Kapitel 12
Verarbeiten Sie emotionale Verletzungen

Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber!

Konfuzius

Auf dem Höhepunkt des Amerikanischen Bürgerkriegs schrieb ein müder Soldat der Südstaatenarmee in stiller Verzweiflung: »Wie können wir Feinden vergeben wie den unsrigen? Sie zerstören unseren Besitz, vertreiben uns von unserem Land und töten unsere besten Bürger. Diese Verbrechen sind unverzeihlich. Gebt mir die Möglichkeit, Vergeltung zu üben, und ich vergebe mit mehr Anstand.«1

Der Soldat rang mit zwei möglichen Antworten der Südstaaten auf ihre missliche Lage: Er konnte vergeben, oder sich rächen. Wir kennen dieses Dilemma nur zu gut. Vergebung erleichtert uns das Gewissen, aber Vergeltung befriedigt unseren Rachedurst. So gern wir uns mit einem Angehörigen oder Kollegen versöhnen würden, stacheln unsere verletzten Gefühle uns auf, zurückzuschlagen und Rechnungen zu begleichen. Wie der Soldat fühlen wir einen inneren Drang, uns zu rächen, und dieser Drang kann so stark sein, dass wir glauben, keine andere Wahl zu haben.

Aber wir haben eine andere Wahl. Dieses Kapitel zeigt Ihnen eine Methode, emotionalen Schmerz zu verarbeiten und Ihren Rachedurst zu überwinden.2 Es ist nicht einfach, den Groll zu besiegen, doch auch wenn es Ihrem Wunsch nach Rache zuwiderläuft, wirkt es befreiend und ist deutlich produktiver.

Was heißt Verarbeitung?

Emotionaler Schmerz lässt sich am besten heilen, indem man ihn verarbeitet. Der Schmerz sitzt in uns fest, und wenn wir ihn verarbeiten, können wir negative Emotionen in eine positive Beziehungskraft umwandeln, so wie eine Lampe elektrische Energie in Licht umwandelt. Dazu müssen wir nach innen blicken, den Schmerz verstehen und die Kontrolle über ihn gewinnen. Das kann Angst machen, denn dazu müssen wir uns unseren Dämonen stellen, die wollen, dass wir an unserem Groll festhalten und mit aller Macht Vergeltung suchen.3 Aber während eine Schnittwunde in der Hand auch dann heilt, wenn wir uns nicht um sie kümmern, wird die innere Verletzung immer schlimmer, wenn wir sie nicht beachten. Der Schmerz wird immer größer, und wenn eine bestimmte Grenze überschritten ist, fliegt unsere Welt in die Luft.

Sind Sie bereit? Überprüfen Sie Ihre BAG

Sie haben Ihr emotionales Schicksal selbst in der Hand. Sie können Ihren Groll erst loslassen, wenn Sie emotional bereit dazu sind. Also schauen Sie nach innen: Was ist Ihre beste Alternative zum Groll (was ich als Ihre BAG bezeichne). Vergleichen Sie Ihr Leben, wie es jetzt mit dem Groll ist, mit einer realistischen Vorstellung Ihres Lebens ohne diesen Groll. Was wäre anders oder vielleicht sogar besser?

Der Groll hat durchaus seinen Zweck. Wenn jemand unsere Identität verletzt, untergräbt er damit unsere moralische Ordnung – unseren Sinn für Richtig und Falsch –, weshalb wir uns zu Recht demoralisiert fühlen und Rache nehmen wollen. Uns nicht zu rächen, wäre ein Verrat an unserem Leid. Doch wenn wir am Groll festhalten, kostet uns das viel Kraft und kann ironischerweise unserem Wohl und unserer Integrität schaden.

Überprüfen Sie also Ihre BAG: Wie würde es sich anfühlen, wenn Sie sich von den vergifteten Emotionen befreien? Wie würden Sie sich gegenüber der anderen Seite verhalten? Sie haben die Wahl: Sie entscheiden, ob Sie bereit sind, Ihren Groll loszulassen. Sie können Ihren Schmerz verarbeiten oder ihn ignorieren. Wenn Sie bereit sind, ihn zu verarbeiten, erfolgt dies in drei Schritten: (1) Sie gestehen sich den Schmerz ein, (2) Sie betrauern den Verlust und (3) Sie erwägen Vergebung. Kurz: Eingestehen, Trauern, Vergeben.

Schritt 1: Gestehen Sie sich die Verletzung ein

Sich den Schmerz einzugestehen heißt, ihn als real anzuerkennen, egal wie schwer das sein mag. Es ist sinnvoll, bei der eigenen Verletzung zu beginnen und dann die andere Seite in den Prozess einzubeziehen. Dazu gehört, den Schmerz zu sehen, zu spüren und zu verstehen.4

Sehen Sie den Schmerz

Halten Sie nach zwei Arten von emotionalem Schmerz Ausschau: Schmerz an sich, und Leid. Schmerz ist das, was wir empfinden, wenn unser Partner sagt: »Ich liebe dich nicht mehr.« Unsere Brust schnürt sich zu, wir spüren ein Würgen im Hals und ein Hämmern im Kopf. Leid ist der Prozess, mit dem wir den Schmerz verstehen, etwa indem wir uns im Stillen fragen: »Was stimmt bloß nicht mit mir?«

Um Schmerz ausfindig zu machen, beobachten Sie Ihre Emotionen und körperlichen Empfindungen. Versetzen Sie sich wieder mitten in die Hitze des Gefechts, beobachten Sie aufmerksam Ihren gesamten Körper von Kopf bis Fuß und suchen Sie nach Regionen der Spannung. Sind Ihre Schultern verspannt? Spüren Sie einen Knoten im Bauch? Sie könnten staunen, was Sie alles entdecken. In einem Konflikt kann Ärger Ihre Aufmerksamkeit derart auf sich ziehen, dass Sie die körperlichen Anzeichen von anderen starken Emotionen wie Scham, Demütigung und Selbstmitleid gar nicht mehr bemerken. Die Versuchung ist groß, diese Emotionen zu leugnen, doch wenn Sie sich diese nicht eingestehen, bleiben Sie ihre Geisel.

Wenn Sie Ihren emotionalen Schmerz erkannt haben, halten Sie nach Signalen des Leids Ausschau. Wie verstehen Sie den Schmerz? Achten Sie auf alles, was Sie sich sagen, wenn Sie den Schmerz empfinden:5 »Ich kann es nicht fassen, dass er mir das angetan hat! Das wird er mir büßen!« Beobachten Sie die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit hinter den wütenden Gedanken: »Warum passiert mir das immer wieder? Vielleicht bin ich für ein unglückliches Leben bestimmt.«

Gegen Schmerz können Sie nichts tun, gegen Ihr Leiden an ihm jedoch sehr wohl. Ihr schärfster Kritiker ist der in Ihrem Kopf. Das Geheimnis besteht darin, sich dessen bewusst zu werden, den Automatismus der Selbstverurteilung zu bremsen und sich zu wehren.6 Lassen Sie nicht zu, dass der Kritiker in Ihrem Kopf das letzte Wort behält. Wenn Sie das nächste Mal in einen heftigen Streit geraten, beobachten Sie den Gedankenstrom in Ihrem Kopf und treten Sie auf die Bremse, um ihn sich genauer anzuhören: »Was ist der nur für ein Idiot! Warum muss er mir das Leben immer so schwer machen? Ich werde nie hier reinpassen!«

Dann hinterfragen Sie Ihre Selbstkritik. Erinnern Sie sich an einen Fürsprecher in Ihrem Kopf, vielleicht Ihre liebevolle Mutter oder einen geschätzten Mentor, und antworten Sie auf die Kritik mit den aufmunternden Kommentaren dieses Menschen: »Du hast dein Bestes gegeben. Du hast der Welt eine Menge zu bieten. Nur weil dieser eine Mensch deine Stärken nicht erkennt, heißt das nicht, dass du keine hast.«

Spüren Sie den Schmerz

Erinnern Sie sich an das einfache Motto: »Um heil zu werden, müssen wir spüren.« Sie können sich einen Schmerz nicht eingestehen, wenn Sie um ihn herum tänzeln. Deshalb reicht Problemlösung allein nicht aus: Es löst Probleme, aber es ignoriert den Schmerz. Emotionaler Schmerz lässt sich nur heilen, wenn wir ihn direkt angehen und unsere Empfindungen verstehen.

Finden Sie den Mut, Ihren Schmerz zu spüren. Ärger ist leicht zu spüren, weil er Ihnen die Möglichkeit gibt, anderen die Schuld für Ihr Elend in die Schuhe zu schieben. Viel schwerer ist es, uns Emotionen einzugestehen, die auf unsere eigenen Schwächen verweisen, etwa Scham, Schuld oder Demütigung. Wir könnten versucht sein, diese Emotionen zu verdrängen, weil sie so schmerzhaft sind.7 Aber um heil zu werden, müssen wir spüren – die Unsicherheit der Eifersucht, die Schande der Scham, das Gewicht der Sorge.

Aber ertrinken Sie nicht in Ihrem Schmerz. Stellen Sie sich vor, dass Sie gleichzeitig zwei Rollen übernehmen: Taucher und Bootsführer. Als Taucher springen Sie in den Schmerz hinein und spüren und beobachten alles, wie ein wirklicher Taucher die Fische in einem Korallenriff. Als Bootsführer bleiben Sie an Bord und passen auf den Taucher auf. Wenn der Taucher Gefahr läuft, in seinen Emotionen zu ertrinken, holt ihn der Bootsführer wieder zurück an Bord. Mit anderen Worten müssen Sie wissen, wann Sie sich eine Auszeit von Ihren Emotionen nehmen sollten – gehen Sie spazieren, lesen Sie eine Zeitung, atmen Sie durch. Das Meer wartet, bis Sie wieder bereit sind, darin einzutauchen.

Um Ihren emotionalen Schmerz zu verstehen, kann es sinnvoll sein, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Das ist vor allem dann ratsam, wenn der Schmerz Sie überwältigt, wenn Sie in einer persönlichen Krise stecken, oder wenn Sie um Ihre physische und psychische Gesundheit fürchten. Gute Therapeuten bieten die nötige Sicherheit und Fähigkeiten, um hartnäckige Emotionen zu verarbeiten.

Verstehen Sie die Bedeutung des Schmerzes

Klären Sie als Erstes die Ursache des Schmerzes. Wer hat was gesagt oder getan und damit Ihr emotionales Wohl beeinträchtigt? Gab es ein traumatisches Einzelereignis, oder ist Ihr Schmerz das Ergebnis eines wiederholten Missbrauchs? Dann fragen Sie sich nach der Funktion des Schmerzes. Wenn ich beispielsweise Kopfschmerzen habe, dann sagt mir das, dass ich meine Arbeitsbelastung reduzieren muss. Emotionaler Schmerz sendet eine ähnliche Botschaft, dass etwas fehlt oder nicht in Ordnung ist. Was ist diese Botschaft? Wenn Sie zum Beispiel das starke Bedürfnis verspüren, einem Vorgesetzten aus dem Weg zu gehen, der eine Ihrer Ideen abgelehnt hat, dann könnte Ihr Schmerz Ihnen sagen, dass Sie mehr positive Bestätigung benötigen, als Sie gedacht hatten.

Nachdem Sie sich Ihren eigenen emotionalen Schmerz eingestanden haben, können Sie sich dem Schmerz der anderen zuwenden. Versetzen Sie sich in deren Lage. Was könnten sie empfinden? Warum? Wenn Sie im Wiederholungszwang oder Schwindelgefühl gefangen sind, kann es schwer sein, Mitgefühl mit ihnen zu haben, aber versuchen Sie es trotzdem.

Sie können die andere Seite natürlich nicht dazu zwingen, sich selbst zu heilen. Viele machen den Fehler, andere dazu drängen zu wollen, Gemeinsamkeiten zu erkennen und den Konflikt abzukühlen; wenn diese jedoch großen Schmerz empfinden, dann könnten sie das Gefühl haben, dass Sie ihnen ihren berechtigten Zorn absprechen und ihnen den Hebel nehmen wollen, den ihnen Zorn und Wut an die Hand geben.

In diesem Fall bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als ein Umfeld zu schaffen, in dem emotionale Heilung möglich ist – einen beherzten Raum, in dem alle Beteiligten sich den fremden und eigenen Schmerz eingestehen können.8 In diesem Raum könnte eine Vertrauensperson vermitteln, etwa ein Angehöriger, dem alle vertrauen, oder ein professioneller Schlichter.9 Wenn sich beide Seiten soweit vertrauen, dass sie ohne Vermittler den fremden und eigenen Schmerz erforschen können, dann sollten Sie Regeln aufstellen, die den Austausch produktiv machen. Ein Ehepaar aus meinem Bekanntenkreis klebte sich zum Beispiel einen Zettel mit folgenden Regeln an den Kühlschrank:

Schritt 2: Trauern Sie um Ihren Verlust

Der zweite Schritt bei der Verarbeitung von emotionalem Schmerz ist die Trauer um den erlittenen Verlust.10 Konflikt bedeutet immer auch Verlust: Ein Paar, das sich scheiden lässt, trauert um die gescheiterte Vision eines gemeinsamen Lebens; Geschwister, die sich versöhnen, trauern um die Jahre, die sie getrennt verbracht haben; Armeen im bewaffneten Konflikt trauern um ihre gefallenen Soldaten. Trauer ist im Grunde nichts anderes als die emotionale Verstoffwechselung des Verlusts.11 Wer nicht trauert, bleibt in einer Zeitblase schmerzhafter Emotionen gefangen. Für eine bessere Zukunft müssen wir emotional Bilanz ziehen und den Verlust verarbeiten.

Erkennen Sie den Verlust an

Nehmen Sie zur Kenntnis, was Sie unwiederbringlich verloren haben. Vielleicht haben Sie im Streit das Vertrauen eines Freundes oder Ihre idyllische Ehe verloren. Dieser Verlust kann sich genauso verwirrend und vernichtend anfühlen wie der Tod eines geliebten Menschen: Ist sie wirklich nicht mehr da? Wie kann das sein?

Trauern heißt akzeptieren, dass das, was einst Gegenwart war, nun Vergangenheit ist. Im Kopf können Sie vielleicht verstehen, dass Ihre beste Freundin Sie verraten oder Ihr Mann Sie verlassen hat, aber es emotional zu verarbeiten, kann enorm schwer sein. Und um Ihre existenzielle Wirklichkeit zu verarbeiten, muss sich Ihre Beziehungsidentität ändern.

Diesen Prozess konnte ich aus der Nähe beobachten, als gute Freunde ihre zwölfjährige Tochter Nora verloren. Jahrelang waren sie in Therapie, um den Verlust zu verarbeiten. Doch sie ließen Noras Zimmer so, wie es bei ihrem Tod gewesen war: Ihre Kleider waren über den Boden verstreut, auf dem Bett lag ihr Tagebuch. Dann wachten sie eines Morgens auf und wussten, dass es Zeit war, den Verlust anzuerkennen und Noras Sachen wegzuräumen. Ihre Liebe und Ihr Schmerz blieben, doch sie unternahmen einen emotional wichtigen Schritt, um den Tod ihrer Tochter anzuerkennen.

Arrangieren Sie sich mit dem Verlust

Der Schmerz über den Verlust bleibt, bis Sie sich damit arrangiert haben und die Tatsache des Verlusts emotional verarbeitet haben. Verarbeiten bedeutet hier, über die Erkenntnis des Verlusts zu einer emotionalen Akzeptanz zu gelangen. Das wird dadurch erschwert, dass der heftige Schmerz über den Verlust verhindern kann, dass Sie sich ihm stellen. Wenn unser Gehirn eine traumatische Erfahrung aufzeichnet, blockiert es interessanterweise unsere Sprachfähigkeit und bewahrt die Erfahrung als emotionalen Abdruck, ganz ohne Sprache.12 Aber ohne Sprache können wir den Schmerz nicht verarbeiten und die Kontrolle über ihn erlangen.

Finden Sie also die Worte. Fragen Sie sich: »Warum tut mir dieser Verlust so weh? Wie kann ich ihm einen Sinn geben?« Über diese Fragen können Sie mit einem guten Freund sprechen oder ihnen in einem Tagebuch nachgehen, um Ihre Gefühle in Worte zu fassen.

Die Verarbeitung muss aber nicht ausschließlich über Sprache passieren. Rituale sind ein wirkungsvolles Instrument, um Ihren Schmerz loszulassen und Ihre emotionale Erfahrung abzuschließen. Das Ritual ist eine feierliche Zeremonie, mit der Sie den inneren Übergang vom Verlust zur Akzeptanz markieren. Wenn im Judentum beispielsweise ein geliebter Mensch betrauert wird, sitzt die Familie sieben Tage lang Schiwa, das heißt, sie bleibt zu Hause und empfängt Freunde und Verwandte, die Essen und Trinken bringen.

Die wirkungsvollsten Rituale verbinden die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. So wird beispielsweise im christlichen Ritual der Taufe ein Kind mit Wasser übergossen, um den Eintritt in die Gemeinschaft der Kirche zu markieren. Die Toten werden meist in der Erde beigesetzt. In anderen Religionen wie dem Hinduismus werden die Toten verbrannt, der Leichnam wird vom Feuer verzehrt. Und viele Traditionen streuen die Asche der Toten in die Luft.13

Um den Verlust zu verarbeiten, können Sie den Toten ein Denkmal setzen. Eine Nation ehrt die gefallenen Soldaten mit Gedenkstätten. Trauernde Eltern können die Erinnerung an ihr Kind in einer Stiftung bewahren. Sie können Ihren Verlust auch mit den Mitteln der Kunst verarbeiten, etwa in einem Trauerlied, einem Wutbild oder einer Kurzgeschichte. Einige der leidenschaftlichsten Lieder und Geschichten der Welt wurden aus einem Verlust geboren. Gedenken bedeutet, den Schmerz von einer alles verzehrenden in eine klar begrenzte Erfahrung zu verwandeln, eine greifbare Struktur, die ein Kapitel Ihres Lebens abschließt und gleichzeitig anerkennt, dass der damit verbundene Schmerz niemals vergessen wird.

Aber nicht nur Sie müssen Ihren Verlust verarbeiten, sondern auch die andere Seite. Geben Sie ihr Raum, ihre Trauer zum Ausdruck zu bringen. Hinter heftigen Angriffen könnte der Wunsch stehen, das wiederzuerlangen, was durch den Konflikt für immer verloren ging.

Schritt 3: Erwägen Sie Vergebung

Der dritte Schritt der emotionalen Verarbeitung ist die Vergebung. Das ist der schwierigste Moment. Der eingangs des Kapitels erwähnte Soldat fühlte sich als Opfer und spürte die innere Verpflichtung, seinen und den emotionalen Schmerz seiner Landsleute zu rächen. Wie konnte er den Tätern vergeben, ohne vorher Gerechtigkeit zu üben?

Doch der Soldat übersah eine entscheidende Tatsache: Vergebung bedeutet, sich aus der Opferrolle zu befreien. Wer sich vom Zorn verzehren lässt, bleibt eine Geisel derer, die ihn verursacht haben. Vergebung befreit uns und macht uns vor allem innerlich frei, uns wichtigeren Dingen zuzuwenden. Wenn wir den halben Tag lang alte Wunden lecken und unseren Zorn schüren, bleibt uns nur noch ein halber Tag, um nützlichere Dinge zu tun. Und während uns das Bedürfnis nach Rache in die Vergangenheit sperrt, erlaubt uns die Vergebung, im Hier und Jetzt zu leben.

Um zu vergeben, sollten Sie sich nicht lange mit Definitionen des Begriffs aufhalten, sondern besser einen praktischen Handlungsplan aufstellen, der die Versöhnung voranbringt. Beispielsweise könnten Sie einen Satz der Vergebung formulieren: »Trotz allem, was vorgefallen ist – und das ich nie vergessen werde –, bin ich bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen, den Gedanken der Rache aufzugeben, mit dir zu sprechen und zusammen für eine bessere Zukunft zu arbeiten.«

Die einzigartigen Qualitäten der Vergebung

Vergeben ist nicht gleichbedeutend mit Absolution. Ein Vater kann seiner Tochter vergeben, dass sie zu spät nach Hause gekommen ist und ihr trotzdem am nächsten Wochenende den Ausgang verbieten. Der Soldat kann seinen Feinden für ihre Verbrechen vergeben und sie trotzdem vor Gericht bringen.

Vergeben heißt auch nicht vergessen. Eine Bank kann einen Kredit abschreiben, aber sie wird sich daran erinnern. Zwei Nationen können einen unerbittlichen Krieg gegeneinander führen, doch nach dem Friedensschluss bleibt er in den Geschichtsbüchern beider Länder.

Vergeben ist ein Prozess. Es gibt keine Abkürzung. Es erfordert Zeit, Einsatz, Geduld und die Erkenntnis, dass unsere Bereitschaft zu vergeben kommt und geht. Wenn Ihr bester Freund Ihr Vertrauen enttäuscht, könnten Sie sich jahrelang dagegen wehren, ihm zu vergeben – bis plötzlich eines Tages Ihr Groll verschwunden ist.

Niemand kann uns zwingen zu vergeben – nicht einmal wir selbst. Der Autor C. S. Lewis versuchte dreißig Jahre lang, einem Menschen zu verzeihen, und als er endlich dazu bereit war, wurde ihm klar: »Vieles fällt uns leicht, wenn der Moment dazu gekommen ist. Aber bis dahin ist es unmöglich. Es ist wie Schwimmen lernen: Monatelang schaffen wir es nicht, oben zu bleiben, und wenn wir uns noch so sehr mühen, doch irgendwann kommt der Tag, die Stunde und die Minute, und wir werden nie wieder untergehen.«14

Die Versuchung ist groß, nicht zu vergeben, denn wir haben den Schlüssel in der Hand, der den Täter wieder in unsere moralische Gemeinschaft eintreten lässt. Dieser Mensch hatte einst Macht über uns, er hat uns Schaden zugefügt, doch nun können wir den Spieß umdrehen. Die südafrikanische Schriftstellerin und Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela schrieb: »Genau in dem Moment, in dem der Täter die ersten Anzeichen der Reue zeigt und nach Möglichkeiten sucht, um Vergebung zu erbitten, wird das Opfer zum Hüter dessen, was sich der Verstoßene wünscht: Die Wiederaufnahme in die menschliche Gemeinschaft.«15

Um den Prozess der Vergebung einzuleiten, öffnen Sie sich der Möglichkeit, dem anderen zu vergeben. Stellen Sie sich vor, wie Ihre Beziehung aussehen könnte, wenn Sie es tun. Wägen Sie Vor- und Nachteile ab und halten Sie diese in der nachstehenden Tabelle fest. Dann hören Sie auf Ihr Bauchgefühl: Wie würde es sich anfühlen, wenn Sie Ihren Groll losließen? Vergleichen Sie das mit dem Gefühl des Ärgers, das Sie noch belastet. Überlegen Sie, was sich richtig anfühlt. Sprechen Sie mit Vertrauten und betrachten Sie das Dilemma aus verschiedenen Blickwinkeln. Im Laufe der Zeit werden Sie klar sehen.16

Soll ich vergeben?

Wenn ja:

Wenn nein:

Was sind die Vorteile?

Was sind die Vorteile?

Was sind die Nachteile?

Was sind die Nachteile?

Entscheiden Sie schließlich, ob Sie (1) vergeben, (2) nicht vergeben oder (3) die Entscheidung vertagen. Durchdenken Sie Ihre Entscheidung sorgfältig und hören Sie auf Ihr Herz. Sollten Sie sich entscheiden zu vergeben, werden Sie sich freier und stärker fühlen – aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Sie müssen Ihren Ärger loslassen, und das gelingt am besten, wenn Sie das Leid des anderen erkennen und mitfühlen. Wenn Sie den Sog des Ärgers verspüren, fragen Sie sich also: »Will ich mir und anderen Leid zufügen oder will ich mitfühlen?«

Das Unverzeihliche verzeihen?

Nach Ansicht der Philosophin Hannah Arendt sind einige Verhaltensweisen derart extrem, dass sie nur ein Produkt dessen sein können, was Kant als das »radikale Böse« bezeichnete – ein Verbrechen, das so schrecklich ist, dass es jeden Anspruch auf Moral verwirkt hat. Als Jüdin, die vor dem aufkommenden Nationalsozialismus und Antisemitismus aus Deutschland geflohen war und den Holocaust aus der Ferne verfolgt hatte, empfand sie diesen Völkermord als ein derart abscheuliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass man es weder bestrafen noch vergeben konnte.

Wie Hannah Arendt glaube ich, dass manche Konflikte derart unerträgliches Leid verursachen, dass es unmöglich scheint, die Tat zu vergeben. Andersherum glaube ich allerdings auch, dass die felsenfeste Überzeugung, wir könnten einem anderen niemals vergeben, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Es kann Generationen dauern, bis aus emotionalen Verletzungen die Narben der Erinnerung werden. Aber Vergebung liegt immer im Bereich des Möglichen.

Die Bitte um Verzeihung: Die andere Seite der Vergebung

Eine aufrichtige Bitte um Verzeihung – eine Entschuldigung – ist vielleicht das stärkste Instrument zur Wiederherstellung einer positiven Beziehung. Eine Bitte um Verzeihung ist ein Ausdruck der Reue und eine Botschaft, dass Sie die Tat, die der anderen Seite Leid zugefügt hat, gern ungeschehen machen würden – so sehr, dass Sie bereit sind, im Interesse der Versöhnung sogar Ihren Stolz zu opfern.

Während Vergebung eine innere Entscheidung ist, ist die Bitte darum ein zwischenmenschlicher Ausdruck der Reue. Wir können einem Täter vergeben, auch wenn dieser nicht anwesend ist, aber um Verzeihung bitten können wir nur, wenn der Betroffene anwesend ist. Sich zu entschuldigen, bedeutet, dem anderen direkt mitzuteilen, dass uns unser Verhalten leidtut, und dass es uns damit ernst ist.

Was ist eine aufrichtige Entschuldigung?

Eine aufrichtige Entschuldigung kommt von Herzen, aber es gibt einige Dinge, die Ihnen dabei helfen können. Ehe Sie um Verzeihung bitten, sehen Sie sich die folgenden Punkte an und überlegen Sie, wie Sie diese aufrichtig vermitteln können. Je mehr Sie davon in Ihre Entschuldigung aufnehmen, umso wirkungsvoller wird sie.

  1. Drücken Sie Ihre aufrichtige Reue aus.

  2. Erkennen Sie an, welche Auswirkungen Ihr Verhalten hatte.

  3. Machen Sie klar, dass Sie die Verantwortung dafür übernehmen.

  4. Verpflichten Sie sich, die Tat nicht zu wiederholen.

  5. Bieten Sie Entschädigung an.

Überlegen Sie, ob Sie privat oder öffentlich um Verzeihung bitten wollen. Eine private Entschuldigung erleichtert den Wiederaufbau der Beziehung, und hilft beiden Seiten, ihr Gesicht zu wahren. In komplexen Fällen der ausgleichenden Justiz können sich Täter und Opfer privat treffen, um gemeinsam ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die Tat zu erörtern; in diesem Zusammenhang kann der Täter um Verzeihung bitten. In anderen Situationen ist es besser, eine Entschuldigung öffentlich auszusprechen, vor allem wenn es sich um kollektives und politisches Unrecht handelt. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission Südafrikas war ein Ort, an dem Opfer politischer Gewalt ihre Geschichten erzählen, und Täter für ihre Taten um Vergebung bitten konnten. Und in der Tat vergaben in einigen Fällen die Opfer den Tätern.17

Entschuldigen Sie sich, aber rechtfertigen Sie sich nicht

Wenn Sie sich entschuldigen wollen, dann seien Sie klar. Vermengen Sie die Entschuldigung nicht mit Zerknirschung und Rechtfertigungen.18 In Platos Apologie des Sokrates steht Sokrates vor Richtern, die ihm vorwerfen, die Jugend verführt zu haben, nicht an die Götter Athens zu glauben und neue Götter erfunden zu haben. In seiner Anhörung liefert er eine Apologie, ein Plädoyer seiner Unschuld – also das Gegenteil einer Entschuldigung. Aber die Ehefrau, die zu spät zum Geburtstagsessen ihres Mannes kommt, wäre schlecht beraten, wenn sie sagen würde: »Tut mir leid, dass ich zu spät komme, aber ich musste noch ein Projekt abschließen.« Dieser widersprüchliche Satz mag auf den ersten Blick wie eine Entschuldigung aussehen, aber in Wirklichkeit soll er etwas ganz anderes vermitteln: Ich übernehme keine Verantwortung dafür, dass ich dich verletzt habe.

Zusammenfassung

Ein emotional aufgeladener Konflikt verursacht allen Beteiligten Schmerz – und genau deshalb erfordert er Verständnis und Mitgefühl. Indem wir den emotionalen Schmerz der anderen Seite anerkennen, den Verlust betrauern und uns der Vergebung nähern, können wir heilen. Wie der Dichter Theodore Roethke sagte: »In einer dunklen Zeit beginnt das Auge zu sehen.«

Arbeitsfragen

  1. Wie würde Ihr Leben aussehen, wenn es diesen Konflikt nicht gäbe?

  2. Sind Sie bereit, sich von dem Konflikt zu befreien? Wenn nicht, was wäre dazu nötig?

  3. Was verursacht Ihnen an diesem Konflikt den größten Schmerz? Warum?

  4. Wie können Sie Ihrem Schmerz einen emotionalen Sinn geben? Was haben Sie in diesem Prozess über sich und das Leben gelernt? Was haben Sie verloren?

  5. Wie würde es sich anfühlen, wenn Sie der anderen Seite vergeben würden? Überlegen Sie, ob Sie das tun wollen.

    • Vorteile:

    • Nachteile:

  6. Welche Ihrer Handlungen bereuen Sie in diesem Konflikt?

  7. Wären Sie bereit, um Verzeihung zu bitten? Wenn ja, wie könnten Sie diese Bitte ausdrücken?