KAPITEL 4

Wie du alle deine Träume verwirklichst

Stell dir vor, es ist zwei Uhr in der Nacht, und du sitzt immer noch wach auf dem Sofa und starrst mit glasigem Blick und benebeltem Hirn den Fernseher an. Wieso? Das weißt du nicht. Aufgrund der Trägheit ist es einfach leichter sitzenzubleiben und weiterzuglotzen, als aufzustehen und ins Bett zu gehen. Also glotzt du weiter.

Perfekt. So kriege ich dich nämlich: wenn du dich im Angesicht deines Schicksals apathisch und verloren und völlig passiv fühlst. Niemand, der am nächsten Tag irgendwas Wichtiges vorhat, hockt um zwei Uhr nachts vor der Glotze. Niemand braucht Stunden, um sich vom Sofa aufzuraffen, es sei denn, er steckt in einer inneren Hoffnungskrise. Und genau diese Krise möchte ich ansprechen.

Ich tauche auf dem Bildschirm auf. Ich bin ein energiegeladener Wirbelwind. Die Farben sind grell und grässlich, die Soundeffekte billig. Ich schreie dich fast an. Aber dennoch wirkt mein Lächeln irgendwie leicht und entspannt. Ich spende Trost. Es ist, als hätte ich Augenkontakt mit dir, und nur mit dir:

»Was, wenn ich behaupte, ich könnte alle deine Probleme lösen?«, sage ich.

Pfff, ernsthaft?, denkst du. Du kennst nicht mal die Hälfte meiner Probleme.

»Was, wenn ich behaupte, ich könnte alle deine Träume wahr machen?«

Na klaaar, und ich bin die Zahnfee, Alter.

»Hör mal, ich weiß, wie du dich fühlst«, sage ich.

Keiner weiß, wie ich mich fühle, versicherst du dir reflexhaft und bist überrascht, wie schnell diese Reaktion kommt.

»Ich habe mich auch einst verloren gefühlt«, sage ich. »Ich fühlte mich allein, isoliert, hoffnungslos. Ich habe auch nachts ohne bestimmten Grund wachgelegen und mich gefragt, welche unsichtbare Kraft wohl zwischen mir und meinen Träumen steht. Und ich weiß, dass du dich auch so fühlst. Als ob du irgendwas verloren hast, du weißt nur nicht, was.«

In Wirklichkeit sage ich das alles deshalb, weil jeder so etwas durchlebt. Es gehört zur conditio humana. Wir alle fühlen uns machtlos gegenüber dem uns innewohnenden, unsere Existenz begleitenden Schuldgefühl. Wir alle leiden und werden mehr oder weniger zu Opfern, besonders wenn wir jung sind. Und wir alle versuchen unser Leben lang dieses Leiden wiedergutzumachen.

Und in den Lebensphasen, wo es nicht so gut läuft, verzweifeln wir daran.

Aber wie die meisten Menschen, die in Schwierigkeiten stecken, bist du so tief in deinen Schmerz abgetaucht, dass du vergessen hast, wie alltäglich Schmerz ist, und dass dein Trübsal nicht einzigartig ist – im Gegenteil, es ist universell. Und weil du das vergessen hast, kommt es dir so vor, als spräche ich direkt zu dir, als könnte ich irgendwie durch Zauberkraft in deine Seele blicken und dir den Inhalt deines Herzens vorlesen. Da richtest du dich auf und wirst aufmerksam.

»Denn«, behaupte ich erneut, »ich habe die Lösung aller deiner Probleme. Ich kann alle deine Träume wahr machen.« Jetzt zeige ich mit dem Finger auf dich, und mein Finger wirkt auf deinem Fernsehbildschirm riesig. »Ich besitze alle Antworten. Ich besitze das Geheimnis immerwährender Glückseligkeit und ewigen Lebens, und es ist …«

Was nun kommt, ist so aberwitzig, so lächerlich, so absolut pervers und zynisch, dass du denkst, es könnte glatt wahr sein. Das Problem ist, dass du mir glauben willst. Dass du mir einfach glauben musst. Ich stehe für die Hoffnung und Erlösung, die sich dein Fühlhirn so verzweifelt ersehnt, die es braucht. Also kommt dein Denkhirn langsam zu dem Schluss, dass meine Idee so durchgeknallt ist, dass sie womöglich funktioniert.

Im weiteren Verlauf des Werbespots haut dein existenzielles Bedürfnis nach irgendeinem Sinn sämtliche psychischen Abwehrmechanismen zu Klump und lässt mich hinein. Schließlich habe ich doch bewiesen, dass ich deinen Schmerz verstehe, dass ich den Hintereingang zu deiner verborgenen Wahrheit kenne, die wie eine tiefe Ader dein Herz durchläuft. Du merkst, dass ich dich mit meinen großen weißen Zähnen und lauten Appellen getroffen habe: Ich war so ein Stück Scheiße wie du … und habe den Ausweg gefunden. Komm mit.

Ich mache weiter. Ich bin gerade in Schwung. Die Kameraperspektive wechselt hin und her und zeigt mich mal seitlich, mal frontal. Plötzlich habe ich ein Studiopublikum vor mir. Alle hängen an meinen Lippen. Eine Frau weint. Einem Mann steht der Mund offen. Und dir jetzt auch. Ich durchschaue deine Scheiße. Ich verspreche dir dauerhafte Erfüllung, du Wichser. Ich fülle jede Lücke, stopfe jedes Loch. Melde dich einfach an, es ist ein Schnäppchen. Was ist dir dein Glück wert? Was ist dir Hoffnung wert? Mach schon, Wichser.

Melde dich an. Noch heute.

Da greifst du zum Handy. Steuerst die Website an. Gibst die Ziffern ein.

Wahrheit und Erlösung und immerwährendes Glück. Für dich. Das steht dir bevor. Bist du bereit?

 

WIE MAN EINE EIGENE RELIGION GRÜNDET

Einführung in eine bewährte Methode zur Erlangung von immerwährender Glückseligkeit und ewiger Erlösung (mit Geld-zurück-Garantie)

Willkommen und herzlichen Glückwunsch: Der erste Schritt zur Verwirklichung all deiner Träume ist gemacht! Am Ende dieses Kurses wirst du alle Probleme deines Lebens gelöst haben. Du wirst in Fülle und Freiheit leben. Freunde und Familienmitglieder werden dich bewundern. Garantiert!*

Es ist so leicht, dass jeder es schaffen kann. Ausbildung oder Schulabschluss sind nicht erforderlich. Eine Internetverbindung und eine funktionierende Tastatur ist alles, was du brauchst, um dir deine eigene Religion zu erschaffen.

Jawohl, richtig gehört. Auch du kannst – HEUTE – deine ganz eigene Religion gründen und von Tausenden lammfrommen Anhängern profitieren, die dich mit bedingungsloser Bewunderung, finanzieller Zuwendung und mehr Likes und Emojis überschütten werden, als du je wirst gebrauchen können.

In den sechs Stufen dieses babyleichten Kursprogramms nehmen wir Folgendes durch:

Glaubenssysteme.

Soll deine Religion spirituell oder lieber säkular sein? Vergangenheitsoder zukunftsorientiert? Soll sie gewalttätig sein oder friedlich? Das sind drängende Fragen, aber keine Sorge – nur ich weiß die Antwort.

Woher die ersten Anhänger nehmen?

Und wichtiger noch: Wie sollen sie beschaffen sein? Reich? Arm? Männlich? Weiblich? Vegan? Ich besitze das Hintergrundwissen!

Rituale, Rituale, Rituale!

Iss dies. Steh dort. Rezitiere das. Beuge dich, knie nieder und klatsche in die Hände! Mach den Ringelpiez mit/ohne Anfassen! Darum geht es! Das Beste an einer Religion ist doch der Quatsch, den alle für etwas ganz Bedeutsames halten. Ich zeige dir genau, wie du die hippsten, coolsten Rituale der Stadt bastelst. Alle werden darüber reden (besonders wenn du sie zur Teilnahme zwingst).

So findest du den richtigen Sündenbock.

Keine Religion kommt ohne einen gemeinsamen Feind aus, auf den man seine inneren Konflikte projizieren kann. Das Leben ist ein Durcheinander, aber wieso solltest du deine Probleme lösen, wenn du einfach jemand anderem die Schuld zuschieben kannst? Kein Scherz, du lernst von mir, wie du den perfekten Buhmann (oder die perfekte Buhfrau) auswählst und deine Anhänger dazu bringst, ihn/sie zu hassen. Nichts schmiedet uns so zusammen wie der Hass auf denselben Feind. Forken raus!

Endlich: Wie du damit Geld verdienst.

Wozu eine Religion starten, wenn nichts dabei herausspringt? Meine Anleitung erläutert dir haarklein, wie du deine Anhängerschaft optimal melkst. Egal, ob du nach Geld, Ruhm, Macht oder Blut gierst, ich zeig dir wie!

Wir alle brauchen doch Gemeinschaft, um Hoffnung zu erzeugen. Und Hoffnung brauchen wir alle, sonst drehen wir durch und ziehen uns Badesalz durch die Nase.

Religionen sind die Grundlage dieser gemeinschaftlichen Hoffnung. Und wir lernen jetzt, wie wir so was aus dem Boden stampfen.

Religionen sind etwas Schönes. Versammelt man genügend Leute mit den gleichen Wertvorstellungen, verhalten sie sich ganz anders, als sie es allein tun würden. Ihre Hoffnung wird durch eine Art Netzwerkeffekt verstärkt, und die Gruppenzugehörigkeit nährt das Selbstwertgefühl, sodass das Denkhirn ausgeschaltet und das Fühlhirn von der Leine gelassen wird.1

Religionen bringen Menschen in Gruppen zusammen, damit sie sich gegenseitig Wertschätzung schenken und sich ihrer Wichtigkeit vergewissern können. Es herrscht ein großes, unausgesprochenes Einverständnis darüber, dass man sich nur gemeinsam einem übergreifenden Zweck unterordnen muss, und schon fühlen sich alle wichtig und würdig, und die unbequeme Wahrheit rückt etwas weiter weg.2

Psychologisch ist das höchst befriedigend. Alle geraten komplett aus dem Häuschen! Und das Beste ist, dass sie dabei äußerst manipulierbar werden. Paradoxerweise hat das Individuum ausgerechnet dann das Gefühl perfekter Selbstbeherrschung, wenn es sich in der Gruppe befindet und gar nichts beherrscht.

Bei diesem Direktzugang zum Fühlhirn liegt die Gefahr allerdings darin, dass Menschen in großen Gruppen oft sehr impulsiv handeln und irrationale Scheiße bauen. Einerseits fühlen sich Menschen in der Gemeinschaft aufgehoben, verstanden und geliebt. Andererseits verwandeln sie sich manchmal in eine mordlustige, wutentbrannte Meute.3

Diese Anleitung zeigt dir detailliert, wie du Schritt für Schritt deine eigene Religion aufbaust, sodass du dich an Tausenden verblendeten Jüngern bereichern kannst. Legen wir los.

 

WIE MAN EINE EIGENE RELIGION GRÜNDET

Erster Schritt: Den Hoffnungslosen Hoffnung versprechen

Ich werde nie vergessen, wie mir zum ersten Mal vorgeworfen wurde, an meinen Händen klebte Blut. Es ist, als wäre es erst gestern gewesen.

Es war 2005, an einem sonnigen, frischen Morgen in Boston. Ich war damals noch Student und auf dem Weg zum Seminar, wie sich das gehört, als ich eine Gruppe Studenten Bilder des Terroranschlags vom 11. September hochhalten sah, auf denen stand: »Amerika hat’s verdient.«

Ich halte mich ja keinesfalls für einen herausragenden oder auch nur außergewöhnlichen Patrioten, aber in meinen Augen wird jemand, der am helllichten Tag ein solches Schild hochhält, äußerst anziehend für Prügel.

Ich blieb stehen, sprach sie an und fragte sie, was sie da machten. Sie hatten einen kleinen Tisch aufgestellt und mit reichlich Pamphleten bestückt. Eines zeigte Dick Cheney mit aufgemalten Teufelshörnern und dem Zusatz »Massenmörder« darunter. Auf einem anderen war George W. Bush mit Hitlerbart dargestellt.

Die Studenten gehörten zur LaRouche Youth Movement (LYM), einer vom linksextremen Ideologen Lyndon LaRouche in New Hampshire gegründeten Jugendbewegung. Seine Jünger verbrachten zahllose Stunden damit, auf dem Gelände neuenglischer Colleges herumzustehen und Pamphlete und Flyer an beeinflussbare junge Studenten zu verteilen. Und als ich ihnen über den Weg lief, brauchte ich ganze zehn Sekunden, um zu merken, worum es sich handelte: um eine Religion.

Kein Scherz. Sie waren eine ideologische Religion: eine gegen die Regierung, gegen den Kapitalismus, gegen alte Menschen, gegen das Establishment gerichtete Religion. Sie meinten, dass die internationale Weltordnung durch und durch korrupt sei. Sie meinten, dass der Irakkrieg aus keinem anderen Grund angefangen worden war, als dass Bushs Freunde mehr Geld wollten. Sie meinten, dass es Terrorismus und Massenerschießungen gar nicht gäbe, dass solche Vorkommnisse sehr raffiniert von der Regierung inszeniert worden wären, um die Bevölkerung in Schach zu halten. Keine Sorge, liebe Konservative, Jahre später malten sie die gleichen Hitlerbärtchen auf Obamas Gesicht und behaupteten das Gleiche über ihn, falls euch das beruhigt (was dumm wäre).

Was die LaRouche-Bewegung macht, ist genial. Sie sucht sich unzufriedene und aufgewühlte College-Studenten (meistens junge Männer) voller Angst und Wut (Angst vor der Verantwortung, die ihnen plötzlich aufgedrückt wird, und Wut darauf, wie anstrengend und enttäuschend es ist, erwachsen zu sein) und predigt ihnen eine einfache Botschaft: »Du bist nicht schuld.«

Ja, Kleiner, du dachtest, Mama und Papa wären schuld, aber sie sind nicht schuld. Und bestimmt dachtest du auch, deine doofen Professoren und das überteuerte College wären schuld. Nö, auch die nicht. Wahrscheinlich glaubtest du sogar, die Regierung wäre schuld. Knapp daneben.

Schuld ist nämlich das System, jene übergreifende, schwammige Entität, von der man überall hört.

Das Credo, dass die LYM verkaufte, lautete: Wir müssen nur »das System« stürzen, dann ist alles wieder gut. Kein Krieg mehr. Kein Leiden. Keine Ungerechtigkeit.

Vergiss nicht, dass wir nur dann Hoffnung haben können, wenn uns gefühlt eine bessere Zukunft erwartet (Werte); wenn wir sie gefühlt erreichen können (Selbstbeherrschung); und wenn wir andere Menschen finden, die unsere Werte und unsere Anstrengungen teilen (Gemeinschaft).

Zu Beginn ihres Erwachsenseins haben viele Menschen Schwierigkeiten mit Werten, Selbstbeherrschung und Gemeinschaft. Zum ersten Mal in ihrem Leben dürfen sie bestimmen, wer sie sein wollen. Wollen sie Arzt werden? BWL studieren? Psychotherapie lernen? Die Möglichkeiten können einen überwältigen.4 Und der unweigerliche Frust führt bei vielen jungen Menschen dazu, dass sie ihre Werte bezweifeln und an Hoffnung verlieren.

Zudem haben junge Erwachsene Probleme mit der Selbstbeherrschung.5 Zum ersten Mal in ihrem Leben werden sie nicht rund um die Uhr von Autoritätspersonen beaufsichtigt. Einerseits kann das aufregend und befreiend sein. Andererseits müssen sie jetzt für sich selbst entscheiden und Verantwortung übernehmen. Und wenn sie irgendwie Scheiße darin sind, rechtzeitig aufzustehen, zur Uni oder zur Arbeit zu gehen und ausreichend zu lernen, geben sie nur ungern zu, dass daran niemand anderes schuld ist als sie selbst.

Und schließlich ist es jungen Menschen besonders wichtig, eine Gemeinschaft zu finden und sich dort einzufügen.6 Das ist nicht nur wichtig für ihre emotionale Entwicklung, sondern hilft auch bei der Identitätsfindung und -festigung.7

Leute wie Lyndon LaRouche nutzen verirrte und ziellose junge Menschen aus. LaRouche gab ihnen eine umfangreiche politische Erklärung für ihre gefühlte Entfremdung. Er gab ihnen das Gefühl, die Dinge in der Hand zu haben, indem er ihnen eine (scheinbare) Möglichkeit aufzeigte, die Welt zu verändern. Und dazu gab er ihnen noch eine Gemeinschaft, in die sie sich »einfügen« konnten, und in der sie wussten, wer sie sind.

Damit gab er ihnen Hoffnung.8

»Findet ihr das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte ich damals die LYM-Mitglieder und zeigte auf die Bilder des World Trade Centers auf ihren Broschüren.9

»Auf keinen Fall, Mann. Ich finde, das kann man gar nicht übertreiben!«, gab einer von ihnen zur Antwort.

»Also, ich hab ja nicht Bush gewählt und bin auch gegen den Irakkrieg, aber …«

»Scheißegal, wen du gewählt hast! Jede Stimme ist eine Stimme für das korrupte Unterdrückersystem! An deinen Händen klebt Blut!«

»Wie bitte?«

Ich wusste nicht einmal, wie man jemandem eine verpasst, aber meine Hände ballten sich zu Fäusten. Für wen zum Teufel hielt der Typ sich?

»Indem du am System teilnimmst, hältst du es aufrecht«, fuhr der Junge fort, »und machst dich damit zum Komplizen beim Mord an Millionen unschuldiger Zivilisten auf der ganzen Welt. Hier, lies mal.« Er schob mir ein Pamphlet hin. Ich warf einen Blick darauf, drehte es um.

»Was für ein Scheiß«, sagte ich.

Unsere »Diskussion« setzte sich noch ein paar Minuten fort. Damals wusste ich es nicht besser. Ich glaubte immer noch, bei so was gehe es um Vernunft und Fakten, nicht um Gefühle und Werte. Aber Werte sind durch Vernunft nicht zu ändern, nur durch Erfahrung.

Nachdem ich mir so richtig die Laune verdorben hatte, beschloss ich weiterzugehen. Als ich mich abwandte, wollte der Junge mich noch bei einem kostenlosen Seminar anmelden. »Du musst dein Denken erweitern, Mann«, sagte er. »Die Wahrheit ist superkrass.«

Ich schaute mich um und parierte mit einem Carl-Sagan-Zitat, das ich aus irgendeinem Internetforum hatte: »Ich glaube, dein Denken ist so erweitert, dass dein Hirn rausgefallen ist.«10

Ich kam mir schlau und überlegen vor. Er kam sich wohl auch schlau und überlegen vor. Den anderen überzeugt hatte keiner von uns.

Am leichtesten zu beeindrucken sind wir immer dann, wenn es schlimmer nicht mehr geht.11 Wenn unser Leben in Scherben liegt, zweifeln wir am Nutzen unserer Werte und suchen im Dunkeln nach neuen Werten, um sie zu ersetzen. Eine Religion fällt aus und macht Platz für die nächste. Wer den Glauben an einen metaphysischen Gott verliert, sucht sich einen weltlichen. Wer seine Familie verliert, unterwirft sich seiner Rasse, Konfession oder Nation. Wer den Glauben an den Staat oder das Heimatland verliert, sucht Hoffnung bei extremistischen Ideologien.12

Nicht ohne Grund haben alle großen Religionen in ihrer Geschichte Missionare in die ärmsten und elendsten Winkel der Welt entsandt: Hungernde glauben an alles, was satt macht. Auch deine neue Religion solltest du am besten denen predigen, deren Leben am beschissensten ist: den Armen, den Ausgestoßenen, den Misshandelten und Vergessenen. Den Leuten halt, die den ganzen Tag auf Facebook sind.13

Jim Jones baute sich seine Gefolgschaft auf, indem er Obdachlose und Menschen aus Randgruppen und Minderheiten mit einer Botschaft aus Sozialismus und seinem eigenen (pervertierten) Christentum rekrutierte. Ach, was rede ich da? Jesus Christus hat’s doch genau so gemacht.14 Buddha ebenfalls. Moses – du kommst von selbst drauf. Religionsführer predigen den Armen und Getretenen und Versklavten die Botschaft, dass sie das Himmelreich verdienen – praktisch ein unverhohlenes, an die gerade aktuelle korrupte Elite gerichtetes »Fickt euch doch.«. Eine Botschaft, die jeder gerne unterschreibt.

Heutzutage ist es leichter denn je, die Hoffnungslosen zu erreichen. Du brauchst nur ein Profil in den sozialen Medien. Stell einfach extreme und abgedrehte Scheiße rein und lass die Algorithmen den Rest erledigen. Je abgedrehter und extremer deine Posts, desto mehr Aufmerksamkeit bekommst du, und desto mehr werden dich die Hoffnungslosen umschwärmen wie Fliegen die Kuhscheiße. Schwer ist das nicht.

Aber du kannst im Internet nicht irgendwas daherreden. Es muss schon etwas (halbwegs) Zusammenhängendes sein. Es muss eine Vision dahinterstecken. Es ist leicht, Wut und Empörung wegen nichts zu schüren – das ist zum Geschäftsmodell des Journalismus geworden. Aber um Hoffnung zu haben, müssen Menschen spüren, dass sie Teil einer größeren Bewegung sind, dass sie bald auf der Gewinnerseite der Geschichte stehen.

Und dazu musst du ihnen einen Glauben geben.

 

WIE MAN EINE EIGENE RELIGION GRÜNDET

Zweiter Schritt: Den richtigen Glauben wählen

Wir alle müssen an etwas glauben. Ohne Glauben keine Hoffnung.

Nichtreligiösen Menschen geht beim Wort Glauben der Hut hoch, aber Glauben ist unvermeidlich. Die Wissenschaft beruht auf den Erfahrungen der Vergangenheit. Die Hoffnung beruht auf den Erfahrungen der Zukunft. Und man verlässt sich zu einem gewissen Grad immer auf den Glauben, dass sich Dinge in der Zukunft wiederholen.15 Monatsraten zahlt man, weil man an die Realität des Geldes glaubt, an die Realität des Kredits und an die Realität der Bank, die den ganzen Scheiß mitmacht.16 Man achtet darauf, dass die Kinder ihre Hausaufgaben machen, weil man glaubt, dass Schulbildung wichtig ist und glücklichere, gesündere Erwachsene hervorbringt. Man glaubt, dass das Glück existiert und erreichbar ist. Man glaubt, dass es sich lohnt, länger zu leben, und achtet daher auf die eigene Sicherheit und Gesundheit. Man glaubt, dass Liebe wichtig ist, dass die Arbeit wichtig ist, dass irgendetwas wichtig ist.

Also gibt es keine Atheisten. Na ja, irgendwie schon. Es kommt darauf an, was mit »Atheist« gemeint ist.17 Was ich sagen will, ist, dass wir alle einfach so glauben müssen, dass irgendetwas wichtig ist. Auch als Nihilist glaubt man einfach so, dass eins wichtiger ist als das andere.

Am Ende läuft also alles auf Glauben hinaus.18

Die wichtige Frage lautet nun: Glauben woran? Welchen Glauben suchen wir uns aus?

Das, was sich das Fühlhirn als höchsten Wert aussucht und auf die alleroberste Spitze der Wertehierarchie setzt, wird zur Linse, durch die wir alle anderen Werte betrachten. Diesen höchsten aller Werte wollen wir »Gotteswert« nennen.19 Bei manchen ist Geld der Gotteswert. Solche Menschen sehen alles andere (Familie, Liebe, Status, Politik) durch das Prisma des Geldes. Ihre Familie liebt sie nur, wenn sie genug Geld verdienen. Respekt gewinnen sie nur durch Geldbesitz. Konflikte, Frustration, Neid, Angst – alles dreht sich am Ende ums Geld.20

Bei anderen ist Liebe der Gotteswert. Sie sehen alle anderen Werte durch das Prisma der Liebe: Sie sind gegen jede Art von Konflikt, gegen alles, was Menschen trennt oder spaltet.

Bekanntlich machen viele Menschen Christus oder Mohammed oder den Buddha zu ihrem Gotteswert. Sie interpretieren jede Erfahrung im Lichte der Lehren ihres Religionsgründers.

Manche Menschen nehmen sich selbst als Gotteswert – oder eher ihr Vergnügen und ihren Machttrieb. Damit sind wir beim Narzissmus, der Religion der Selbstverherrlichung.21 Solche Menschen glauben vor allem an ihre eigene Überlegenheit und Auserwähltheit.

Für andere ist ein anderer Mensch der Gotteswert. Oft wird dies »Co-Abhängigkeit« genannt.22 Solche Menschen schöpfen alle Hoffnung aus ihrer Verbindung zu jemand anderem und opfern sich und die eigenen Interessen für diese Person. Ihr ganzes Verhalten, ihre Entscheidungen und Vorstellungen richten sie danach aus, was der anderen Person – ihrem kleinen Privatgott – womöglich gefällt. Das führt oft zu absolut beschissenen Beziehungen mit – richtig geraten – Narzissten. Schließlich ist der Gotteswert des Narzissten er selbst, und der Gotteswert des Co-Abhängigen sind die Versorgung und Rettung des Narzissten. Auf völlig kranke und beschissene Weise funktioniert das also (aber nicht wirklich).

Jede Religion geht von einem auf Glauben beruhenden Gotteswert aus. Egal welcher: Katzen verehren, an Steuersenkungen glauben, die Kinder nie aus dem Haus lassen – was auch immer es ist, es ist die auf Glauben beruhende Überzeugung, dass nur dies die beste Zukunft garantiert und daher die meiste Hoffnung bringt. Unser ganzes Leben und alle unsere anderen Werte arrangieren wir dann um diesen Wert herum. Wir suchen uns Betätigungen, die diesen Glauben umsetzen, Ideen, die ihn unterfüttern, und vor allem eine Gemeinschaft, die ihn teilt.

Ungefähr an dieser Stelle müssten die wissenschaftlich denkenden Leser die Hand heben und einwenden, dass es auch sogenannte Tatsachen gibt, die nachgewiesenermaßen existieren, und dass wir auch ohne Glauben wissen können, was real ist.

Guter Einwand. Aber mit Nachweisen sieht es so aus: Sie ändern nichts. Nachweise sind etwas fürs Denkhirn, aber über die Werte entscheidet das Fühlhirn. Werte lassen sich nicht nachweisen. Sie sind per definitionem subjektiv und willkürlich. Daher kann man sich über Tatsachen den Mund fusselig reden, am Ende ist es egal – Menschen interpretieren die Bedeutsamkeit ihrer Erfahrungen anhand ihrer Werte.23

Wenn ein Meteorit auf eine Stadt niedergeht und die Hälfte der Einwohner tötet, würde ein Frömmler daraus schließen, dass dies wegen der vielen Sünder in der Stadt geschah. Ein Atheist würde in derselben Katastrophe einen Beweis dafür sehen, dass es keinen Gott gibt (übrigens ebenfalls ein Glaube), denn wie könnte ein liebendes, allmächtiges Wesen so etwas Entsetzliches zulassen? Ein Hedonist würde angesichts der Zerstörung beschließen, dass nun noch heftiger gefeiert werden müsse, denn wir könnten ja alle jederzeit sterben. Und ein Kapitalist würde vor den Trümmern stehen und über eine Investition in Meteoritenabwehr nachdenken.

Nachweise stehen im Dienst des Gotteswerts, nicht umgekehrt. Das einzige Schlupfloch aus diesem Dilemma besteht darin, den Nachweis selbst zum Gotteswert zu erheben. Die Religion, bei der der Nachweis verehrt wird, ist allgemein als »Wissenschaft« bekannt, und sie ist vielleicht das Beste, was wir als Spezies je hingekriegt haben. Aber über die Wissenschaft und ihre Folgen sprechen wir noch im nächsten Kapitel.

Worauf ich hinaus will, ist, dass jegliche Werte auf Glauben beruhen. Daher beruht jegliche Hoffnung (und daher jegliche Religion) auf einem Glauben. Auf dem Glauben, dass irgendetwas wichtig und wertvoll und richtig ist, obwohl sich das nie zweifelsfrei wird nachweisen lassen.

Zum besseren Verständnis habe ich die unterschiedlichen Religionen je nach Art ihres Gotteswerts in drei Kategorien aufgeteilt:

Spirituelle Religionen

Spirituelle Religionen schöpfen Hoffnung aus dem Glauben an Übernatürliches, an Dinge die jenseits der physisch-materiellen Sphäre existieren. Solche Religionen sehen eine bessere Zukunft außerhalb dieser Welt und dieses Lebens. Christentum, Islam, Judentum, Animismus und griechische Mythologie gehören zu den spirituellen Religionen.

Ideologische Religionen

Ideologische Religionen schöpfen Hoffnung aus der Welt und der Natur. Sie streben nach Erlösung und Wachstum und entwickeln auf Glauben beruhende Vorstellungen über diese Welt und dieses Leben. Beispiele wären Kapitalismus, Kommunismus, Umweltbewegung, Liberalismus, Faschismus und Libertarismus.

Zwischenmenschliche Religionen

Zwischenmenschliche Religionen schöpfen Hoffnung aus unseren Mitmenschen. Zu diesen Religionen zählen beispielsweise die Liebe, Kinder, Sportidole, Politiker und Promis.

Spirituelle Religionen bieten einen hohen Ertrag bei hohem Risiko. Ihre Gründung erfordert mit Abstand das meiste Geschick und Charisma. Aber in Sachen Anhängertreue und Profit bringen sie auch am meisten ein. (Heilige Scheiße, schon mal im Vatikan gewesen?) Und gut gebaut hält eine spirituelle Religion bis lange nach dem Tod.

Die Bildung einer ideologischen Religion hat die Spielstufe »mittelschwer«. Solche Religionen kosten am Anfang viel Arbeit und Mühe, sind aber weit verbreitet. Aber weil sie so häufig sind, müssen sie um die Hoffnung der Menschen wetteifern. Oft werden sie auch als kulturelle »Trends« bezeichnet, und tatsächlich überdauern nur wenige von ihnen mehr als ein paar Jahre oder Jahrzehnte. Nur die besten bestehen jahrhundertelang.

Auf der Spielstufe »leicht« gibt es dann die Gründung von zwischenmenschlichen Religionen, denn diese sind so häufig und weitverbreitet wie die Menschen selbst. Fast jeder gibt sich und seinen Selbstwert irgendwann im Leben einem anderen Menschen vollkommen hin. Zwischenmenschliche Religion wird manchmal als naive Jugendliebe durchlebt und gehört zu dem Scheiß, den wir alle durchmachen müssen, bevor wir weiser daraus hervorgehen.

Nehmen wir uns zuerst die spirituellen Religionen vor, denn bei ihnen steht am meisten auf dem Spiel, und sie sind für die Menschheitsgeschichte am prägendsten.

Spirituelle Religionen

Vom Geisterglaube der frühen Kulturen über die heidnischen Götter der Antike zu den bis heute bestehenden grandiosen monotheistischen Religionen war die Menschheitsgeschichte vom Glauben an übernatürliche Kräfte beseelt und – wichtiger noch – von der Hoffnung geprägt, dass bestimmte Verhaltensweisen und Bekenntnisse in diesem Leben Belohnungen und Verbesserungen im nächsten Leben ergeben würden.

Die Beschäftigung mit dem nächsten Leben erwuchs aus dem Umstand, dass seit Urzeiten alles immer komplett beschissen war und 99 Prozent der Bevölkerung keinerlei Aussicht auf materielle Verbesserung ihres Lebens hatten. Wer die Gegenwart schlimm findet, sollte mal an die Pestepidemien denken, die ein Drittel der Bevölkerung eines ganzen Kontinents auslöschten,24 oder an die Kriege, bei denen Zehntausende von Kindern in die Sklaverei verkauft wurden.25 Die gute alte Zeit war in Wirklichkeit so übel, dass die einzige Möglichkeit, die Leute bei Verstand zu halten, darin bestand, ihnen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zu machen. Die Religionen alter Schule hielten die Gesellschaft zusammen, indem sie den Massen versprachen, dass ihr Leiden einen Sinn habe, dass Gott zusah, und dass sie angemessen belohnt werden würden.

Ist dir schon aufgefallen, wie unglaublich widerstandsfähig spirituelle Religionen sind? Sie überdauern Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende. Der Grund dafür ist, dass der Glauben an Übernatürliches weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Sobald sich daher bei jemandem der Glaube an etwas Übernatürliches als Gotteswert festsetzt, kriegt man ihn so schnell nicht wieder locker.

Spirituelle Religionen sind auch deshalb so mächtig, weil sie oft den Tod mit Hoffnung verbinden, was den netten Nebeneffekt hat, dass die Leute bereit sind, massenhaft für ihren unbeweisbaren Glauben zu sterben. Das ist ziemlich unschlagbar.

Ideologische Religionen

Ideologische Religionen erzeugen Hoffnung, indem sie Glaubenssysteme errichten, denen zufolge bestimmte Verhaltensweisen nur dann gute Folgen in diesem Leben haben, wenn die gesamte Bevölkerung sie übernimmt. Dabei handelt es sich meistens um sogenannte »Ismen«: Libertarismus, Nationalismus, Materialismus, Rassismus, Sexismus, Veganismus, Kommunismus, Kapitalismus, Sozialismus, Faschismus, Zynismus, Skeptizismus und so weiter. Anders als spirituelle Religionen sind Ideologien in unterschiedlichem Maße verifizierbar. Theoretisch kann man testen, ob eine Zentralbank das Finanzwesen stabiler oder instabiler macht, ob Demokratie eine gerechtere Gesellschaft hervorbringt, ob Bildung dazu beiträgt, dass sich Menschen weniger oft in Stücke hauen – aber an einem bestimmten Punkt beruhen auch Ideologien auf einem Glauben. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist, dass manche Dinge sich nur unheimlich schwer oder sogar gar nicht testen und überprüfen lassen. Der andere Grund ist, dass viele Ideologien voraussetzen, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft an das Gleiche glauben.

Beispielsweise lässt sich wissenschaftlich nicht nachweisen, dass Geld an sich einen Wert hat. Aber da wir alle an seinen Wert glauben, hat es welchen.26 Ebenso wenig kann man beweisen, dass Staatsangehörigkeit etwas Reales ist, oder ethnische Zugehörigkeit.27 Dabei handelt es sich um gesellschaftliche Konstrukte, denen wir alle einfach Glauben schenken.

Das Problem mit Ideologien und ihrer Evidenz ist, dass Menschen tendenziell mit dem kleinsten bisschen Nachweis sofort durchbrennen und simple Ideen gleich ganzen Völkern und dem ganzen Planeten überstülpen.28 Das kommt vom menschlichen Narzissmus, von unserem Drang, uns wichtig zu machen – von amoklaufenden Fühlhirnen. Auch wenn sich Ideologien also nachweisen und überprüfen lassen, sind wir nicht besonders gut darin.29 Die Menschheit ist so uferlos und komplex, dass unser Gehirn nur mit Mühe damit fertigwird. Es gibt zu viele Variablen. Deshalb nimmt das Fühlhirn unweigerlich Abkürzungen, um eigentlich beschissene Überzeugungen aufrechtzuerhalten. Schlimme Ideologien wie Rassismus und Sexismus bleiben weit eher aus Ignoranz als aus Bösartigkeit bestehen. Und die Menschen halten an diesen üblen Ideologien fest, weil sie ihren Anhängern leider ein gewisses Maß an Hoffnung bieten.

Ideologische Religionen sind schwierig in Gang zu bringen, aber sie sind viel häufiger anzutreffen als spirituelle Religionen. Man muss nur eine plausibel klingende Erklärung dafür finden, dass alles so beschissen ist, und diese Erklärung dann bis zum Anschlag verallgemeinern, sodass sie auf alle zutrifft und den Menschen Hoffnung vermittelt. Voilà! Fertig ist die ideologische Religion. Wer seit mehr als zwanzig Jahren auf der Welt ist, hat das schon ein paarmal erlebt. Allein im Laufe meines Lebens sind Bewegungen für die LGBTQ-Rechte, für die Stammzellenforschung und die Legalisierung von Drogen aufgekommen. Worüber sich alle gerade aufregen, ist die Tatsache, dass traditionalistische, nationalistische und populistische Ideologien in vielen Teilen der Welt politische Macht gewinnen, und dass diese Ideologien die Errungenschaften der neoliberalen, globalistischen, feministischen und ökologischen Ideologien abschaffen wollen.

Zwischenmenschliche Religionen

Jeden Sonntag versammeln sich Millionen von Menschen, um ein leeres, grünes Feld anzustarren. Weiße Linien sind auf das Feld aufgemalt. Diese Millionen von Menschen haben sich darauf geeinigt, einfach so zu glauben, dass diese Linien eine wichtige Bedeutung haben. Dann betreten Dutzende starker Männer (oder Frauen) das Feld, stellen sich in scheinbar willkürlichen Formationen auf und werfen (oder treten) ein Stück Leder hin und her. Je nachdem, wo und wann dieses Lederstück landet, jubelt die eine Gruppe, während die andere aufstöhnt.

Sport ist eine Form von Religion. Sport ist ein willkürliches Wertesystem, das Menschen Hoffnung spenden soll. Schlag den Ball hierhin, und du bist ein Held! Kick den Ball dorthin, und du bist ein Verlierer! Im Sport werden manche Personen vergöttert und andere dämonisiert. Ted Williams ist im Baseball der beste Schlagmann aller Zeiten, und das macht ihn in den Augen mancher Menschen zu einem amerikanischen Helden, einer Ikone, einem Vorbild. Andere Sportler verteufelt man, weil sie versagen, weil sie ihr Talent vergeuden, weil sie ihre Fans enttäuschen.30

Dabei gibt es für zwischenmenschliche Religionen ein noch besseres Beispiel als den Sport: die Politik. Auf der ganzen Welt einigen wir uns auf ähnliche Werte und beschließen, eine kleine Gruppe von Menschen mit Autorität, Führungsrollen und Tugend auszustatten. Politische Systeme sind ebenso ausgedacht wie die Linien auf dem Fußballfeld. Machtpositionen existieren nur dank der Gläubigkeit des Volkes. Und egal ob Demokratie oder Diktatur, das Ergebnis ist das Gleiche: Eine kleine Gruppe von Führungspersönlichkeiten wird im kollektiven Bewusstsein vergöttert (oder verteufelt).31

Zwischenmenschliche Religionen geben uns die Hoffnung, dass uns ein anderer Mensch Erlösung und Glück schenken kann, dass ein Mensch (oder eine Gruppe von Menschen) allen anderen überlegen ist. Da zwischenmenschliche Religionen oft mit spirituellen und ideologischen Überzeugungen kombiniert sind, bringen sie Ausgestoßene, Märtyrer, Helden und Heilige hervor. Viele unserer zwischenmenschlichen Religionen ranken sich um Führerfiguren. Ein charismatischer Präsident oder Promi, der alle unsere Probleme zu verstehen scheint, kann in unserem Kopf zum Gotteswert aufsteigen, und was wir dann für richtig oder falsch befinden, richtet sich danach, was für den Großen Vorsitzenden gut oder schlecht ist.

Fangemeinden sind generell Religionen niederer Art. Fans von Will Smith oder Katy Perry oder Elon Musk verfolgen jede Regung ihres Idols, hängen an seinen oder ihren Lippen und betrachten ihn oder sie als irgendwie gesegnet oder auserwählt. Die Verehrung einer solchen Figur gibt dem Fan Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auch wenn diese nur aus neuen Filmen, Songs oder Erfindungen besteht.

Aber die wichtigsten zwischenmenschlichen Religionen sind unsere Familien- und Liebesbeziehungen. Auch wenn die dabei auftretenden Überzeugungen und Gefühle evolutionären Ursprungs sind, beruhen sie doch auf Glauben.32 Jede Familie ist eine Mini-Kirche, eine Gruppe von Menschen, die einfach so glauben, dass ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ihrem Leben Sinn, Hoffnung und Erlösung bringt. Die romantische Liebe kann bekanntlich eine quasispirituelle Erfahrung sein.33 Wir verlieren uns scheinbar in der Person, in die wir uns verliebt haben, und erfinden allerlei Mythen über die kosmische Bedeutsamkeit der Beziehung.

Unsere moderne Zivilisation hat uns weitgehend von diesen kleinen, zwischenmenschlichen Religionen und Stammeszugehörigkeiten entfremdet und sie durch große, nationalistische und internationalistische Religionen ersetzt.34 Das ist ein Grund zur Freude für uns Religionsgründer, denn wir müssen weniger intime Verknüpfungen trennen, um unsere Anhänger emotional an uns zu binden.

Denn bei Religionen dreht sich alles, wie wir sehen werden, um emotionale Bindung. Und solche Bindungen gelingen am besten, wenn man das kritische Denken ausschaltet.

 

WIE MAN EINE EIGENE RELIGION GRÜNDET

Dritter Schritt: Vorsorglich jegliche Kritik von innen oder außen entkräften

Jetzt, wo deine aufkeimende Religion über Glaubensgrundsätze verfügt, musst du diesen Glauben irgendwie gegen die Kritik schützen, die ihm unweigerlich entgegenkommt. Der Trick besteht darin, den Glauben mit einer selbsthärtenden Wir-gegen-sie-Dichotomie auszustatten – also einem gefühlten »Wir« ein äußeres »Sie« gegenüberzustellen, sodass jeder, der Kritik an »uns« übt, automatisch zu »denen« gehört.

Klingt schwierig, ist aber ganz einfach. Hier ein paar Beispiele:

Der Zweck solcher falschen Wir-gegen-sie-Dichotomien ist, sachliche Diskussionen im Keim zu ersticken, bevor die Gläubigen in ihrem Glauben erschüttert werden. Ein schöner Nebeneffekt ist, dass diese falschen Wir-gegen-sie-Dichotomien der Gruppe einen gemeinsamen Feind verschaffen.

Gemeinsame Feinde sind äußerst wichtig. Ich weiß, dass wir alle am liebsten in einer perfekten Welt des Friedens und der Harmonie leben würden, aber eine solche Welt würde leider nur ein paar Minuten lang bestehen. Ein gemeinsamer Feind schweißt unsere Religion zusammen. Irgendeinen Sündenbock brauchen wir, um ihm – egal ob gerechtfertigt oder nicht – die Schuld an unserem Schmerz zuzuschieben und unsere Hoffnung aufrechtzuerhalten.35 Wir-gegen-sie-Dichotomien schenken uns unsere heißersehnten Feinde.

Schließlich muss man in der Lage sein, den Anhängern ein ganz simples Bild zu bieten. Die einen verstehen »es«, die anderen verstehen »es« eben nicht. Und nur die, die es verstehen, retten die Welt. Die, die es nicht verstehen, zerstören sie. Ende der Diskussion. Was »es« ist, hängt davon ab, welchen Glauben man gerade verhökert – Jesus, Mohammed, Libertarismus, glutenfreie Ernährung, intermittierendes Fasten, Schlafen in der Überdruckkammer oder Eis am Stiel als einziges wahres Nahrungsmittel. Es reicht auch nicht, den Gläubigen zu vermitteln, dass alle Ungläubigen schlecht sind. Man muss sie schon dämonisieren. Sie sind das Ende von allem, was gut und heilig ist. Sie ruinieren alles. Sie sind verdammt nochmal böse.

Dann gilt es, die Anhänger davon zu überzeugen, wie wichtig es ist, dass alle, die »es« nicht verstehen, unschädlich gemacht werden müssen, koste es, was es wolle. Auf der Wertehierarchie gibt es nur ganz oben und ganz unten Plätze; unsere Religion kennt kein Dazwischen.36

Je größer die Furcht, desto besser. Dazu darf man ruhig ein bisschen lügen, wenn’s sein muss. Schließlich wollen die Menschen instinktiv das Gefühl haben, als kämpften sie in einem Kreuzzug, als seien sie heilige Krieger der Gerechtigkeit und Wahrheit und Erlösung. Also sag, was du sagen musst. Gib ihnen das Gefühl der Selbstgerechtigkeit, das Religionen in Gang hält.

Dabei sind Verschwörungstheorien sehr nützlich. Nicht nur, dass Impfungen Autismus verursachen – die Medizin- und Pharmaindustrie bereichert sich an der Zerstörung von Familien. Nicht nur, dass Abtreibungsbefürworter dem Fötus einen anderen biologischen Status zusprechen – sie sind Soldaten Satans mit dem Auftrag, gute Christenfamilien zu zersetzen. Nicht nur, dass der Klimawandel ein Schwindel ist – er ist ein Schwindel, den die chinesische Regierung in die Welt gesetzt hat, um die Wirtschaft der USA abzubremsen und die Weltherrschaft an sich zu reißen.37

 

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Vierter Schritt: Menschenopfer leicht gemacht

Für mich als texanisches Kind waren Jesus und Football die einzig wahren Götter. Zwar lernte ich das Footballspiel zu schätzen, obwohl ich sauschlecht darin war, aber der ganze Jesuskram leuchtete mir nie wirklich ein. Jesus lebte, starb, lebte wieder und starb wieder. Und er war ein Mensch, aber auch ein Gott, und jetzt ist er eine Art Mensch-Gott-Geistwesen, das alle Menschen auf ewig liebhat (nur Homosexuelle nicht, sagen manche). Das klang für mich alles irgendwie willkürlich und – wie soll ich es sagen? – nach ausgedachtem Zeug.

Nicht, dass wir uns falsch verstehen – die meisten Morallehren Jesu kann ich voll unterschreiben: nett sein und den Nächsten lieben und so. Die Jugendgruppen haben mir immer richtig Spaß gemacht. (Konfi-Fahrten sind als Ferienprogramm total unterbewertet.) Und in der Kirche waren sonntags immer irgendwo Kekse versteckt – genug, um jedes Kind zu überzeugen.

Aber um ehrlich zu sein gefiel mir das Christsein nicht, und zwar aus einem wirklich dämlichen Grund: Meine Eltern zwangen mir doofe Sonntagskleidung auf. Richtig gelesen. Nur wegen Hosenträger und Fliege stellte ich den Glauben meiner Familie infrage und wurde im Alter von zwölf Jahren zum Atheisten.

Ich erinnere mich, wie ich meinen Papa fragte: »Wenn Gott eh alles weiß und mich sowieso liebt, warum kümmert es ihn dann, was ich sonntags anziehe?« Mein Papa bedeutete mir zu schweigen. »Aber Papa, wenn uns Gott sowieso unsere Sünden vergibt, können wir doch einfach ständig lügen und betrügen und klauen, oder?« Wieder ein Pssst. »Aber Papa …«

Der Kirchenkram kam bei mir einfach nicht an. Ich hatte noch nicht mal richtige Hoden, da trug ich schon heimlich ein Nine-Inch-Nails-T-Shirt zur Sonntagsschule, und wenige Jahre später kämpfte ich mich bereits durch meinen ersten Nietzsche. Von da an ging es nur noch abwärts. Ich wurde aufmüpfig. Ich schwänzte die Sonntagsschule, um auf dem Parkplatz nebenan zu rauchen. Ich war verloren; ich war ein kleiner Heide.

Der offene, skeptische Widerstand wurde irgendwann so schlimm, dass mich der Sonntagsschullehrer eines Morgens beiseitenahm und mir einen Deal anbot: Er würde mir Bestnoten für den Konfirmationsunterricht geben und mich bei meinen Eltern als Musterschüler darstellen, solange ich ihn nicht mehr vor versammelter Gruppe auf logische Widersprüche in der Bibel hinwies. Ich schlug ein.

Niemand wird überrascht darüber sein, dass ich nicht sehr spirituell bin – für mich bitte nichts Übernatürliches, danke sehr. Ich habe mein krankes Vergnügen an Chaos und Ungewissheit. Dies hat mich leider zu einem Leben in Vollkontakt mit der unbequemen Wahrheit verdammt. Aber ich habe mich mit diesem Charakterzug abgefunden.

In meinem reiferen Alter kapiere ich allerdings, wieso man sich für Jesus hübsch macht. Anders als ich es damals geglaubt hatte, wollten mich meine Eltern (oder Gott) damit nicht quälen. Es ging um Ehrerbietung. Nicht Gott gegenüber, sondern der Gemeinde, der Religion gegenüber. Wer sich zum Gottesdienst fein macht, signalisiert den anderen Kirchgängern die eigene Tugendhaftigkeit: »Dieser Jesuskram ist mir ernst.« Es ist ein Teil der Wir-gegen-sie-Dynamik. Es signalisiert, dass man zum »Wir« gehört und auch so behandelt werden sollte.

Und dann die Talare … Schon mal gemerkt, dass bei allen wichtigen Anlässen im Leben immer jemand im Talar dabei ist? Bei Hochzeit, Schulabschluss, Begräbnis, Gerichtsprozess, Herz-OP, Taufe und natürlich auch bei der Sonntagspredigt.

Das mit den Talaren fiel mir auf, als ich meinen College-Abschluss machte. Verkatert und mit nur drei Stunden Schlaf im Leib torkelte ich auf meinen Platz in der Abschlussfeier. Ich schaute mich um und dachte: Heilige Scheiße, so viele Leute im Talar habe ich seit meiner Kirchenzeit nicht mehr gesehen. Dann blickte ich an mir hinab und stellte mit Entsetzen fest, dass ich dazugehörte.

Der Talar ist ein visueller Reiz, der Status und Wichtigkeit signalisiert, und ein Teil des Ritualkrams. Und Rituale brauchen wir, weil in ihnen unsere Werte greifbar werden. Man kann sich einen Wert nicht herbeidenken. Man muss ihn leben. Und man erleichtert Menschen das Erleben und Erfahren eines Wertes ungemein, wenn man ihnen etwas Hübsches zum Anziehen gibt und etwas wichtig Klingendes zum Aufsagen – kurz: wenn man ihnen Rituale gibt. Rituale sind visuelle und erfahrbare Darstellungen dessen, was uns wichtig ist. Deshalb gibt es sie in jeder guten Religion.

Nicht vergessen: Emotionen sind Handlungen; sie sind ein und dasselbe. Um daher die Wertehierarchie des Fühlhirns zu verändern (oder zu verstärken), muss man die Leute ganz leicht wiederholbare und doch völlig einzigartige Handlungen vollführen lassen. Also her mit den Ritualen.

Rituale sind so eingerichtet, dass sie über lange Zeit wiederholt werden können, was ihr Gewicht nur noch steigert – man kommt nicht oft dazu, Dinge exakt so zu tun, wie sie schon vor 500 Jahren getan wurden. Das ist krasser Scheiß. Rituale sind auch symbolisch. Als Ausdruck von Werten müssen sie auch irgendein Narrativ, eine Geschichte verkörpern. In der Kirche tunkt ein Talarträger Brot in Wein (oder Traubensaft) und verfüttert es als Leib Christi an die Menge. Dieser Vorgang symbolisiert die Opferung Jesu (das hatte er nicht verdient!) um unserer Erlösung willen (das verdienen wir auch nicht, aber das ist ja das Großartige!).

Staaten erschaffen Rituale, die sich um ihre Gründung oder um gewonnene (oder verlorene) Kriege drehen. Wir marschieren und paradieren und schwenken Fahnen und machen Feuerwerk und teilen die Empfindung, dass sich darin etwas Wertvolles und Lohnendes ausdrückt. Ehepaare erfinden eigene kleine Rituale, Gewohnheiten und Insiderwitze, um sich des Wertes ihrer Beziehung, ihrer zwischenmenschlichen Privatreligion zu vergewissern. Rituale schaffen eine Rückbindung zur Vergangenheit, eine Verbindung zu unseren Werten, eine Bestätigung unserer Identität.

Rituale drehen sich üblicherweise um irgendeine Opferung. In früheren Tagen tötete der Priester oder der Häuptling tatsächlich jemanden auf dem Altar, wobei er dem Opfer manchmal das noch schlagende Herz aus der Brust riss, begleitet vom Geschrei der Menge, von Trommelschlägen und anderem krassen Scheiß.38

Mit diesen Opfern sollte ein erzürnter Gott beschwichtigt oder eine gute Ernte erwirkt oder irgendein anderes wünschenswertes Ergebnis erzielt werden. Aber der wahre Grund für die rituelle Opferung war etwas Tieferes.

Menschen sind in Wirklichkeit furchtbar schuldbeladene Wesen. Angenommen, du findest ein Portemonnaie, das hundert Euro, aber keinen Ausweis oder sonstigen Hinweis auf den Eigentümer enthält. Da niemand in der Nähe ist, und du nicht weißt, wie du den Eigentümer ermitteln könntest, behältst du es. Gemäß Newtons Erstem Grundgesetz der Erregung bewirkt jede Aktion eine gleichwertige und entgegengesetzte emotionale Reaktion. In diesem Fall ist dir unverdient etwas Gutes zugestoßen. Auftritt Schuldgefühl.

Und jetzt überleg mal: Du existierst. Du hast nichts getan, womit du deine Existenz verdient hättest. Du weißt nicht mal, warum du zu existieren begonnen hast; es ist dir einfach passiert. Zack – du hast ein Leben. Keine Ahnung, wo das herkam und warum. Wenn du glaubst, dass Gott es dir gegeben hat, dann – heilige Scheiße! – was du ihm jetzt schuldest! Aber selbst wenn du nicht an Gott glaubst, ist dir dennoch das verdammte Leben in den Schoß gefallen! Womit hast du das verdient? Wie müsstest du bloß leben, um diesem Geschenk gerecht zu werden? Das ist eine unaufhörliche, unbeantwortbare Frage der conditio humana und nebenbei der Grund, warum das schlechte Gewissen einen Grundpfeiler fast jeder spirituellen Religion bildet.

Die Opferriten, die in den spirituellen Religionen der Vorzeit aufkamen, sollten den Teilnehmenden das Gefühl geben, ihre Schuld würde abbezahlt, sie würden ihrem Lebensgeschenk dadurch gerecht. Während man in der alten Zeit tatsächlich Menschen opferte – Leben für Leben –, wurde man irgendwann klüger und fand heraus, dass man ein Leben (zum Beispiel das von Jesus) auch symbolisch für die Rettung der Menschheit opfern konnte. Nun musste man nicht mehr ständig Blut vom Altar schrubben. (Von den Fliegen will ich gar nicht erst reden – diese Fliegen!)39

Die meisten religiösen Praktiken sind dazu da, Schuldgefühle zu erleichtern. Man kann sogar behaupten, dass das Gebet nichts anderes ist als Entschuldigung. Beim Beten sagt man Gott nicht: »Boah, ich bin ja wohl der Geilste!« Nein. Gebete strotzen nur so vor Dankbarkeit: »Danke, Gott, dass du mich existieren lässt, auch wenn es sich manchmal kacke anfühlt. Tut mir leid, dass ich so viel Schlechtes gedacht und gemacht habe.« Zack! Schuldgefühl entfernt, jedenfalls vorerst.

Ideologische Religionen gehen deutlich effizienter mit der Schuldfrage um als spirituelle. Nationen lenken das existenzielle Schuldgefühl ihrer Angehörigen in Dienstpflicht um – »Unser Land hat dir all dies ermöglicht, also rein in die Uniform und ab an die Front.« Rechte Ideologien sehen das erforderliche Opfer meistens in der Verteidigung von Land und Familie. Linke Ideologien verlangen Opfer in Form von Verzicht zugunsten des größeren gesellschaftlichen Ganzen.

Bei zwischenmenschlichen Religionen schließlich entsteht durch das persönliche Opfer das Gefühl von Liebe und Loyalität. (Wie Hochzeit funktioniert: Man steht vor einem Altar und verspricht, sein Leben für jemanden hinzugeben.) Das Gefühl, dass wir Liebe verdienen, fällt uns allen nicht so leicht. Selbst wenn die Eltern alles richtig gemacht haben, fragt man sich manchmal: Wow, wieso gerade ich? Womit habe ich das verdient? Zwischenmenschliche Religionen nutzen alle möglichen Rituale und Opferungen, damit die Beteiligten das Gefühl haben, dass sie Liebe verdienen. Ringe, Geschenke, Hochzeitstage, das Wegwischen danebengegangener Pipitropfen – es sind die kleinen Dinge, die zusammen das eine, große Ding ergeben. Gern geschehen, Liebling.

 

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Fünfter Schritt: Den Himmel versprechen, die Hölle servieren

Wenn du es mit der Religionsgründung bis hierher gebracht hast, hast du bereits ein ansehnliches Häuflein Verzweifelter um dich geschart, die durch das Studium des von dir ausgedachten Quatsches der unbequemen Wahrheit tunlichst aus dem Weg gehen, ihren Freundeskreis vernachlässigen und ihren Familien den Mittelfinger zeigen.

Jetzt wird’s ernst.

Das Schöne an einer Religion: Je mehr Erlösung, Erleuchtung, Weltfrieden, Glückseligkeit und was auch immer du deinen Anhängern versprichst, desto weniger werden sie diesen Idealen gerecht werden. Und je weniger sie diesen Idealen gerecht werden, desto mehr werden sie sich selbst die Schuld geben und sich mies fühlen. Und je mehr sie sich selbst die Schuld geben und sich mies fühlen, desto eher tun sie, was du ihnen zur Wiedergutmachung befiehlst.

Manche nennen dies den Teufelskreis der seelischen Misshandlung. Aber von solchen Wörtern sollten wir uns nicht den Spaß verderben lassen.

Bei Pyramidensystemen funktioniert das hervorragend. Erst gibst du einem Arschloch Geld für einen Haufen Waren, die du weder willst noch brauchst, dann versuchst du drei Monate lang, andere Leute dazu zu bringen, in die Pyramidenstufe unter dir einzusteigen und ebenfalls Waren zu verhökern, die niemand will oder braucht.

Und das funktioniert dann nicht.

Aber statt das Offensichtliche einzusehen (das Produkt besteht darin, dass ein Schwindler einem Schwindler einen Schwindel verkauft, damit der noch mehr Schwindel verkauft …), gibst du dir selbst die Schuld – denn, hey, der Typ an der Spitze der Pyramide hat immerhin einen Ferrari! Und so einen willst du auch. Also liegt es doch an dir, oder nicht?

Zum Glück lässt sich der Typ mit dem Ferrari dazu herab, dir in einem Seminar beizubringen, wie du mehr Scheiß, den keiner will, an Leute vertickst, die den Scheiß, den keiner will, dann an Leute weiterverticken, die … und so weiter.

Und bei diesem Seminar geht die meiste Zeit damit rum, dass du mit Musik und Parolen aufgeputscht wirst und eine Wir-gegen-sie-Dichotomie eingebläut bekommst (»Sieger geben nie auf! Nur Verlierer glauben, dass es bei ihnen nicht klappen kann!«). Und du kommst total motiviert und voller Adrenalin aus dem Seminar, weißt aber immer noch nicht, wie man irgendwas verkauft, schon gar nicht Scheiß, den niemand will. Und statt dich über die geldfixierte Religion zu ärgern, auf die du reingefallen bist, ärgerst du dich über dich selbst. Du ärgerst dich, weil du deinem Gotteswert nicht gerecht geworden bist, egal wie fehlgeleitet dieser Gotteswert auch sein mag.

Der gleiche Kreislauf der Verzweiflung ist in allen möglichen Bereichen wirksam. Bei Fitness- und Diätprogrammen, bei politischen Aktionen, Selbsthilfegruppen und finanziellen Plänen, Besuche bei Oma – je mehr man sich darauf einlässt, desto mehr bekommt man zu hören, man müsse noch ein bisschen mehr tun, um der versprochenen Segnungen teilhaftig zu werden. Aber die Segnungen bleiben aus.

Okay, kleine Pause. Du musst jetzt ganz tapfer sein: Mit seelischem Schmerz ist es wie mit diesem Spielhallenspiel mit den Maulwürfen – immer wenn man eine Art Schmerz weggedroschen hat, taucht der nächste auf. Und je schneller man den Schmerz wegdrischt, desto schneller taucht er wieder auf.

Der Schmerz mag besser werden, er mag die Erscheinungsform ändern, er mag von Mal zu Mal weniger katastrophal sein. Aber er wird immer bleiben. Er ist ein Teil unseres Daseins.40

Er ist das Dasein.

Eine Menge religiöser Wortführer verdienen sich dumm und dämlich mit der Behauptung, sie könnten dir den Schmerz aus dem Maulwurfsspiel ein- für allemal austreiben. Aber in Wahrheit kommt der Schmerzmaulwurf immer wieder aus dem Loch. Je schneller du zudrischst, desto schneller kommt er wieder. Und mit diesem Trick bleiben die ganzen Schmierlappen der Religionsbranche so lange im Geschäft: Anstatt zuzugeben, dass das Spiel nicht zu gewinnen ist, dass es im Wesen des Menschen liegt, immer neuen Schmerz zu empfinden, geben sie dir die Schuld daran, dass du das Spiel nicht gewinnst. Oder sie geben, schlimmer noch, nebulösen »denen da« die Schuld. Wenn wir »die« nur loswerden könnten, wäre auch unser Leid vorbei. Indianerehrenwort.41 Aber das funktioniert auch nicht. Es verschiebt den Schmerz nur von einer Gruppe auf die andere und verstärkt ihn dabei noch.

Jetzt mal ernsthaft: Wenn jemand tatsächlich alle unsere Probleme lösen könnte, wäre er oder sie spätestens nächsten Dienstag pleite (oder die Woche drauf abgewählt). Anführer sind auf dauerhaft unzufriedene Anhänger angewiesen; das ist gut für ihr Geschäft. Wäre alles perfekt und toll, dann bräuchten wir keine Anführer. Keine Religion wird dir jemals dauerhaft das Gefühl von Glück und Frieden verschaffen. Kein Land wird sich je vollkommen gerecht und sicher anfühlen. Wahre Gleichheit kann nie erreicht werden; irgendjemand wird immer über den Tisch gezogen. Wahre Freiheit existiert in Wirklichkeit nicht, weil jeder von uns etwas Autonomie zugunsten von Stabilität opfern muss. Niemand, egal wie sehr du ihn oder sie liebst, und wie sehr sie und er dich liebt, wird dich je von dem Schuldgefühl erlösen, das du allein wegen deines Daseins verspürst. Es ist einfach scheiße. Alles ist scheiße. Es gibt keine Lösungen, nur Provisorien, nur kleine Verbesserungen, nur bessere oder schlechtere Arten von Scheiße. Und dieser Tatsache sollten wir nicht länger ausweichen, sondern sie akzeptieren.42

Unsere Welt ist scheiße. Und wir sind die Beschissenen.

 

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Sechster Schritt: Prophet mit Profit

Das wär’s dann. Du hast dein Ziel erreicht. Du hast deine Religion, und jetzt geht’s ans Geldverdienen. Deine Anhänger geben dir ihr Geld und mähen dir deinen Rasen – jetzt kannst du dir endlich all deine Wünsche erfüllen!

Ein Dutzend Sexsklavinnen gefällig? Kein Problem. Müsste doch in der heiligen Schrift stehen. Lass deine Anhänger wissen, dass die »sechste Stufe der Erleuchtung« nur in den Orgasmen des Propheten selbst zu finden ist.

Du hättest gern ein Riesengrundstück mitten in der Pampa? Lass deine Anhänger wissen, dass nur du ihnen das Paradies errichten kannst, und dass es weit abgelegen sein muss, und dass sie übrigens dafür zahlen müssen.

Du wünschst dir Macht und Einfluss? Weise deine Anhänger an, dich in ein Amt zu wählen, oder stürze die Regierung doch gleich gewaltsam. Wenn du es nicht ganz falsch angestellt hast, müssten sie bereit sein, ihr Leben für dich hinzugeben.

Den Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.

Nie mehr einsam. Keine Beziehungsprobleme mehr. Keine Geldsorgen. Du kannst dir deine wildesten Träume erfüllen. Du musst dazu nur die Hoffnungen und Wünsche von Tausenden anderen mit Füßen treten.

Ja, mein Freund, dafür hast du hart gearbeitet. Dafür verdienst du deine Belohnung und keine lästigen sozialen Bedenken oder ethischen Pedanterien. Denn als Religionsgründer bestimmst schließlich du, was ethisch ist. Du bestimmst, was richtig ist. Und du bestimmst, wer im Recht ist.

Vielleicht schüttelt es dich ja bei der Vorstellung, eine Religion zu gründen. Also, ich sag’s dir ungern, aber du steckst bereits in einer drin. Ob du es merkst oder nicht, du hast bereits die Glaubensinhalte und Werte irgendeiner Gruppe übernommen, du nimmst an ihren Riten teil und bringst Opfer dar, du ziehst eine Linie zwischen »uns« und »denen« und isolierst dich in deinem Denken. Das machen wir alle so. Religiöser Glaube und das entsprechende Stammesverhalten sind ein fundamentaler Teil unseres Wesens.43 Man kann sie sich unmöglich nicht zu eigen machen. Wenn du glaubst, du stündest über der Religion, du praktiziertest Logik und Vernunft, dann, so leid es mir tut, liegst du falsch: Du bist wie wir.44 Wenn du glaubst, du wärst gut informiert und hochgebildet, liegst du falsch: Du bist trotzdem dumm.45

Wir müssen alle an etwas glauben. Wir müssen irgendwelche Werte haben. Nur so können wir psychologisch überleben und leben. Nur so finden wir Hoffnung. Und selbst wenn du eine Vision einer besseren Zukunft hast, wirst du sie allein kaum erreichen. Um einen Traum wahr zu machen, brauchst du ein Netz aus Unterstützern, aus emotionalen wie logistischen Gründen. Du brauchst buchstäblich eine Armee.

Die Zivilisation wird von Wertehierarchien – wie religiöse Geschichten sie vermitteln, und wie Millionen sie teilen – in einer Art darwinistischem Wettkampf organisiert und vorangebracht. Religionen stehen im globalen Wettkampf um Ressourcen, und dabei gewinnen die Religionen, die Arbeit und Kapital am effizientesten nutzen. Und die Wertehierarchie einer siegreichen Religion wird von immer mehr Menschen übernommen, weil sie nachweislich den Menschen mehr bietet. Die überlegenen Religionen können sich stabilisieren und zu Grundpfeilern der Kultur werden.46

Aber dabei gibt es ein Problem: Immer wenn eine Religion Erfolg hat, wenn ihre Botschaft in alle Winkel dringt und große Teile des menschlichen Fühlens und Handelns beherrscht, ändern sich ihre Werte. Der Gotteswert der Religion besteht nicht mehr aus den Prinzipien, die sie in ihren Anfängen inspirierten. Der Gotteswert verschiebt sich und besteht schließlich in der Erhaltung der Religion selbst, in der Bewahrung des Erreichten.

Und an diesem Punkt beginnt die Korruption. Wenn die ursprünglichen Werte, die einst die Religion, die Bewegung, die Revolution ausmachten, zwecks Erhaltung des Status quo fallengelassen werden, kommt dies einem Phänomen von Narzissmus auf kollektiver Ebene gleich. Auf diesem Weg kommt man von Jesus zu den Kreuzzügen, von Marx zum Gulag, vom Traualtar zum Scheidungsrichter. Die Korruption der ursprünglichen Werte lässt die Anhängerschaft wegbrechen, und die Gefahr wächst, dass neuere, reaktionärere Religionen die alte erobern. Womit das Ganze von vorne beginnt.

Also ist der Erfolg in vielerlei Hinsicht heikler als das Scheitern. Erstens weil man mehr zu verlieren hat, je mehr man erreicht, und zweitens weil Hoffnung schwerer zu erhalten ist, je mehr man zu verlieren hat. Aber vor allem weil wir die Hoffnung verlieren, je näher das Erhoffte rückt. Wir erkennen dann, dass unsere perfekten Zukunftsvisionen doch nicht so perfekt sind, dass in unseren Träumen und Wünschen allerlei unerwartete Tücken und Kompromisse lauern.

Denn das Einzige, was einen Traum zerstören kann, ist, dass er wahr wird.