Irgendwann Ende der 1990er-Jahre saß ich mit dem israelischen Schriftsteller Yoram Kaniuk im legendären Café Tamar auf der Sheinkinstraße in Tel Aviv. Kaniuk, der politisch links stand und mit dem arabisch-israelischen Schriftsteller Emil Habibi befreundet war, hatte sich ein Leben lang für eine Lösung im Dauerkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern eingesetzt. Und doch brach bei unserem Gespräch aus ihm ein Satz heraus, den ich von ihm so nie erwartet hätte: »Für uns Juden ist es wahnsinnig schwer zu begreifen, dass ein Palästinenser so einen riesigen Aufstand macht, wenn er von seinem Geburtsort zehn, zwanzig oder fünfzig Kilometer entfernt leben muss. Wo ist das Problem?«
Kaniuks Äußerung war kein Ausdruck von Ignoranz gegenüber politischen und historischen Fakten. Ihm war natürlich bewusst, dass 1948, im Unabhängigkeitskrieg Israels, den die Palästinenser »Nakba«, die Katastrophe, nennen, etwa 750 000 Araber flohen, von denen rund die Hälfte von israelischen Soldaten vertrieben wurden, wie der israelische Historiker Benny Morris dies in seinem Buch The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947– 1949 belegt.
Kaniuk verwies mit seiner Äußerung auf einen eklatanten Unterschied in der arabisch-palästinensischen und der jüdischen Kultur. Juden befanden sich nach der Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahr 70 n. Chr. und endgültig nach der Eroberung der Festung Massada am Toten Meer drei Jahre später rund 2000 Jahre fast ausschließlich in der Diaspora. Im Klartext bedeutete dies, dass sie im Exil immer wieder verfolgt wurden und deswegen stets aufs Neue ihr Hab und Gut packen mussten, um von einer Stadt in eine andere, von einem Land in ein anderes, von einem Kontinent zum nächsten zu flüchten.
Die Heimat der Juden war »portabel« geworden, wie Heinrich Heine das einmal nannte. Er meinte die Thora, die »Fünf Bücher Moses«, die das Zentrum des jüdischen Glaubens ausmachen und die die Juden überallhin mitnahmen. In der Diaspora, oder wie Juden es selbst nannten: im Exil, war geografische Heimat eine »horizontale« Angelegenheit geworden, die ewige Flucht führte dazu, dass Juden keine Wurzeln mehr schlagen konnten. Und wenn sie doch irgendwann endlich »angekommen« zu sein schienen, brach die nächste Katastrophe über sie herein, wie etwa in Deutschland 1933, die mit der »Endlösung der Judenfrage« ihren bislang entsetzlichsten Höhepunkt in der Verfolgungsgeschichte des jüdischen Volkes hatte.
Der arabisch-palästinensische Heimatbegriff ist dagegen »vertikal«. Er reicht, bildlich gesprochen, tief in die Erde hinein, denn dort, wo Palästinenser lebten, da lebten schon ihre Väter und Vorväter. Abgesehen von Beduinen und anderen Nomadenstämmen in der Region waren viele Araber in der Levante fest in Grund und Boden verwurzelt, selbst wenn sie für bessere Arbeitsbedingungen oder eine bessere Ausbildung vom Dorf in die Stadt zogen oder eine gewisse Zeit im Ausland verbrachten, um dort zu studieren oder einen Beruf zu lernen. Das allerdings war nur den wohlhabenden Familien vorbehalten. Doch die meisten blieben ihrem Heimatort eng verbunden, viele kehrten irgendwann dorthin zurück oder ließen sich dort begraben.
Doch ganz so eindeutig lässt sich dieser unterschiedliche Heimatbegriff, wie Kaniuk ihn formulierte, den beiden Völkern nicht zuordnen. Denn auch Juden haben partiell eine »vertikale« Heimatidee. Auf dieser basieren nicht nur die Gebete des Judentums, in denen die Rückkehr nach Zion besungen wird, sondern das gesamte ideologische Gerüst des Zionismus – die Heimkehr nach Zion, dorthin, wo die hebräischen Vorväter lebten, das Volk Israel. Bleibt man in der Metaphorik von Kaniuk, dann reicht diese vertikale Linie noch viel, viel tiefer in die Erde Palästinas oder Israels als die der Palästinenser. Am Kaffeehaustisch kann man solche Gedankenspielereien schön und interessant finden, doch sie bestimmen die nackte Realität im Land und erzählen die traurige, brutale Geschichte von Juden und palästinensischen Arabern.
Die Frage, ob Palästina den Palästinensern gehört, lässt sich völkerrechtlich scheinbar leicht beantworten. Da Palästina bis 1917 Teil des Osmanischen Reiches war, waren die Menschen, die im »Heiligen Land« lebten, »subjects«, also Untertanen der Hohen Pforte in Istanbul, ganz egal, ob sie Muslime oder Christen waren. Oder Juden, denn auch nach der Zerstörung des Tempels blieben Juden im Land, sie waren nie ganz weg, wenngleich sie Anfang des 20. Jahrhunderts nur eine sehr kleine Minderheit im Land waren.
Den Osmanen gehörte also Palästina. Dann, 1917, eroberten die Briten während des Ersten Weltkrieges das Gebiet. Nach Ende des Krieges und mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurde den Briten auf der Konferenz von San Remo 1920 das Mandat für Palästina übertragen. Die Vertreter des »British Empire« blieben bis zum 14. Mai 1948 in Palästina, also 31 Jahre. An diesem Tag versammelte sich der Jüdische Nationalrat im Haus des ehemaligen Bürgermeisters von Tel Aviv, Meir Dizengoff. Dort verkündete David Ben Gurion, dass nun »kraft des natürlichen und historischen Rechts des jüdischen Volkes und aufgrund des Beschlusses der UNO -Vollversammlung« der Staat Israel gegründet werde. Hatten also irgendwann die Palästinenser das Land »besessen«, das über Jahrhunderte Palästina genannt wurde und zu dem ursprünglich auch einmal das heutige Jordanien gehörte? Gehörte es ihnen völkerrechtlich? Nein. Es scheint also alles ganz einfach zu sein. Doch wie immer im Nahen Osten, ist absolut gar nichts einfach …
1896 erschien Theodor Herzls Buch Der Judenstaat , das, wie schon erwähnt, eine Reaktion auf den antisemitischen Dreyfus-Prozess in Paris war. Herzl hatte endgültig begriffen, dass das antisemitische Europa des späten 19. Jahrhunderts für Juden kein Ort mehr war, wo sie sicher und in Würde leben konnten. 1897 eröffnete Herzl in Basel den ersten Zionistenkongress der Geschichte. Damit war die zionistische Bewegung ins Leben gerufen. Doch deren Grundidee gab es schon etwas früher. Bereits 1862 erschien Moses Hess’ Buch Rom und Jerusalem sowie 1882 Leon Pinskers Text Autoemanzipation . Auch in diesen Schriften wird, wie später bei Herzl, die Rückkehr nach Zion gefordert, als Lösung für ein jahrhundertealtes Problem. Hess und Pinsker waren schon eher als Herzl zu der Überzeugung gelangt, dass Juden ihre Unabhängigkeit bräuchten, um zu überleben. Das war in Europa nie möglich, schon gar nicht in den nichtdemokratischen Staaten. Pinsker schrieb sein Essay unter dem Eindruck der schrecklichen Pogrome 1881 nach dem Attentat auf Alexander II . im zaristischen Russland.
Noch bevor Herzl aus der zionistischen Idee eine politische Bewegung machte, hatten sich einige europäische Juden also aufgrund des »Zeitgeistes«, wie man heute sagen würde, auf den Weg nach Eretz Jisrael gemacht. Sie begannen mit Genehmigung der Osmanen Land zu kaufen, auf dem sie siedelten und Landwirtschaft betrieben. Was sich schon damals abzeichnete, war das Prinzip, wie der jüdische Staat allmählich entstand: Man kaufte korrekt und regulär Land von arabischen Grundbesitzern, doch häufig mussten die Bauern, die das Land gepachtet hatten und es bestellten, vertrieben werden. Damals noch mit Hilfe der osmanischen Behörden und Polizei, später mit Genehmigung und Hilfe der Briten.
Als die Briten Palästina übernahmen, war der Kern des Konfliktes also im Grunde schon gelegt. Die jüdische Gemeinschaft, die seit Jahrhunderten in Palästina gelebt hatte, war nicht »zionistisch«, sie hatte nie an die Gründung eines jüdischen Staates gedacht. Neben dieser Gemeinschaft gab es aber Ende des 19. Jahrhunderts bereits die ersten »Zionisten« im Land, Juden, die keine »Einheimischen« waren und ihren Traum eines unabhängigen, freien jüdischen Lebens in Zion verwirklichen wollten. Laut eines britischen Berichts lebten 1920 etwa 15 000 Juden in Palästina, das insgesamt nicht viel mehr als rund 700 000 Einwohner hatte. Bis 1917 blieb das Zusammenleben zwischen den Menschen unterschiedlicher Konfessionen einigermaßen friedlich. Das begann sich erst allmählich mit der schon erwähnten Balfour-Deklaration zu verändern, die den Juden eine »nationale Heimstätte in Palästina« garantierte und für die zionistische Bewegung einen ersten großen Erfolg bedeutete. Die schriftliche Erklärung des britischen Außenministers Arthur James Balfour, die er im Namen der britischen Regierung gegenüber Lord Lionel Walter Rothschild machte, wurde auf der Konferenz in San Remo in den Stand internationalen Rechts erhoben, als der Völkerbund mit dem Mandatsauftrag für Großbritannien in Palästina auch die Aufgabe festsetzte, die Juden dabei zu unterstützen, ihre »nationale Heimstätte« Realität werden zu lassen. Wobei festgehalten wurde, »dass nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina […] beeinträchtigen würde.« Doch wie das in der Realität aussehen sollte, war völlig unklar. Es war ein Versprechen, das kaum einzuhalten war. Denjenigen Briten, die sich ernsthaft mit den Texten und der Ideologie der Zionisten auseinandergesetzt hatten, musste klar sein, was »nationale Heimstätte« für diese jüdischen Aktivisten bedeutete: ein Staat. Und nichts anderes. Also auch hier war der Konflikt vorprogrammiert.
Für die Briten ergab sich allerdings ein weiteres Problem, denn sie hatten auch den Arabern gegenüber Versprechen abgegeben. Bevor sie in Palästina einmarschierten, hatten die Briten die Araber glauben lassen, sie würden ihnen Palästina abtreten, als Belohnung für deren Unterstützung im Krieg gegen die Osmanen. So hatte es der britische Hochkommissar in Ägypten, Sir Henry McMahon, in einem Briefwechsel dem Führer des Hejas, Hussain ibn Ali, Sherif von Mekka, versprochen. Doch das Versprechen war bereits im Mai 1916 nichts mehr wert, als Franzosen und Briten sich im sogenannten Sykes-Picot-Abkommen auf die Teilung der Region geeinigt hatten. Dazu kam dann noch, obendrauf quasi, die Balfour-Deklaration. London hatte also zwei Völkern das gleiche Stück Land versprochen. Damit war Palästina ein Krisengebiet, ein Wespennest, in das sich die Briten hineinsetzten, aus freien Stücken muss man sagen. Viele Jahre später waren so manche britischen Beamte und Politiker, die sich mit Palästina auseinandersetzen mussten, überzeugt, dass die Balfour-Deklaration ein Fehler gewesen sei. Da aber war der jüdische Staat fast schon Wirklichkeit geworden.
Die Briten gestanden in den Jahrzehnten ihrer Mandatszeit den Juden so einiges von dem zu, was diese forderten. Sie öffneten das Land für die jüdische Einwanderung, erst in den letzten Jahren vor der Staatsgründung änderte sich diese Politik kurzfristig. Juden war es erlaubt, Land zu erwerben, Landwirtschaft zu betreiben, eine wirtschaftliche und politische Infrastruktur aufzubauen, neue Siedlungen zu gründen. Selbst die Haganah, der Vorläufer der späteren israelischen Armee, wurde von den Briten irgendwann hingenommen. Letztlich bekam die zionistische Führung von den Engländern so gut wie alles, was sie wollte, die Entwicklung war nur zäh, denn in den einzelnen Phasen erhielten Ben Gurion und seine Mitstreiter von der Mandatsverwaltung nie so viel, wie sie verlangten, sondern immer ein bisschen weniger.
Das führte zwar einerseits zur Frustration unter den zionistischen Führungspersönlichkeiten, gleichzeitig aber zeigte sich schon da das politische Prinzip, das den Zionismus bis heute prägt: Man nimmt, was man kriegen kann. Und macht dann weiter und versucht, noch mehr zu bekommen. Als ich vor vielen Jahren den damaligen palästinensischen Premierminister Salam Fayyad in seinem Haus in Ramallah besuchte, klagte er darüber, dass sein Volk nicht von den Zionisten die Politik der kleinen Schritte lernen wollte. Man lehne immer gleich alles ab, wenn das Angebot nicht zu hundert Prozent den eigenen Forderungen entspreche, klagte er. Das Ergebnis sei dementsprechend. Von Verhandlung zu Verhandlung bleibe den Palästinensern immer weniger als Verhandlungsmasse übrig.
Die Zionistische Weltorganisation dagegen hatte damals, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Glück, dass sie mit ihrem Präsidenten Chaim Weizmann in London einen überaus klugen, charmanten und geschickten Diplomaten an der Spitze hatte, der in den allerhöchsten politischen und kulturellen Kreisen verkehrte und im Empire hohe Wertschätzung genoss. Denn als Chemiker hatte er mit seiner Erfindung, Aceton synthetisch herzustellen, wesentlich zum Sieg der Alliierten im Ersten Weltkrieg beigetragen, da man Aceton für die Herstellung eines bestimmten Schießpulvers benötigte.
Weizmann war nicht nur ein kluger Vertreter der zionistischen Sache, nicht nur ein Mann mit der richtigen Mischung aus Freundlichkeit und Impertinenz, um zu bekommen, was er wollte. Er war auch ein Mann, der die Vorurteile der britischen Gesellschaft für sich zu nutzen wusste. Dass die Briten die Juden unterstützten, obwohl viele von ihnen im Kern durchaus antisemitisch waren, hatte viele Gründe. Zwei davon waren wesentlich. Da war zum einen der christlich-protestantische Zionismus, der damals schon ähnlich wie der Zionismus der heutigen Evangelikalen in den USA funktionierte und so engagiert war, dass man das Vorgehen der Zionisten in Palästina erst gar nicht in Frage stellte. Denn die Rückkehr der Juden nach Zion war und ist eng verknüpft mit einer Endzeitvorstellung von der Wiederkehr des Messias.
Zum anderen war da die bei vielen Politikern Großbritanniens tiefsitzende Überzeugung von der sogenannten »jüdischen Weltmacht«, der Mär, dass Juden in einem weltweit umspannenden Netz Politik, Finanzen und Medien in ihrer Gewalt hätten, dass sie vor allem – schon damals dachte man so in London – großen Einfluss in Washington hätten. Weizmann war klug. Anstatt sich über diese antisemitischen Vorurteile zu echauffieren oder gar zuzugeben, dass er Präsident einer Organisation war, die gerade mal so stabil war wie ein Kartenhaus und deren Macht sich allein daraus speiste, dass viele glaubten , sie hätte Macht, nutzte er lieber die (Ehr-)Furcht vor dem »Weltjudentum«, um seine Forderungen und Ziele durchzusetzen. Selbst ein so hoch gebildeter Mann wie Winston Churchill glaubte bis zu einem gewissen Grad an die Macht der Juden!
Das bedeutete aber nicht, dass die Zionisten um David Ben Gurion in Palästina immer nur leichtes Spiel mit der britischen Mandatsmacht gehabt hätten. Es gab Antisemiten unter den britischen Offizieren, die ihre Abneigung gegen Juden nicht versteckten. Mit den wachsenden Spannungen zwischen Juden und Arabern, mit der zunehmenden Gewalt auf beiden Seiten befanden sich die Briten als Mandatsmacht eigentlich zwischen den Fronten. Sie versuchten daher immer wieder eine gewisse »Gerechtigkeit« und Gleichbehandlung aufrechtzuerhalten, doch der Mandatsauftrag zwang sie geradezu, Position zu beziehen. Den arabischen Nationalisten galten die Briten damit als parteiisch und waren mindestens so verhasst wie die Juden. So wurden auch die Briten zu Opfern arabischen Terrors. Jüdischer Terror gegen die Mandatsmacht kam erst in den Vierzigerjahren durch nationalistische Terrorgruppen wie Lechi und Etzel auf. So verübte der Irgun, wie Etzel auch genannt wurde, unter der Führung von Menachem Begin am 22. Juli 1946 einen Bombenanschlag auf das luxuriöse King David Hotel in Jerusalem. Dort waren ein Teil der britischen Mandatsregierung und der Generalstab der britischen Armee für Palästina untergebracht. Der Anschlag war verheerend, die genaue Zahl der Opfer schwankt je nach Quelle, die Rede ist von mindestens 91 Toten, wenn nicht mehr. Doch zuvor, in den 1930er-Jahren, gelang es Ben Gurion und anderen Zionistenführern, den Kampf gegen den arabischen Terror als einen gemeinsamen Kampf darzustellen. Die Araber kämpften schließlich »gegen die Europäer«, und das wären ja sowohl die Briten wie auch die eingewanderten Juden, so verkauften das die Zionisten den Briten.
Nein, völkerrechtlich gehörte Palästina den palästinensischen Arabern damals nicht. Aber sie besaßen Land. Und so wie es im 19. Jahrhundert bereits begonnen hatte, setzte sich der Kauf von Grund fort, da immer mehr Juden aus Europa einwanderten. Viele kamen aus ideologischer Überzeugung, sie waren Zionisten. Aber es kamen auch Menschen, die auf der Flucht waren, beispielsweise nach den grauenhaften Pogromen in der Ukraine der 1920er-Jahre mit schätzungsweise 100 000 bis 200 000 ermordeten Juden.
Und erst recht in den Dreißigerjahren, als Hitlers nationalsozialistisches Deutschland sich daran machte, Juden systematisch zu verfolgen. Die Folge: Juden brauchten Platz, sie brauchten Land. Und so hatten die Zionisten einen Grund mehr, Land aufzukaufen, das war ja das erklärte Ziel: mehr Juden und mehr Land in Palästina. Auch Tel Aviv, die erste hebräische Stadt, die 1909 gegründet wurde, wuchs und wuchs. Für die britischen Soldaten war Tel Aviv eine wunderbare, europäisch anmutende Stadt, in der man sich bestens vergnügen konnte.
Mit der wachsenden Zahl an jüdischen Einwanderern formierte sich zunehmend die arabische Nationalbewegung, der Widerstand der Araber gegen die Juden wuchs. Sie begannen allmählich zu begreifen, was da auf sie zurollte. Sie würden wieder einmal nicht die Herren im eigenen Haus sein. Ja, es gab anfänglich die Vorstellung, man könne miteinander in einem Staat leben. Eine Zeitlang stand sogar die Idee einer gemeinsamen regierungsähnlichen Verwaltung im Raum, in der Juden und Araber gleichberechtigt agieren würden, doch das wurde von den arabischen Politikern und letztendlich auch von den Zionisten abgelehnt.
Der Hass der Araber auf die Juden wuchs also. Anfang der Zwanzigerjahre kam es zu ersten Massakern, die Gewalttätigkeiten insbesondere in Jaffa 1921 ließen bei der jüdischen Bevölkerung allmählich das Gefühl aufkommen, dass man vielleicht doch nicht miteinander leben könne. Während der Unruhen in Jaffa wurde auch der berühmte Schriftsteller Josef Chaim Brenner getötet. Für die zionistische Bewegung war das, wie schon die Ermordung von Joseph Trumpeldor 1920 in der Siedlung Tel Chai, ein Schock, aber gleichzeitig auch ein Anstoß, die eigenen Bemühungen zu intensivieren. Trumpeldor hatte die sozialistische Bewegung des Zionismus mitgegründet und sich bereit erklärt, den Schutz der Siedlungen in Galiläa zu organisieren. Dort wurde er bei einer Schlacht zur Verteidigung von Tel Chai von Schiiten aus dem Libanon getötet. Berühmt wurden seine angeblich letzten Worte: »Es macht nichts, es ist gut, für unser Land zu sterben.« Sie wurden zum Motto der Bewegung in jenen Jahren.
Die Anschläge, Angriffe und Massaker Anfang der Zwanzigerjahre waren allerdings nur der Auftakt für Schlimmeres. Ruhe oder gar Verständigung zwischen Juden und Arabern wurde immer weniger möglich.
Hebron 1929. Am 24. August kam das Gerücht auf, die Juden wollten die Kontrolle über den Tempelberg mit dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee übernehmen, ein Gerücht, das bis heute immer wieder für gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern sorgt. Die arabische Menge zog durch die Straßen von Hebron und machte sich daran, die Juden der Stadt, deren Familien dort zum Teil seit über 800 Jahren ansässig waren, zu ermorden. Am Ende des Tages hatten sie 69 Juden abgeschlachtet. Man darf allerdings nicht vergessen, dass viele Juden das Massaker überlebten, weil arabische Nachbarn sie versteckten. Dennoch, Hebron 1929, das ist bis heute einer der schwärzesten Tage in der Geschichte des Zionismus. Natürlich kam es zu jüdischem Gegenterror und Vergeltung. Und so richtig ruhig konnte es im ganzen Land nicht mehr werden. Schließlich kam die große arabische Revolte von 1936 bis 1939, sie war keine Überraschung mehr. Der Aufstand begann in dem Jahr, als 60 000 jüdische Immigranten im Land ankamen, so viele wie nie zuvor. 1935 lebten bereits rund 320 000 Juden in Palästina, die Einwanderungspolitik der Briten hatte dies möglich gemacht.
Die Araber wollten das nicht länger hinnehmen. Ganz vorne bei der Revolte mit dabei: Der Mufti von Jerusalem, Haj Amin al-Hussaini, der sich an die Spitze der nationalistischen arabisch-palästinensischen Bewegung setzte, derselbe al-Hussaini, der während des Zweiten Weltkrieges in Berlin Adolf Hitler traf und sich ihm als Verbündeter im Kampf gegen die Juden anbot.
Die für die palästinensischen Araber entsetzlich zynische Wirklichkeit war aber auch, dass viele bekannte arabische Nationalisten ihr Land weiterhin bereitwillig an Zionisten verkauften. Diese führten genau Buch, wer ihnen Palästina »überließ«. Unter diesen heuchlerischen Nationalisten waren Bürgermeister von Jerusalem, Jaffa und Gaza, die für gutes zionistisches Geld ihr Stück von Palästina den »verhassten Zionisten« überließen. Sie standen nicht allein. Es gab noch eine Reihe anderer nationalistischer Führungspersönlichkeiten, die an die Zionisten verkauften, sogar der Vater von Mufti Amin al-Hussaini war darunter. Heute würden die Palästinenser sie »Kollaborateure« nennen. Den Zionisten, die phasenweise mehr Land angeboten bekamen, als sie sich finanziell leisten konnten, war das natürlich herzlich egal. Und auch wenn das ihren Absichten entgegenkam, so verachteten sie doch solche arabischen Führer, die bereit waren, ihr nationales Interesse zu verraten.
Das Vorgehen der zionistischen Bewegung war schon unter Theodor Herzl klar vorgegeben. Das Land kriegerisch erobern war ja nicht möglich. Die Juden hatten keine Macht, sie hatten keine Armee, sie hatten nichts. Was blieb, war kaufen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde mit Hilfe von Theodor Herzl der JNF , der Jüdische Nationalfonds, der auch als KKL (Keren Kayemet leYisrael) bekannt ist, gegründet. Dessen Aufgabe war es, weltweit Spenden von Juden einzusammeln, um Land in Palästina zu kaufen. Die sogenannte »Puschkebox«, ein rechteckiger Metallbehälter mit der israelischen Flagge und einer Landkarte von Eretz Jisrael vorne drauf, in den man Münzen und Geldscheine einwarf wie bei einem Sparschwein, gehörte bis in die Sechziger- und Siebzigerjahre des 20. Jahrhundertszum Hausratsinventar jeder jüdischen Familie in der Diaspora.
Das Vorgehen der Zionisten war legal, sogar die Vertreibung der Pächter mit Hilfe der osmanischen und später britischen Behörden, die manchmal auch gewaltsam vor sich ging, war »legal«. Oftmals wurden den Bauern Kompensationszahlungen oder ein anderes Stück Land von den Briten angeboten, aber viele blieben mit nichts zurück. Sowie der Kauf besiegelt war, galt übrigens ein eisernes Gesetz. Das Grundstück durfte nie wieder an Nichtjuden verkauft werden. Doch wer glaubt, dass die Zionisten schon bald ganz Palästina aufgekauft hätten, irrt. In seinem eindrucksvollen Buch Es war einmal ein Palästina , das die Geschichte der Mandatszeit ganz wunderbar erzählt, zeigt der Historiker und Journalist Tom Segev, dass den Juden trotz aller Käufe am Ende der britischen Herrschaft nicht mehr als zwei Millionen Dunam, das sind etwa 2000 Quadratkilometer, gehörten. Das machte damals gerade mal ein Zehntel des Landes aus.
Dass viele Bauern durch den Verlust ihres gepachteten Landes plötzlich vor dem Nichts standen, befeuerte allerdings die arabische Nationalbewegung. Frustration, Hass und Armut bescherten ihr viele Anhänger. Dennoch muss man immer wieder betonen, dass die arabisch-palästinensischen Landbesitzer damals nicht zum Verkauf gezwungen wurden. Sie erhielten von den Juden schlicht sehr gute Angebote.
Die Lage in Palästina wurde für alle, die dort lebten, immer unerträglicher, überall herrschten Gewalt und Angst vor Attentaten. Araber und Juden standen sich immer unversöhnlicher gegenüber. Die Zahl der Attentate ging allein in den Dreißigerjahren in die Tausende, mit Hunderten Toten und Verletzten auf beiden Seiten. Doch selbst in den gewaltsamsten Perioden gingen die Verkäufe arabischen Grundbesitzes weiter. In den Dreißigerjahren entstanden weit über hundert neue jüdische Siedlungen und Kibbutzim.
Im Juli 1937 legte die »Palestine Royal Commission« ihren offiziellen Bericht zu Palästina vor. Sie wurde und wird bis heute allgemein nur Peel-Kommission genannt, nach ihrem Vorsitzenden Lord William Peel. Für die Zionisten war sie ein Geschenk. Die Kommission hatte über hundert Zeugen zur Lage in Palästina befragt, Briten, Araber und Juden. Und sie kam zu der Überzeugung, dass eine gemeinsame Zukunft von Juden und Arabern so gut wie unmöglich geworden sei. Für die arabischen Führer waren viele Passagen des Berichts unannehmbar, allerdings war er auch für die Zionisten nicht unproblematisch. Doch der Grundgedanke des Berichts versprach die Erfüllung des zionistischen Traums. Die Peel-Kommission schlug nämlich zum ersten Mal in der Geschichte des jüdisch-arabischen Konflikts vor, das Land zu teilen. Und sie sprach zum ersten Mal offiziell von der Möglichkeit eines »jüdischen Staates«, nicht mehr nur einer »jüdischen Heimstätte«, wie es noch in der Balfour-Deklaration geheißen hatte. Im Laufe der Jahre war allen Beteiligten längst klar geworden, worum es den Zionisten ging, selbst wenn diese ihre Vorstellungen den Briten gegenüber sehr vorsichtig formulierten, um die wahren Absichten ein wenig zu verschleiern und die diplomatischen Erfolge on the ground nicht zu gefährden.
Die vorgeschlagene Teilung des Landes sah zwangsläufig auch einen Bevölkerungstransfer vor. Für Ben Gurion war der Teilungsplan der Beginn einer Entwicklung, die schlussendlich das ganze Land Israel einschließen sollte. Das war das eigentliche Ziel, manche Zionistenführer sprachen es offen aus, andere eher verklausuliert. Menachem Ussishkin, langjähriger Führer des Jüdischen Nationalfonds, träumte beispielsweise sogar von einem Transfer der Araber aus Palästina in den Irak. Bereits zu Beginn der 1930er-Jahre gab es einen Ausschuss der Zionisten, der sich mit der Frage eines Transfers auseinandersetzte, wie Tom Segev darstellt: »Hier wurde unter anderem diskutiert, ob der Transfer zwangsweise oder freiwillig erfolgen sollte. Doch selbst ›freiwilliger‹ Transfer bezog sich nicht auf den Willen des Einzelnen, sondern auf eine Vereinbarung zwischen Staaten.« Wie Ben Gurion selbst zu der Idee des Transfers stand, ist umstritten, allerdings gibt es Hinweise, dass auch er gegen die Idee eines Transfers der Araber prinzipiell nichts einzuwenden gehabt hätte.
Was schon in der Zeit vor der Gründung des Staates Israel überdeutlich wird: Die Themen von heute waren auch die Themen von damals. Viele Fragen, viele Probleme, die damals entstanden, sind bis heute aktuell, sie sind nicht gelöst oder höchstens »teilgelöst« oder aber führen zu noch mehr Problemen und noch mehr Leid.
Bleibt die Frage, ob Palästina völkerrechtlich den Juden gehört hat. Die Antwort ist klar: Nein, natürlich auch nicht, doch im Mandatsauftrag der Briten findet sich ein interessanter Satz: »Whereas recognition has thereby been given to the historical connection of the Jewish people with Palestine and to the grounds for reconstituting their national home in that country«. *** Hier sind zwei wichtige Aspekte angelegt, die der Siedlerbewegung Gush Emunim als »Beweis« dienen, dass ihr Anspruch auf das Westjordanland rechtmäßig sei: Der Begriff »historische Verbindung«, »historical connection«, zu dem Land und vor allem die »Wiederherstellung« der nationalen Heimstätte. »Reconstituting« – dieser Begriff könnte so interpretiert werden, dass die Juden das Land schon einmal »besaßen« und immer noch rechtmäßige Besitzer wären. Dass sie sozusagen ein paar Jahrtausende weg gewesen wären und es jetzt wieder rechtens übernehmen dürften, selbst wenn das Mandat betonte, dass dies nicht auf Kosten anderer geschehen dürfte. Die Siedlerbewegung heute meint natürlich das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan.
Doch darüber hinaus gab und gibt es noch einen wichtigen Aspekt, aus dem sich der Anspruch auf einen eigenen Staat aus der Sicht der Zionisten ableiten ließ und lässt, gemeint ist die Verfolgung des jüdischen Volkes, damals vor allem in Europa. Während die religiös-metaphysische Verbindung mit Eretz Jisrael den Rest der Welt nicht interessierte – man mag an die göttliche Verheißung für das jüdische Volk glauben oder auch nicht –, so ist die Verfolgungsgeschichte ein ganz anderes Thema, das nach 1945, nach dem Holocaust, noch wesentlich virulenter war als schon zuvor und die internationale Staatengemeinschaft allein schon aus moralischen Gründen geradezu zwang, der Entstehung des Staates Israel zuzustimmen. Wobei die Geschichte des britischen Mandats sehr deutlich macht, dass der Staat Israel wahrlich nicht »wegen Auschwitz« entstanden ist. Er war schon lange vor der Shoah im Werden.
Der Teilungsplan der Peel-Kommission fand seine Fortsetzung zunächst in dem UN -Teilungsplan, der 1947 mehrheitlich angenommen wurde und damit einen völkerrechtlich bindenden Schlusspunkt unter die Balfour-Deklaration setzte. International war nun endgültig anerkannt: Es soll, es kann, es muss einen jüdischen Staat geben. Nun hatten aber auch die Palästinenser völkerrechtlich ebenso bindend ein Anrecht auf einen eigenen Staat in Palästina. Der Teilungsplan machte den Anspruch beider Völker auf einen Staat international legitim. Endgültig. Und schließlich steht aufgrund einer UN -Charta, in der knapp zwei Jahrzehnte später, im Jahr 1966, das Selbstbestimmungsrecht der Völker als völkerrechtlich bindend anerkannt wurde, Juden wie Palästinensern auch das Recht der Selbstbestimmung zu. Wie dies umzusetzen wäre, vor allem, ob es heute überhaupt noch eine Chance für die Zwei-Staaten-Lösung gibt – das ist die alles entscheidende Frage des Konflikts.
Während bis zur Staatsgründung Israels dem Vorgehen in Sachen Landübernahme im Prinzip nur eine Möglichkeit zur Verfügung stand, so änderte sich das grundlegend nach der Staatsgründung 1948. Israel verabschiedete schon bald nach dem gewonnenen Krieg ein Gesetz, das sogenannte Abwesenheitsgesetz. Es erlaubte einer zu diesem Zweck gegründeten staatlichen Treuhandgesellschaft, Immobilien von Menschen, die nicht im Staat Israel lebten, aber dort Besitz hatten, zu konfiszieren. Dies war und ist ein problematisches Gesetz, denn die rund 750 000 palästinensischen Flüchtlinge, auf die es sich bezog, konnten und können ja nicht zurück nach Israel. Selbst wenn sie es wollten, der Staat verwehrt ihnen den Zugriff auf ihren eigenen Besitz.
Noch komplizierter verhält sich die Lage in den Gebieten, die Israel 1967 erobert hat. Auf der völkerrechtlichen Ebene gibt es zwei Territorien, die unterschiedlich zu betrachten sind, wenn man Gaza, aus dem Israel 2005 abzog, einmal außer Acht lässt: Die Golanhöhen die bis 1967 zu Syrien gehört haben, und das Westjordanland mit Ostjerusalem, das zu Jordanien gehörte, bis sich König Hussein 1988 von dem Gebiet offiziell lossagte und es den Palästinensern überließ. Israel hat Jerusalem 1980 und die Golanhöhen 1981 annektiert, das wurde weltweit natürlich nicht anerkannt. Doch 2019 tat es der damalige US -Präsident Donald Trump doch. Er erkannte Israels Annexion des Golans an. Das hat zwar völkerrechtlich keine Bedeutung, aber machtpolitisch durchaus. Mal abgesehen davon, dass selbst diejenigen Israelis, die vor etlichen Jahren für eine Rückgabe der Golanhöhen plädierten, inzwischen aufgrund des Bürgerkrieges in Syrien froh sind, dass dieses heikle Grenzgebirge mit seinen strategischen Vorteilen in israelischen Händen ist und nicht in den Händen des IS , der Al-Qaida, Al-Nusra oder von Präsident Assad, wird sich erst zeigen müssen, ob diese Annexion jemals international akzeptiert wird. Und ob es jemals in Damaskus eine stabile Regierung geben wird, mit der Israel einen Friedensvertrag ähnlich wie mit Ägypten und Jordanien aushandeln könnte.
Ganz anders ist die Lage im Westjordanland. Wie schon beschrieben, ist der völkerrechtliche Status zumindest aus israelischer Sicht umstritten. Doch längst wird das Westjordanland von der internationalen Staatengemeinschaft als Territorium eingestuft, auf dem einmal der palästinensische Staat existieren soll. Aber wie schon zur Mandatszeit, so sieht es auch jetzt wieder danach aus, als würden die entscheidenden Staaten, damals Großbritannien, heute die USA , eine Lösungsformel beschwören, an die so gut wie niemand mehr glaubt und die vor allem wegen der politischen Führung in Palästina und Israel gänzlich unrealisierbar ist. Damals war das irgendeine Form von »nationaler Heimstätte« für die Juden, heute ist es die Zwei-Staaten-Lösung.
Anders als in der prästaatlichen Ära ist Israel längst dazu übergegangen, Land zu konfiszieren. Dafür werden unterschiedliche Gründe angeführt, militärische und sicherheitspolitische beispielsweise. Immer wieder werden Palästinenser enteignet, sie verlieren ihren Grund, ihr Haus, und können nur selten etwas dagegen tun. Auch Siedlungen werden immer wieder auf privatem palästinensischen Grund errichtet. Je nach Sachlage entscheiden die Gerichte in Israel dann, ob diese Siedlungen bleiben dürfen oder nicht. Wie oben bereits geschildert, müssen sogenannte illegale Siedlungen manchmal wieder abgerissen werden, manchmal können sie bleiben, manchmal wird der illegale Bau im Nachhinein genehmigt. Wenn man kein Jurist ist, fällt es schwer, den Überblick zu behalten und zu verstehen, warum die einen Landenteignungen genehmigt werden und andere nicht. Für die Palästinenser ist das einerlei. Sie haben häufig das Nachsehen.
Am Anfang der tragischen Geschichte zwischen Juden und Palästinensern stand aber eben nicht Landraub, das war über Jahrzehnte hinweg nicht das Vorgehen des Yishuvs, der prästaatlichen Siedlung, gewesen. Auch einen klassischen Eroberungskrieg gab es nicht, zumindest nicht bis 1947/48.
Womit zumindest zum Teil die Frage beantwortet ist, ob Israel als Kolonialstaat anzusehen ist, wie das im heutigen Diskurs immer häufiger geschieht. In der Ausgabe Nr. 136 von Das Parlament des deutschen Bundestages definiert die Beilage zum Thema »Kolonialismus« diesen wie folgt:
»Ein Land erobert Gebiete in einem anderen Land. Meistens liegt das eroberte Land in einem anderen Teil der Welt. Und die Menschen dort haben eine andere Lebens-Weise als die Eroberer. Die Eroberer übernehmen die Herrschaft über die Einwohner. Manche Gebiete nehmen sich die Eroberer mit Gewalt.«
Und dann heißt es zur Frage, warum die Kolonialmächte so gehandelt haben:
»Sie wollten mehr [Hervorhebung durch den Autor] Gebiete besitzen […] Sie wollten wertvolle Dinge aus den Gebieten haben. Zum Beispiel Gold, Gewürze oder Farb-Stoffe. Sie wollten ihre Lebens-Weise verbreiten, zum Beispiel die christliche Religion. Sie wollten Waren an die Kolonie verkaufen. Denn dadurch konnte man viel Geld verdienen.«
Zur Lage der Einheimischen heißt es unter anderem:
»Die Einheimischen waren nach der Eroberung nicht mehr frei. Sie wurden unterdrückt. Sie mussten für die Kolonial-Macht arbeiten. Manche hat man zu Sklaven gemacht.«
Die zentralen Merkmale dieser Definitionen treffen nicht auf die Entstehungsgeschichte des Staates Israel zu. Auch deshalb nicht, weil Kolonialismus stets von mächtigen Staaten ausging, die ihren Machtbereich erweitern wollten. Im Falle Israels dagegen war das der vielleicht wesentlichste Aspekt der Zionismus: So sehr er eine Spielart des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts mit all seinen hässlichen Zügen war, so sehr sich viele Zionisten gegenüber den einheimischen Arabern – und palästinensischen Juden übrigens auch – als überlegen empfanden, weil sie Europäer waren und eine »europäische Bastion« im Nahen Osten errichten wollten, so waren sie doch alle Angehörige eines Volkes, das seit 2000 Jahren verfolgt wurde. Der Zionismus war also auch und vor allem eine Befreiungsbewegung und für die jüdische Welt auch eine Rettungsaktion. Ein Weg, um zu überleben. Auschwitz rechtfertigte den Zionismus im Nachhinein, die Shoah bestätigte die Zionisten in dem, was sie schon Ende des 19. Jahrhunderts begriffen hatten. Dass Europa ein mörderischer Kontinent für Juden ist.
Natürlich gibt es noch immer Gegner Israels, die behaupten, die Juden seien keine Nation, nicht einmal ein Volk, sondern lediglich eine Glaubensgemeinschaft, eine Religion. Das ist mindestens ebenso ignorant wie die Behauptung »so etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht«. Das sagte 1970 die damalige israelische Premierministerin Golda Meir. Bis heute existieren in der israelischen extremen Rechten Stimmen, die das genauso sehen. Doch wer hat das Recht, einem Volk seine Selbstdefinition abzustreiten?
Wenn also die Entstehungsgeschichte Israels nicht den klassischen Definitionen des Kolonialismus entspricht, gilt das bis heute? Im selben Zeitraum, in dem ich den 2013 verstorbenen Yoram Kaniuk getroffen hatte, saß ich eines Tages mit Avishai Margalit, einem renommierten Professor für Philosophie im Van Leer Jerusalem Institute, auf einen Kaffee zusammen. Schon damals brachte es der bekannte Befürworter der israelischen »Peace Now«-Bewegung auf den Punkt: Die Besiedlung Palästinas zum Zwecke der Staatsgründung sei eine gerechte Sache gewesen, eine just cause . Doch die Besiedlung der besetzten Gebiete, das sei etwas anderes, sagte Margalit, denn es gebe bereits den Staat Israel, es gebe das Staatsgebiet, selbst wenn die Grenze noch nicht international anerkannt sei (und bis heute nicht ist. Die sogenannte Grüne Linie sind die Waffenstillstandslinien von 1949). Das Gebiet, das man sich gegen internationales Recht einverleibe, sei nicht mehr notwendig, wie er damals sagte.
So wie Margalit dachten und denken fast alle großen Figuren der israelischen Protestbewegung. Der inzwischen verstorbene Schriftsteller Amos Oz dachte so, ebenso der Autor David Grossman und viele andere. Dabei ist ihnen natürlich ein wichtiger Punkt bewusst, der Ausdruck der tiefen Widersprüchlichkeit und Ambivalenz des Zionismus ist: Als säkulare Bewegung begonnen, ist der Zionismus dennoch eine Ideologie, die das religiöse Element von Anfang an in sich getragen hat, allein dadurch, dass das jüdische Volk nach Zion zurückkehrte, in das Land, das Gott ihm »verheißen« hatte. Der Staat Israel ist, wie schon beschrieben, eben nicht einfach ein Staat, in dem das Leben zwar nach dem jüdischen Kalender geregelt ist und in dem sehr viele fromme Juden leben, der aber letztlich sehr irdisch und bislang auch säkular-demokratisch war. Der Staat ist gleichzeitig eine metaphysische Entität, die die Ankunft des Messias vorbereitet, wie Raw Kook dies interpretiert hatte. Israel ist ganz real und transzendiert dennoch. Der Staat sollte ein »Or leGoyim« sein, ein »Licht für die Welt«, ein Begriff des Propheten Yeshayahu, den bereits Ben Gurion auf den Staat Israel ummünzte.
Aber zugleich ist Israel Ausdruck des Partikularismus-Gedankens im Judentum. Die Definition des Jüdischen ist ohne Partikularismus nicht denkbar. Das Anderssein ist eine Voraussetzung, die dem Jüdischen innewohnt. Es ist eine Sache, wenn die nichtjüdische Welt Juden immer als »fremd« betrachtet und dafür verfolgt und vergast hat. Eine andere ist es, wenn Juden sich selbst als anders sehen wollen, weil sie dies als Grundlage ihrer Identität betrachten. Gleichzeitig gibt es im Jüdischen natürlich auch den Gedanken des Universalismus. Die noachidischen Gebote zeugen davon, aber auch die kabbalistische Vorstellung von »Tikkun Olam«, der »Heilung der Welt«. Dahinter steckt die Idee, dass die Welt bei ihrer Erschaffung beschädigt wurde, weil das Gefäß der Welt, in das Gott seinen göttlichen Atem hineingehaucht hat, zu zerbrechlich war, um den göttlichen Geist aufzunehmen. Das Gefäß zerbarst in tausend Stücke, in tausend Funken. Deshalb ist unsere Welt so unvollkommen. Seitdem ist es die Aufgabe jedes einzelnen Juden, die göttlichen Funken wieder einzusammeln durch die Mitzvot, die Einhaltung der 613 Ge- und Verbote im Judentum, um so die Welt zu heilen. Das säkulare Judentum hat sich ebenfalls der Idee des »Tikkun Olam« verschrieben, wenngleich natürlich in einer verweltlichten Form. Dazu gehören Philanthropie, aber mehr noch, der aktive Einsatz für die Menschenrechte und für verfolgte Minderheiten, wie das heute besonders deutlich im US -Judentum zu sehen ist. Es waren insbesondere jüdische Weiße, die beispielsweise Seite an Seite mit Martin Luther King für die Bürgerrechte der Schwarzen gekämpft haben. Doch auch im Europa nach der Shoah findet man diesen Einsatz immer wieder. So hatte etwa die jüdische Hilfsorganisation »La Benevolencija« im belagerten Sarajevo in den 1990er-Jahren allen Bürgern mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, kulturellen Veranstaltungen und anderem durch den Krieg geholfen.
Diese beiden Formen des Judentums finden sich auch im Staate Israel wieder. Auf der einen Seite die Universalisten, auf der anderen die Partikularisten, die Ersteren vorwerfen, nicht mehr wirklich jüdisch zu sein, da sie die Essenz des Judentums verrieten und es ihnen wichtiger sei, dass Israel eine Demokratie ist und nicht ein jüdischer Staat. Für die Extremsten unter den Partikularisten ist ein »jüdischer und demokratischer Staat« gar ein Widerspruch. Sie wollen die Absonderung total machen, sie träumen von der Wiederherstellung eines Staates, der nicht mehr nach menschlichen, sondern nach den göttlichen Gesetzen regiert wird. Einen halachischen Staat also.
Das Siedlungsprojekt im Westjordanland ist, wie schon gezeigt, ein Weg zu diesem Staat, zu einem anderen Israel, das nichts mehr mit dem zu tun hätte, was sich die meisten Juden, die nach Palästina kamen, vorstellten. Der Riss, der seit Jahrzehnten durch die israelische Gesellschaft geht und immer tiefer wird, ist ohne diese religiös aufgeladene Komponente nicht zu begreifen. Ein Kompromiss mit den Palästinensern ist da nicht mit inbegriffen, ganz abgesehen von der Frage, ob die Palästinenser in Gänze wirklich bereit wären, einen Staat Israel zu akzeptieren und mit ihm Seite an Seite in Frieden zu leben. Der Unterschied zwischen der Besiedlung des Westjordanlands und der Besiedlung Palästinas zu Beginn des 20. Jahrhundert ist unverkennbar. Letztere war ein realpolitischer Auftrag einer nationalen Befreiungsbewegung, wenn man so will. Nach 1967 kam ein »göttlicher Auftrag« hinzu. Realpolitische Besitzverhältnisse spielen im Denken der extremen Partikularisten keine Rolle, denn für sie ist klar, wem das Land gehört, ganz egal, was irgendwelche Dokumente aus der osmanischen, britischen oder jordanischen Zeit dazu sagen. Den Anspruch auf das gesamte Land hat die Koalitionsvereinbarung der sechsten Regierung von Premier Benjamin Netanyahu, die am 1. November 2022 gewählt wurde, schriftlich festgehalten, so heißt es da zum Beispiel: »Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel«.
Es geht um alles, das hat selbst David Ben Gurion gewusst. Es geht um zwei Völker und ihr jeweiliges »totales Recht« auf alles. Es ist ein Alles-oder-Nichts, ein Kampf auf Leben und Tod im ganz realen, aber auch im metaphorischen Sinn. Möglicherweise wird die Frage, wem Palästina beziehungsweise Israel gehört, auf dem Schlachtfeld geklärt. Oder durch die normative Kraft des Faktischen. Oder durch ein Wunder. Der Konflikt um dieses kleine Stück Land ist noch lange nicht vorbei.
*** »In Anbetracht dessen wird die historische Verbindung des jüdischen Volkes mit Palästina und die Gründe für die Wiederherstellung ihrer nationalen Heimstätte in diesem Land anerkannt.«