Vorschläge ist besser als alles, was die Debatten beherrscht hat. In vertraulichen Gesprächen erörtert der Bürgermeister die Szenarien mit den wichtigsten Interessenvertretern, die sich auf einen der drei Vorschläge einigen – eine Synthese aus den Bedenken, die aus den Identitätsmythen aller Beteiligten hervorgehen.
Kann man über das Nicht-Verhandelbare verhandeln? Meine Antwort lautet Ja. Mithilfe des TAS-Systems können Sie Ihre Kernidentität von Ihrer Beziehungsidentität trennen und Ihre Beziehung neu gestalten. Kernidentitäten sind weitgehend fest, weshalb es wenig bringen würde, darüber verhandeln zu wollen. Konzentrieren Sie sich also auf die Beziehungsidentität und verändern Sie die Koexistenz mit der anderen Seite.
Das TAS-System bietet Ihnen drei Alternativen, um Ihre Beziehung zu verändern und Ihre Identität intakt zu belassen: Trennung, Assimilation und Synthese. Jede dieser drei hat ihre Vor- und Nachteile, die sorgfältig abgewogen sein wollen. Ihr Ziel muss es sein, ein Szenario zu entwickeln, das dem Identitätsmythos aller Beteiligten am ehesten entspricht.
Denken Sie daran: Sie können ein Problem nicht von innen heraus lösen. Das TAS-System hilft Ihnen, aus dem Konflikt herauszutreten, um ihn zu lösen.
Arbeitsfragen
Wie können Sie Ihre Beziehung verändern, um eine harmonische Koexistenz zu fördern?
Trennung? (Getrennt leben, kontroverse Fragen ausklammern, und so weiter)
Assimilation? (Anpassung an die Regeln der anderen, Bekehrung zu deren Überzeugungen)
Synthese? (Lösungen, die beide Identitäten gleichermaßen einbeziehen)
Welches Szenario (oder welche Kombination) erscheint Ihnen am überzeugendsten und am ehesten umsetzbar?
Wie können Sie Ihre Beziehung praktisch neu gestalten?